Karl - Michael Wallner - E-Book

Karl E-Book

Michael Wallner

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Beschreibung

Freigeist, Genie und Workaholic: Karl Lagerfeld war schon zu seinen Lebzeiten eine Legende. Sein Leben voller Widersprüche, Glamour und Mode bietet den perfekten Stoff für einen Roman: In »Karl« verarbeitet Michael Wallner die gefühlvollen, dramatischen, aber auch humorvollen Schlüsselmomente im Leben Karl Lagerfelds zu einer bewegenden, faszinierenden und überraschenden Lektüre. »Ich bin immer der gleiche dumme Hamburger Junge. Als Kind war ich wahnsinnig selbstgefällig. Heute bin ich mir selbst gegenüber gleichgültig, ironisch, distanziert. Ich kann über mich selbst lachen.« Karl Lagerfeld Nur ungern nimmt Karl Lagerfeld Choupette, die Katze seiner aktuellen Muse, des Männermodels Baptiste, bei sich auf. Doch ganz gegen seinen Willen erobert sie nun sein Herz. Denn seit dem Verlust seiner großen Liebe Jacques de Bascher lebt Karl zurückgezogen. Umgeben von Büchern und seinen Erinnerungen: an die kapriziöse Mutter, an den Freund und Rivalen Yves Saint-Laurent. Oder an Martine, die ihn seit Jahrzehnten als Leiterin seines Ateliers begleitet. »Ich bin sehr auf dem Boden geblieben. Nur nicht auf dieser Welt.« Karl Lagerfeld

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Covergestaltung: Cornelia Niere, München

Coverillustration: Paula Sanz Caballero

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Kapitel 1

Davos, Schweiz, März 2010

Paris, drei Tage später

Kapitel 2

Paris, Herbst 1989

Berlin, 1930

Kapitel 3

Paris, Juli 1972

Kapitel 4

Paris, August 1972

Kapitel 5

Bissenmoor, Holstein, 1938

Bissenmoor, Sommer 1940

Bissenmoor, Juni 1943

Kapitel 6

St. Tropez, Sommer 1972

Paris, zwei Tage später

Kapitel 7

Paris, Frühling 1974

Paris, Frühling 1954

Kapitel 8

Paris, September 1975

Paris, eine Woche später

Kapitel 9

Paris, Winter 1989

Paris, März 1970

Kapitel 10

Paris, Sommer 1974

Kapitel 11

New York, Frühling 1975

Kapitel 12

Wien, Burgtheater, 1980

Wien, Burgtheater, eine Woche später

Kapitel 13

Paris, 1980

Grand-Champ, Bretagne, 1980

Kapitel 14

Paris, 1982

Kapitel 15

Paris, 1983

Kapitel 16

Paris, vier Tage später

Kapitel 17

Paris, Winter 1989/90

Kapitel 18

Monaco, Frühling 1990

Kapitel 19

New York, Frühling 1991

Kapitel 20

Paris, November 2000

Paris, Februar 2004

Kapitel 21

Paris, Sommer 2008

Monaco, Februar 2010

Kapitel 22

Davos, März 2011

Paris, eine Woche später

Kapitel 23

Paris, acht Tage später

Kapitel 24

Im Hause Chanel, vier Wochen später

Kapitel 25

Das Defilee

Eine Woche später

Glossar

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Widmung

Dank an Stefan Rieckhoff

für den Neubeginn

Kapitel 1

Davos, Schweiz, März 2010

Schnee, Schnee, statt Sonne Schnee. Auf zweitausend Metern blies der Schneesturm Karl entgegen. Die Kälte schnitt wie mit Messern. Er keuchte gegen die Elemente an. Rundum das Nichts, das weiße, wirbelnde Nichts. Blind umhüllt von flockiger Pracht, lief er hinein in die gleichgültig bedrohliche Landschaft, gegen den Wind, gegen die Kälte. Karl war über siebzig, trotzdem fühlte er sich dem Schneetreiben gewachsen. Er empfand weder Furcht noch Wut noch Schwäche.

