Kalte Herberge - Werner Kehrer - E-Book

Kalte Herberge E-Book

Werner Kehrer

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Beschreibung

Die Glocken der Marienkirche riefen zum Gottesdienst, als Christel Kühn das Haus von Professor Dr. Herbert Steinacher und seiner Frau Friedericke von Aach betrat. Sie war dort als Haushaltshilfe im Dienst. Steinacher leitete eine Klinik für plastische Chirurgie. Seine Frau verbrachte ihre Zeit mit Einkaufen und Reisen. Die Dame des Hauses hatte am Vorabend eine Wiedersehensparty mit Freunden, die sie im Skiort Ischgl kennengelernt hatte, gefeiert. Als Frau Kühn die Tür zum Schlafzimmer öffnet, um die gnädige Frau zu wecken, macht sie eine grausige Entdeckung: Frau von Aach liegt tot im Bett, erdrosselt. Kriminalhauptkommissar Gerhard Meininger und sein Team stehen vor turbulenten Ermittlungen, die auch ins österreichische Ischgl führen.

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Der Autor

Werner Kehrer

ist in Reutlingen geboren und lebt mit seiner Familie in Metzingen-Neuhausen. Er arbeitet als Ausbildungsmeister für Elektroniker, ist Hobby-Wengerter und schreibt seit 2007 Schwabenkrimis mit Hauptkommissar Gerhard Meininger als leitendem Ermittler.

Kalte Herberge

Die kalte Herberge ist ein Gewann am Fuße der Achalm in der Reutlinger Bezirksgemeinde Sondelfingen. Der Name ist schon alt und wird in Deutschland mehrfach verwendet. Dort befand sich ein Bauernhof der Ende der sechziger Jahre aufgegeben wurde. Das Gebäude ist in den siebziger Jahren abgerissen worden. Seitdem befindet sich dort ein Gartenhausgebiet.

Titel

Werner Kehrer

KALTE HERBERGE

Krimi

Oertel+Spörer

Impressum

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel+Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2022

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehalten.Titelfoto: Werner Kehrer

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Bernd Weiler

Korrektorat: Sabine Tochtermann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-161-9

Besuchen Sie unsere Homepage und informierenSie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Die Glocken der fernen Marienkirche riefen zum Gottesdienst, als Christel Kühn auf die Terrasse des Hauses von Professor Dr. Herbert Steinacher und seiner Frau Friedericke von Aach trat. Sie war dort seit vielen Jahren als Haushaltshilfe im Dienst. Steinacher betrieb sehr erfolgreich eine Klinik für plastische Chirurgie in Reutlingen und war ein hoch angesehener Experte auf diesem Gebiet. Dementsprechend war er ein viel beschäftigter Mann und aus diesem Grund auch selten zu Hause anzutreffen. Seine Frau vertrieb sich die Zeit mit Einkaufen und Reisen. Und so hatte die Dame des Hauses, die den Namen ihres ersten Mannes behalten hatte, am Vorabend eine Wiedersehensparty mit Freunden, die sie im österreichischen Skiort Ischgl kennengelernt hatte, gefeiert. Entsprechend sah es auf der weitläufigen Terrasse auch aus: Überall standen halb ausgetrunkene Gläser und Teller mit Resten vom Büfett. Zuerst sammelte Christel Kühn alle Gläser ein und brachte sie in die Küche, um sie in die Spülmaschine einzuräumen, auf dieselbe Weise verfuhr sie mit den Tellern und dem Besteck. Das Ganze dauerte eine gute halbe Stunde. Dann begann sie, die Wohnung von den Spuren der Nacht zu befreien. Die Tür zum Schlafzimmer war nur angelehnt. Um nicht zu stören, schloss sie die Tür vorsichtig. Anschließend putzte sie die Böden nass und reinigte das Bad und die Toiletten. Kurz vor zwölf Uhr klopfte sie vorsichtig an die Schlafzimmertür, um Bescheid zu geben, dass sie mit ihrer Arbeit fertig sei. Niemand antwortete. Eigentlich erwachte der Professor immer als Erster, denn er war es von Berufs wegen gewohnt, öfter aus dem Schlaf gerissen zu werden. Christel Kühn ging hinab in die Garage, um nachzuschauen, ob das Auto des Professors da war. Da dies nicht der Fall war, vermutete Kühn, dass Friedericke von Aach mal wieder zu viel getrunken hatte. Christel Kühn ging in die Küche, um eine Flasche Selters und ein Glas auf ein Tablett zu stellen, um es auf den Nachttisch neben das Bett von Friedericke von Aach zu stellen. Vorsichtig öffnete sie die Schlafzimmertür. Der Rollladen war heruntergelassen, sodass im Zimmer völlige Dunkelheit herrschte. Christel Kühn stellte das Tablett deshalb nicht auf dem Nachttisch, sondern auf einer Spiegelkommode ab. Das Licht, das durch die geöffnete Schlafzimmertür eindrang, erleuchtete den Raum notdürftig. Im Spiegel sah Christel Kühn hinüber zum Bett. Friedericke von Aach lag mit seltsam verdrehtem Körper völlig nackt und unbedeckt im Bett. Ihre Augen waren weit aufgerissen und am Hals zeigten sich deutliche, dunkle Flecken. Bei diesem Anblick erschrak Christel Kühn. Sie stieß einen Schrei aus und rannte aus dem Schlafzimmer. Nur sehr schwer konnte sie sich wieder fassen. Dann suchte sie das Telefon und rief völlig aufgelöst bei der Polizei an.

