Keeper of the Lost Cities – Das Exil - Shannon Messenger - E-Book + Hörbuch

Keeper of the Lost Cities – Das Exil Hörbuch

Shannon Messenger

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Beschreibung

Keeper of the Lost Cities. Das Exil
Ein episches Fantasy-Abenteuer der preisgekrönten New-York-Times- und USA-Today-Bestsellerautorin Shannon Messenger. Die mitreißende Fortsetzung der fantastischen Reihe um Elfen, Freundschaft und Magie mit jeder Menge Spannung für Mädchen und Jungen ab 12 Jahren.  

Sophies fesselndes Abenteuer geht weiter …  
Seit Sophie erfahren hat, dass sie in Wahrheit ein Elf ist, hat sich ihr Leben komplett verändert. Nun lebt sie in der Elfenwelt und besucht eine Zauberschule. Dort gibt es Mitschülerinnen und Mitschüler mit übersinnlichen Fähigkeiten, magische Tierwesen und aufregende Schulfächer wie Telepathie, Metaphysik und „Das Universum“. In den Wäldern rund um die Schule entdeckt Sophie ein magisches Alicorn. Dieses geflügelte Fabelwesen ist eines der letzten seiner Art. Und nur Sophie kann seine Gedanken lesen. Dann bekommt sie vom Hohen Rat den Auftrag, das Alicorn zu zähmen. Doch dunkle Mächte sind hinter ihr und der seltenen Kreatur her. Sophie und das Alicorn sind in größter Gefahr ... 

  • Das ideale Geschenk: Perfekter Lesestoff für Jungen und Mädchen ab 12 Jahren 
  • Wie eine richtig gute, actiongeladene Serie: Ein Jugendbuch über Fabelwesen, Magie, Liebe und Freundschaft
  • So macht Lesen Spaß: Fantastische Welten, starke weibliche Charaktere, verblüffende Wendungen und atemlose Spannung 
  • Zeitloses Fantasy-Epos: Fans von „Woodwalkers“, „Land of Stories“ und „Harry Potter“ werden dieses Buch verschlingen 
  • Extra-Motivation: Zu diesem Buch gibt es ein Quiz bei Antolin

„Keeper of the Lost Cities. Das Exil“ ist der zweite Teil der preisgekrönten magischen Fantasy-Reihe – voller Zauber, Action und Abenteuer!  

Alle Bände dieser Reihe:
Band 1: Keeper of the Lost Cities. Der Aufbruch (9783845840901)
Band 2: Keeper of the Lost Cities. Das Exil (9783845840918) 
Band 3: Keeper of the Lost Cities. Das Feuer (9783845844541)
Band 4: Keeper of the Lost Cities. Der Verrat (9783845846293) 
Band 5: Keeper of the Lost Cities. Das Tor (9783845846309) 
Band 6: Keeper of the Lost Cities. Die Flut (9783845846316) 
Band 7: Keeper of the Lost Cities. Der Angriff (9783845846323) 
Band 8: Keeper of the Lost Cities. Das Vermächtnis (9783845846330) 
Band 8,5: Keeper of the Lost Cities. Entschlüsselt (9783845851488) 
Band 9: Keeper of the Lost Cities. Sternenmond (9783845851495) - erscheint im August 2023
Weitere Bände sind in Planung.

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Zeit:15 Std. 46 min

Sprecher:David Nathan

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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe München 2021

Text copyright © 2013 by Shannon Messenger

Titel der Originalausgabe: Keeper of the Lost Cities - Exile

Die Originalausgabe ist 2013 bei Simon and Schuster (Aladdin) erschienen.

© 2021 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D-80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Doris Attwood

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung des Originalcovers

Coverillustration: Jason Chan, Typografie von geen graphy/shutterstock.com und Bildmaterial von nienora/shutterstock.com

Design: Karin Paprocki

Innenvignetten: Bildmaterial von Spicy Truffel/shutterstock.com

Satz: Müjde Puzziferri, MP Medien, München

ISBN eBook 978-3-8458-4537-1

ISBN Printausgabe 978-3-8458-4091-8

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Für Liesa Abrams Mignogna,

Lektorin der Extraklasse

(und wahrscheinlich das ECHTE Batgirl)

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

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Danksagungen

Über die Autorin

Prolog

Sophies Hände zitterten, als sie die winzige grüne

Flasche hochhob.