Ein Blick zurück, dort lag Davos. Ein unbekanntes Gefühl, die Berührung mit Mächten, in deren Umarmung Vernichtung lag, ließ ihn weitermarschieren. Doch der Wind haute wie mit Sensen und riss Karl zu Boden. Da lag er, die Schneeschuhe von sich gestreckt.

Und plötzlich hörte der Wind auf. »Urschweigen«, murmelte Karl. »Nicht eine Vogelstimme.« In seinem ganzen Leben hatte er nie solche Stille gehört. Schneetreiben, Unfugtreiben, Unvernunft, dachte er und bekämpfte beginnende Unklarheit auf unklare, fieberhafte Art. Er empfand Freiheit, absolute Freiheit. Wenn er verschwand, bedeckt von der weißen Macht, wäre der Tod, dem er im Augenblick näher war, als er wusste, ein grandioser Abgang. Die Freiheit, die Karl in Anspruch nahm, die Instanz, die er anerkannte – war das Ich. Das Leben hatte mit ihm begonnen und würde mit ihm enden. Sobald es vorbei war, war das Ganze vorbei: die Welt, das Haus Chanel, der weiß gepuderte Zopf, die Sonnenbrille. Mit seinem Tod würde es nichts mehr davon geben.

Er blickte an sich hinunter. Der Unterleib war schon zugeschneit, nur der Oberkörper im Anorak von Yamamoto ragte noch aus dem weißen Leichentuch hervor. Vielleicht würde man ihn erst in Jahrtausenden finden, so wie diesen Mann im Eis. Allerdings würde man ihn, Karl, sofort erkennen, da die Sonnenbrille nicht verweste. Er richtete die Augen in die Höhe. Der Himmel graute, oder war das schon die Dämmerung? Ein unvergesslicher Anblick.

Ein Wildhüter fand ihn eine Stunde später, als er den dunklen Fleck im Schnee für das Aas eines Wildschweins hielt. Man brachte den stark unterkühlten alten Mann in die Hochgebirgsklinik, wo seine vitalen Werte stabilisiert wurden. Karl ließ alles über sich ergehen. Die Fragen der Ärzte, warum er das Wagnis eingegangen war, sich bei diesem Wetter von Davos zu entfernen, beantwortete er nicht. Sein weißes Haar mit dem Trockenshampoo hob sich kaum vom Weiß des Kissens ab.

Das Wetter war besser geworden. Blasses Blau zeigte sich zwischen schleierdünnen Wolken. Die Natur meinte es gut mit Karl, und eine Art von Rührung ergriff ihn. Was er da draußen im Schnee geträumt hatte, war am Verblassen. Was er gedacht hatte, verstand er schon nicht mehr. Es verschwand endgültig, als er den Telefonanruf erhielt.

Mit mehrstündiger Verspätung hatte Baptiste von Karls Abenteuer im Schnee erfahren.

Mit zwanzig Jahren war Baptiste Giabiconi das erfolgreichste Männermodel der Welt. Er entschuldigte sich bei Karl. »Ich hatte den ganzen Tag Fotoaufnahmen.«

»Es ist alles in Ordnung.«

»Aber ich war nicht für dich da.«

»Was hättest du von Paris aus schon für mich tun können?«

»Ich komme zu dir!«, rief Baptiste.