Kriminalhauptmeister Carsten Dombrowski sah missmutig zum Fenster der Dienststelle hinaus. Eigentlich hätte er an diesem Sonntag freigehabt, aber sein Kollege Willi Früh musste seinem Schwager bei der Heuernte helfen. Also sprang Dombrowski ein und ärgerte sich nun über diese Entscheidung. Es war ein schöner, warmer Sommertag draußen, also ideales Badewetter. Zudem musste er auch noch die neue Kollegin, Kriminalhauptmeisterin Lisa Fellner, einarbeiten. Sie war vor ein paar Tagen von der Polizeischule zu der Kripo in Reutlingen gestoßen. Dombrowski wurde durch das Summen des Telefons aus seinen Gedanken gerissen. Am anderen Ende war ein Kollege vom Streifendienst, der einen unnatürlichen Todesfall in einer Villa an der Achalm meldete. Dombrowski notierte sich die Adresse und sah im Stadtplan nach, wo sich das Haus befand. Dann machte er sich mit seiner Kollegin Fellner auf den Weg. Wenig später fuhr er vor die imposante Garage der Villa in der Burgstraße, unterhalb des Schönen Weges am Fuße der Achalm, einer Exklusivwohnlage in Reutlingen. Der Zugang zum Haus führte über einen steilen, serpentinenartigen Weg nach oben. Am Hauseingang wurden Dombrowski und Fellner von den Streifenkollegen in Empfang genommen und zum Fundort der Leiche gebracht.

»Es ist eine weibliche Leiche. Es handelt sich um die Bewohnerin des Hauses, eine Frau von Aach. Sie wurde wohl mit einer Schnur erdrosselt.«

»Wurde die Spurensicherung schon verständigt?«, fragte Dombrowski.

»Die sind schon auf dem Weg hierher«, antwortete der Beamte.

»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte Fellner.

»Die Hausdame, sie heißt Kühn, Christel Kühn. Sie wird gerade vom Arzt versorgt. Die Frau hat einen Schock erlitten.«

Der Beamte zeigte Dombrowski und seiner Kollegin das Zimmer, in dem sich die Frau befand. Als der Arzt die beiden sah, schüttelte er den Kopf.

»Jetzt nicht, die Frau braucht Ruhe. Hat das nicht Zeit bis heute Nachmittag?«

»Wir brauchen ein paar Auskünfte, um die Angehörigen zu verständigen. Ist außer der Frau und der Toten noch jemand anwesend?«

»Nein. Der Hausherr ist nicht anwesend. Es handelt sich um den bekannten Chirurgen Professor Dr. Steinacher«, mischte sich der Streifenbeamte ein.

»Den kenn ich nicht«, sagte Dombrowski.

»Aber ich«, warf Fellner ein. »Er hat meinen Bekannten nach einer schweren Gesichtsverletzung erfolgreich operiert.«

»Wo kann man den Herrn Professor erreichen, weiß das zufällig jemand?«, fragte Dombrowski gelangweilt.

»Die Frau Kühn hat es schon mit dem Handy probiert, aber ohne Erfolg«, antwortete der Streifenbeamte.

»Gibt es schon irgendwelche Spuren, die ausgewertet werden können?«

»Nein, leider. Denn die Frau Kühn hat offenbar sehr gründlich geputzt, bevor sie die Leiche fand.«

»Ach du Scheiße, das kann ja heiter werden. Wenn es keine Einbruchspuren gibt, müssen wir davon ausgehen, dass das Opfer den Täter gekannt hat. Hatte die Dame Besuch? Weiß man das?«

»Das müssen wir die Frau Kühn noch fragen.«

Wenig später trafen die Kollegen vom Erkennungsdienst ein und begannen mit ihrer Arbeit.

Der Arzt, der den Tod der Frau bestätigte, kam aus dem Schlafzimmer.

»Herr Doktor, können Sie uns sagen, wann der Tod der Frau eingetreten ist?«, fragte Dombrowski.

»Zunächst einmal ist der Tod durch Erdrosseln eingetreten, der genaue Todeszeitpunkt kann noch nicht ermittelt werden, aber ich denke, dass es am frühen Morgen war.«

»Danke für die Auskunft. Ich glaube, ich ruf mal den Chef an, die Sache interessiert ihn bestimmt. Auch am Sonntag.«

»Na, der wird sich freuen«, kommentierte Lisa Fellner.

Ein kühlender Wind strich über den Balkon von Gerhard Meininger, als er aus seinem Mittagsschlaf erwachte. Soeben hatte er im Unterbewusstsein das Vibrieren seines Handys mitbekommen. Schlaftrunken sah er auf das Display und erkannte die Nummer seines Kollegen Dombrowski.

»Was gibt es denn so Wichtiges?«, fragte er missmutig.

»Ich bin in der Burgstraße bei einem Professor Steinacher. Da ist ein Mord passiert. Das Opfer ist die Ehefrau und der Herr Professor ist nicht zu Hause und auch nicht zu erreichen.«

»Steinacher? Das ist doch der, dem die Privatklinik gehört! Ich komme«, antwortete Kriminalhauptkommissar Gerhard Meininger.

Wenig später traf er am Tatort ein. Da die Garageneinfahrt von Einsatzfahrzeugen zugeparkt war, musste Meininger den Wagen auf der Straße abstellen. Da die Sonne unbarmherzig vom Himmel brannte, kam er beim Anstieg der serpentinenartigen Auffahrt ins Schwitzen.

Die Haustüre stand offen, weil sich ein Kriminaltechniker daran zu schaffen machte, um Spuren zu sichern. Nachdem er eine großzügige Eingangshalle durchquert hatte, sah er Lisa Fellner und Carsten Dombrowski, die sich mit einem Mann unterhielten.

»Ah, da kommt er ja«, sagte Dombrowski und deutete auf den Kriminalhauptkommissar.

»Hallo«, grüßte der.

»Das ist der Doktor Schneider, er hat die erste Analyse der Todesursache vorgenommen«, sagte Fellner.

»Aha, gut, und was können Sie uns sagen?«, fragte Meininger.

»Tod durch Erdrosseln. Meiner Schätzung nach in den frühen Morgenstunden. Genaueres wird die Obduktion zeigen.«

»Ist die Leiche noch da?«

»Ja, sie liegt da drüben im Schlafzimmer«, fügte Dombrowski hinzu.

Meininger folgte seinen beiden Kollegen ins Schlafzimmer. Dort lag unter einer Decke die Leiche. Meininger trat an das Bett heran und schlug die Decke zurück, bis sie den Oberkörper freigab.

»Die ist ja nackt!«

»Ja. Die Frau war vollkommen nackt, als sie aufgefunden wurde. Die Hausangestellte wollte sie noch anziehen, hat es aber dann gelassen.«

»Wo ist der Herr Professor?«

»Nicht da. Nur die Hausangestellte.«

»Dann ruf ich mal in der Klinik an«, sagte Meininger. Auf einem Tisch lag ein Notizblock, der als Werbegeschenk diente. Auf diesem waren die Kontaktdaten der Klinik Steinacher abgedruckt. Doch niemand ging ans Telefon.

