Journalismus - Henning Noske - E-Book

Journalismus E-Book

Henning Noske

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Beschreibung

2. überarbeitete und ergänzte Auflage! Journalismus. Das ist: recherchieren, schreiben, präsentieren. Doch wie geht das? Wie macht man es richtig? Dieses Buch führt in das journalistische Handwerk ein. Seine hohe Praxisorientierung mit vielen Tipps und Arbeitsbeispielen macht es auch für etablierte Journalisten interessant - zum Durchblättern, Nachschlagen, als Arbeitshilfe. Hier wird alles erklärt, was ein guter Journalist können und wissen muss: • So schreibt man gut • So recherchiert man • So formuliert man Überschriften • So führt man Interviews • So präsentiert man sich und seine journalistischen Arbeiten • So funktionieren Print- und Online-Journalismus Henning Noskes „Lese- und Lernbuch" ist ein anderes Journalismus-Buch, das aus dem Alltag und im Alltag einer Redaktion entstanden ist. Noskes journalistische Alltags-Erfahrungen prägen das Buch: Sie geben dem erfahrenen Redakteur Stoff, seine Routinen zu überprüfen, und dem Anfänger die Hilfe, die er für seine Entscheidung braucht, den Beruf zu erlernen. Viele Medien-Karrieren beginnen im Lokalen. Daher ist die neue Auflage des Buches um ein Kapitel zum Lokaljournalismus erweitert worden.

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Henning Noske

Journalismus:Was man wissen und können muss

BIBLIOTHEK DES JOURNALISMUS

Band 4

herausgegeben von Paul-Josef Rauein Zusammenarbeit mit derStiftung Presse-Haus NRZ

Henning Noske

Journalismus:Was man wissen und können muss

Ein Lese- und Lernbuch

2., überarbeitete und ergänzte Auflage Juli 2015

Satz und Gestaltung

Klartext Medienwerkstatt GmbH, Essen

Abbildungen

© Henning Noske, Florian Kleinschmidt (S. 187)

Umschlaggestaltung

Volker Pecher, Essen

ISBN 978-3-8375-1432-2

eISBN 978-3-8375-1525-1

Alle Rechte vorbehalten

© Klartext Verlag, Essen

www.klartext-verlag.de

Editorial von Paul-Josef Raue

Noch ein Buch über den Journalismus? Noch eines nach all den Büchern von Professoren*, die wie Professoren schreiben, über Spezial-Themen wie Reportage oder Interview, die sich in Tausenden von Details verirren und im Berufsleben wenig Gewinn bringen?

Henning Noskes „Lese- und Lernbuch“ ist ein anderes Journalismus-Buch, das aus dem Alltag und im Alltag einer Redaktion entstanden ist, das ein erfolgreicher, mehrfach preisgekrönter Redakteur geschrieben hat – mit der Erfahrung, was wirklich wichtig ist für Journalisten. Noske meidet den Elfenbeinturm der Theorie: Er schreibt, wie es wirklich zugeht in einer Redaktion – und wie es ideal in einer Redaktion zugehen müsste.

Er arbeitet in einer der erfolgreichsten Lokalredaktionen Deutschlands, die nicht zuletzt durch sein Wissen und seine Arbeiten so erfolgreich ist: Die Braunschweiger Zeitung, die sechs Mal den bedeutendsten Preis für Lokal- und Regionalzeitungen gewonnen hat, den Deutschen Lokaljournalistenpreis. Wenn Henning Noske über Qualität schreibt, weiß er also, worüber er schreibt.

Noskes journalistische Alltags-Erfahrungen prägen das Buch: Sie geben dem erfahrenen Redakteur Stoff, seine Routinen zu überprüfen, und dem Anfänger die Hilfe, die er für seine Entscheidung braucht, den schönsten Beruf der Demokratie zu erlernen. „Etwas mit Medien“ – so lautet der Berufswunsch vieler Abiturienten. Sie träumen von einer Moderation im Fernsehen, vom Korrespondenten in Washington, Rio oder Paris, oder von einem Reporter, der wie Edward Snowden die Welt zerlegt. Von einem Dasein als Lokalreporter träumen nur wenige.

Doch die meisten Medien-Karrieren beginnen im Lokalen: Giovanni di Lorenzo begann bei der hannoverschen Lokalzeitung „Neue Presse“; der Brüsseler ARD-Korrespondent Rolf-Dieter Krause bei der Lüneburger Landeszeitung und als Lokalreporter im Ruhrgebiet; Anne Will schrieb ihre ersten Texte beim Spandauer Volksblatt.

Wer im Lokalen beginnt, hat die Nase im Wind, er trägt sie nicht hoch. Er belehrt nicht, weil ihn sonst die Menschen, über die er schreibt, belächeln oder links liegen lassen. Die Basis allen Journalismus’ liegt also dort, wo ein Journalist den Menschen, für die er schreibt, Tag für Tag begegnet. Wer über die Zukunft des Journalismus nachdenkt, der erkennt schnell: Gerade weil die Welt zum Dorf wird, wollen die Menschen sich nicht verlieren, sie wollen alles aus ihrer Nachbarschaft erfahren – lange noch gedruckt auf Papier, aber auch online, auf Smartphone oder Tablet.

Wer in der Provinz beginnt und dort bleibt, ist nicht provinziell. Er kann faszinierende Porträts schreiben, durchs Schlüsselloch in verborgene Räume schauen, Politik dort erklären, wo die Menschen sie unmittelbar erleben, kurzum: nirgends kann er schneller und freier den besten Journalismus treiben. Henning Noske zeigt in diesem Buch, wie es geht.

Dabei ist der Lokaljournalismus das jüngste Ressort, erst in den sechziger Jahren wuchs das Lokale buchstäblich aus einer Randspalte heraus und bekam erst eigene Seiten, dann ein eigenes Buch – und erst viel später eine eigene Bedeutung. In der sozialen Hierarchie der Redaktion stand der Lokalredakteur auf der untersten Stufe. Der Verleger der meist kleinen Zeitungen traf sich in den fünfziger und sechziger Jahren regelmäßig mit den Honoratioren, mit Bürgermeister, Pfarrer und Kaufmann, und erzählte nachher dem Schriftleiter seiner Redaktion, was er zu schreiben hatte.

Der Aufstieg des Lokalen wurde in den siebziger Jahren in der Bundeshauptstadt forciert. Die hieß damals noch Bonn; in der dortigen „Bundeszentrale für politische Bildung“ entstand das Lokaljournalisten-Programm. Das war einzigartig: Weiterbildung speziell für Lokaljournalisten. In Modellseminaren, von Lokalredakteuren für Lokalredakteure vorbreitet und realisiert, entdecken die Journalisten seit nunmehr 40 Jahren den politischen Lokalteil immer wieder neu und entwickeln Konzepte, wie man kritisch und kenntnisreich den Eliten in einer Stadt auf die Finger schauen und auch klopfen kann.

Das begann in dem Bewusstsein: Eine Demokratie kann nur lebendig sein, wenn es in den Städten und Landkreisen wache und gut informierte Bürger gibt. Das Lokaljournalistenprogramm wuchs zu einer Bürgerinitiative, von Lokaljournalisten geführt mit einem eigenen Magazin, der „drehscheibe – aus Lokalredaktionen für Lokalredaktionen“, mit eigenen Seminaren, Redaktionskonferenzen und Kongressen. Aus diesem Netzwerk heraus wurde auch der Deutsche Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung kreiert, der zum bedeutenden Zeitungspreis in Deutschland aufstieg, dem Oscar für Lokaljournalisten.

Henning Noskes Buch speist sich zum einen aus den Erfahrungen als Redakteur, zum anderen aus dem Nachdenken über den Journalismus: Er ist auch Lehrbeauftragter an der Technischen Universität Braunschweig. Dort entstand die Idee für dieses Buch, nach Seminaren mit unzähligen Studenten, bei denen er sich gefragt hatte: Warum ist der Journalismus bloß ein Traumberuf für die jungen Leute? Und: Warum kann man das so eindrucksvoll nicht mal nachlesen?

Man kann es nachlesen. Dies Buch liegt vor Ihren.