Ein Schluck, der Leben und Tod bedeutete – und nicht nur für sie. Für Prentice.

Für Alden.

Sie starrte auf die hin und her schwappende klare Flüssigkeit, entfernte den Kristallkorken und presste die Flasche an ihre Lippen. Alles, was sie tun musste, war, das Gift in ihre Kehle fließen zu lassen.

Aber konnte sie es wirklich tun?

Konnte sie wirklich alles aufgeben, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen?

Konnte sie mit der Schuld leben, wenn sie es nicht tat?

Diesmal lag die Entscheidung allein bei ihr.

Es gab keine Nachrichten mehr.

Keine Hinweise.

Sophie war ihnen bis hierhin gefolgt, aber jetzt war sie auf sich allein gestellt.

Sie war nicht länger die Marionette von Black Swan.

Sie war beschädigt.

Alles, was sie noch hatte, war Vertrauen.

1

Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir Bigfoot auf der Spur sind«, flüsterte Sophie und starrte erneut wie gebannt auf den gigantischen Fußabdruck in der matschigen Erde. Jede der riesigen Zehen war so dick wie ihr Arm, und in dem Abdruck hatte sich eine tiefe, dreckige Pfütze gesammelt.

Dex lachte und zeigte zwei perfekte Grübchen, während er sich auf Zehenspitzen reckte, um eine Stelle mit abgewetzter Rinde an einem nahen Baum zu untersuchen. »Glauben die Menschen wirklich, dass dort draußen irgendwo ein riesiger haariger Affenmensch herumläuft, der sie fressen will?«

Sophie wandte sich ab und strich ihr blondes Haar nach vorn, damit es ihr Gesicht umrahmte und ihre errötenden Wangen verbarg. »Ja. Ziemlich verrückt, oder?«

Es war nun schon fast ein Jahr vergangen, seit Sophie in die Verlorenen Städte gezogen war, nachdem sie erfahren hatte, dass sie ein Elf war. Trotzdem passierte ihr manchmal immer noch ein kleiner Ausrutscher und sie klang wieder wie ein Mensch. Sie wusste, dass Bigfoots – oder Sasquatchs – in Wahrheit große, grüne, zottelige Kreaturen mit riesigen Kulleraugen und schnabelartiger Nase waren. Sie hatte sogar schon mit ihnen gearbeitet, auf den Weiden von Havenfield, dem riesigen Tierschutzreservat, das zu ihrem neuen Zuhause geworden war. Aber es war nun einmal nicht so leicht, einfach alles zu vergessen, was man im Lauf seines Menschenlebens gelernt hatte. Vor allem wenn man ein fotografisches Gedächtnis hatte.

Ein Donnerschlag krachte über ihnen und schreckte Sophie aus ihren Gedanken.

»Mir gefällt es hier nicht«, murmelte Dex, und seine grünen Augen wanderten aufmerksam über den Waldrand, während er näher an Sophie heranrückte. In der feuchtschweren Luft klebte die hellblaue Tunika an seinen dünnen Armen und seine graue Hose war von Matsch überzogen. »Lass uns dieses Ding endlich finden, damit wir wieder von hier verschwinden können.«

Sophie war ganz seiner Meinung. Der düstere Wald war so dicht und wild, dass sie sich vorkam wie an einem von der Zeit vergessenen Ort.

Plötzlich raschelte es in den buschigen Farnen vor ihnen und ein dicker grauer Arm packte Sophie von hinten. Im nächsten Moment baumelten ihre Füße in der Luft und sie bekam eine volle Ladung muffigen Koboldschweiß ins Gesicht. Ihr persönlicher Leibwächter – wie üblich nur mit einer Hose bekleidet und mit nacktem Oberkörper – schob Dex hinter sich, zog das gebogene Schwert aus der Scheide an seinem Gürtel und richtete es auf den großen blonden Elf in der dunkelgrünen Tunika, der aus der Blätterwand auf sie zutaumelte.