»Geht keiner ran. Wo ist die Hausangestellte?«

»Die sitzt in der Küche. Der Arzt meint, dass sie im Augenblick nicht vernehmungsfähig ist.«

»Hm«, brummte Meininger und ging hinüber in die Küche.

Dort war aber niemand mehr. Er sah sich in dem Raum um. Alles war blitzblank geputzt worden. Die Spülmaschine gab ein Signal, dass sie ihre Arbeit beendet hatte. Meininger öffnete die Maschine und sah hinein. Eine große Menge Teller und sehr viel Besteck kamen zum Vorschein. Dann entdeckte er eine Pinnwand, auf der Ansichtskarten und Fotos angebracht waren. Die Bilder zeigten eine junge Frau mit kleinen Kindern in einem Garten. Er nahm eine der Ansichtskarten ab und las den Text auf der Rückseite.

»Einen lieben Gruß aus Lima an die Omi, von den Enkeln«, war da zu lesen.

Die Karte stammte also aus Peru. Daneben las er den Belegungsplan eines Fitnessstudios. Ein weiteres Foto zeigte einen jungen Mann, der an eine Limousine mit geöffneter Tür, gelehnt war. Auf der Rückseite stand: »Mein erstes Dienstfahrzeug« und darunter: »Für dringende Fälle« eine Telefonnummer. Meininger nahm das Foto an sich und ging zur Küche hinaus. Im weitläufigen Wohnzimmer, mit herrlicher Aussicht auf Reutlingen, saß eine ältere Frau zusammengekauert in einem Sessel. Sie starrte ins Leere. Meininger trat an sie heran und zeigte der Frau das Foto.

»Ist das der Sohn von Frau Steinacher?«

Die Frau sah mit geröteten Augen zuerst Meininger und das Bild an. Schweigend nickte sie und vergrub ihren Kopf schluchzend in den Händen. Meininger ging hinaus auf die Terrasse und wählte die Nummer auf der Rückseite des Fotos. Niemand hob ab. Dann ging er wieder zurück ins Wohnzimmer. Die Frau hatte sich inzwischen wieder beruhigt, machte aber den Eindruck, als stände sie unter Drogen.

»Der Arzt hat ihr eine Beruhigungsspritze gegeben, sie dürfte im Augenblick nicht ansprechbar sein«, sagte Dombrowski.

Meininger sah sich im Wohnzimmer um. Alles war sauber, keine Spur einer Party oder Ähnlichem.

»Dem Inhalt der Spülmaschine nach zu urteilen, muss gestern Abend eine Party stattgefunden haben«, sagte Meininger.

Er beobachtete dabei die Arbeit der Leute vom Erkennungsdienst. Wenig später erschien ein Bestattungsunternehmen, welches die Leiche ins Rechtsmedizinische Institut der Universität Tübingen zu Professor Haimerl und Dr. Schweizer brachte. Meininger sah sich um, er suchte etwas Bestimmtes. Dann, auf einem an der Wand angebrachten Regal, sah er das, nachdem er sich umgeschaut hatte: Ein schnurloses Telefon stand in einer Ladestation. Er ging hinüber und sah sich zuerst die Liste der eingegangenen und abgehenden Telefonate an. Diese verglich er mit der Nummer auf dem Foto des jungen Mannes. Die tauchte allerdings in den letzten Tagen nicht auf. Meininger wählte nun abermals die Nummer von dem Foto, aber mit dem Telefon des Hauses. Wenig später wurde auf der anderen Seite abgenommen.

»Ja? Mutter, was gibt’s denn?«, antwortete eine verschlafene Stimme genervt.

»Hier spricht Kriminalhauptkommissar Meininger von der Kriminalpolizei Reutlingen, mit wem spreche ich bitte?«

Die Verbindung wurde sofort unterbrochen. Verdutzt schaute Meininger auf das Display des Gerätes. Dann unterbrach auch er das Gespräch. Wenig später klingelte das Telefon. Es war dieselbe Nummer, die Meininger gewählt hatte.

»Hallo«, meldete er sich.

»Was ist los? Warum gehen Sie an das Telefon meiner Mutter?«

»Weil ich hier im Hause bin! Mit wem spreche ich bitte?«, sagte Meininger gelassen.

»Mein Name ist Harald von Aach! Ich bin der Sohn, was ist passiert?«

»Wäre es möglich, dass Sie hierherkommen? Ich möchte das nicht am Telefon mit Ihnen besprechen.«

»Das geht nicht so schnell! Ich bin zurzeit in Berlin.«

»Ihre Mutter wurde heute Morgen tot aufgefunden.«

»Tot? Ja, was ist denn passiert, um Gottes willen?«

»Sie wurde erdrosselt! Wissen Sie, wo sich Ihr Vater im Augenblick befindet?«

»Wenn der nicht zu Hause ist, dann in seiner Klinik, wo auch sonst.«

»Gut, dann wissen Sie ja Bescheid. Haben Sie Geschwister?«

»Ja, meine Schwester Susanne, die wohnt aber in Peru.«

»Ich danke Ihnen für die Auskunft. Es wäre mir recht, wenn Sie sich bei mir melden würden, wenn Sie wieder in Reutlingen sind.«

»Ja, okay. Das mache ich.«

Der Mann unterbrach die Verbindung. Meininger überlegte kurz, dann ging er ins Wohnzimmer, wo die Hausangestellte immer noch saß.

»Hat hier gestern Abend eine Veranstaltung stattgefunden?«, fragte er.

Die Frau nickte wortlos.

»Und Sie sind heute Morgen gekommen, um alles wieder aufzuräumen, stimmt’s?«

Wieder nur ein Nicken.

»Wie heißen sie denn?«

»Kühn, Christel Kühn.«

»Also Frau Kühn, Sie haben bestimmt sofort nach Ihrer Ankunft mit dem Aufräumen begonnen. Habe ich recht?«

»Ja.«

»Stand die Tür zum Schlafzimmer offen, als Sie kamen?«

»Die war angelehnt. Ich habe sie dann zugemacht, um die Frau von Aach nicht zu stören«, antwortete die Frau leise.