»Rede keinen Unsinn. Die behalten mich ein paar Tage hier, dann nehme ich den nächsten Flieger.«

»Nein, ich komme!«

»Musst du nicht nach Los Angeles?«

»Nicht so wichtig.«

»Wann ist das genau, Baptiste?«

»Übermorgen.«

Karl setzte sich auf. »Du fliegst gefälligst nach L. A., mein Bester.«

»Der Auftrag dauert fünf Wochen. Ich kann unmöglich fünf Wochen lang von dir fort sein, während du …«

»Ich habe noch nie, aus welchem Grund auch immer, eine berufliche Vereinbarung abgesagt. Noch kein einziges Mal. Nicht als mein Vater starb, nicht als meine Mutter gestorben ist, noch nicht einmal, als Jacques seine HIV-Diagnose bekam. An diesem Tag habe ich eine Fotoserie im Bois de Boulogne geschossen. Das nennt man Professionalität, die ich auch von dir erwarte. Du fliegst nach Amerika, ich kuriere mich aus, und in fünf Wochen sehen wir uns wieder.«

Sekundenlang blieb es still.

»Mit trotzigem Schweigen erreichst du bei mir nichts«, sagte Karl.

»Da ist noch etwas anderes. Ich habe eine Katze.«

»Ich weiß.«

»Sie heißt Choupette.«

»Niedlich.«

»Sonst, wenn ich auswärts arbeite, hat meine Nachbarin auf sie aufgepasst. Aber die Frau muss ins Krankenhaus zu ihrem krebskranken Mann. Sie kann sich diesmal nicht um die Katze kümmern. Da dachte ich …«

»Ja?«

»Dein Haus ist so groß. Choupette würde dich bestimmt nicht stören. Sie ist ganz lieb und verschmust.«

»Nichts, was man als verschmust bezeichnen könnte, hat jemals in meinem Haus gewohnt.«

Man hörte ein Seufzen. »Ich habe es mir schon gedacht.«

»Baptiste, ich hatte noch nie ein Haustier. Mein Vater hat den Hund, der mich als Kind gebissen hatte, erschossen. Im Übrigen glaube ich nicht an das Konzept, Haustiere zu halten. Wildtiere sind in Ordnung, weil sie dem Gleichgewicht der Natur dienen. Ohne den Wolf würde das Reh großen Schaden anrichten. Aber Haustiere sind nur dazu da, damit verwitwete Rentnerinnen sich nicht so einsam fühlen. Haustiere scheißen auf die Straße, sie bellen zu den unmöglichsten Zeiten …«

»Choupette bellt nicht«, warf Baptiste ein.

»Katzen zerkratzen Möbel, besonders die wertvollen.«

»Ich habe verstanden«, gab Baptiste nach. »Ich hätte es nicht ansprechen sollen. Du hast gerade genug mit dir selbst zu tun.«

Dieser Satz gab Karl einen Stich. Sein Palais hatte tausend Quadratmeter; was würde eine kleine Katze auf tausend Quadratmetern schon anstellen können? Und sollte sie wirklich einem Polstermöbel zu Leibe rücken, so bekäme der Dekorateur von Chanel eben etwas zu tun.

»Natürlich kann Choupette vorübergehend bei mir bleiben«, sagte Karl sonnig. »Am besten, du gibst sie Martine. Die weiß bestimmt, was man für eine Katze vorbereiten muss. Sie soll mir Choupette nach Hause bringen.«

»Bist du sicher?«

»Mach keine große Sache daraus.«

»Martine braucht für Choupette nichts zu besorgen!«, rief Baptiste erleichtert. »Ich gebe ihr alles mit, den Fressnapf, den Kratzbaum, das Katzenklo …«

»Keine überflüssigen Details.«

»Du bist ein Schatz!«

»Ein Schatz … war ich noch nie«, entgegnete Karl indigniert.

Nachdem sie aufgelegt hatten, ließ er den Kopf zurücksinken. Eine fremde Katze würde durch seine Räume in der Rue de l’Université streunen, sie würde miauen und ihre Notdurft in Karls Haus verrichten. Das konnte ja etwas werden!

