6,99 €
'Kammerspiel' erzählt die Geschichte eines reifen Ehepaars in dem niederösterreichischen Dorf Ofenbach, das die Weihnachtszeit mit Tochter Franziska verbringt. Vater Buz, ein großer Geiger und Pädagoge, der seit Jahrzehnten an der vollendeten Violintechnik herumfeilt, erteilt seiner erwachsenen Tochter jeden Vormittag eine Lektion im Violinspiel, die währenddessen der erkalteten Liebe zu einem mittlerweile verstorbenen Herrn hinterhersinniert, der ihrer Meinung nach mit völlig unpassenden Reden in die Ewigkeit verabschiedet worden ist. Der Leser ist eingeladen einen ganzen Monat lang am Leben einer dreiköpfigen Familie zu partizipieren. Eine Ansammlung von Geschehnissen von erhöhtem Interesse. Portraits, Zeitgeschehen, und Erinnerungen ins Gefüge der fortschreitenden Zeit in Form gegossen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 215
Veröffentlichungsjahr: 2020
Für meinen lieben Onkel Hartmut
Familie Rothfuß an Heiligabend 1963
Von links nach rechts:
Rehlein mit der 1-jährigen Franziska auf dem Schoß.
Untere Reihe: Tante Antje und der Opa (auf deren Knien die Zwillinge Heiner und Friedel verteilt sind) und Onkel Rainer, der erklärend den Zeigefinger ausgefahren hat.
Obere Reihe: Der junge Buz neben der Degerlocher Oma, Tante Bea, Onkel Dölein, Omi Mobbl, und der damals erst 14-jährige Onkel Andi
Die Vorkömmlinge finden sich am Schluß des Buches im Personenverzeichnis
Hier aber meine Lieben vorneweg:
Buz (Wolfram), mein Papa (*1938)
Rehlein (Erika), meine Mutter (*1939)
Ming (Iwan), mein Bruder (*1964)
Julchen, seine Lebensgefährtin (*1983)
Pröppilein (Yaralein), kleines Töchterlein von
Julchen und Ming (*2012)
(Fast alle wurden eines Tages umbenannt wie man sieht.
Rehlein gar nach der Berta in der „Lindenstraße“, die von ihrem Hajo ebenfalls „Rehlein“ genannt wurde, und ein ähnliches Schicksal hatte wie unser Rehlein: Einen Mann, der ständig seine saublöden Spezis mit nach Hause brachte.)
Zum Hintergrund der Geschehnisse empfiehlt sich ein Blick auf diesen Link:
Einfach nur - familie könig vs werner bonhoff – in die Suchmaschine eingeben
Dezember 2014
Montag, 1. Dezember
Dienstag, 2. Dezember
Mittwoch, 3. Dezember
Donnerstag, 4. Dezember
Freitag, 5. Dezember
Samstag, 6. Dezember
Sonntag, 7. Dezember
Montag, 8. Dezember
Dienstag, 9. Dezember
Mittwoch, 10. Dezember
Dienstag, 11. Dezember
Freitag, 12. Dezember
Samstag, 13. Dezember
Sonntag, 14. Dezember
Montag, 15. Dezember
Dienstag, 16. Dezember
Mittwoch, 17. Dezember
Donnerstag, 18. Dezember
Freitag, 19. Dezember
Samstag, 20. Dezember
Sonntag, 21. Dezember
Montag, 22. Dezember
Dienstag, 23. Dezember
Mittwoch, 24. Dezember
Donnerstag, 25. Dezember
Freitag, 26. Dezember
Samstag, 27. Dezember
Sonntag, 28. Dezember
Montag, 29. Dezember
Dienstag, 30. Dezember
Mittwoch, 31. Dezember
Personenverzeichnis
Winterlich grau. Kaltes Geniesel.
In Österreich stürmisch und schubberig stimmend
Vorwissen für die geographisch Interessierten unter uns:
Ich befand mich auf einer Teiletappe meiner Reise ans Ende der Welt – auf dem Wege in die Weihnachtsfrische zu meinen Eltern in Niederösterreich.
Nach meinem gestrigen Konzert erwachte ich ein letztes Mal im Pfarrhaus von Oberbalbach, - einem Ort im Schwäbischen.
Am Ausrollungsbeginn eines bleichen und schubberig-kalten Tages haftend, lag ich im Bett.
Vor der Türe hörte man die Kinder lärmen.