»Frau von Aach?«

»Sie hat den Namen ihres ersten Mannes behalten.«

»Wie hat es hier ausgesehen, bevor Sie anfingen aufzuräumen?«

Dieses Mal zuckte die Frau nur mit der Schulter. Meininger konnte sich seinen Teil dazu denken. Wie sah es wohl nach einer Party aus? Wie Kraut und Rüben natürlich!

»Wie lange ungefähr haben Sie gebraucht, bis Sie mit allem fertig waren?«

Wieder zuckte die Frau nur mit der Schulter.

»Ich schätze mal, zwei Stunden, oder?«

Die Frau nickte langsam.

»Wann haben Sie Ihren Dienst angetreten? Neun, halb zehn?«

»Halb zehn, wie immer.«

»Dann haben Sie die Frau Steinacher so um zwölf Uhr herum aufgefunden«, bohrte Meininger nach.

»Das deckt sich ungefähr mit dem Eingang des Notrufes«, mischte sich Dombrowski ein.

»Wissen Sie, wo sich der Herr Professor aufhalten könnte?«

Die Frau schüttelte nur den Kopf und senkte wieder ihren Kopf.

»Ich ruf noch mal in der Klinik an. Ich denke, da wird doch wohl jemand am Sonntag Dienst haben.«

Dieses Mal hatte Meininger Glück. Er bekam von der diensthabenden Pflegeleiterin die Auskunft, dass der Herr Professor seit dem Vorabend nicht mehr in der Klinik gewesen war. Wo er sich im Augenblick befinde, konnte die Angestellte nicht sagen.

Als ein Vertreter der Staatsanwaltschaft eintraf, überließ Meininger alles Weitere den anwesenden Kollegen Fellner und Dombrowski. Er hatte vor, am Nachmittag in die Mercedes-Benz Arena zum Heimspiel des VfB Stuttgart zu gehen.

Am Montagmorgen wurde eine Besprechung über den Mordfall Steinacher mit dem Staatsanwalt anberaumt. Meininger hatte sich vorbereitet und einige Stichpunkte auf einer Pinnwand notiert.

»Die derzeitige Lage stellt sich wie folgt dar«, begann er, »die Frau von Aach wurde am frühen Morgen des gestrigen Sonntags erdrosselt. Der genaue Todeszeitpunkt wird erst nach der Obduktion feststehen. Offenbar fand im Hause Steinacher eine Party statt. Wir wissen nicht, ob der Professor Steinacher bei der Party anwesend war, denn er ist bis jetzt nicht erreichbar. Das kann zwei Ursachen haben: Erstens, er war an der Tat beteiligt oder zweitens, er wurde selber Opfer. Sollte er der Täter sein, dann könnte man ihn vielleicht in einem seiner Feriendomizile antreffen. Wie die Kollegen gestern noch ermitteln konnten, besitzt der Mann mehrere Häuser in exklusiven Wohngegenden in Deutschland und im Ausland. Die Kollegen haben des Weiteren herausgefunden, dass Steinacher ein Flugzeug besitzt, das am Stuttgarter Flughafen stationiert ist. Nach Auskunft der Flugüberwachung ist die Maschine aber in den letzten Wochen und bis heute nicht bewegt worden. Die Kollegen sind im Augenblick dabei, in den betreffenden Gemeinden im Inland, in denen sich Immobilien Steinachers befinden, nach dem Verbleib des Professors zu fahnden. Die Hausangestellte ist ab heute wieder vernehmungsfähig und wird auf den Nachmittag vorgeladen. Ich persönlich werde im Anschluss in die Klinik fahren, um mir dort über die Arbeitsumgebung des Professors ein Bild zu machen. Der Sohn des Ehepaars Steinacher wird im Laufe des Tages aus Berlin eintreffen und uns ebenfalls für eine Befragung zur Verfügung stehen.«

»Sie wissen aber schon, dass der Herr Steinacher Junior in Berlin eine bedeutende Persönlichkeit auf politischer Ebene ist«, warf der Staatsanwalt ein.

»Das kann uns in unserer Arbeit aber nicht tangieren, Herr Staatsanwalt. Wir müssen trotzdem den Mörder der Frau Steinacher, und ich nenne das Opfer der Einfachheit halber so, finden. Sollten sich brisante Details ergeben, sind wir selbstverständlich diskret. Das sollte ich eigentlich nicht erwähnen müssen.«

»Ich meine nur, wegen der politischen Brisanz. Sie wissen, im Herbst sind Wahlen, da sind die Herren nervös«, sagte der Staatsanwalt.

»Die Tochter des Hauses, eine gewisse Susanne Mendez, lebt in Peru und ist bis jetzt ebenfalls nicht erreichbar. Dies wird aber im Laufe des Tages versucht. Zu unserem großen Bedauern hat die Hausangestellte das Opfer erst nach dem Reinemachen der Wohnung aufgefunden, sodass die Kollegen vom Erkennungsdienst kaum verwertbare Spuren finden konnten. Offenbar hat die Hausangestellte, Frau Kühn, ganze Arbeit geleistet. Über die Gäste der Feier wissen wir bis jetzt so gut wie gar nichts. Da versprechen wir uns bei der Vernehmung der Frau Kühn einiges herauszubekommen. Ebenfalls werden wir bei den Nachbarn Erkundigungen einziehen, vielleicht war der ein oder andere anwesend oder hat möglicherweise eine Beobachtung gemacht, die uns weiterhelfen könnte.«

»Gut, dann haben Sie ja ganz schön was zu tun. Sie melden sich bei mir, sobald die Lage eine Pressekonferenz zulässt. Die Öffentlichkeit hat ein gewisses Interesse daran zu erfahren, was bei einem so verdienten Bürger der Stadt, geschehen ist«, sagte der Staatsanwalt und stand auf, um sich zu verabschieden.

Der Chef der Reutlinger Kripo, Kriminaldirektor Heinrich, war nicht anwesend, da er sich bei einem Kongress in Hamburg befand. Er wurde aber telefonisch über dem Stand der Ermittlungen unterrichtet.