*    Die in diesem Buch verwendete männliche Form gilt selbstverständlich für beide Geschlechter.

Inhalt

1. Einleitung

Zur Einstimmung – alles, was wir brauchen

Was der Journalismus heute braucht

Welcher Journalismus denn eigentlich?

Ein Besuch im Medienhaus der Zukunft

Was ich mir von meinen Lesern wünsche

2. Motive, Typen, Rollenbilder: Journalisten

Dicht dran am spektakulären Geschehen

Viele Fragen: Warum soll ich mir das antun?

Die Stärken: Interesse, Wachheit, Wachsamkeit

Die Krankheiten: Eitelkeit, Hochmut

Die Todsünden: Fehlende Distanz, fehlendes Engagement

Gemein machen oder nicht?

3. Die Themen

Themen-Scouts und Themen-Streifzüge

Tipps und Beispiele: Wo und wie wir Themen finden

Die wichtigen Fragen beginnen alle mit »W«

Ausstöpseln, Stecker raus. Und rausgehen!

Eine Geschichte am Rande: Meine Tage im Kloster

Themen-Konferenzen (Brainstorming)

Tipps und Beispiele: Themen-Steinbrüche

Die Koalition der Verhinderer und die Killer-Phrasen

Meine Such-Kriterien für geeignete Themen

Meine Drei-Finger-Regelung des Journalismus: Reizen – Informieren – Unterhalten

4. Recherche

Journalismus ohne Recherche?

Journalisten als Quellen-Spezialisten

Die sieben Fragen einer ersten Recherche-Skizze

Die unsystematische Recherche

Tipps und Beispiele: So gelingt der erste Recherche-Angriff

Systematische Recherche: Der Plan

Der Werkzeugkasten: Welches Eisen für die Recherche?

Gespräche und Interviews – Vorbereitungen, Telefon

Gespräche und Interviews – Gesprächsführung, Mitschrift

Tipps und Beispiele: So bekommt man alles in den Block

Mitschnitte, Tonaufnahmen

Tipps und Beispiele: So arbeite ich noch besser mit dem Diktiergerät

Arbeiten mit Netbook und iPad

Strategien und Techniken für Gedächtnisprotokolle

Tipps und Beispiele: Diese Memo-Strategien können uns helfen

Arbeiten mit Digitalkamera und Handkamera (Cam)

Tipps und Beispiele: Das sind die wichtigsten Bausteine für eine gute Recherche

5. Auswertung, Aufbereitung, Stile

Dokumentation, Feature

Reporter-Tagebuch

Berichtende Stilformen

So schreibe ich eine Nachricht

Von der Nachricht zum Bericht

Reportage (1): Egon Erwin Kisch beschreibt die brennenden Schitkauer Mühlen

Reportage (2): Warum sie kein Kommentar ist

Reportage (3): Die Sache mit der Zwischenmoderation

Reportage (4): Nicht dabeigewesen, Kisch-Preis aberkannt

Reportage (5): So wird sie geschrieben

Reportage (6): Details, Details, Details!

Das Porträt

Vom Erzählen

Meinungs-Formen

Kommentar-Typen

Das Pro und Contra

Leitartikel

Glosse

Kolumne

Interview

Die Autorisierung

Tipps und Beispiele: So führt man Interviews und lässt sie autorisieren

Besondere Interview-Formen

6. Schreiben

In der Schreibwerkstatt – Regeln, Tipps und Werkzeuge für gutes Schreiben

Qualität kommt von Qual – oder doch nicht?

Meine vier Regeln für gutes Schreiben: Nützlichkeit, Präzision, Verständlichkeit, Wirkung

Gut geschrieben: Der Reporter in der Silbermine

Gut geschrieben: Die Reporterin auf dem Campingplatz

Gut geschrieben: Der Reporter und die Hinrichtung zum Schein

Meine sechs wichtigsten Tipps für gutes Schreiben

So schreiben, wie man es selbst gern lesen würde

So schreiben, wie man es gelesen hat

So schreiben, wie man eine einfache Frage beantwortet

So schreiben, als ob der Leser neben mir sitzt

So schreiben, wie ein Forscher denkt

Gut geschrieben: Auf Darwins Spuren am Traum-See in Afrika .

So schreiben, wie ein Reporter denkt

Meine Gebrauchsanweisung für gutes Schreiben – Die sechs entscheidenden Werkzeuge

Werkzeug 1: Einstieg

Tipps und Beispiele: Gute Einstiege

Werkzeug 2: Anker

Tipps und Beispiele: Gute Anker

Werkzeug 3: Absätze

Werkzeug 4: Fluss (Übergänge, Erinnerungen, Roter Faden, Frage-Antworten-Fesseln, Rhythmus)

Werkzeug 5: Sprachliche Signaturen

Tipps und Beispiele: Die eigene Handschrift

Werkzeug 6: Der Schluss

Tipps und Beispiele: So geht ein guter Schluss

Die größten Fehler: Sieben Lesbarkeits-Killer

Lesbarkeits-Killer 1: Nebel

Lesbarkeits-Killer 2: Mords-Sätze

Lesbarkeits-Killer 3: Verstümmelte Sätze

Lesbarkeits-Killer 4: Friedhof der Wörter

Lesbarkeits-Killer 5: Irrungen, Verwirrungen

Lesbarkeits-Killer 6: Geklaute Zeit

Lesbarkeits-Killer 7: Unübersichtlichkeit

7. Erscheinungsbild, Präsentation

Die Zugänge kennen

Das Problem mit dem Titel

Kurzfassung, Vorspann

Basis für alles weitere: Das ist mein Exposee

Die Überschrift(en)

Die Bedeutung der Fotos für die Überschrift

Tipps und Beispiele: So funktioniert die Bild-Überschriften-Wirkung

Das Rezept für die gute Überschrift: Synthese Text – Exposee – Schlüsselbegriffe – Bild

Tipps und Beispiele: Was wir niemals vergessen

Unsere Werkzeuge: Schlüssel und Schloss

Wir bauen uns Schritt für Schritt eine Überschrift: Olympia im Harz

Das Exposee der Olympia-Story im Harz

Die Kombinationen für nachrichtlich gehaltene Überschriften

Die Assoziationen für Schlüssel-Schloss-Überschriften

Fallen vermeiden

Mein Plädoyer für gute Bilder

Mit Bildern Lesezeit zurückerobern

Story-Telling

Plädoyer für bessere Bild-Texte

8. Qualität: Werkzeuge und Kriterien

Was uns die Klassiker über Qualität sagen

Was uns der »Code of Ethics« aus den USA sagt

Was uns der Verhaltenskodex der WAZ-Mediengruppe sagt

Das sind die wichtigsten Qualitätskriterien in Europa

Die publizistischen Grundsätze des Presserats – der deutsche Pressekodex in den wichtigsten Auszügen und Richtlinien

Qualität: Das Erwartete und die versprochene Überraschung

9. Fehler-Management

Wir stehen zu unseren Fehlern!

Wie Fehler entstehen – ein Ausflug in die Gehirnforschung

Die Unmöglichkeit des Multitasking

Die wichtigsten Zeitungsfehler und ihre Hintergründe

Von Tatsachen – das Fakten-Bewusstsein

Fakten-Check, Selbst(-Ego)-Check, Experten-Check

Mit neun Schritten zum erfolgreichen eigenen Fakten-Check

»Können Sie mir den Artikel vorher noch mal zeigen?« – Vom Gegenlesen

Tipps und Beispiele: »Können Sie mir den Artikel vorher noch mal zeigen?«

Falsche Namen

Falsche Zahlen

Falsche Maße

Rechtschreibfehler, Zeichensetzung

Rechtschreib-Hauptfehler Nr. 1: Ein oder zwei »s«?

Rechtschreib-Hauptfehler Nr. 2: Groß oder klein?

Rechtschreib-Hauptfehler Nr. 3: Wann kommt ein Komma?

Mein verblüffendes Rezept: Fehler gar nicht erst machen

Meine zehn goldenen Regeln, Fehler sicher zu finden (Redigier-Schule)

Fehler-Management – Richtig berichtigen

10. König Kunde: Unser Leser

Was wir brauchen: Leser-Bewusstsein

Dürfen wir unseren Leser hassen?