Paris, drei Tage später

Karl betrat sein Palais wie ein Dieb in der Nacht. Die Reiseverspätungen hatten sich multipliziert. Der Arzt, der die Visite unnötig ausgedehnt hatte, der Hubschrauber, der demzufolge verspätet abhob und die Linienmaschine in Zürich verpasste. Das dämliche Warten in einer V. I. P.-Lounge, samt Belästigung durch namenlose V. I. P. s. Dann der wackelige Flug! Man hätte dem Kapitän für dieses erbärmliche Gezuckel die Lizenz entziehen müssen. Der Chauffeur, der es nicht rechtzeitig durch den Pariser Abendverkehr geschafft hatte, weshalb Karl ein Taxi nehmen musste.

Als er endlich vor seinem Haus abgesetzt wurde, fühlte Karl eine unbekannte Nervosität. Sonst empfand er bei jeder Heimkehr Erleichterung, dem dummen Treiben der Welt entflohen zu sein, und die Vorfreude auf lieb gewonnene Rituale: das Bad mit der Essenz aus Mandelöl und wilder Zitrone, das Menü vom Ritz, die Umarmung seiner Bücher mit den Augen.

Diesmal tippte er ängstlich den Sicherheitscode ein, erschrak über den Lärm, den die Tür machte, tat vorsichtige erste Schritte im Foyer. Es brannte Licht, natürlich, Martine war ja gerade noch hier gewesen.

»Länger kann ich nicht bleiben«, hatte sie am Telefon gesagt.

»Gehen Sie nur«, antwortete Karl. »In einer halben Stunde bin ich zu Hause.«

»Man kann ein Tier in einem fremden Haus nicht allein lassen.«

»Nicht mal eine halbe Stunde?«

»Choupette ängstigt sich.«

»Ich ängstige mich, wenn ich daran denke, dass dort eine Bestie auf mich wartet.«

»Choupette ist …« Martine unterbrach sich.

»Ja? Was ist Choupette?«, rief Karl, alarmiert durch ihr Schweigen. »Heraus mit der Sprache! Was ist Choupette?«

»Kompliziert«, antwortete Martine. »Nein, kapriziös, nein, eher maliziös, könnte man sagen.«

»Das Maliziöse wird ihr sofort abgewöhnt«, entgegnete Karl. »Sperren Sie sie irgendwo ein, wo sie keinen Schaden anrichtet. Wenn ich komme, lasse ich sie raus.«

»Das ist kein guter Einstieg für ein Tier in fremder Umgebung.«

»Guter Einstieg?« Karl lachte grimmig. »Bin ich die Heilsarmee? Sie soll froh sein, dass sie ein Dach überm Kopf hat.«

»Ich habe ein paar Dosen Katzenfutter auf die Anrichte gestellt.«

»Merci, Martine.«

»Und den Dosenöffner, weil ich annehme, Sie wissen sonst nicht, wo der zu finden ist.«

»Noch einmal merci, Martine.«

Keine halbe Stunde später schlich Karl Lagerfeld durch sein Haus wie ein Einbrecher. In Räumen, in denen es nicht hell genug war, drehte er jedes verfügbare Licht auf. Das Palais wirkte verlassen, doch er spürte die fremde Existenz in seinem Heim mit jeder Faser.

»Wo bist du?«, rief er, zuerst verhalten, von Zimmer zu Zimmer schleichend. »Wo bist du?!«, wiederholte er immer lauter. »Komm heraus und begrüße mich! Du bist nur eine Katze, ich bin der Hausherr. Ich finde es unwürdig, Haustiere zu halten. Ich würde mir niemals freiwillig ein Tier zulegen, da dann jeder sofort wüsste: Karl Lagerfeld ist einsam. Ich bin nicht einsam. Wo bist du?«

Er hatte übersehen, dass Choupette schon eine Weile hinter ihm saß, auf seinem Sessel. Niemand anders durfte in seinem Sessel sitzen, und tatsächlich hatte es auch noch nie jemand gewagt. Die Katze saß aufrecht da wie eine Sphinx und betrachtete den Mann, dessen Haar eine ähnliche Farbe hatte wie ihr Fell. Choupette war eine französische Birma-Katze, langhaariger als gewöhnliche Exemplare, geboren in Fontaine-sous-Préaux unter dem Züchtungsnamen Guimauve du Blues Daphnée.