Gestern hatte Rehlein noch mit wedelndem Zeigefinger geschrieben, daß nun jeden Moment der Winter ausbrechen könne, und ich mich doch bitte ein wenig beeilen, und zusehen möge, noch bei Tageslicht in Ofenbach anzukommen!
Eigentlich hatte ich ja gelobt, die frischgebackene und nunmehr einsame Wittib Frau Reimer in ihrem riesigen, unnatürlich großen Bauernhof in einer, wie ich hoffte, Kachelofen- oder zumindest Bulleröfchengewärmten Atmosphäre zu besuchen.
Der große Bauernhof steht in einem kleinen Ort, den man getrost als Besenkammer im Weltgeschehen bezeichnen darf.
Und dann sitzen wir da, und während des Dasitzens bricht draußen der harsche Winter aus, und zeigt sich von seiner unbarmherzigsten Seite. Ein halber Meter Neuschnee in nur fünf Minuten! Erinnernd an den Horrorwinter 78/79 in Norddeutschland.
Mein Auto, das ich vor der ausgestorben wirkenden Gaststätte am Fuße des steilen Hügels, auf dem sich der Bauernhof befindet, geparkt habe, versinkt im Schneepürée. Zunächst noch an einen verschneiten Maulwurfshügel erinnernd, und schließlich mit dem bloßen Auge nicht mehr auszumachen. Doch dieser An- bzw. Nichtmehr-Anblick versinkt nun auch noch in der einbrechenden Dunkelheit.
Da kann die mütterliche Frau Reimer mich guten Gewissens nicht mehr ziehen lassen, und so verbringe ich einen ganzen Winter dort. Lustvoll und im Duett lassen wir das Leben des verstorbenen Herrn R. nochmals Revue passieren. Wir fügen Puzzelteil um Puzzelteil zusammen, um den Verblichenen in Form eines Epos vor dem Vergessen zu bewahren.
Was sich da alles zusammentragen lässt!
Vieles weiß ich ja bereits:
Nach der Schule mußte er immer erst eine Stunde Geige,- und eine Stunde Klavier üben, und erst dann durfte er vors Tor hinaus, um sich unter die verrohte Görlitzer Jugend zu mischen.
Sein Vater lernte eine andere Frau kennen, verließ die Familie, zog sehr weit weg nach Flensburg, gründete eine neue Familie, und meldete sich kaum noch.
Und als Frau Reimer ihren Jürgen Ende der 60er Jahre in der Musikhochschule in Freiburg kennenlernte, plante er soeben seinen etwa dritten oder vierten Selbstmordversuch.
„Frau König, wann wollöt sie los?“ hörte man die Pfarrerin, Frau Wirtz, ausrufen.
Eine Dame, über die ihr sympathischer Ehemann gestern gesagt hatte, sie sei oft sehr direkt, was gelegentlich zu Irritationen führen könne, denn es sei zuweilen tatsächlich ein bißchen so, als würde sie ihrem Gegenüber mit dem nackten Arsch - und hier drückte er sich vorsichtig, sorgsam nach passenden Worten suchend, gewählt und derb in einem aus, - mitten ins Gesicht springen.
„Mei normaler Rhythmus wäre: Erschd mit dem Hund naus, und Frühstück um halb neun!“ hörte man sie, die den anderen mit dem nackten Arsch vorneweg ins Gesicht zu springen pflegt, sagö.
Ich entwand mich dem Bettgehäuse, bzw. der Brutstätte, die mich für den heut´gen Tag zurechtgebrütet hat, und packte los.
Um 8.20 schleppte ich die beiden Thermosbuddeln in die leicht schmuddelige Küche oben.
Doch da war noch gar niemand.
Stattdessen saß das Häslein auf dem Tisch.
Die Pfarrerin hatte die seltsam kahl wirkenden Computer-Einladungen zum Geburtstag der Zwillinge ausgedruckt, die nun als unordentlicher kleiner Stapel neben dem Häschen mit seinem tickenden Näslein lagen:
…Zieh Dir möglichst etwas an, das auch schmutzig werden darf, denn auf dieser Feier erleben wir ein Abenteuer.
Ende um 16:30
Später frug ich schüchtern, ob ich mir etwas heißes Wasser für meine Thermoskanne kochö dürft? „Moment, i bin grad mit dö Karnickel b´schäftigt!“ sagte Frau Wirtz auf hektisch unfrohe Weise.