Müssen wir unseren Leser lieben?

Leser-Blatt-Bindung

Bürger-Zeitung

Leser-Seite, Leserbriefe

Leser-Konferenzen

Leser-Foren

11. Online-Journalismus: Ein Werkstattgespräch

12. Praxis: Lokaljournalismus und Kommunalpolitik

13. Was wir zusammen tun können

14. Von A bis Z – Mein Journalismus-Glossar

15. Von Kisch und Co. – Meine Handbibliothek

1.Einleitung

Ein Lese- und Lernbuch über Journalismus? Warum?

Einerseits muss sich ein Buch, das sich mit dem schönsten Beruf der Welt beschäftigt, natürlich auch gut lesen lassen. Man sollte gern darin schmökern. Man sollte es im günstigsten Fall zur Hand nehmen und in einem Zug durchlesen. So wie alle guten Bücher. Aber leider fehlt dazu oft die Zeit. Außerdem verbinden sich heute Spaß und Lernen nur noch allzu selten.

Dabei ist diese Verbindung der entscheidende Schlüssel. Wer keine Lust hat, soll gleich wieder mit dem Lesen aufhören. Abgemacht?

Und ich verspreche, nicht zu langweilen. Abgemacht?

Deshalb werde ich versuchen, ganz offen zu sein, möglichst einfallsreich, entscheidungsfreudig, auch zum Risiko bereit, klug, amüsant, durchaus selbstironisch, gesprächig, aber nicht geschwätzig. So, wie ich mir einen guten Journalisten vorstelle. Es ist mein Lebenstraum, einer zu sein. Ich werde nicht aufhören, davon zu träumen und weiter daran zu arbeiten. Meine Einladung mit diesem Buch steht: Arbeiten wir gemeinsam daran!

Zur Einstimmung – alles, was wir brauchen

Wer mitträumen möchte, kann hier ein Stück mitgehen. Ich werde alles vor uns ausbreiten, was man braucht.

Du brauchst es dann nur noch aufzuheben, zu sammeln wie einen Schatz, den man vollständig haben möchte. Den man hegt und pflegt, mit dem man einschläft, weil sich unser Gehirn nicht auf Knopfdruck abschalten lässt. Und mit dem man am nächsten Morgen wieder aufwacht – und plötzlich kommen dir viele neue Ideen in den Sinn. So lernen wir.

Deshalb ist es ein Lernbuch. Darin sollten die wichtigsten Begriffe und Ideen enthalten sein. Aber es ist kein wissenschaftliches Buch, es ist weit davon entfernt. Es ist ein persönliches Lesebuch.

Entstanden ist es aus dem Wunsch etlicher Schüler und Studenten, einen leicht verständlichen Leitfaden für den Journalismus zu bekommen, im Grunde genommen eine Art Gebrauchsanweisung. Sie möchten schreiben, sie möchten in der Redaktion mitarbeiten. Sie wollen wissen, wie man das macht und wie man da reinkommt.

Ich will mich deshalb bemühen, den eigenen Ansprüchen selbst gerecht zu werden. Deshalb wird dieses Buch insgesamt keine allzu langen Texte enthalten, selbst, wenn einem manchmal die Pferde durchgehen möchten.

Ich werde versuchen, stringent kurz und süffig schreiben, so, wie es heute nicht mehr anders sein sollte. Im letzten Gefecht um die allzu knappe Zeit der Leser bin ich nur ein weiterer Spieler.

Ich werde allerdings Ausnahmen machen. Das wird sein, wenn ich erzähle. Denn wenn wir gut erzählen, spielt Zeit keine Rolle mehr. Wir lehnen uns an, lauschen dem Ton, lieben die Melodie, und unser Gehirn spielt den Film dazu. Eigentlich sehnen wir uns seit jener Zeit, als uns die Welt noch erzählt wurde, nach diesem Gefühl zurück.

Was der Journalismus heute braucht

Der Journalismus braucht auch Struktur, Haltung, Respekt und Distanz.

Er braucht Persönlichkeiten. Und Trainer.

Ich werde mich mit diesen Begriffen beschäftigen und vielleicht ein neues, vielleicht etwas anderes als das gewohnte Bild zeichnen. Die Hochachtung vor den Klassikern und Lehrmeistern unseres Genres, an deren Lippen wir alle hängen, habe ich dabei nicht verloren.

Deshalb enthält der Anhang mit meiner kleinen Handbibliothek eine Auswahl weiterer Lese- und Lerntipps. Das Glossar mit etlichen Begriffen des Fachs, kurz und bündig erklärt, soll den Lerneffekt vertiefen und dazu verleiten, dieses Buch immer mal wieder gern zur Hand zu nehmen.

Ja, aber wer denn eigentlich? Für wen denn eigentlich?

Das kann man zwar nicht offen lassen, doch möchte ich es auch nicht allzu sehr eingrenzen. Journalistischer Nachwuchs darf sich in erster Linie angesprochen fühlen, Volontäre, aber auch Redakteure, Online-Redakteure, freie Mitarbeiter, feste Mitarbeiter, Autoren, potenzielle Schreiber, Schüler, Studenten, Eltern, Lehrer, Öffentlichkeitsarbeiter, Pressesprecher, Blogger, Web-Texter, Wissenschaftler.

Eigentlich alle, die einen Traum haben – und bereit sind, auch etwas dafür zu geben.

Welcher Journalismus denn eigentlich?

Von welchem Journalismus sprechen wir? Besser: Von welchem Medium sprechen wir?

Die Tugenden, Qualitäten, Herausforderungen und Werkzeuge des Journalismus sind weitgehend identisch, wenngleich die Technik abweicht. Doch diese technischen Grenzen befinden sich ohnehin in kompletter Auflösung. Der Journalist, der exklusiv nur noch schreibt, fotografiert, spricht oder sendet, ist ein Auslaufmodell.

Dennoch ist dies überwiegend ein Buch für Zeitungsjournalisten, für Journalisten in Zeitungsverlagen.

Das ist kein Widerspruch, denn längst geht es dort nicht mehr nur noch um Druckerschwärze auf Papier. Längst gehört Online dazu, und vermutlich ist an dieser Stelle bereits die Reihenfolge falsch gewählt. Online wird die gedruckte Zeitung ablösen, doch wann das ist, das wissen wir alle nicht. Bloß, wozu ist diese Erkenntnis eigentlich wichtig?

Sie ist für ein gutes Journalismus-Buch überflüssig wie ein Kropf. Also gleich weg damit. Es ist für das, was wir hier gemeinsam lernen wollen, weitgehend zweitrangig, ob die Früchte gedruckt werden oder am Bildschirm zu lesen sind.

Allerdings – und das muss uns klar sein – ist es ein himmelweiter Unterschied, ob wir mit unserem Produkt einmal am Tag am Frühstücks- oder Abendbrottisch präsent sind oder in permanenter Online-Konkurrenz.

Ein Besuch im Medienhaus der Zukunft

Mehr noch: Der Zeitungsverlag ist das Medienhaus der Zukunft, denn er integriert in seine Portale nicht nur die gedruckte und die Online-Zeitung, sondern auch Video und Radio – und all die Elemente der Bürgerzeitung, die Journalisten und ihre Kunden tatsächlich auf Augenhöhe, ins Gespräch und zur gemeinsamen Aktion bringen.

Für dieses komplette Cross-Media-Tableau mit angeschlossener Demokratiefunktion, für das wir gern eine erste Skizze liefern möchten, eignet sich letztlich nur der große Zeitungsverlag mit seiner Tradition, seiner Leser-Bindung, seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten – und mit seiner immer noch faszinierenden Kultur der Zeitungshäuser, die nach wie vor die Besten und Fähigsten anzulocken vermag.

Journalisten, die hier andocken wollen, können indes nicht mehr nur noch Schreiber, Fotograf, Kamera- oder Mikrofon-Spezialist sein – sie sind im günstigsten Falle mit allen Werkzeugen vertraut.