»Ganz ruhig, Sandor«, sagte Grady und wich vor der glänzenden Spitze der schwarzen Klinge zurück. »Ich bin’s nur.«

»Entschuldigung.« Sandors hohe Stimme erinnerte Sophie immer an ein Eichhörnchen. Er verneigte sich leicht und senkte die Waffe. »Ich habe deinen Geruch nicht erkannt.«

»Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich gerade zwanzig Minuten lang in einem Bigfootbau herumgekrabbelt bin.« Grady roch an seinem Ärmel und hustete. »Igitt! Edaline wird ganz sicher nicht begeistert sein, wenn ich nach Hause komme.«

Dex lachte, aber Sophie war zu sehr damit beschäftigt, sich aus Sandors schraubstockartigem Griff freizuzappeln.

»Du kannst mich jetzt wieder runterlassen!« Sobald ihre Füße den Boden berührten, stampfte sie schnaubend davon und funkelte Sandor wütend dafür an, dass sie sich seinetwegen jetzt die Hose wieder an Ort und Stelle zupfen musste. »Irgendein Anzeichen für den Sasquatch?«

»Der Bau ist schon seit einer Weile leer. Ich schätze, ihr hattet auch kein Glück beim Verfolgen der Spur?«

Dex zeigte auf die abgeschabte Stelle in der Baumrinde, die er untersucht hatte. »Wie es aussieht, ist er auf diesen Baum geklettert und hat seinen Weg von hier aus durchs Geäst fortgesetzt.«

Sandor schnupperte mit seiner breiten, flachen Nase in die Luft. »Ich sollte Sophie jetzt wieder nach Hause bringen. Sie ist schon viel zu lange draußen unterwegs.«

»Mir geht’s gut! Wir sind hier mitten im Wald, und abgesehen vom Hohen Rat weiß doch sowieso niemand, dass wir hier sind. Du hättest eigentlich gar nicht mit uns kommen müssen.«

»Ich gehe hin, wo du hingehst«, widersprach Sandor ihr streng, steckte das Schwert zurück in die Scheide und fuhr mit den Händen über die Seitentaschen an seiner schwarzen militärartigen Hose, als wollte er sich vergewissern, dass auch seine anderen Waffen noch da waren. »Ich nehme meine Aufgabe sehr ernst.«

»Offensichtlich«, grummelte Sophie. Sie wusste, dass Sandor nur versuchte, sie zu beschützen, aber sie hasste die Tatsache, dass er die ganze Zeit in ihrer Nähe war. Er war eine 2,15 Meter große ständige Erinnerung daran, dass die Entführer, denen sie und Dex nur knapp entkommen waren, noch immer irgendwo dort draußen lauerten und nur auf den richtigen Moment warteten, erneut zuzuschlagen …

Außerdem war es einfach nur peinlich, auf Schritt und Tritt von einem superparanoiden Kobold verfolgt zu werden. Sophie hatte gehofft, sie sei ihren Leibwächter längst los, wenn die Schule wieder anfing. Aber nun lagen nur noch zwei Wochen Ferien vor ihr, und sämtliche Hinweise, denen der Hohe Rat bislang gefolgt war, hatten in einer Sackgasse geendet. Wie es aussah, würde Sophie ihr riesiger, etwas fremdartig aussehender Schatten auch auf die Foxfire folgen.

Sie hatte versucht, Alden davon zu überzeugen, dass er sie auch genauso gut mithilfe des kristallenen Signaturanhängers um ihren Hals im Auge behalten konnte, aber er hatte sie nur daran erinnert, dass die Entführer auch beim letzten Mal kein Problem damit gehabt hatten, ihr den Anhänger einfach abzureißen. Und auch wenn die Kette, an der ihr neuer Kristall hing, mit zusätzlich eingewebten Strängen verstärkt war und über einige weitere Sicherheitsmaßnahmen verfügte, weigerte Alden sich strikt, ihr Leben in die Hände eines leblosen Accessoires zu legen.