Um die „45 €uro egschdra“ zu kassierö, die für gehobene Konzerte bereitliegen, solle ich ihr noch einen Qualifikationsnachweis schickö.
„Was ist denn ein Qualifikationsnachweis?“
„Ha, ö Kopie vom Meischderbrief oder so ebbes? Gibt´s dös bei de Musiker net?“
Ich verabschiedete mich, und fand selber den Ausgang. Die Pfarrerin blieb sitzen, und ein weiteres Treffen wurde nicht vereinbart.
Im Auto lag meine DVD mit einem Film aus dem Jahre 1982 dabei. „Defekte“. Dieser Film schien wie auf das Leben von Herrn Reimer zugeschnitten, der sich im Jahre 1991 von heut auf morgen auf quälende Weise verändert hatte.
Wenig später mußte man sich eingestehen, daß der Rektor der Musikhochschule psychisch schwer krank war.
Der Vormieter in Herrn R.s sterblicher Hülle war jedoch ein ganz und gar anderer Mensch.
Ein fröhlicher, junggebliebener und romantischer Herr mit vielen guten Eigenschaften, tierlieb und begeisterungsfähig, von dem es hinzu hieß, er habe immer so köstliche, gänzlich unbeamtliche Geschäftsbriefe verfasst, und hinzu ganz und gar ungewöhnliche, sehr lustige Reden gehalten.
An der Grenze zu Österreich muß ich immer an meinen Ex-Onkel Ric denken, denn ab hier dauert es bis nach Ofenbach eben so lang, als wolle unsere Kusine in Amerika, das Lindalein, sich anschicken ihren Papi Ric in Nord-Kalifornien zu besuchen.
355 km.
Doch diese Gedanken währen nie sehr lange.
Den Ric habe ich seit über 40 Jahren nicht mehr gesehen, und nur hi und da (eher selten) erscheint er mir zuweilen in meinen Träumen.
Man lebt in der scheinbaren Gewissheit, daß man den Exonkel in diesem irdischen Leben wohl kaum noch einmal wiedersehen wird, und dieser Gedanke zieht nach all den Jahren auch kein großes inneres Erbeben mehr nach sich, zumal man seinen Kopf frei von jeglichem Risiko darauf verwetten könnte, daß heut kein Brief von ihm auf mich wartet, morgen auch nicht, und übermorgen ebenso wenig.
Irgendwo in Ofenbach, inmitten Tonnen alter Papiere und Erinnerungen, die zu entsorgen man noch nicht übers Herz gebracht hat, befindet sich eine kleine vergilbte Fotografie aus dem Jahre 1973:
Im verschneiten Ofenbacher Garten hockt der Ric mit einem Lächeln neben uns Kindern, und legt je einen Arm um Ming und mich.
Aber eines Tages träumte ich vom Ric, und dieser Traum kehrt gelegentlich in leicht variierter Form wieder:
Der Ric war seines Lebens in Amerika überdrüssig geworden. Er zog nach Aurich in Ostfriesland und lernte dort bereits am ersten Abend eine Frau kennen: Eine sympathische Kassiererin im Supermarkt, die exakt dem Frauenbild entsprach, daß ihm schon seit jeher vorgeschwebt war.
Bald schon lebten die beiden in einem unscheinbaren Mietshaus sehr im Glücke, und doch empfand es der Ric, als ewig Suchender, als „hohles Glück“. Er sehnte sich nach sinnvollen Inhalten und beschloß, Geigenunterricht zu nehmen.
An der Supermarktspinnwand befestigte er somit einen kleinen Zettel unter der Rubrik „Gesuche“.
Suche Geigenlehrer/in für regelmäßigen und zielführenden Unterricht.
Und diesen Zettel mit zwölf abzupfbaren Papierfrackschößen auf denen die Mobilnummer seiner neuen Freundin notiert war, wurde mir eines Tages von Pastor Rübel überbracht…ich rief dort an, vereinbarte eine Zeit mit einem Herrn, der seinen Namen aus datenschutztechnischen Gründen nicht nennen wollte, und wußte doch traumesunlogischerweise die ganze Zeit, wer da gleich völlig überraschend kommen würde.
Als es dann aber an der Haustüre schellte, schellte in Wirklichkeit stattdessen der Wecker, und verdarb das Wiedersehen nach so vielen Jahren.