Mehr noch: Sie müssen bereit und vorbereitet sein, sich in neuartige Redaktionsstrukturen einfügen zu können, die letztlich individuelle Stärken und Möglichkeiten nicht einebnen, sondern gezielt kombinieren und einsetzen.

So wenden wir uns denn in diesem Buch vornehmlich dem ganzen Programm zu, das für alle gilt:

•Motive, Typen, Rollenbilder: Journalisten

•Themen

•Recherche

•Auswertung, Aufbereitung

•Schreiben

•Erscheinungsbild, Präsentation

•Qualität

•Fehler-Management

•König Kunde: Unser Leser

•Was wir zusammen tun können

Darüber hinaus führt ein eigenes Kapitel in den Online-Journalismus an der Schnittstelle zum Print ein.

Was ich mir von meinen Lesern wünsche

Dieses Buch möchte einerseits eine Fülle von Denkanstößen und Informationen, an Erklärungen und Begriffen bieten – und ist doch andererseits auf die Resonanz der Leser angewiesen, die Rückmeldung, auf Kritik und Ergänzung.

Deshalb unternehme ich den neuartigen Versuch, einen Diskussionsprozess mit den Lesern auf einer Plattform im sozialen Netzwerk in Gang zu bringen. Diesem Projekt widmet sich das letzte Kapitel – und deshalb bin ich für jeden Hinweis, für jeden Hilferuf, jede Korrektur und jeden Verbesserungsvorschlag dankbar.

2.Motive, Typen, Rollenbilder: Journalisten

Journalisten kennen sich aus, sind bekannt, schreiben interessante Artikel. Sie sind irgendwie engagiert, wollen ständig etwas bewegen, graben immer etwas aus. Vermutlich haben sie kaum Privatleben, und wenn, dann ist es eine Art Prominentenparty. Sie würden auch ihre Großmutter für eine gute Story verkaufen.

Klischees, nicht selten durch journalistische Star-Rollen in Filmen geprägt. So lässt Jack Lemmon in Billy Wilders Film »Extrablatt« sogar seine Braut am Tag vor der Hochzeit für einen Scoop sitzen. Im Grunde genommen ist er mit seinem Chefredakteur glücklich verheiratet, sie lieben und sie schlagen sich. In »Reporter des Satans«, ebenfalls von Billy Wilder, nimmt Kirk Douglas als abgehalfterter Reporter das im Berg verschüttete Opfer buchstäblich als Geisel – und organisiert draußen exklusiv die Sensationsstory.

Dicht dran am spektakulären Geschehen

Die Wirklichkeit ist aber manchmal gar nicht so weit davon entfernt. Im so genannten Gladbecker Geiseldrama nahm der frühere Chefredakteur einer deutschen Boulevardzeitung neben dem schwer bewaffneten Geiselnehmer Platz und lotste den Wagen aus der Kölner Fußgängerzone. Journalisten sind dicht dran am spektakulären Geschehen, manchmal zu dicht – und manchmal werden sie sogar zu Akteuren. Dabei sind solche spektakulären Ereignisse nicht die Regel, häufig ist von Routine-Dienst, Frust, viel Alkohol, Zigaretten und zerrütteten Beziehungen die Rede.

Irgendwie ist Journalismus also spannend, aber irgendwie auch nicht gesund. Und er ist paradoxerweise ungemein attraktiv: Die Journalistenschulen können sich über einen Mangel an Kandidaten nicht beklagen, für ein Volontariat geht in der Regel ein Vielfaches an Bewerbungen ein, die medienwissenschaftlichen Studiengänge der Hochschulen sind überlaufen. »Irgendwas mit Zeitung« und »Irgendwas mit Journalismus« ist offenbar hochgradig attraktiv. Bloß, was das ist, Journalismus, darüber herrschen klischeehafte, bisweilen abenteuerliche Vorstellungen – falls überhaupt welche bestehen.

Viele Fragen: Warum soll ich mir das antun?

Das ist die große Frage. Warum soll ich mich mit etwas beschäftigen, das mich nicht mehr loslässt, rund um die Uhr in Beschlag nimmt, das mich mehr fordert, als ich vielleicht verkraften kann? Bin ich dazu überhaupt bereit?

•Warum soll ich es mir schwer machen, wenn ich es doch viel einfacher haben kann?

•Warum soll ich mich eigentlich mit Gott und der Welt anlegen, warum soll ich mir Feinde machen?

Warum muss ich mich eigentlich laufend mit Dingen beschäftigen, die ich nicht verstehe, weil ich sie nicht gelernt oder studiert habe? Warum muss ich so lange recherchieren und grübeln, bis ich sie verstehe? Ja, und warum treibe ich dann diesen ganzen aberwitzigen Aufwand schließlich noch mal, um es anderen zu erklären?

Ja, warum eigentlich? Was ist es, was Journalisten antreibt? Warum will man schreiben, berichten, kommentieren? Warum will man nicht nur wissen, wie die Welt tickt und was sie schmiert und zusammenhält, sondern sie in Dreiteufelsnamen auch noch den Leuten da draußen erklären? Sind wir noch ganz bei Verstand?

Diese Fragen sind allesamt rhetorischer Natur. Sie dienen einzig und allein dem Ziel, jetzt noch ein paar unentschlossene Leser hinauszukegeln. Damit wir von jetzt an unter uns sind. Nur noch wir paar Verrückte, die gemeint sind und die ich meine. Leute, die wirklich wissen wollen, wie es geht. Und die sich nicht abschrecken lassen wollen vom härtesten und gemeinsten Beruf der Welt. Es ist der Job, mit dem du dir keine Freunde machst. Es ist der Job, mit dem du dir höchstens Läuse in den Pelz setzt und ständig gegen die eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten kämpfst, die auch noch jeden Tag brühwarm in der Zeitung stehen.

Es ist der Job, der dir wie ein Fallbeil mit Liebesentzug, Redaktionsschluss und Andruck droht. Der keine Dankbarkeit kennt, dafür aber die Umfänge der nächsten Ausgabe. Sisyphos ist nichts dagegen. Wir dürfen uns Sisyphos aber immerhin als glücklichen Menschen vorstellen.

Die Stärken: Interesse, Wachheit, Wachsamkeit

Ohne ein Höchstmaß an Interesse und Interessen, Wachheit und Wachsamkeit geht es nicht und wird es nicht gehen. Das ist eigentlich selbstverständlich, doch man erlebt sein blaues Wunder. Ich gebe eine Journalismus-Einführungsveranstaltung – und zu Beginn lote ich traditionell Interesse und Interessen des potenziellen Nachwuchses in Sachen Medienwissenschaften aus. Hinterher ist mir immer zum Weinen zumute.

Es gibt zwei Checks, an denen man vieles erkennt.

Blick in eine moderne Redaktion, Konferenz am News- und Online-Desk. Hier laufen die Fäden zusammen. Auf Bildschirmen wird der Fortschritt der Seiten kontrolliert, verantwortliche Redakteure, Blattmacher, Reporter und Mitarbeiter diskutieren über Themen und Überschriften.

Der eine lautet: Was ist heute Stadtgespräch? Worüber muss man heute auf jeden Fall Bescheid wissen? Schlicht und ergreifend: Wie ticken wir denn am heutigen Tag, was treibt uns um, was regt uns auf, was macht uns glücklich, lässt uns fiebern, lachen, weinen? Ein Teilnehmer, der einigermaßen am öffentlichen Leben interessiert ist und damit schon über die rudimentärsten journalistischen Grundvoraussetzungen verfügt, beginnt nun zu sprudeln. Eigentlich.

Griechenland, Portugal oder Irland pleite, die Bischöfin fährt in Schlangenlinien, der Oberbürgermeister in Handschellen, Showdown in Wimbledon oder Wolfsburg – irgendetwas Aufregendes oder Kurioses ist immer gerade passiert. Wer nicht jeden Tag mit dieser verrückten, schönen, spannenden Welt da draußen mitfiebert und ihr den Puls fühlt, der bekommt allerdings zwangsläufig ein Problem. Unvorstellbar, wie viele bei so einem simplen Check dumm dasitzen. Ich könnte jedes Mal heulen.