Sie unterdrückte ein Seufzen.

»Tut mir leid, aber wir brauchen Sophie hier noch«, widersprach Grady Sandor und drückte Sophie tröstend an sich. »Nimmst du irgendetwas wahr?«, fragte er sie.

»Nicht hier in der Nähe. Aber ich kann versuchen, meine Reichweite zu vergrößern.« Sie ging ein paar Schritte von ihm weg, schloss die Augen und legte die Hände an die Schläfen, um sich zu konzentrieren.

Sophie war die einzige Telepathin, die Gedanken zu ihrer exakten Quelle zurückverfolgen konnte – und die einzige, die die Gedanken von Tieren zu lesen vermochte. Wenn sie die Gedanken des Sasquatch spüren konnte, dann konnte sie sie zu seinem Versteck verfolgen. Alles, was sie dafür tun musste, war, genau hinzuhören.

Ihre Konzentration breitete sich wie ein unsichtbarer Schleier über die Landschaft aus, und das Zwitschern und Knarren des Waldes verblasste zu einem leisen Summen, als die »Stimmen« ihren Kopf erfüllten: die melodischen Gedanken der Vögel in den Bäumen, die gedämpften Gedanken der Nagetiere auf dem Boden, die ruhigen Gedanken einer Ricke und ihres Kitzes ein wenig weiter weg auf einer kleinen Lichtung. Und noch weiter entfernt, im dichtesten Dickicht, die verstohlenen Gedanken eines großen Pumas, der sich an seine Beute heranschlich.

Aber keine Spur von den schweren, donnernden Gedanken eines Sasquatch.

Sophie richtete ihre Konzentration auf die schneebedeckten Berge. Die Entfernung war so groß, dass kaum ein Telepath sie hätte meistern können. Aber Sophie hatte ihren Geist schon einmal viel weiter ausgestreckt, als sie um Hilfe vor ihren Entführern gerufen hatte – obwohl sie damals halb betäubt gewesen war. Darum war sie auch überrascht, als ihr Körper nun von der Anstrengung zu zittern begann.

»Schon okay, Sophie«, versicherte Grady ihr und drückte sanft ihre Schulter. »Wir finden ihn auch anders.«

Nein.

Das hier war der Grund, warum Grady sie auf diese Rettungsmission mitgenommen hatte, trotz Sandors unzähliger Bedenken, was ihre Sicherheit betraf. Grady hatte bereits drei Mal versucht, das scheue Tier einzufangen, war jedoch jedes Mal mit leeren Händen nach Hause zurückgekehrt. Er verließ sich auf sie.

Sie zupfte sich eine lose Wimper ab – eine nervöse Angewohnheit – und trieb ihren Geist so weit hinaus, wie sie nur konnte. Lichter blitzten vor ihren Augen auf, jedes von ihnen von einem stechenden Schmerz begleitet, der ihr das Atmen schwer machte. Aber es war die Qualen wert, wenn sie auch nur den leisesten Hauch eines Gedankens spüren würde. Dann plötzlich: das verschwommene Bild eines Flusses mit moosig grünen Felsen und weißem, plätscherndem Wasser. Es fühlte sich weicher an als die Sasquatch-Gedanken, die sie beim Üben in Havenfield vernommen hatte, aber der Gedanke war eindeutig zu komplex, um von einem gewöhnlichen Waldtier zu stammen.

»Wir müssen in diese Richtung«, verkündete Sophie und zeigte nach Norden, bevor sie zwischen den Bäumen verschwand. Sie war froh, dass sie ihre leichten Stiefel angezogen hatte und nicht die flachen, schicken Schuhe, die sie normalerweise immer tragen sollte, selbst zu ihrer schlichten dunklen Tunika und der braunen Hose.