Österreich empfing mich ziemlich grimmig. Die Temperatur war auf 1-2 C° gesunken, und zog eine Ungemütlichkeit sondersgleichen nach sich.
Einmal glaubte ich, in der nieselnden Finsternis Herrn Kirschneroth* auszumachen,
*jenen Herrn, der sich schamlos in das gemachte Nest Buzens, den „Musikalischen Sommer in Ostfriesland“ gesetzt hatte, um auf Buzens noch warmem Throne das Intendantenzepter in die Hand zu nehmen.
Und dies ohne das geringste Unrechtbewußtsein – direkt an die böse Stiefmutter von Schneewittchen erinnernd.
Er hatte sich zähneklappernd und bibbernd in einen Mantel gehüllt, und huschte im Schein meiner Frontlichter, auf eine Art, als würde er von ungeduldig pustenden Nordwindnüstern zur Eile angetrieben, über die Straße.
Der Nieselfilm auf der Frontscheibe trocknete ein, verschlierte die Sicht, - ich tunkte in Nebel ein, und sah plötzlich quasi nichts mehr.
Ich drehte die Heizung bis zum Anschlag auf, und stellte die Warnleuchte ein. Einmal hupte mir jemand erbost Licht, und zog sodann hupend an mir vorbei.
Auf einem Asfinag-Parkplatz, mit seinen vielen eisverkrusteten Picknicktischen rief mich der süße Buz an, der über einen geheimnisvollen siebten Sinn verfügt: Er spürt immer genau, wann ich eine kurze Rast einlege.
Buz klang so warm und leuchtend am Telefon, als er vernehmen durfte, daß ich mich dem Elternhause auf 24 km genähert hatte.
Endlich daheim!
Rehlein wirkte gleich ein bißchen mahnend auf mich ein, da ich so dünn gekleidet war.
Buz, wie alle Tage an den Kachelofen geschmiegt war so süß: Er freute sich, und meinte, ich sähe so munter und lustig aus.
Rehlein kochte mir gleich ein so köstliches Mahl, wie es eben doch nur eine Mutter hinbekommt, die genau weiß, was ihrem Kinde guttut: Kartoffeln mit Rührei, und einigen schmückenden und geschmacksverfeinernden Gürkchen.
Buz erzählte begeistert und gerührt vom Onkel Eberhard: Der Onkel hatte bei einem Vortrag 700€ verdient, und nachdem Rehlein ihm erzählt hatte, daß die wohltätige Familie Dostal ihnen ein Kuvert mit 500€ überreicht hatte, auf dem zu lesen stand: „Geteilte Freude ist doppelte Freude!“ überreichte der Onkel Eberhard den Eheleuten beim Abschied ebenfalls ein Kuvert, auf dem so rührend zu lesen war: „Man kann zwar nicht sagen, daß ein halbiertes Honorar ein doppeltes Honorar sei….“
Das fanden wir nun so köstlich!
Begeistert erzählten mir die Eheleute all die Geschichten, die der Onkel erzählt hatte, nach: Z. B. von seiner Schwägerin Agnes, die immer freudig gelobt, auf den kleinen Sebastian aufzupassen. Doch ist´s dann so weit, daß man die so vollmundig angebotene Hilfe in Anspruch nehmen könne, so täuscht sie Kopfschmerzen vor.
Einmal stellte man den zum Lästikum mutierten Sebastian bei Schulfreunden unter, doch als die Eltern zurückkehrten war der Sebastian auf Mingesart stocksauer, weil es ihm bei denen üüüberhaupt nicht gefallen habe.
Es gab so viel zu erzählen, und die Tischplatte schien viel zu klein, um all die lustigen, rührenden oder auch betrüblichen Geschichten auszubreiten:
Leider starb Frau Czysy, eine einst rüstige und stolze Dame aus dem Bekanntenkreis von Opa und Omi Mobbl 89-jährig, und beim Einkaufen heut war Rehlein der weinenden Barbara begegnet. Der Tochter der Verstorbenen, die vom Friedhof kam.
Da tat mir die Barbara so unendlich leid! Alles kann man ertragen, aber wenn die sterbliche Hülle der Mutter in die Gruft hinabgesenkt wird, die nun hoch oben über den Wolken mit der Ewigkeit loslegen soll?! Unvorstellbar.
Und selbst wenn Rehlein 111 Jahre alt werden sollte – wäre ich mit 88 Jahren schon bereit „loszulassen?“
Am Abend telefonierte ich mit der Katharina, und die Katharina klang ganz anders als sonst:
Direkt ein wenig förmlich und lehrerinnenhaft.