Aber es kommt noch schlimmer, denn dann ist Check Nr. 2 dran. Es ist eine Frage von bemerkenswerter Schlichtheit: Woher beziehen Sie Ihre täglichen Informationen, wie entsteht Ihr Weltbild?

Es ist also die simple Frage: Was lesen Sie täglich? (Mit Verlaub – die Frage lautet ja gar nicht: Welche Zeitung lesen Sie? So kühn bin ich nicht, jedenfalls nicht mehr.) Heraus kommt allzu oft ein erschütternder Analphabetismus in Sachen Lese- und Nachrichtenkultur. Der Höhepunkt ist regelmäßig die diffuse Antwort »Internet« oder »Google«. Auch »Wenn unter der Treppe eine Zeitung liegt, lese ich sie«, habe ich öfter gehört. Welche und ob das überhaupt eine war – ganz egal.

»Mehrere Zeitungen täglich, ich verschlinge sie förmlich« – diese Antwort habe ich allerdings noch nie gehört.

Nicht nur ohne Interesse und Interessen, auch ohne eigene Projekte geht es nicht. Es ist schwierig, Journalist zu sein, wenn es kein Thema gibt, für das man brennt. Okay, du hast ein Pferd auf der Weide stehen und kennst dich mit Pferden aus. Alles klar, du spielst ein Instrument oder bist gut im Sport. Vielleicht bist du Mitglied in einer Bürgerinitiative oder bei Greenpeace. Alles nicht schlecht für den Anfang – und vor allem schon mehr, als viele andere Journalismus-Aspiranten zu bieten haben. Bloß reicht das noch lange nicht.

Du brauchst neben überragendem Allgemeininteresse und mithin veritablem Allgemeinwissen, für das du dich allerdings überhaupt nicht quälen musst, mindestens ein Fach, Gebiet oder Projekt, in dem du dich richtig auskennst. Du brauchst eine Leidenschaft, in der du lebst und arbeitest, forschst und schreibst. Hier benötigst du von niemandem Anschub oder Nachhilfe, denn dein Wissensdurst ist von selber groß. Und, ehrlich gesagt, bei deinen Projekten macht dir so schnell keiner was vor. Da könntest du spontan eine kleine Rede oder einen Kurz-Vortrag halten. Ganz locker. Aber auch ganz easy, kein Problem, höchstens damit, sich kurz zu fassen.

Eine weitere Stärke, die wir uns zulegen müssen, an der wir arbeiten und die wir entwickeln müssen, ist das Gespür für Stimmungen, für Trends und Entwicklungen.

Es ist letztlich die Fähigkeit, Veränderungen auch in kleinsten Nuancen aufzuspüren, Haar-Risse unter glatten Oberflächen, aber auch Verbindendes, wo das Trennende noch überwiegt. Es ist die Fähigkeit und glänzende Aussicht, nicht nur über den Kuchen oder das Brot zu schreiben, sondern bereits über den Teig. Aber es ist nicht selbstverständlich und überaus zäh, denn es mag einem oft so vorkommen, dass gerade überhaupt nichts passiert. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Der echte Journalist zeigt die Veränderung und Bewegung, die überall ist, selbst wenn ihre Geschwindigkeit so gering, ja fast eingefroren ist, dass man sie kaum erkennen kann.

Um diese Wachheit und Wachsamkeit geht es.

Und letztlich um die Fähigkeit, Menschen aufzuschließen. Das ist das A und O. Ein Journalist, der die Menschen nicht liebt und der sie meidet, hat ein Problem. Wir suchen die Menschen auf und aus, wir casten und orchestrieren sie, sie liefern uns ihre und unsere Geschichten, sie erzählen – und wir erzählen von ihnen.

Jeder einzelne hat mehr Verschaltungen im Kopf als das Universum Atome zählt – und hat mehr Erfahrungen, Empfindungen und Erinnerungen als jemals auf allen Zeitungsseiten und Online-Spalten der Welt Platz hätten. Allerdings resultieren daraus auch Kontinente und Ozeane an Missverständnissen, Vorurteilen und Ressentiments. Journalisten sind Menschen-Spezialisten, Menschen-Versteher, Menschen-Flüsterer, sie saugen Leben und Leiden anderer, ihre Äußerungen, ihre Wut und Tränen, ihre Blicke und ihr Schweigen, ihre Emotionen und ihr Glück mit jeder Faser auf, auf Marktplätzen, in Kirchen und Heimen, im Stadion, beim Schuhkauf, in Gerichtssälen, auf Intensivstationen. Wo Menschen sind, sind Geschichten. Keine Geschichte gibt’s nicht. Das ist unsere größte Stärke.

Die Krankheiten: Eitelkeit, Hochmut

Wer das nun alles kann und beherzigt, wer viel sieht und herumkommt, sich auskennt und mitreden kann, der weiß auch schnell manches besser. Gut so, denn anders geht es nicht. So ist beispielsweise der Lokaljournalist, der einen kommunalen Haushaltsplan lesen und erklären kann, bereits 98 Prozent der Kommunalpolitiker haushoch überlegen, jenen Politikern also, die doch eigentlich über solche kommunalen Haushaltspläne zu entscheiden haben.

Eitelkeit wäre noch hinzunehmen, schließlich sind wir alle in irgendeiner Beziehung eitel. Vermutlich verdanken wir diesem Umstand sogar unseren Entschluss, Journalist zu werden. Denn irgendwann einmal wollten wir unseren Namen über oder unter einem Artikel oder unter einem Bild in der Zeitung lesen. Und irgendwann reicht uns dann vermutlich die Nennung unseres Namens über oder unter einem normalen Artikel nicht mehr – besser ein großer, eine ganze Seite oder eine tolle Reportage.

Und schließlich nützt auch das nichts, wenn das Gelieferte öde ist. Es muss gut sein, dann bin ich stolz darauf. Ich bin eitel. Kein Problem also, wenn das im Rahmen bleibt und wir uns dabei ständig fortentwickeln und immer besser werden. Es gibt freilich auch eitle Journalisten, die sich nur noch spreizen – und dabei wieder zu langweilen beginnen, weil sie nur selbstverliebt in den Spiegel blicken. Die haben dann eine Krankheit.

Und sind schon anfällig für die nächste: Hochmut. Die Begriffe und Schmähungen, mit denen in manchen Redaktionen Politiker, Ehrenamtliche oder Leser aus Hochmut belegt werden, sind Legion. Ich mag sie hier nicht wiederholen, habe aber zwei oder drei von ihnen als abschreckende Beispiele in das Glossar am Ende aufgenommen. In letzter Konsequenz hasst der Journalist am Ende eines Hochmut- und Abstumpfungsprozesses die Menschen, mit denen er zu tun hat und die er eigentlich lieben müsste, um sie noch besser zu verstehen und aufzuschließen. Er steht sich mit seinem Hochmut selbst im Weg, und so schreibt er dann auch. Das ist eine Krankheit. Aber auch das ist noch nicht alles.

Die Todsünden: Fehlende Distanz, fehlendes Engagement

Es gibt Sünden, die den Journalismus killen. Todsünden. Die erste kommt auf den ersten Blick gar nicht so gefährlich daher. Sie ist zudem überaus angenehm, macht Journalisten zum Beispiel zu Freunden des Hauses. Vielleicht bei einem großen Automobilunternehmen oder einem kommunalen Energieversorger. Die Artikel sind klasse, die Initiative dazu geht meist von der anderen Seite aus. Skandale kommen nicht vor oder werden im Vorfeld besprochen und ausgeräumt. Die Bedingungen, unter denen wir arbeiten, sind äußerst angenehm. Der Journalist auf Augenhöhe mit den Bossen und den Firmenchefs, die seine Arbeit loben und goutieren. Doch das ist nicht der einzige Distanzverlust, der uns den Boden unter den Füßen wegzieht.

Auch die Gewährung von Informationen kann uns vereinnahmen und die Distanz verlieren lassen. Das ist für den ehrgeizigen Journalisten, der auf exklusive Geschichten setzt, fast noch gefährlicher als das Prinzip »Freunde des Hauses«.