Dex eilte ihr nach, und sein zerzaustes rotblondes Haar hüpfte auf und ab, als er Sophie einholte und sie im selben Tempo nebeneinander liefen. »Ich verstehe immer noch nicht, wie du das machst.«

»Du bist kein Telepath. Ich habe auch keine Ahnung, wie du irgendeins von den Dingen anstellst, die Technopathen so können.«

»Schhhh, sonst hören sie dich noch!«

Dex hatte ihr das Versprechen abgenommen, niemandem von seinem neu entdeckten Talent zu erzählen. Dame Alina – die Rektorin der Foxfire – hätte es ihm niemals erlaubt, weiter am Aufspürenunterricht teilzunehmen, wenn sie gewusst hätte, dass sich seine besondere Fähigkeit bereits manifestiert hatte. Dex hoffte noch immer, dass irgendwann ein »besseres« Talent bei ihm zum Vorschein kam, obwohl es unglaublich selten war, dass jemand über mehr als nur eine Fähigkeit verfügte.

»Du stellst dich echt total albern an«, fand Sophie. »Technopathie ist doch richtig cool.«

»Du hast leicht reden. Es ist einfach nicht fair – schließlich bist du auch Telepathin und Bewirkerin.«

Sophie zuckte bei dem zweiten Wort zusammen.

Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie diese gefährliche Fähigkeit ohne Zögern wieder abgegeben. Aber Talente konnte man nicht einfach wieder ausschalten, nachdem sie ausgelöst worden waren. Sie hatte es versucht. Unzählige Male.

Ihre Muskeln begannen zu brennen, als das Gelände steiler wurde und die kalte, nieselfeuchte Luft in ihre Lunge stach. Aber es fühlte sich gut an zu rennen. Seit ihrer Entführung hatte Sophie kaum noch das Haus verlassen dürfen, weil alle versuchten, sie vor weiteren Gefahren zu beschützen. Doch damit erreichten sie nur, dass sie die Gefangene war, während ihre Entführer immer noch frei herumliefen.

Der Gedanke trieb ihre Beine noch schneller an, so als könnte sie, wenn sie sich nur richtig anstrengte, weit genug vor ihren Problemen weglaufen, bis diese sich einfach in Luft auflösten. Oder zumindest weit genug weg von Sandor – auch wenn der Kobold für seine massige Statur überraschend flink war. Es war Sophie noch kein einziges Mal gelungen, ihn abzuschütteln, und sie hatte es in den vergangenen Wochen sehr oft versucht.

Der Pfad wurde schmaler, je weiter sie sich den Bergen näherten, und nachdem sie noch einige Minuten bergauf gestiegen waren, machte er eine Kurve nach Westen und endete an einem gurgelnden Bach. Weiße Nebelwolken schwebten über den Felsen und verliehen dem sich durch die felsigen Hügel schlängelnden Gewässer etwas Geisterhaftes.

Sophie machte eine Pause, um Atem zu schöpfen, und Dex beugte sich nach unten und dehnte seine Beinmuskeln. Grady und Sandor stießen zu ihnen, als sie erneut nach dem Versteck des Sasquatch spürte.

»Du sollst doch immer an meiner Seite bleiben«, rügte Sandor sie.

Sophie ignorierte ihn und zeigte auf die schneebedeckten Berge. »Er ist da oben.«

Die Gedanken fühlten sich jetzt klarer an, erfüllten ihren Geist mit einer beinahe erschreckend lebendigen Szene. Jedes noch so winzige Blatt an den filigranen Farnen wirkte kristallklar, und Sophie konnte beinahe spüren, wie das kühle Wasser auf ihre Haut spritzte und die leichte Brise auf ihren Wangen kitzelte. Wirklich seltsam war jedoch die warme Ruhe, die ihr Bewusstsein umhüllte. Sie hatte noch nie zuvor einen Gedanken als so reines Gefühl gespürt – vor allem nicht bei einem Wesen, das sich so weit entfernt von ihr befand.