Sie streckte sich und legte sich in Karls Sessel lang hin. Aus großen, ernsten blauen Augen musterte sie den Fremden. Durch das leise Geräusch fuhr er herum, seine Augenbrauen zuckten hoch, er trat einen Schritt zurück.

»Im ganzen Haus gibt es keinen unpassenderen Platz für dich als diesen«, sagte er in gehörigem Abstand.

Choupette hob den Kopf.

»Augenblicklich verlässt du meinen Sessel.« Er wartete, nichts geschah. »Ich habe nicht die Absicht, dich herunterzuheben, doch wenn du nicht gehorchst, werde ich es tun.«

Choupette bewegte den Schwanz ein wenig.

Karl wagte sich näher. »Dieser Sessel stammt aus dem Jahr 1928, das ist Schweizer Art déco. Ich habe ihn in Bern gekauft. Es ist mir gelungen, den Originalbezug zu erhalten. Ich gehe davon aus, dass du gerade auf diesen meinen rotsamtenen Sessel haarst. Du schlägst deine Krallen in einen fast hundertjährigen Stoff. Das ist inakzeptabel.« Noch ein Schritt. »Runter mit dir. Hörst du, Choupette?«

Als er sie zum ersten Mal beim Namen rief, zeigte die Katze einen Anflug von Interesse.

»Mau«, machte sie. Weiter nichts. Nicht etwa Miau oder ein klägliches Miiiauuu. Es war ein Statement, eine Feststellung, ein kurzes, unmissverständliches »Mau«.

Karl versuchte es im Guten. »Du verstehst mich also? Umso besser. Choupette, verlasse meinen Sessel«, befahl er.

Nachdenklich betrachtete sie den sonderbaren Menschen mit dem hohen, weißen Kragen, dem hauteng sitzenden schwarzen Anzug, den schwarzen Handschuhen und den ungewöhnlich vielen glitzernden Ringen an den Fingern. Choupette blieb liegen.

Karl fiel ein, dass man bei Tieren mit der Aussicht auf Futter am meisten erreichte. »Ich habe etwas für dich«, lockte er. »Etwas Leckeres, in der Küche, komm, wir sehen uns das mal an.«

Er tat, als liefe er in die Küche, und drehte sich um. Choupette hatte sich nicht gerührt.

»Wie du willst.« Missmutig verließ er den Salon. »Ich mache jetzt eine dieser verdammten Dosen auf«, murmelte er. »Ich klatsche den Fraß in den Napf und stelle ihn auf den Boden, wo sich eine Katze aufzuhalten hat. Dann kommt sie bestimmt runter von ihrem Thron.« Er unterbrach sich. Ihr Thron? Dass er solch einen Gedanken überhaupt fassen konnte! »Das wird nie dein Thron. Niemals!«

Er fand Dosen und Öffner auf der Anrichte. Drei Geschmacksrichtungen standen zur Auswahl, Thunfisch, Lachs, Ente. Wenn ich eine Katze aus Birma wäre, wofür würde ich mich entscheiden? Er griff zur Lachsdose. Die Handhabung des Dosenöffners fiel ihm schwer, es gelang ihm nicht, bis zum Lachs vorzudringen. Bei der Ente hatte er mehr Erfolg, rümpfte die Nase über den Geruch und nahm einen Löffel. Mit abgewandtem Kopf holte er das Zeug aus der Büchse und … Wo war der Napf? Hatte Baptiste nicht versichert, die gesamte Grundausrüstung zu bringen? Oder sollte Martine vergessen haben, Choupettes Fressnapf bereitzustellen?