Indem wir gezielt Informationen vermittelt bekommen, die andere nicht bekommen, verlieren wir ebenfalls die Distanz, werden einseitig, unausgewogen, begehen Todsünden. Es gibt nicht wenige Journalisten, denen ein Netz einseitig informierender Manipulatoren genügt. Sie würden sie unweigerlich verlieren, wenn sie wieder ausgewogen arbeiten und auf beiden oder allen Seiten gründlich recherchieren würden. Doch sie haben die Kraft zur Distanz verloren. Und sie scheuen den Aufwand, sie wieder aufzubauen.

Dies führt uns zum letzten Sargnagel: fehlendes Engagement. Wenn Journalisten nur noch reagieren, werden sie anfällig für die Manipulatoren. Wenn sie alles schon wissen, nichts mehr aufspüren und den Weg des geringsten Widerstands entdeckt haben, sind sie tot: in der Redaktion lebendig begraben.

Wirklich lebendige Journalisten sind hungrig und bissig, nicht satt. Sie sind unbequem, nicht angenehm. Sie gehen auf den Wecker, stören, bohren, legen den Finger in die Wunde. Die Mächtigen achten und respektieren sie, aber sie treten ihnen auch auf die Füße und schleimen sich nicht bei ihnen ein, gehen ihnen nicht auf den Leim. Sie bleiben höflich, entschuldigen sich lieber einmal mehr, als einmal weniger anzuecken. Sie haben kein Problem damit, Störenfried zu sein.

Wenn Journalisten von sich aus agieren, Themen entdecken und setzen, wenn sie schnüffeln, oft auch vergeblich, Projekte initiieren und recherchieren, wenn sie selbst zwangsläufig zu Experten für ihre eigenen Themen werden – dann sind sie gut.

Gemein machen oder nicht?

Der unvergessene Hanns-Joachim Friedrichs hat einen der wichtigsten Sätze des Journalismus geprägt: »Gute Journalisten machen sich mit nichts gemein, nicht einmal mit einer guten Sache.« Dieser Satz stimmt! Und doch bedarf er einer kleinen Ergänzung.

Zunächst einmal ist Hajo Friedrichs’ kategorischer Imperativ nur die gültige Fortsetzung des kritischen Rationalismus, wie ihn auch die Wissenschaft pflegt: Ohne Distanz bist du nichts, ist auch deine Arbeit nichts wert. Das sagt nicht mehr und nicht weniger als das: Selbst die gute, vermutlich sogar richtige Sache zerstörst du, indem du nicht annimmst, dass sie falsch sein könnte. Die gute, die beste, die richtige Sache muss es aushalten, dass du ihr schärfster Kritiker bist. Weil du sie liebst.

Und trotzdem muss eine kleine Ergänzung sein. Hajo Friedrichs hat das getan, was viele gute Lehrer tun. Er hat zugespitzt, um etwas deutlich zu machen. Er hat mit seinem klassischen Satz die größte Gefahr des Journalismus beschrieben – die Distanzlosigkeit, die lähmt und gefügig macht. Um dies zu verdeutlichen, um es überdeutlich zu machen, werden wir dazu aufgefordert, sogar das Gute zu hinterfragen. Es könnte ja schlecht sein. Und um das Schlechte geht es eigentlich. Im Grunde genommen geht es um das Gute gar nicht.

Deshalb liegt auch ein Stück Ungerechtigkeit und Gemeinheit darin, sich mit dem Guten nicht gemein zu machen. Es ist kein Sinn darin zu entdecken, beispielsweise Ehrenamtlichen und aktiven Bürgern, die ihre Zeit opfern, noch nachzuweisen, dass sie effektiver arbeiten könnten. Sie würden dann vermutlich die Zeit, die sie anderen schenken, obwohl sie sie vielleicht vergeuden, vermutlich gar nicht mehr verschenken.

Mehr noch: Die gute Sache verdient doch auch Unterstützung, wenn man etwas Neues, Besseres anschieben kann. Wenn wir Vorbilder in packenden Porträts präsentieren – was ist Schlimmes daran, wenn die Leser ihnen nacheifern können und sollen? Wenn wir aufzeigen, wie Politik sein sollte – was ist schlecht daran, wenn es tatsächlich auch geschieht? Sollen wir es dann wieder kritisieren?

Diese Diskussion ist offen – und Journalisten sollten sie führen und die Ergebnisse stets von Neuem kritisch überdenken.

3.Die Themen

Was tun wir hier überhaupt? Warum machen wir das? Diese Fragen werden im journalistischen Alltag oft nicht mehr gestellt, sind indes Voraussetzung für eine konsequente Analyse der Themen, des Gegenstands der journalistischen Arbeit. Die Antworten werden häufig vorausgesetzt und nicht mehr diskutiert.

Was ist es, was uns antreibt? In der Hauptsache dürfte es Wissbegier sein, überragendes Interesse an den Dingen, Neugier, Lust auf Welterklärung, Gestaltung und Veränderung.

Die Kunst steckt jedoch nicht nur im ganz großen (Welten-)Entwurf, manche Sensation liegt bekanntlich im Detail. Vom Kleinen zum Großen ist deshalb kein schlechtes Motto für Themen-Scouts.

Themen-Scouts und Themen-Streifzüge

Unendlich genaue Beobachtung der Umgebung, der Umwelt und der Mitmenschen ist eine entscheidende Voraussetzung. Dies kann man auf Themen-Streifzügen trainieren. Sie haben zunächst noch nicht die Funktion, »zu schreiben«. Sie dienen schlicht und ergreifend der Themenfindung, ermöglichen Themenlisten, Ideen-Steinbrüche. Sie schärfen das Bewusstsein, was eigentlich überhaupt alles eine Geschichte sein kann. Sie machen immun gegen die Berufskrankheit, nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu entdecken – und die Sensationen am Wegesrand liegen zu lassen.

Wir flanieren, wir streifen umher, wir horchen, wir lassen die Blicke schweifen, gehen mit. Sammeln Eindrücke und Ideen.

Deshalb: Mindestens jede Woche eine Ideen-Exkursion, ein Themen-Streifzug!

In seiner Sammlung »Klassischer Journalismus« hat Egon Erwin Kisch, der große Reporter, genau das beschrieben. Er präsentiert uns seine eigenen Vorbilder, beispielsweise den Franzosen Mercier. Dessen Streifzüge durch Paris werden zum famosen, faszinierenden Themen-Steinbruch:

»Elendenviertel, die Stille der Cité-Insel, die Sonntagausflüge nach Longchamps, die Kirchen, die Hintertreppen der Häuser, die Feuersbrünste, die Savoyardenknaben, die Kaldaunengeschäfte, die Juden, die Kundmachungen, die Masken, die Gassenhauer, die Taschendiebe, die Leichenbestattungsanstalten, die Wäscherinnen am Seine-Ufer, die Cafés, die Heiligenbilder, die Sonderlinge, die Kurpfuscher, die Bücherkarren, die Bäder, die Barbierstuben, die Henker, die Verbrecher, die Märkte, die Gewohnheiten, die Akademie, das Parlament, die Kalendermacher, die Ehescheidungen, die Broschürenschreiber, die Kleinbürger, die falschen Haare, die Prostituierten, die Blaustrümpfe, Voltaire, Rameau, die beiden Crebillons, die Millionäre, die Theater.«

Bei manchen Stichwörtern bekommt man förmlich Lust, sofort einzusteigen. Selbst wenn es heute bei uns keine Henker mehr gibt, von all dem anderen ist noch genug da.

Wie sähe so ein Streifzug heute aus? Es besteht die Gefahr, dass dem Beobachter vieles »allzu normal«, zu vertraut vorkommen mag. Man sieht die Geschichten nicht mehr, weil unser Gehirn als Effizienz-Spezialist längst auf den Gewohnheits-Modus umgestellt hat. Etwas anderes ist es im Urlaub, in fremder Umgebung, wenn wir in jeder Gasse, an jeder Straßenecke etwas Spannendes entdecken und darüber berichten möchten.