»Ab sofort bleiben wir zusammen«, befahl Grady, als sie begannen, dem Strom weiter bergauf zu folgen. »Dieser Teil des Waldes ist mir nicht vertraut.«

Sophie war nicht überrascht. Die Bäume und Farne wuchsen so dicht, dass sie sich sicher war, dass seit sehr langer Zeit niemand mehr hier gewesen war, weder ein Mensch noch ein Elf.

Weiches, grünes Moos bedeckte den Boden und dämpfte ihre Schritte. Es war ziemlich glitschig, und als Sophie zum dritten Mal ausrutschte, packte Dex sie am Arm und ließ sie nicht mehr los. Die Wärme seiner Hand drang durch den Stoff ihres Ärmels, und irgendwie hatte sie das Gefühl, sie sollte sich aus seinem Griff lösen. Aber er half Sophie, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. So fiel es ihr leichter, sich auf die Gedanken des Sasquatch zu konzentrieren.

Das Tier musste gerade etwas gegessen haben, denn in Sophies Magen breitete sich ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit aus, so als hätte sie sich eine Extraportion Schmelzmallows gegönnt.

Sie sprintete los – aus Angst, der Bigfoot könnte weiterziehen, nun, da er sich gestärkt hatte – und trat aus Versehen auf einen heruntergefallenen Ast.

Kraaaaaaaaaaaaaaacks!

Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem ganzen Körper aus, und obwohl sie wusste, dass es nicht ihre eigenen Gefühle waren, konnte Sophie das schreckliche, verängstigte Zittern nicht ignorieren. Sie hatte keine Ahnung, was es bedeutete – aber sie hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Bilder in ihrem Kopf verrieten ihr, dass der Sasquatch plötzlich vor etwas zu fliehen schien.

Sie riss sich aus Dex’ Griff los und stürmte dem Wesen hinterher.

Das Tier rannte so schnell davon, dass seine Gedanken auf einmal völlig verschwommen waren. Sophie konzentrierte sich darauf, Energie aus ihrem Innersten in ihre Beine zu leiten, aber trotz der zusätzlichen Kraft konnte sie spüren, wie sich der Sasquatch immer weiter von ihr entfernte. Sie würde ihn verlieren – es sei denn, sie fand einen Weg, noch schneller zu laufen.

Ein Hirnstoß.

Sie war nicht unbedingt begeistert gewesen, als sie erfahren hatte, dass sie diese unglaublich seltene telepathische Fähigkeit beherrschte. Aber als sie die warme Energie, die in ihrem Hinterkopf vibrierte, in ihre Beine zwang und spürte, wie ihre Muskeln von einem mächtigen Kraftschub angetrieben wurden, war Sophie plötzlich dankbar dafür, dass ihr Gehirn auf so eigenartige Weise funktionierte – auch wenn es ihre Kopfschmerzen nur umso schlimmer machte. Ihre Füße berührten kaum noch den Boden, als sie förmlich über die nasse Erde zu fliegen begann und Dex, Sandor und Grady weit hinter sich ließ.

Die Gedanken des Sasquatch wurden wieder deutlicher.

Sie holte ihn langsam ein.

Doch die zusätzliche Energie hielt nicht so lange an, wie sie erwartet hatte, und als ihre Kräfte langsam wieder schwanden, musste Sophie feststellen, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Nur mit Mühe stolperte sie weiter.

Schon okay, sandte sie aus, in dem verzweifelten Versuch, die Worte in den Geist des Bigfoot zu übermitteln. Ich werde dir nicht wehtun.

Der Sasquatch erstarrte.

Seine Gedanken waren ein einziges Durcheinander aus Emotionen und Sophie konnte in keiner von ihnen einen Sinn erkennen. Aber sie nutzte aus, dass er einen Augenblick lang stillstand. Sie nahm ihre letzten Kräfte zusammen und wankte auf eine schmale Öffnung im dichten Blättergewirr zu. Sie konnte den Sasquatch auf der anderen Seite der Bäume deutlich spüren.