Da stand Karl, mit der unangenehm riechenden Entenpampe auf dem Silberlöffel, und wusste nicht, wo er sie abladen sollte. Den Löffel angewidert balancierend, öffnete er Oberschränke, fand nichts als das Teeservice Marie-Antoinettes, das er bei Sotheby’s ersteigert hatte, griff genervt nach einem Dessertteller und klatschte den Brei darauf. Das sah nicht appetitlich aus; Karl drückte das Zeug ein wenig zurecht. Mit der königlich angerichteten Ente betrat er den Salon.

Choupette war verschwunden.

Karl stellte den Teller auf den Boden und eilte zum Sessel. Seine Befürchtung bewahrheitete sich: Das Vieh haarte! Auf dem roten Bezug entdeckte er lange, weiße Haare. Augenblicklich musste der Schaden behoben werden! Dazu brauchte er seine besondere Bürste, mit der er sonst Flusen von Anzügen entfernte. Karl stürzte die Treppe in den Ankleideraum hoch. Dort lag die Bürste gut sichtbar bereit und …

Dort lauerte sie. Frech stand Choupette zwischen Karl und seiner Bürste.

»Du bist tot«, flüsterte er. »Wenn du es weiterhin so treibst in meinem Haus, bist du tot. Geh hinunter, da steht Ente für dich. Friss und lass mich zu meiner Bürste. Ich muss den Sessel von deinen Haaren befreien.«

»Mau«, war die Antwort.

»Was soll das heißen? Magst du Ente nicht?« Seine Haltung entspannte sich etwas. »Ich kann es dir nicht verdenken.«

»Mau.« Choupette machte kehrt und gab den Weg frei.

Karl griff zur Bürste und folgte ihr.

Unten angelangt, hatte er Gelegenheit, die Geschmackssicherheit der Katze zu bestaunen. Sie lief zum Teller Marie-Antoinettes, schnupperte und wandte sich indigniert ab.

»In diesem Punkt sind wir einer Meinung.« Karl ließ die Bürste über den Sesselbezug tanzen. »Aber was mache ich jetzt mit dir? In meinem Haus soll niemand hungern.«

Gelassen kam Choupette näher. »Mau?«

»Ja, ich bin auch hungrig. Ich habe …« Er überlegte. »Genau genommen habe ich seit dem Frühstück in der Schweiz nichts mehr gegessen. Wer würde das Zeug im Flugzeug wohl hinunterbekommen?«

Als Karl mit der Bürste zurücktrat, war Choupette mit einem Sprung wieder auf dem Sessel. Er wollte sie tadeln, wollte Regeln festlegen, doch er lächelte.

»Du magst Art déco, wie mir scheint. Mir geht es genauso. Oben in der Bibliothek habe ich noch andere außergewöhnliche Stücke. Aber davon später, jetzt wollen wir erst einmal das Ritz bemühen.« Er griff zum Telefon. »Es ist das Einfachste, wenn du das isst, was ich esse«, sagte er über die Schulter. »Das spart die Handhabung des Dosenöffners.« Er drückte die Kurzwahl. »Stell bloß nichts an, während ich telefoniere.« Er drohte ihr mit dem Hörer.

Choupette nahm das als Aufforderung, den Sessel zu verlassen und zu ihm zu kommen. Zu seinen Füßen blickte sie hoch.

»Schöne Augen hast du ja, das muss man dir lassen. … Hallo? … Lagerfeld. Wie schnell können Sie hier sein? Wir sind sehr hungrig.« Er beugte sich vor. »Sind wir doch, richtig? … Ja, für zwei ähm … Personen. Zweimal den Thon rouge sauvage.« Ein Seitenblick zu Choupette. »Der Thunfisch aus dem Ritz wird dir schmecken. … Einmal mit Spaghetti. Und anschließend das Bœuf de race Normande. Dazu Salat und Purée de pommes de terre. … Nein, nichts Süßes, danke. … Gut, wir erwarten Sie. Danke.« Er legte auf.