Die Herausforderung ist es deshalb, den Entdecker-Reflex nicht nur in fernen Weltgegenden anzuwenden, sondern auch in der nur scheinbar vertrauten Umgebung des Alltags. Wer das erkennt, beherzigt und verinnerlicht, hat gewonnen! Es ist der entscheidende Hinweis bei der permanenten Jagd nach Themen. Letztlich ist es der Wegweiser zur berühmten »Story behind the Story«, der Geschichte hinter der Geschichte, die wir alle anstreben – wir alle können sie wirklich finden.

Tipps und Beispiele: Wo und wie wir Themen finden

•Beim Gang durch die Fußgängerzone: Wem gehören die Geschäfte, die Immobilien eigentlich? Wie viele Besitzer hat so eine Stadt in Wirklichkeit?

•Das Personal, die Passanten, die Passagiere: Was treibt sie an, was treibt sie um, was glauben sie, was wissen sie, was lässt sie ticken? Wie kommen sie überhaupt hierher? Wo wollen sie hin?

•Im Freien: Ist es eine Naturlandschaft, eine Kulturlandschaft, ein Naturschutzgebiet, ein Feuchtgebiet, eine ökologische Nische, eine wilde Müllkippe – wer schützt es, wem nützt es, was wächst, was nicht?

•Beim Fahren, Fliegen, Rollen, Stehen, beim Transport: Welche Phänomene liegen zugrunde, welche Naturkräfte, welche Errungenschaften, welche Technik, wie geht das, wer macht das?

•Beim Konsumieren, Verbrauchen: Was kostet das wirklich, was ist drin, woher kommt das, wie viele und welche Rohstoffe, wie viel und welche Arbeit steckt drinnen?

•In der Arena: Was lässt uns brüllen, weinen, sich vergessen?

•In den Beziehungen, der Liebe, der Freundschaft: Wie finden Menschen zusammen, was hält im Innersten zusammen? Was haben sie für Pläne und Entwürfe?

•Im Konflikt: Wie entstehen Zerwürfnisse, Spannungen, Gräben? Wo hat Entfremdung ihre Ursachen, wo beginnen Aggressionen, wo kann man sie beobachten?

Die wichtigen Fragen beginnen alle mit »W«

•Warum geschieht es?

•Wem nutzt es?

•Was steckt dahinter?

•Was ist sichtbar, was unsichtbar?

•Was kommt danach?

•Wer ist betroffen?

Und immer wieder: Menschen, Menschen, Menschen!

Schon der Streifzug Merciers förderte in erster Linie Menschen-Geschichten zu Tage. Und so ist das Flanieren, das Wandern, das Wundern, das Beobachten, das Streunen und Staunen nur die eine Seite der Themen-Streifzüge.

Die andere ist es, Menschen aufzuschließen. Menschen anzugraben. Sich auf sie einzulassen. Ihnen genau zuzuhören, wie sie sprechen, wenn sie unter sich sind. Wenn sie ihre Geschichten erzählen. Oder keine mehr haben. Wenn sie lieben oder sich streiten.

In jedem Falle: Reden lassen und zuhören. Erst mal gar nicht dazwischenquatschen oder überflüssige Erklärungen abgeben. Es reicht bereits ein normales Interesse, ein Kümmern, eine Kultur des Kontaktes, die alles andere als exotisch ist. Als Journalisten noch tranken und rauchten, holten sie sich viele dieser Kontakte und Informationen direkt in der Kneipe. Tatsächlich bekam man hier Tipps gesteckt, erfuhr das Neueste – mittendrin statt nur dabei!

Ausstöpseln, Stecker raus. Und rausgehen!

Die Kultur der Stammkneipe hat an Bedeutung verloren, und sie war ja auch mitunter etwas einseitig. Doch auch eine neue Kultur der Vereinzelung, in der nicht mehr die Kollegen, die Freunde, die Nachbarn und Umsitzenden die Geschichten erzählen, sondern elektronische Schaltkreise – diese neue Kultur ist auch für Journalisten auf Menschensuche nicht unbedingt das beste Umfeld.

»Log-out« ist deshalb das Stichwort, um die Sinne, auch für Geschichten, wieder zu schärfen. Ausstöpseln, Stecker raus. Und rausgehen!

Es gibt hierfür verschiedene Experimentierfelder, Streifzüge eben, Stadionbesuche, Selbstversuche. Wir schlüpfen in Rollen, spielen mit – aber nicht, weil wir uns dabei böse verstellen wollen. Es macht Spaß und ist professionell. Wir profitieren auch in unserer Persönlichkeit davon, auf Menschen zuzugehen, Menschen zu verstehen und ihnen anzubieten: Sprich mit mir.

Dem rasenden Reporter raunten sie am Ende zu: »Schreib das auf, Kisch!« Es wurde zum geflügelten Wort.

Als Spezialisten für Menschen-Geschichten eignen wir uns das Instrumentarium, das Werkzeug an, das wir brauchen: Persönlichkeit, Souveränität, Selbstbewusstsein, Humor, Selbst-Ironie.

Es gehört nicht viel zu der Behauptung, dass auch andere charismatische Menschenversteher so arbeiten müssen: Lehrer oder Ärzte etwa. Legion sind die Geschichten über herausragende Lehrer, über die mancher heute noch sagt, ohne ihn oder sie hätte er gar nichts verstanden und wäre kläglich gescheitert. Im Gegensatz zu den anderen, die …

Der Berliner Krebsspezialist Bernhard Wörmann erzählt eine ganz erstaunliche Geschichte. Sie handelt nicht von neuesten Errungenschaften, Wirkstoffen oder Therapien der Medizin. Sie handelt von der verblüffenden Erkenntnis, dass auch der Chefarzt eine Art guter Journalist ist. Er hört manchmal einfach nur zu.

Viele Patienten, speziell die mit einer schweren, lebensbedrohlichen Erkrankung, sind im Laufe der Zeit selbst zu Spezialisten für ihr Leiden geworden. Mehr noch: Sie sind die ultimativen Experten für die Empfindungen ihres eigenen Körpers, kein Sensor, keine Computer-Tomografie, kein Endoskop lässt so tief blicken. »Ich fühl’ mich heut nicht«, sagt eine Patientin. Auch in Zeiten der High-Tech-Medizin ist es manchmal ein solcher Satz, berichtet Wörmann, der den entscheidenden Hinweis geben kann. Wie er gesagt wird. Und wie er gehört wird.

»Log-out«, Ausstöpseln – das ist keine Propaganda gegen die virtuelle Gemeinschaft der sozialen Netzwerke. Facebook ist ein eigenes Kapitel, bietet faszinierende und unerreichte Möglichkeiten – in einer solchen Fülle und Geschwindigkeit, dass es unglaubwürdig und unprofessionell wäre, solche neuartigen Optionen nicht zur Kenntnis zu nehmen und zu nutzen.

Doch darum geht es hier gar nicht, denn beim »Log-out« wecken und trainieren wir Schlüsselqualifikationen, ohne die man nicht lernen, nicht leben, nicht lesen und in letzter Konsequenz auch nicht schreiben kann.

Deshalb empfiehlt der Astronom und Internet-Spezialist Clifford Stoll das »Logout«, das Ausstöpseln, das Leben unplugged, auch ganz offiziell als Medizin in der Bildungskatastrophe. Als Therapie, wenn wir unsere Kinder nicht mehr dazu bringen können, sich in aller Ruhe auf eine Sache zu konzentrieren, sie wirklich gelassen anzugehen – und sie konsequent bis zum Ziel, zu Ende zu bringen.

Daran krankt es heute. Verzweifelt versucht die Gesellschaft, einer Generation der Reizüberflutung den elektronischen Saft wieder abzudrehen.

Damit nicht genug: In letzter Not, wenn gar kein Spielzeug mehr dazu taugt, länger als 30 Sekunden lang benutzt zu werden, räumen unsere Kindergärtnerinnen und Erlebnispädagogen all den schönen Kram beiseite, lagern ihn ein in Kellern und auf Speichern – und lassen unseren Nachwuchs mit sich selbst allein in einem leeren Zimmer. So entstehen wieder Abzählreime. Und bei einer Kanutour auf einsamen Gewässern hört man, wenn die Paddel eingeholt werden – nichts! Diese Stille kann einen schwindlig machen.