Natürlich wäre es sicherer gewesen, auf die anderen zu warten – aber woher sollte sie wissen, wie lange das Wesen noch dort verharren würde? Außerdem konnte sie spüren, dass es im Augenblick vollkommen ruhig war. Neugierig.

Sophie holte dreimal tief Luft und nahm all ihren Mut zusammen. Dann trat sie vorsichtig auf die Lichtung.

2

Das Echo von Sophies erschrockenem Nachluftschnappen hallte in dem Rund der Bäume wider, und sie blinzelte mehrmals, um sich zu vergewissern, dass ihre Augen wirklich noch funktionierten.

Wenige Meter von ihr entfernt stand ein helles, schimmerndes Pferd mit ausgebreiteten gefiederten Flügeln. Es war kein Pegasus – aus den Büchern in Havenfield wusste Sophie, dass diese Wesen kleiner und stämmiger waren, mit blau geflecktem Fell und mitternachtsblauer Mähne. Dieses Pferd hingegen hatte welliges silbernes Haar, das seinen Nacken bedeckte und sich an einem silbrig weißen, gezwirbelten Horn scheitelte, das wie bei einem Einhorn auf seiner Stirn prangte. Nur dass die Einhörner, die Sophie bisher gesehen hatte, keine Flügel gehabt hatten.

»Was bist du?«, flüsterte Sophie und blickte in die tiefen braunen Augen des Pferdes. Normalerweise fand sie braune Augen langweilig und gewöhnlich – vor allem ihre eigenen. Aber in den Augen des Pferdes funkelten kleine goldene Flecken, und es schaute sie mit einer solchen Intensität an, dass sie den Blick gar nicht mehr von ihm abwenden konnte.

Das Pferd wieherte.

»Schon okay. Ich werde dir nicht wehtun.« Sophie übermittelte ihm Bilder von sich selbst, wie sie sich um andere Tiere kümmerte.

Das Pferd stampfte mit den Hufen auf und wieherte noch lauter, blieb jedoch, wo es war, und beäugte Sophie misstrauisch.

Sie konzentrierte sich auf seine Gedanken und suchte nach irgendetwas, das sie dazu nutzen konnte, sein Vertrauen zu gewinnen. Der Verstand des Tieres war überraschend komplex. Sophie konnte flinke Beobachtungen und rasche Schlussfolgerungen darin erkennen, genau wie im Geist eines Elfen. Auch seine Emotionen waren unglaublich intensiv. Nun wusste sie, wie Empathen sich fühlen mussten – und war froh, dass sie nicht zu ihnen gehörte. Es fiel ihr schwer zu unterscheiden, welche Gefühle ihre eigenen waren und welche nicht.

»Da bist du!«, rief Dex und trampelte auf die Lichtung. Ihm klappte die Kinnlade herunter, als das Pferd erneut ein lautes Wiehern von sich gab und sich in den Himmel aufschwang.

»Schon okay«, rief Sophie. »Wir sind Freunde.«

Freunde.

Sobald sie das Wort übermittelt hatte, verharrte das Pferd in der Luft und schwebte direkt über ihnen. Dutzende Bilder rauschten durch Sophies Kopf, bevor eine neue Emotion sie beinahe erstickte. Ihre Augen brannten und ihr Herz tat weh, und sie brauchte eine Sekunde, um das Gefühl zu entschlüsseln.

»Du bist einsam?«, flüsterte sie.

»Das ist kein Sasquatch«, stammelte Dex.

»Ja, das ist mir auch klar«, sagte Sophie. »Weißt du, was es ist?«

»Ein Alicorn«, flüsterte Grady hinter ihr und löste die nächste Panikwelle bei dem fliegenden Pferd aus.

Noch ein Freund, übermittelte Sophie, während das Tier höher in die Wolken aufstieg.

Tatsächlich war Grady mehr als nur ein Freund. Er war ihr Adoptivvater. Aus irgendeinem Grund fiel es ihr jedoch schwer, ihn auch so zu nennen, obwohl die Adoption inzwischen offiziell vollzogen war.