Karl ging vor Choupette in die Hocke. »Das Püree kannst du weglassen, wenn du es nicht magst.« Behutsam hob er die Hand. »Ich esse abends sonst nicht so schwer, aber es war ein langer, anstrengender Tag, und du sollst …«, vorsichtig senkte er die Hand, »… du sollst ein Willkommensmenü kriegen.« Er streichelte die Katze mit dem silbrig weißen Haar. »Bienvenue, ich bin Karl.«

»Mrrrrr«, antwortete Choupette.

Kapitel 2

Paris, Herbst 1989

»Mach kein Licht«, flüsterte Karl.

»Aber ich sehe nichts«, antwortete Martine.

»Nur im Dunkeln sieht man alles.«

Martine, Karls Gewandmeisterin, zweimal verheiratet, zweimal geschieden, Mutter eines Sohnes, der nach Amerika gezogen war, hielt ein Blouson aus changierender Wolle vor Lagerfelds Gesicht. »Ich soll diese Naht höher setzen?«

»Die Naht geht zu tief runter, das erkennt jeder vernünftige Mensch.«

»Bei Licht könnte ich das vielleicht erkennen.« Sie hörte Karls ungeduldiges Seufzen. »Wenn ich die Naht höher setzen soll, muss ich das Ganze noch einmal auftrennen.«

»Tja, bedauerlich. Aber ich meine, diesen Wunsch bereits mehrmals geäußert zu haben«, entgegnete er ungehalten. »Es soll sich fließend bewegen. Sonst kann das ja kein Mensch anziehen.«

»Soweit ich weiß, wird das auch nie ein lebender Mensch anziehen.« Sie suchte nach einer Reaktion, doch sein Gesicht blieb versteinert.

Karl gestattete Martine, eine Arbeitslampe einzuschalten. Er selbst lief ans andere Ende des Salons und nahm ein Buch über Emil Nolde zur Hand. Wie er mit der dunklen Sonnenbrille lesen konnte, war Martine ein Rätsel. Die Rundbogenfenster waren mit dunklem Samt verhängt, kein Schimmer fiel herein, nur schwaches Kerzenlicht spiegelte sich im Lack des Flügels. Die Noten des Chansons von Jacques Prévert lagen aufgeschlagen da: Pour toi. Bei Tageslicht hatten die Le-Corbusier-Sessel einen cremefarbenen Ton, in der Düsternis wirkten sie wie graue Klötze. Das japanische Gemälde mit den roten Vögeln verwandelte sich in eine apokalyptische Vision.

Martine hörte nicht, dass Karl den Salon verließ, sie spürte nur den Luftzug. Oben würde er nun an den Bücherwänden entlangstreichen. Karl hatte eine eigene Art von Bibliothek erfunden. Die Bücher standen nicht senkrecht, sondern lagen auf schmalen Regalen als kleine Stapel. Bei senkrechten Büchern störte ihn, dass er den Kopf schieflegen musste, um etwas zu entziffern. Nach seiner Bücherwanderung würde er an den Schreibtisch gehen, zum Filzstift greifen und das Kostüm eines geharnischten Königs entwerfen.

 

Die Glaskuppel über der Bibliothek war dunkel. In dieser Welt der Schemen und Grautöne saß Karl tatsächlich am Schreibtisch, aber er zeichnete nicht. Er hielt einfach nur still. Das Leben verstrich, egal, ob man daran teilnahm oder nicht. Manchmal hörte er in der Düsternis die Schritte seiner Eltern. Sie hatten nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt, und doch war er sicher, dass sie hier umgingen. Sie folgten ihm überallhin.

»Du kannst alles im Leben werden, nur kein Langweiler«, hörte Karl die Stimme seiner Mutter. »Wenn du dich mit mir unterhalten willst, gib dir Mühe. Du bist sechs, ich nicht. Also gib dir Mühe oder halte den Mund.« Seine Mutter hatte Karls frühe Tagebücher mit den Worten verbrannt: »Das braucht niemand zu wissen, wie doof du bist.«

Sein Blick fiel auf das Originalgemälde von Emil Nolde, Die Anbetung der Könige. Im Zwielicht betrachtete er den grünen Mantel Melchiors, der mit dem blauen Tuch der Maria korrespondierte. König Kaspar hatte einen roten Bart, Balthasar war nur zur Hälfte dargestellt. Vorhin hatte Karl im Nolde-Buch gelesen, dass dieses Bild 1933 entstanden war. Im selben Jahr war ein österreichischer Gefreiter deutscher Reichskanzler geworden. Und er, Karl, hatte das Licht der Welt erblickt.