Dies jedoch nur aus jenem Grunde, weil der Alexander, der Heiratskandidat aus dem „Schwarzwälder Boten“ zu Gast war, und sich in Horchweite befand. Schon merkte man, wie sich die Liebe in Form einer ersten Persönlichkeitsdeformierung ausbreitete.
Vor dem Bettgang:
Buz beschwärmte das von Lisa Batiashwili interpretierte Brahms-Konzert, nachdem er zu später Stund selber noch übermütig daran herumgegeigt hatte. Erinnernd an ein süßes kleines Kind, das sich so sehr über einen Besuch freut, daß es außer Rand & Band durchs Zimmer springt und hopst.
Leider ist Buz kein kleines Kind mehr, und so springt und hopst er eben in den Lagen auf seiner Violine herum.
Rehlein hat auf rührende Weise immer so eine Angst, ihr Küken (ich) könne frieren, und stieg vor dem Bettgang extra auf eine hohe Leiter, um mir eine noch wärmendere Decke hervorzusuchen.
Grau und trübe. Zuweilen schneite es.
Der Wetterbericht mit Inge Niedeck
verhieß Schnee vielerorts
Ein neuer Tag hatte sich entfaltet.
Buz ist ein froher Morgenmensch und begrüßt den Tag, einem Vogel mit seinen Gesängen nicht unähnelnd, sehr gern mit seinem Violinspiel. Gestern hatte er noch rücksichtsvoll gefragt, ob es mich störe, wenn er morgen ganz früh losgeige?
Generös wunk ich ab: Nein, dies störe doch wohl überhaupt nicht. Jetzt im Bett aber bedauerte ich, das generöse Abwinken nicht besser differenziert zu haben: „So lange Du anständige Werke spielst…“
Tatsächlich hatte der frohe Morgenmensch Buz – soeben dem Tode von der Schippe gehopst – sehr früh mit seinen Violinstudien angehoben, die sich nun ganz fern, direkt wie zartgesponnene Spinnweben ausnahmen, was jedoch zur Folge hatte, daß meine Ohren noch strammer dorthin gezogen wurden.
Denke ich schlicht: „Ich will jetzt sofort auf den Füßen stehen!“ so funktioniert´s! Ich stand auf meinen Füßen, und augenblicklich konnte mit der Alltagsgestaltung losgelegt werden.
Oben hatte das süßeste aller Rehleins bereits den
Tisch so liebevoll gedeckt.
Ein Kammerspiel mit drei sehr unterschiedlichen
Temperamenten konnte beginnen.
Drei Mails hatten sich für Rehlein angesammelt:
Von Ming, Dölein und Bea.
Ming meldete sich wie gewohnt mit einem warmherzigen Dürrzeiler, den er mit tausend Küssen streckte und anwärmte. Onkel Dölein nahm Bezug zu unseren philosophischen Mails zum Thema E-Mailen, von denen er sich nicht beeinflussen zu lassen gedenkt, und wieder mußte ich mich fragen, ob meine Mail wohl wirklich so falsch rübergekommen ist?
Das passiert mir leider öfters:
Man gibt sich solch eine Müh´, einen schönen Brief zu schreiben, und dann wird er nur mit einem völlig unpassenden Dürrzeiler kommentiert, dem zu entnehmen ist, daß nichts, aber auch gar nichts verstanden worden war.
Das Beätchen schrieb schwärmerisch, daß wir eine solche Freud an der Miette hätten haben würden: Mit welcher Freude und Begeisterung sie Klavier und Cello spielt!
Bewegt leitete ich diese Mail an den süßen Ming weiter, da ich ihn als Beweis dafür ansah, daß die Miette ein Riesentalent sei.
In diesem Zusammenhang erinnerte ich Ming auch an den jungen Brahms, der sich einst im Foyer der Familie Schumann mit seiner Rhapsodie in g-moll auf dem schlichten Besucherklavier eingespielt hat.
Nie gehörte Klänge füllten das Heim, und Kathrin Hepburn, die in diesem berührenden Film die Clara Schumann spielte, trat mit ungläubig geweiteten Augen und geöffnetem Munde auf den Gast zu.