Eine Geschichte am Rande: Meine Tage im Kloster

Als ich mich zum Schreiben für ein paar Tage in die dicken Mauern des Klosters Marienrode bei Hildesheim zurückzog, ahnte ich nicht, dass ich mich mit der abrupten Einsiedelei im Exerzitienhaus einer ernsten Belastungsprobe unterziehen würde.

Ich wollte Zeit für mich haben, möglichst viele Stunden am Tag schreiben – doch ich traf Menschen. Leider oder zum Glück hatte ich bei Maria Elisabeth, der leitenden Ordensschwester der Benediktinerinnen, das ganze Programm geordert: Frühstück (8.45 Uhr), Mittagbrot (12.15 Uhr), Abendessen (18 Uhr), dazu Laudes (5.30 Uhr), Heilige Messe mit Terz (7.45 Uhr), Mittagshore (11.40 Uhr), Vesper (17.30 Uhr), Komplet und Vigilien (19.15 Uhr), also das ganze Lob des Tages und des Herrn.

Es ist ein in zwei Jahrtausenden ausgeklügeltes Psycho-Programm, das jeden mit seiner ganzen Wucht und Stille, seinem Glockengeläut, seinen Gebeten, Liedern und Litaneien vollkommen gefangen nimmt. Ich ließ es gerne zu, denn warum hätte ich meinen eigenen journalistischen Grundsätzen untreu werden und den Leuten die kalte Schulter zeigen sollen?

Warum sollte ich nicht morgens um halb sechs mit ihnen den Tag begrüßen? Und mittags in vollkommener Stille mit geschlossenen Augen so lange warten, bis es 12 vom Kirchturm schlägt? Was war dagegen einzuwenden, anschließend mit dem gemeinsamen Lied »Das eine Brot wächst auf vielen Halmen« eine einfache Mahlzeit zu beginnen, die aus einem schlichten Eintopf bestand, der bei Pauschalreisenden zurückgegangen wäre?

Es war so schön, dass ich unbedingt darüber schreiben muss – aber erst hinterher. Denn im Kloster klappte das nicht so gut.

Die Kammer hatte ein Bett, eine Lampe, eine Bibel, ein Kreuz und immerhin eine Steckdose. Die Mauern waren so dick, dass Handy und Netbook kein Netz hatten. An Ablenkung, die ich brauche und mit der ich mich so lange beschäftigen kann, bis ich unter Zeitdruck stehe und endlich wieder schreibe, hatte sie – nichts.

Und warum sollte ich meinen Überzeugungen untreu werden und beim Essen keinerlei Interesse für meine Mit-Klosterbewohner zeigen? Warum sollte ich nur stumm dahocken, um mich schnell wieder in meine Kammer zu trollen?

Das entpuppte sich schließlich als Hauptproblem. Das waren alles Gestrandete, Geflüchtete, Log-out-Spezialisten wie ich, die da am Tisch der »Einzelgäste« zusammensaßen. Die anderen waren Gruppen, die sich zum Beispiel Atmungs-Entspannungsübungen bei vollem Bewusstsein widmeten. Aber hier saßen die Einzelgäste. Geschichten ohne Ende.

•Eine 50-Jährige hatte im Kloster-Buchladen spontan entschieden, über Nacht hierzubleiben. Zuhause fiel ihr die Decke auf den Kopf. Sie hatte in letzter Zeit immer öfter Streit mit ihrem Mann. So ging es jetzt um das Ziel der letzten gemeinsamen Reise mit den flügge gewordenen Kindern. Außerdem wollten die Nachbarn eine Riesenfete veranstalten. Das würde Lärm und Ärger geben. Am nächsten Morgen saßen wir noch länger nach dem Frühstück zusammen. Ich hatte ja Zeit und konnte sie wirklich gut verstehen. Ich hoffte, sie würde wieder gut zuhause ankommen.

•Eine 38-jährige Unternehmerin fastete bereits seit sechs Tagen. Wenn ich Eintopf löffelte oder Nudeln mit Tomatensauce, anschließend noch eine Cremespeise, schlürfte sie Früchtetee. Dies war bereits eine Lockerung, denn normalerweise muss es nach ihrer Methode eigentlich heißes Wasser mit etwas Blütenaroma sein. Sie war stark, unheimlich stark. Wenn wir nach dem Essen noch länger am Tisch beisammen saßen, entstand im Gespräch ein Gefühl der Vertrautheit. Als wir über ihre Angst sprachen, keine gute Mutter zu sein, begann sie zu weinen.

Und dann waren da noch:

•Der französischer Priester, der sich zuhause am Montmartre aus der Mikrowelle ernährt.

•Die Frau aus Bremen, die immer noch mit ihrer toten Schwester spricht und hadert, mit der sie einst zusammenlebte.

•Eine Doktorandin, die darüber schreibt, wie aus Gesten Sprache wurde, dabei aber nicht mehr als drei Seiten am Tag schafft.

•Der Kloster-Dauergast, der sich von den Schwestern auf der Suche nach sich, Sinn und Erfüllung neben all dem Beten auch noch dankbar zum Fensterputzen, Abwaschen, Kirschenpflücken und Nüsseknacken einteilen lässt. Ora et labora.

•Die pensionierte Lehrerin aus Freiburg, die jedes Jahr drei Monate in einem indischen Kinderdorf mit Leprastation verbringt und dort als Nachfolgerin der »großen Mutter« Schwester Baptista als »kleine Mutter« verehrt wird …

Wie gesagt, zuhause schaffte ich dann wieder mehr.

Themen-Streifzüge sind also nichts anderes als Sondieren, Vermessen, Begreifen, Kapieren, Mitkriegen. Sich auf die Lauer legen. Sich zeigen. Wir legen einen journalistischen Vorrat an.

Aus ihm können wir später schöpfen. Es empfiehlt sich tatsächlich, Notizen zu machen, Listen zu erstellen. Im Grunde genommen schlägt bereits jetzt derjenige zwei Fliegen mit einer Klappe, der sich hierfür konsequent ein Tagebuch oder einen Blog zulegt. Dies ist nach Art des »Log-out« nämlich nicht altmodisch, sondern eine Disziplin, die schult und mit Geld nicht zu bezahlen ist.

Denn nicht nur das Themenfinden ist eine Klippe, sondern besonders auch das Schreiben, von dem später die Rede sein wird. Wer sich ein Tagebuch oder einen Blog zulegt und dort regelmäßig und systematisch Notizen, Erinnerungen, Ideen und Formulierungen seiner Streifzüge niederlegt, feilt damit bereits an seinem persönlichen journalistischen Profil. Damit hat er schon viel erreicht.

Themen-Konferenzen (Brainstorming)

Solche Themen-Finder, wie wir sie eben beschrieben haben, gibt es noch viel zu wenige. Und sie sind nicht nur am Anfang der Laufbahn gefragt, sondern werden auch später viel zu selten ermutigt. Noch immer herrscht in Redaktionen das Idealbild vor, dass Journalisten in Personalunion Themen aufspüren, recherchieren und aufschreiben.

Eine sinnvolle Arbeitsteilung könnte indes zumindest darin liegen, auch Schnüffler und Entdecker als Themen-Scouts zu belohnen, sie systematisch einzusetzen und zu integrieren. Eine erfolgreich ersonnene und von jemand anderem journalistisch umgesetzte Themen-Idee würde danach ebenfalls »belohnt« – mit Anerkennung, Erfolg, Gratifikation, Renommee. An solchen Belohnungsmechanismen krankt es jedoch, solange nur derjenige als guter Journalist gilt, der eine gute Story besonders gut geschrieben hat.

Im investigativen, aufdeckenden Journalismus gilt dieser Satz schon lange nicht mehr. Dort setzt man längst auf Arbeitsteilung und die besonderen Stärken der Einzelnen in Teams:

•Auf Spezialisten, die die Story »riechen« oder sie sich mit ihren zahlreichen Kontakten erarbeiten, kombinieren und von Informanten stecken lassen.

•Auf Rechercheure, die das Material haarklein und lückenlos zusammentragen, um dann als »Bärenführer« die Schreiber ans Ziel zu bringen.