Um Punkt elf Uhr saß die Hausangestellte Steinachers im Besucherraum der Kripo. Carsten Dombrowski und seine Kollegin Fellner sollten sich mit der Frau befassen, während sich Meininger und sein Kollege Christian Fromm auf den Weg zur Klinik Steinacher in die Obere Wässere in Reutlingen machten. Eigentlich hätten sie den Weg auch zu Fuß zurücklegen können, aber im Anschluss stand noch die Befragung der Nachbarn auf der Agenda.

Kriminalhauptmeister Carsten Dombrowski und Lisa Fellner führten Christel Kühn in den Vernehmungsraum. Dort waren sie bei ihrer Arbeit ungestört, denn der Kollege Willi Früh war mit einem anderen Fall beschäftigt und musste öfter telefonieren. Christel Kühn nahm auf dem ihr angebotenen Stuhl Platz und stellte ihre Handtasche schützend vor sich auf dem Schoß. Ihre wachen blauen Augen wanderten unablässig zwischen Dombrowski und Fellner hin und her.

»Frau Kühn, erzählen Sie uns doch bitte, was sich gestern früh im Haus von Professor Steinacher abgespielt hat.«

»Da gibt es eigentlich nicht viel zu sagen«, begann sie, »ich bin um halb zehn ins Haus gegangen und habe sofort mit dem Aufräumen begonnen.«

»Haben Sie die Frau von Aach zu dem Zeitpunkt gesehen?«

»Nein, die Schlafzimmertür war angelehnt. Ich habe sie leise geschlossen, weil ich die Chefin nicht wecken wollte.«

»Was war das für eine Party am Samstag? Ein Geburtstag?«, fragte Fellner.

»Nein, kein Geburtstag. Sie hatte sich einfach mit Bekannten aus dem Skiurlaub wiedergetroffen.«

»Waren Sie selbst auch anwesend?«

»Ja, ich habe dem Caterer bei der Essensausgabe und beim anschließenden Aufräumen geholfen.«

»Haben Sie jemanden der Gäste gekannt?«

»Gekannt schon, weil sie schon öfter da waren, aber mit Namen nicht, nein.«

»Woher kamen die Leute? Wissen Sie das?«

»Einige aus Österreich oder Bayern, das habe ich am Dialekt erkannt. Andere wiederum hier aus der Gegend. Aber wie gesagt, ich weiß keine Namen.«

»Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen, als Sie gestern früh die Wohnung betraten?«

»Na ja, es sah aus wie Kraut und Rüben! Überall standen Gläser, die nicht ausgetrunken waren. Auf den Tellern lagen Essensreste. Es muss wohl eine wilde Party gewesen sein.«

»Frau Steinacher war völlig nackt, als sie gefunden wurde. Wo lagen ihre Kleider?«

»Im Bad nebenan. Ich habe sie aufgehoben und sofort in die Waschmaschine gesteckt.«

»Warum?«

»Weil einige der Wäscheteile stark verschmutzt waren.«

»Mit was?«

»Die Chefin hatte sich wohl im Laufe der Nacht übergeben. Da ist einiges auf die Kleidung gekommen.«

»Haben Sie zuerst die Kleidung gefunden und dann Ihre Chefin?«

»Ja, ich musste ja ins Bad, weil dort in einem Schrank meine Putzutensilien sind. Ich habe es sofort gerochen, als ich den Raum betrat.«

»Wer hat einen Schlüssel zum Haus, außer Ihnen?«

»Niemand. Nur ich und die Steinachers kennen den Zutrittscode der Schließanlage.«

»Es kann also niemand, außer ihm wird geöffnet, das Haus betreten. Sie sollten uns den Code mitteilen, falls wir noch einmal in das Gebäude müssen.«

»Das kann ich nicht ohne Rücksprache mit dem Herrn Professor.«

»Dann sagen Sie uns, wo der Herr Professor ist.«

»Das weiß ich nicht. Wirklich nicht.«

»Wissen Sie, wo sich die Ferienhäuser der Familie Steinacher befinden?«

»Ja, eines ist auf der Insel Juist, eines auf Sylt und eines auf Teneriffa.«

»Aha. Und in welchem könnte sich der Professor befinden? Hat er da einen Favoriten?«

»Keine Ahnung. Um diese Zeit ist der nie in einem seiner Ferienhäuser. Im Augenblick hat er doch viel zu viel zu tun! Er hatte ja gestern noch am späten Nachmittag eine schwierige OP, deshalb ist er bestimmt nicht nach Hause gekommen. Manchmal schläft er auch in der Klinik.«

»Wie war das Verhältnis unter den Eheleuten?«

»Dazu kann ich nichts sagen. In der Zeit, in der ich hier arbeite, sind beide kaum zu Hause. Ich bin meistens allein bei meiner Arbeit.«

»Okay, Frau Kühn, das wäre es fürs Erste. Wir melden uns bei Ihnen, wenn wir weitere Fragen haben«, sagte Dombrowski und stand auf.

Christel Kühn verließ den Raum und schlurfte in Richtung Ausgang.

»Die weiß mehr, als sie uns sagen will«, sagte Lisa Fellner.

»Meinst du?«, fragte Dombrowski.

Kriminalhauptkommissar Gerhard Meininger und sein Kollege Christian Fromm standen vor einem modernen Bürogebäude im Dienstleistungszentrum Obere Wässere in Reutlingen. Sie suchten den Eingang, der zur Privatklinik von Professor Steinacher führte. Sie folgten einer weiß gekleideten Angestellten, die offenbar zum Brötchenholen geschickt worden war, in das Gebäude. Und tatsächlich, an einer großen Tür, die sich automatisch öffnete, waren mehrere Schilder angebracht. Diese wiesen auf diverse Arztpraxen hin. Im obersten Stock war die Privatklinik Steinacher untergebracht. Wenig später standen sie vor einer verglasten Tür, die sich automatisch öffnete. Unmittelbar am Eingang befand sich eine große Theke, hinter der eine junge Dame saß. Neugierig blickte sie die beiden an.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie freundlich.

»Wir sind von der Kripo und wollen Herrn Professor Steinacher oder dessen Vertreter sprechen«, sagte Meininger und zeigte der Frau seinen Dienstausweis.