Rehlein machte die Fernsehgymnastik 60+ mit Gabi Fastner (einer Variante von unserer Extante Gabi), die mit ihren alten und friedliebenden Eltern in der Sonne saß, um beispielsweise die Schulterblätter spitz in die Höhe zu winkeln, oder aber die Arme propellerartig rotieren zu lassen – kurz und gut: Was Senioren gut tut und Freude bereitet!
Dann frühstückten wir, doch leider hatte ich nach Art eines dummen Dinges beim Eierkochen versagt. Das eine Ei war beim Anpieksen ein wenig kaputtgegangen, die Innereien quollen nach außen, und dem zufolge war der Hohlraum hernach mit heißem Wasser befüllt. Zur Strafe mußte nun ich dieses Ei essen, und auch Buz schüttelte, wie in einem schlechten Roman, den Kopf über derart verdrießlichen Unverstand.
Ich erzählte von Daniel Trifonov und seinem törichten Spruch: „Dies ist Aufgabe von Politikern und nicht uns Musikern!“ (über etwas wichtiges Politisches, das ich jedoch vergessen habe), um weiter zur Petra und ihrem ebenso törichten Spruch hinüberzumodulieren: „Ich bin hier um Musik, nicht um Politik zu machen!“ um schließlich lobend an Anne-Sophie Mutters berührende Rede bei der Echo-Verleihung zu erinnern: Daß sich Musiker nämlich niemals aus der Politik heraushalten dürfen!
Bravo! bejubelte auch ich hier beim Nacherzählen begeistert die klugen Worte einer reifen Dame, an die auch ich mich zu halten gedenke.
Doch Buz sieht es nicht so gerne, wenn man sein Petra-Bild, das in Rehleins Sinnen ohnedies leicht schief hängt, noch schiefer hinhängt.
Ich erzählte nun ganz viel vom Besuch vom Hans-Hermann in Aurich.
Der Hans-Hermann buchte und zahlte eine Schiffsreise, zu der er nach all den Jahren des Schweigens doch wohl sehr gerne seinen geliebten Sohn Philipp eingeladen hätte, der in der Zwischenzeit ein großer, dicker Mann geworden ist. Doch wieder bekam er keine Antwort auf dies doch so rührende und schöne Angebot, so daß sich in Hans-Hermanns Sinnen so ganz allmählich die Idee zusammenbraut, seinem eigenen Seelenfrieden zuliebe, den Philipp nachträglich für „inexistent“ zu erklären.
Da erzählte Rehlein, wie ihr der junge Philipp einst als Kleinkind wortlos ins Duschhäusl folgte, um mit dem Schnuller im Munde ungeniert, und hinzu auf Mondkalbsart eine entblößte Frau zu mustern.
Ich hätte ewig beim Frühstück herumsitzen mögen, und doch fraß sich der Tag wie stets unaufhaltsam in die Mittagsstunden hinein.
Nach dem Frühstück kümmerte ich mich um meine Karriere und bemailte Pfarrämter in den Räumen Hof und Forchheim. Oder aber anders ausgedrückt: Ich fischte in trüben Gewässern, und dies, obwohl sich adventsbedingt eigentlich gar keine Fische im See befinden…
Buz schaute eine Medizin-Seifenoper, während Rehlein ihr köstliches Mittagessen schichtweise servierte. Es gab zunächst ein bleiches Lachsstück mit Senf-Honig-Soße aus dem Bioladen. Hernach ein leckeres Süppchen mit Fädchennudeln, und sodann köstliche biologische Gemüseteile: Große Karotten, Petersilienwurz, Sellerie, Süßkartoffeln.
Ich schickte mich an, in den schwindenden Tag hinauszurennen. Rehlein hatte geraten in die silberne Thermobüx zu steigen, und auch Buz war besorgt und riet, einen Schal umzubinden.
Als ich zum Umziehen in den Keller entschwunden war, rief mir Rehlein regelrecht streng hinterher, daß ich – sollte ich eine Lungenentzündung bekommen, - ins Spital müsse, denn sie habe keine Lust, mich zu pflegen.
Das mit dem Schal habe ich gemacht, doch die silberne Hos hab ich ja gar nicht gefunden!