Berlin, 1930

Glücksklee war in Deutschland ein Begriff wie Persil oder Volkswagen. Schon Jahre vor der Gründung der Firma Glücksklee gab es in Amerika die Pacific Coast Condensed Milk Company, die Otto Lagerfelds Lebensweg bestimmen sollte. Otto ähnelte einem preußischen Junker des 19. Jahrhunderts. Die Enden seines Schnäuzers standen verwegen ab, der Vatermörderkragen quetschte ihm das Kinn, doch so verbarg er, dass er einen dicken Hals hatte. In einem Hamburger Kaffeeunternehmen ausgebildet, schickte ihn seine Firma nach Venezuela, von wo er nach San Francisco übersiedelte und das große Erdbeben 1906 nur knapp überlebte. Er verließ die zerstörte Stadt und reiste an die kanadische Grenze. Man stellte ihn als Handelsvertreter bei der Carnation Company ein. Dort lernte er alles, was man über Dosenmilch wissen musste.

Vor Beginn des Ersten Weltkriegs brach in Russland eine verheerende Rinderseuche aus, Milch wurde Mangelware. Ottos Firma sandte den jungen Lagerfeld über den Pazifik nach Wladiwostok, wo er das Importgeschäft für Kondensmilch übernahm. Der Handel florierte selbst noch während des Krieges, bis die Oktoberrevolution das Gesicht des Zarenreiches verwandelte. Ein deutsch-amerikanischer Ausländer mit Einfluss auf die sowjetische Milchwirtschaft war verdächtig. Otto wurde festgenommen und so lange verhört, bis er ein Geständnis ablegte, das ihn als US-Spion entlarvte. Seine Hinrichtung stand bevor. Das Herz von Agafja, einer russischen Witwe, gehörte Otto Lagerfeld; sie verhalf ihm zur Flucht und wurde dafür selbst füsiliert.

Der Hafen Wladiwostok und damit der Weg in die USA waren ihm versperrt. Otto sah keine andere Möglichkeit, als sich in die Gegenrichtung aufzumachen. Drei Monate lang schlug er sich durch das riesige Land, bis er eines Aprilabends im Jahr 1918 Hamburg erreichte. Er wog noch achtundvierzig Kilo.

1919 gründete er die Firma Lagerfeld & Co., importierte Kondensmilch aus den USA und führte 1923 seine eigene Marke Glücksklee ein. Das rot-weiße Etikett mit dem grünen Kleeblatt entwarf er selbst. Seine Milchgesellschaft mbH war die erste ihrer Art in Deutschland. Er produzierte Milch mithilfe holsteinischer Kühe und mit bester Vertriebsanbindung an die Ostsee. Otto heiratete und bekam eine Tochter, deren Mutter im Kindbett starb.

Hamburg war Hansestadt, Handelsplatz, Industriezentrum, ein schmuckloses Gewirr von Kontoren, Fabriken und Lagerhallen. Ein Witwer, der etwas erleben wollte, machte sich besser auf in die Metropole, die mit Paris und New York wetteiferte. Berlin wollte glänzen, verwöhnen, verführen. Berlin war das Mekka der neumodischen Kaufhäuser, Tempel des Geldes, Kathedralen des Konsums, wo es vom Hosenknopf bis zu Schillers gesammelten Werken alles gab, von Obst, arrangiert zu Pyramiden, über Käse, groß wie Wagenräder, bis zur Damenwäsche aus Seide und Satin.