»Der Herr Professor ist noch nicht da, ich versuche mal, Doktor Köhler zu erreichen«, sagte die Dame und hob das Telefon ab.

Sie sprach so leise am Telefon, dass Meininger und Fromm nichts davon verstanden. Immer wieder blickte sie dabei verwirrt zu den beiden Beamten auf.

»Der Doktor Köhler befindet sich gerade in einer Patientenbesprechung. Die Frau Schuster ist die Assistentin vom Herrn Professor, sie wird gleich kommen. Wenn Sie in dem Raum dort inzwischen Platz nehmen wollen?«, sagte die Dame lächelnd.

Die beiden folgten der Anweisung und gingen in den Warteraum. Alles sah ganz anders aus als sonst in einer Arztpraxis. Keine Zeitschriften, keine Werbung für irgendwelche Vorsorgemaßnahmen, dafür aber ein großer Bildschirm, auf dem Sportnachrichten liefen. Daneben lagen eine Fernbedienung und eine Liste mit den empfangbaren Sendekanälen. Fromm nahm die Fernbedienung zur Hand und schaltete einen Nachrichtensender ein.

»Das ist mal ein cooler Service, was?«, sagte er.

»Hier drinnen möchte ich trotzdem nicht auf eine Behandlung warten müssen«, brummte der.

Wenig später wurde die Tür geöffnet und eine Frau kam herein, die sich als Petra Schuster vorstellte.

»Sie wollen mich sprechen, meine Herren?«, fragte sie.

»Eigentlich wollten wir den Herrn Professor sprechen, aber er ist wohl nicht da, oder?«

»Nein, der Herr Professor ist eventuell noch zu Hause.«

»Das ist ja das Problem, da ist er auch nicht.«

»In welcher Angelegenheit wollen Sie ihn denn sprechen?«

»In einer Privatangelegenheit, Frau Schuster. Wir wissen nicht, inwieweit Sie in das Privatleben der Familie Steinacher involviert sind.«

»Eigentlich gar nicht. Ich hatte schon die Befürchtung, Sie kommen wegen Samstag zu uns.«

»Wegen Samstag? War da was Besonderes?«

»Na ja, wir hatten einen unerwarteten Todesfall in der Klinik.«

»Das müssen Sie uns schon genauer erklären.«

»Während einer OP verstarb eine Patientin an Herzinsuffizienz, also Herzversagen, wir konnten sie nicht mehr reanimieren. Im Nachhinein hat es sich herausgestellt, dass sie an einer Herzschwäche litt. Sie hatte uns das bei der Vorbesprechung verschwiegen. Es sollte eigentlich ein Routineeingriff sein, der aber leider außer Kontrolle geriet.«

»Wer hat den Tod der Patientin bestätigt?«

»Der herbeigerufene Notarzt.«

»Wie hat der Professor darauf reagiert?«

»Er hat danach sofort die Klinik verlassen und ist nach Hause gegangen, nehme ich mal an.«

»Wissen Sie, wohin er noch gefahren sein könnte?«

»Meistens ist er in solch einem Fall für ein paar Tage an die Nordsee gegangen.«

»In welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Herrn Professor?«

»In keinem, wenn Sie das wörtlich meinen. Ich bin hier Angestellte, mehr nicht«, sagte die Frau bissig.

Meininger erwähnte das absichtlich, denn es kam zu oft vor, dass die Assistentinnen mit ihrem Chef ein Liebesverhältnis hatten. Die Frau mochte um die vierzig Jahre alt sein. Sie hatte müde Augen und keine Ringe an den Fingern, auch nicht den Abdruck eines Eherings.

»Kennen Sie die Ehefrau des Professors?«

»Sie ist öfter mal hier, aber nur für ein paar Minuten. Im Großen und Ganzen interessiert sie die Klinik nicht. Sie hat andere Interessen.«

»Welche, wissen Sie das?«

»Nein, das geht mich auch nichts an.«

»Okay, dann danken wir für Ihre Auskünfte.«

»Darf man fragen, was passiert ist, dass die Kriminalpolizei hierherkommt?«

»Frau von Aach wurde gestern Morgen in ihrer Wohnung erdrosselt aufgefunden«, antwortete Fromm.

»Was? Erdrosselt? Das ist ja schrecklich! Und Sie glauben, der Herr Professor …?«

»Wir glauben gar nichts, aber wir würden ihm ganz gerne diese Nachricht überbringen.«

»Ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen, tut mir leid.«

»Gut, dann wär’ es das für heute«, sagte Meininger und blickte dabei zu Fromm hinüber.

Der nickte nur und so standen beide auf. Im Glas der Ausgangstür spiegelte sich Petra Schuster, die beiden Hände vors Gesicht hielt. Meininger und Fromm verließen die Praxis und fuhren mit dem Aufzug nach unten.

»Das wäre die erste Assistentin, die nicht in ihren Chef verknallt ist«, mutmaßte Christian Fromm.

»Meinst du, dass die nicht ein bisschen zu alt dafür ist?«, konterte Meininger.

»Was hat das mit dem Alter zu tun? Für Blödsinn ist man nie zu alt.«

»Aha. Da spricht der Kenner«, brummte Meininger.

»Ich wurde mir gerne mal die Villa von Steinacher anschauen«, schlug Fromm vor.

»Warum nicht. Fahren wir hin.«

»Hast du einen Schlüssel?«

»Nein, aber wir rufen einfach der Haushälterin an.«

»Die ist doch noch bei den Kollegen, um ihre Aussage zu machen«, wandte Fromm ein.

»Dann ruf halt mal an und sag, die sollen die Kühn zu uns schicken.«

Fromm fragte also bei den Kollegen nach, ob sich Frau Kühn noch bei der Kripo befand. Carsten Dombrowski unterrichtete Fromm, dass Frau Kühn schon vor einer halben Stunde gegangen war. Wenig später fuhr Meininger am Haus des Professors in der Burgstraße vor. Zu seinem Erstaunen stand das Schiebetor zur Auffahrt offen. Also fuhr er den steilen Weg hoch. Vor der Garage stand ein Kleinwagen.

»Aha, die Frau Kühn ist also da. Sehr gut«, sagte Meininger.