Nun rannte ich einfach so in Alltagsklamotten aus dem Hause, und spielte im Geiste durch, wie es wohl sei, von Rehlein hierbei ertappt zu werden? Bis hin zu einer schallenden Ohrfeige weitete ich meine vorfühlenden Gedanken aus, und später erzählte ich Rehlein gar, daß ich ihr eine Ohrfeige nicht krumm nehmen würde. Im Gegenteil: Ich habe Buzen schon oftmals angeboten, mir eine Ohrfeige herabzuhauen, weil ich einfach einmal wissen wollte, wie es sich wohl anfühle, von seinem Vater eine Orkanwatsch zu kassieren, und ob ich im Ernstfall wohl die menschliche Größe besäße, ihm die andere Wange auch noch hinzuhalten, wie ja zuweilen gepredigt wird?
Doch Buzen gefällt dererlei nicht.
Buz hasst Leute, die sich zu einer zischenden Ohrfeige oder gar Orkanwatschen hinreißen lassen, - ich jedoch kann diese Leute gut verstehen.
Direkt vor dem Aufschwung zum Echofeldsaum drehte Petrus den Duschhahn auf. Zunächst nur leicht, später etwas heftiger, so daß eine Kontaktlinse von meinem Augapfel hinweggespült wurde.
Unser Freund Koji, Konzertmeister in Osaka, hatte eine CD geschickt, und die legten wir uns zur Teestunde ein. Zunächst ließen wir uns von der Sonate von Janaček verzaubern, die der Koji zusammen mit seiner Ehefrau Yoko eingespielt hat.
Hernach tippte Rehlein dem Koji einen warmen Brief, und plötzlich war´s noch vor fünf Uhr dunkel geworden.
Ich übte den ganzen Abend lang sehr emsig im Ashram auf meiner Violine, und als ich endlich in die Wohnstuben im Stockwerk darunter zurückkehrte, schien´s mir so, als würde Rehlein telefonieren oder skypen, doch es war ja bloß so, daß Rehlein einen Brief vom Onkel Rainer aus Kanada vorlas.
Für nächstes Jahr plant der Onkel Rainer, von schwerer Erkrankung genesen, eine große „Zurückins-Leben-Party“, zu welcher man sodann zeitnah einladen würde.
„Nimmt er wieder 20 $ Eintritt?“ spöttelte ich, da es der Schwabe Rainer beim 60. Geburtstag seiner Frau Sharyn ja so gehandhabt hatte?
Und wie diese Feier wohl aussehen wird?
Er röstet ein paar Würstchen auf dem Grill, neben dem er ein Spendentellerchen hingestellt hat, und in der Einladung steht womöglich auf Schwabenart: Für Getränke möge ein Jeder selber Sorge tragen. Wir sind nicht zusammengekommen um zu essen & zu trinken, sondern um fröhlich zu sein, ein paar Lieder zu singen, und mich zurück im Leben willkommen zu heißen.
Buz hatte wieder rote Wangen, lehnte am Kachelofen und erzählte verheißungsvoll von seinen geometrisch exakten Erkenntnissen im Violinspiel. Und überhaupt musizierte Buz im Musikzimmer nebenan immer wieder in glühendem Temperament auf seiner Violine.
Frau Dieudonné hatte eine so liebevoll gestaltete Früchtebrotparte über den Heimgang von ihrem Frank geschickt.
Er hatte noch ein bewegendes Abschiedsgedicht gemacht, und dies hatte sie auf edelstes Büttenpapier drucken lassen, das hinzu mit einem güldenen Schleifchen verziert, und schließlich liebevoll eingerollt worden war.
Grau und trübe
Als am Morgen der Wecker tönte, lag ich in unendlichem Wohlbehagen kaum sichtbar und scheinbar keinen Raum mehr einnehmend, nach Art eines Tintenkleckses auf dem Laken unter der Decke, und die Zeit schien einfach noch nicht reif für ein Erhöbnis.
Noch hält man einen prallen Sack mit 60 anvisierten Tagen in Ofenbach in Händen, die einem jedoch so nach und nach allesamt hinwegzurieseln drohen. Ich mit meinem dicken Po versuche mich ganz fest auf die Zeit draufzusetzen, und dennoch löst sich jeder Tag täglich einfach ganz von alleine wieder auf.
Schrübe ich ihn nicht ins Tagebuch, so wäre er ganz weg.
Rehlein macht sich zuweilen ein bißchen Sorgen, ich könne das mit dem Tagebuch übertreiben.
Wer wolle denn wohl das ganze Leben einer fremden Dame aufarbeiten? Es seien so schöne Stellen drin: Goldstaub, den man heraussieben sollte, um ein richtiges Buch zu verfassen, und das süßeste Rehlein hat doch immer wieder Zeitungsartikel für mich gesammelt, die für mich von Interesse sein dürften? Z.B. über Leute, die einfach ein Buch schrieben, wie beispielsweise Truman Capote, und auch ich find dies alles so interessant und liebe es, wenn Rehleins ausgeschnittene Zeitungsartikel am Abend auf meinem Bette als Nachtlektüre auf mich warten.
Vor Frühstücksbeginn nahm ich mir fest vor, die normalerweise bis in die späten Vormittagsstunden hineingeplättete Frühstückszeit streng zu rationalisieren:
22 ½ Minuten, und keine Sekunde länger, und dann wird ins Rad der Tüchtigkeit gestiegen.
Nach dem Frühstück widmete ich mich Buzen. Ich saß Buz gegenüber, lauschte seinen guten Lehren, und dachte dabei in zweikanaliger Weise allerlei: Ich dachte nämlich an Buz selber.
Hildes große Liebe! Obwohl Buz mittlerweile 76 Jahre alt ist, hat er nichts von seiner Attraktivität und seinem Zauber verloren. Im Gegenteil!
Jemand, der noch da ist.
Doch in Hildes Sinnen wohnt er hinter den sieben Bergen, und man hat keinen Schwung mehr, seinen warmen Platz neben dem kleinen Öfchen, in dem der Groll unverdrossen vor sich hinschmurgelt, zu verlassen, um nach Ofenbach zu reisen, um Buz „zur Rede zu stellen“. Und während sie sich im Geiste vor ihn hinstellt um ihn zur Rede zu stellen, frägt sie sich, für was sie ihn eigentlich zur Rede stellen will?
Ich zog einen gedanklichen Bogen nach Schluchsee, zu Herrn und Frau Reimer.
Von Herrn Reimer ist lediglich ein Aschehäuflein geblieben, und – sollte man das in Verruf geratene Beerdigungsinstitut von Schwäbisch Hall beauftragt haben - gar ein „falsches Aschehäuflein“, - während man ihn im März, als er noch, - wenn auch nicht mehr lang - in seinem irdischen Gewande stak, noch hätte antreffen können.
Rehlein schuftete im Garten, und Buz tippte einen Brief an den Klarinettisten Chen, der sich überraschend aus der Bekanntschaftsmottenkiste herausgeräkelt hat. Aufregend für den schwärmerisch veranlagten süßen Buz, der den Chen über alle Maßen verehrt.
Doch ob Buz als Älterer dem Jüngeren eine tiefe Herrenfreundschaft antragen darf?
Der Chen könnte doch wirklich mal etwas dererart schreiben?!:
Lieber Wolfram!
Du warst mir auf den ersten Blick mehr als nur sympathisch! Manche Leute gefallen einem eben auf Anhieb so gut, daß man sie am liebsten mit nach Hause nähme, um sie bei sich zuhause aufzustellen. Kennst Du dies auch?
Doch der Chen, der eigentlich recht gut Deutsch spricht, tippte auf Englisch, da dies eben die internationale Sprache der Musiker, bzw. natürlich des Musikbusiness sein soll.
Klüger jedoch wäre es gewesen, auf italienisch geschrieben zu haben, da diese Sprache wohl am besten zur Musik passt, und Worte wie „Allegro“ und „Adagio“ doch wohl jedermann ein Begriff sein dürften?
Nach der Gartenarbeit wirkte Rehlein etwas windverblasen. Zwei Kürbisse hatte sie dem Kompost überantwortet, da es einfach zu viele wären.
„Die bringen wir der Barbara!“ regte ich auf Art eines ganz jungen Menschen fröhlich und schwungaufwirbelnd an, doch die Barbara habe selber zu viele. Es ist so, wie mit den Kuschelkaninchen bei der Familie Wirtz. Man hat zu viele, verschenkt einige, dann vermehrense sich woanders, und werden weiterverschenkt.
Erst heute Morgen hatte ich Rehlein vorgeschwärmt, wie ich vor wenigen Tagen ein kleines Kuschelkaninchen an mein Herz gedrückt hatte. Da bedauerte Rehlein, daß ich keine Mutter bin.
Doch die Kuschelkaninchen liegen mir einfach mehr, weil die nicht plärren, sagte ich.
Beim Joggen versuchte ich mir vorzustellen, wie das Leben heut in 50 Jahren wohl so ist?
3. Dezember 2064.