»Woher weißt du, dass das Auto der Kühn gehört?«

»Schau mal das Kennzeichen an, RT-CK.«

Die beiden gingen zur Haustür und klingelten. Eine sichtlich erschrockene Christel Kühn öffnete die Tür.

»Haben Sie jemanden anderen erwartet?«, fragte Meininger.

»Nein, äh, ja! Einen Moment habe ich geglaubt, der Herr Professor kommt! Aber was wollen Sie noch von mir, ich habe Ihren Kollegen doch schon alles gesagt.«

»Mein Kollege Fromm war noch nicht hier und möchte sich ein wenig umschauen.«

»Wenn es denn unbedingt sein muss«, brummte die Frau und machte widerwillig Platz.

Christel Kühn verschwand sofort in der Küche. Meininger folgte ihr, während Fromm sich im exklusiv eingerichteten Wohnzimmer umsah.

»Kommen Sie jeden Tag hierher?«, fragte Meininger.

»Ja, jemand muss doch alles in Ordnung halten, bis der Herr Professor zurückkommt.«

»Kommt der überhaupt wieder zurück?«, fragte Meininger provokativ.

Abrupt drehte sich Christel Kühn um und sah Meininger mit zusammengekniffenen Augen an.

»Wie meinen Sie das?«, zischte sie.

»Es könnte doch durchaus sein, dass derselbe Täter auch den Professor auf dem Gewissen hat.«

»Ach so meinen Sie das, das wäre allerdings sehr schlimm. Das wollen wir doch nicht hoffen«, sagte Christel Kühn mit tränenerstickter Stimme.

»Standen Sie dem Professor sehr nahe?«

»Wie man halt als Hausdame nahesteht. Er ist ein sehr großzügiger Mensch. Ich achte ihn sehr.«

»Mehr nicht?«

»Mehr nicht.«

Sie drehte sich wieder um und machte sich an der Geschirrspülmaschine zu schaffen. Meininger fiel die Pinnwand auf, an der nun wesentlich weniger Postkarten und Memozettel hingen.

»Haben Sie die Postkarten abgehängt?«, fragte Meininger und deutete auf die Pinnwand.

»Ich? Nein, wozu auch? Das werden Ihre Kollegen gemacht haben, die haben doch alles durchsucht.«

Der Kriminalhauptkommissar nahm sein Handy aus der Tasche und rief bei den Kollegen vom Erkennungsdienst an. Diese versicherten, keine Karten und Zettel mitgenommen zu haben.

Christel Kühn bekam natürlich das Telefonat mit, und wurde sichtlich nervös.

»Also, meine Kollegen haben nichts dergleichen mitgenommen. Wer könnte also sonst die Karten und Zettel weggenommen haben?«

»Ist denn das so wichtig? Vielleicht liegen Sie im Altpapier.«

»Frau Kühn, für uns ist alles wichtig, wenn es der Wahrheitsfindung dient. Und oftmals sind es die Kleinigkeiten, die zu einem Täter führen. Wo ist das Altpapier?«

»Draußen in der Garage steht eine Tonne, die wurde aber heute Morgen geleert.«

»Danke, Sie haben uns mal wieder einen großen Dienst erwiesen.«

Christel Kühn begann einen Eimer mit Wasser zu füllen. Dann öffnete sie einen Schrank und holte Putzutensilien heraus.

»Sie entschuldigen mich, ich muss jetzt die Fenster putzen«, sagte sie und ging an Meininger vorbei.

Der blieb noch eine Weile in der Küche und öffnete die ein oder andere Schublade. In dieser Küche wurde nicht oft gekocht, das sah man am Inhalt des Kühlschranks. Es standen dort fast ausnahmslos alkoholische Getränke. Auch in den anderen Schränken waren kaum Lebensmittel zu finden. Als er einen Blick zum Fenster hinauswarf, fiel ihm ein Auto auf, das die Auffahrt heraufgefahren kam. Es war eine Mercedes-Limousine mit Stuttgarter Kennzeichen. Ein Mann mit straff gescheitelter Frisur entstieg dem Auto und sah sich verwundert um. Offenbar stutzte er wegen den vor der Garage abgestellten Fahrzeugen. Mit forschen Schritten eilte er zur Haustür. Das konnte nur der Sohn des Hauses sein. Wenig später ertönte ein sanfter Gong. Christel Kühn ging zur Tür, um zu öffnen.

»Ach, Sie sind es«, sagte sie erstaunt.

»Ja, ich bin es! Wer ist noch im Haus?«, fragte der Mann mit harter Stimme.

»Die Polizei«, antwortete Christel Kühn hastig.

Wenig später stand der Mann schon in der Küchentür.

»Was tun Sie noch hier? Ihre Kollegen haben doch sicherlich schon alle Spuren gesichert?«

»Das mag sein. Mit wem habe ich das Vergnügen?«, antwortete Meininger seelenruhig.

In seiner langjährigen Laufbahn hatte er schon viele solcher Typen kennengelernt. Die warfen ihn nicht mehr so schnell aus der Bahn.

»Ich bin der Sohn des Hauses. Harald von Aach. Ich bin zweiter Landesbeamter am Innenministerium. Ich möchte Sie gleich darauf hinwiesen, dass unser Name nicht in den Medien auftauchen darf.«

»Der Name Steinacher schon, oder?«, fragte Meininger kühl zurück.

»Hören Sie, wie war Ihr Name gleich …?«

»Meininger, Kriminalhauptkommissar Meininger.«

»Also, Herr Kommissar, ich habe Beziehungen in die höchsten Regierungsebenen. Die werde ich einsetzen, wenn es zu irgendwelchen Indiskretionen gegenüber unserer Familie kommt.«

»Können Sie mir sagen, wo sich Ihr Vater aufhält?«, fragte Meininger, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.

»Nein, woher soll ich das wissen?«

»Ich frag ja nur, hätte ja sein können.«

Während der ganzen Unterhaltung hatte Christel Kühn am Türrahmen gelehnt und hinter dem Rücken von Meininger dem Sohn Zeichen gegeben.

»Darf ich mal«, sagte Christian Fromm und drückte sich an der Frau vorbei in die Küche. Die erschrak heftig und verzog sich an ihre Arbeit.

»Was wollte Ihnen die Frau Kühn mit ihren Handzeichen übermitteln?«, fragte Fromm von Aach.

»Nichts, gar nichts.«

»Wussten Sie von der Party hier im Hause?«, fragte Meininger.

»Nein. Ich habe gerade andere Sorgen! Nächstes Jahr sind Wahlen und da …«, antwortete von Aach hastig.

Lächelnd nickte Meininger vor sich hin. Daher wehte also der Wind. Der Herr wollte Karriere machen, da kam natürlich ein solcher Vorfall zur Unzeit. Gerade wollte Meininger zu einer weiteren Frage ansetzen, da klingelte sein Handy. Es war sein alter Freund Professor Haimerl vom Rechtsmedizinischen Institut der Uni Tübingen. Er teilte ihm in kurzen Worten das Ergebnis der Obduktion von Friederike von Aach mit. Meininger antwortete immer nur mit einem kurzen »Ja«. Dann beendete er das Gespräch und machte eine Sprechpause, um sein Gegenüber auf die Folter zu spannen.

»Das war das Ergebnis der Obduktion. Wussten Sie, dass Ihre Mutter Rauschgift konsumierte?«

»Was soll denn der Quatsch? Wer behauptet das?«, entrüstete sich der Sohn.

»Professor Haimerl von der Rechtsmedizin in Tübingen. Er hat Kokainspuren in der Nase Ihrer Mutter entdeckt.«

»Das kann ihr nur mit Gewalt verabreicht worden sein! Haben Sie hier im Haus auch Spuren davon gefunden?«

»Leider nein, die Frau Kühn hat ihre Arbeit am Sonntagmorgen zu gründlich gemacht.«

»Na also, da haben wir es! Das Zeug ist meiner Mutter bestimmt später eingeflößt worden.«

»Kokain flößt man nicht ein, sondern es wird geschnupft! Und das geht im Nachhinein nur sehr schwer oder gar nicht«, verbesserte Fromm den Mann.

»Ich habe noch mehr unangenehme Nachrichten für Sie«, sagte Meininger ganz ruhig.

»Ich weise Sie noch einmal mit allem Nachdruck darauf hin …«, brauste der Adlige auf.

»Ihre Mutter hatte vor Ihrem Tod Geschlechtsverkehr mit mehreren Männern. Ich betone mit mehreren Männern. Und zwar einvernehmlich! Die Verletzungen, die zum Tode führten, wurden ihr später beigebracht. Und das ist gesichert.«

Meininger sah mit eiserner Miene in die weit aufgerissenen Augen seines Gegenübers.

»Das ist nicht wahr! Das ist eine Lüge! Sie stecken doch mit diesen Linken unter einer Decke.«

»Bleiben wir sachlich, Herr von Aach.«

»Sachlich bleiben? Ja? Ich werde Ihnen zeigen, was Sache ist, verlassen Sie sich drauf«, schrie von Aach und rannte aus dem Haus.

»Tja, die Wahrheit ist oft ein bitterer Trunk«, murmelte Fromm.

»Seit wann bist du philosophisch drauf?«, wunderte sich Meininger.

Die beiden gingen aus der Küche und sahen sich nach der Hausdame um. Die schien aber, wie vom Erdboden verschluckt. Kein Eimer, keine Putzutensilien waren mehr zu sehen. Auch das Auto war plötzlich weg.

»Die weiß wesentlich mehr, als sie uns erzählt hat, die nehmen wir uns mal intensiv vor«, schlug Meininger vor.

»Wir könnten jetzt doch mal die Nachbarn befragen. So kurz vor zwölf sind die doch sicherlich alle zu Hause«, meinte Fromm.

»Gute Idee, die Putzfrau läuft uns sicherlich nicht weg.«

Meininger zog die Haustür zu. Irgendwo hörte er ein Alarmsignal. Dann rief er bei den Kollegen von der Streife an. Dort war sicherlich ein Alarm eingegangen. Meininger parkte den Dienstwagen aus dem Hof auf die Straße um. Dann begaben sich die beiden zu den am nächsten liegenden Nachbarhäusern. Die Sache hatte sich schnell erledigt, denn einige der Anwohner waren alte Leute und hatten nichts mitbekommen, weil sie früh zu Bett gingen, und andere waren wohl im Urlaub, denn es antwortete niemand auf das Klingeln. Also fuhren Meininger und Fromm zurück und machten Mittagspause.

Inzwischen hatten Carsten Dombrowski und Lisa Fellner im Zulassungsregister nach den Autos gesucht, die auf die Namen Steinacher und von Aach zugelassen waren. Insgesamt waren drei Fahrzeuge verzeichnet. Auf den Namen von Aach ein Maserati-Cabrio und auf Steinacher ein E-Smart und ein Bentley-Cabrio. Auf Nachfrage in der Klinik war dort der Bentley abgestellt, in der Garage von Steinachers Villa stand nur der Maserati. Also fehlte der E-Smart. Steinacher war anscheinend am Samstagabend mit dem E-Smart unterwegs gewesen. Weit konnte er damit nicht gefahren sein, die Reichweite des Elektroautos war mit etwa hundert Kilometern sehr begrenzt. Inzwischen waren auch die Feriendomizile ermittelt worden. Steinacher besaß Häuser auf Sylt, Juist und auf Teneriffa. Dombrowski hatte inzwischen mit den zuständigen Polizeidienststellen in Norddeutschland Kontakt aufgenommen, um den eventuellen Aufenthalt von Professor Steinacher zu ermitteln. Lisa Fellner telefonierte mit der Guardia Civil auf Teneriffa. Fellner sprach fließend Spanisch, weil sie ursprünglich Reiseverkehrskauffrau gelernt und mehrere Jahre in Spanien gelebt hatte. Nachdem die norddeutschen Kollegen innerhalb einer halben Stunde einen negativen Bescheid übermittelten, ließen sich die Spanier Zeit. Da am Samstagabend und am Sonntag in der Früh kein Flug von Stuttgart aus nach Teneriffa ging und auch kein Passagier mit dem Namen Steinacher auf einer Passagierliste auftauchte, war eigentlich klar, dass der Professor noch im Land und in der Nähe sein musste. Die Frage war nur, wo?

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