Es ist alles gut, versprach sie dem Alicorn. Niemand wird dir wehtun.

Das Alicorn wieherte und sein Geist konzentrierte sich auf Sandor – und die Waffe an seiner Seite.

»Sandor, du machst ihm Angst. Du musst wieder verschwinden.«

Sandor rührte sich nicht.

»Bitte«, drängte auch Grady ihn. »Wir dürfen dieses Wesen nicht verlieren. Du weißt doch, wie bedeutend es für unsere Welt ist.«

Sandor stieß ein Seufzen aus, trampelte von der Lichtung und grummelte irgendetwas davon, dass man es ihm unmöglich mache, seine Aufgabe vernünftig zu erledigen.

»Ist dieses Pferd wirklich so wichtig?«, fragte Sophie und blickte mit zusammengekniffenen Augen in den Himmel empor.

»Äh, ja.« Dex klang beinahe unerträglich selbstgefällig. »Es wurde überhaupt erst ein einziges von ihnen entdeckt – jemals. Der Hohe Rat sucht schon seit Jahrhunderten nach einem zweiten.«

»Seit Jahrtausenden«, korrigierte Grady ihn. »Seit wir auf diesem Planeten wandeln, haben wir versucht, all seine Geheimnisse aufzudecken. Und dann, durch einen bloßen Zufall, ist ein Alicorn in unser Leben gestolpert und hat uns gezeigt, dass die Erde doch noch ein paar Überraschungen aus dem Hut zaubern kann. Seit damals versuchen wir, ein zweites zu finden. Wir können nicht zulassen, dass es uns entwischt. Kannst du es bitten, zu uns herunterzukommen, Sophie?«

Der Druck seiner Bitte lastete schwer auf ihren Schultern, aber sie versprach ihm, ihr Bestes zu tun.

Sicher, übermittelte sie dem zu Tode erschrockenen Wesen und schickte ihm erneut Bilder von sich selbst, wie sie sich um andere Tiere kümmerte, um dem Wort Nachdruck zu verleihen. Dann sandte sie ein Bild von dem Alicorn aus, wie es neben ihr auf der Lichtung stand. Komm wieder runter.

Als das Alicorn nicht reagierte, fügte sie ein Bild von sich hinzu, wie sie die schimmernde Mähne des Tieres streichelte.

Erneut schwappte eine Woge der Einsamkeit über sie hinweg, stärker diesmal. Ein Schmerz, der sich unendlich alt anfühlte. Dann kreiste das Alicorn ein paarmal über ihnen in der Luft und landete schließlich außerhalb von Sophies Reichweite.

»Unglaublich«, hauchte Grady.

»Braves Mädchen«, flüsterte Sophie.

»Mädchen?«, fragte Dex.

Sophie nickte und wunderte sich, woher sie es wusste. Beinahe fühlte es sich so an, als hätte das Alicorn es ihr selbst gesagt …

»Das Alicorn in der Zuflucht ist ein Männchen!«, platzte Grady heraus und riss sie aus ihren Gedanken. »So eine Entdeckung macht man nur einmal im Leben, Sophie!«

Sophie grinste und stellte sich den Ausdruck auf dem Gesicht von Rat Bronte vor, wenn er von den Neuigkeiten erfuhr. Er verabscheute ihre menschliche Erziehung ebenso wie ihre Verbindung zu Black Swan – einer geheimen Rebellenorganisation, die hinter jedem Geheimnis aus Sophies Vergangenheit zu stecken schien – und versuchte unablässig zu beweisen, dass sie nicht in die Welt der Elfen gehörte.

»Ähm … ich will der allgemeinen Begeisterung ja wirklich keinen Dämpfer verpassen«, unterbrach Dex sie, »aber wie sollen wir das Tier denn bitte mit nach Hause nehmen?«

Gradys Lächeln verblasste. »Das ist eine gute Frage. Das Sasquatch-Geschirr wird ihr nicht passen, aber es würde auch nichts nützen, kurz nach Hause zu springen, weil wir auch dort leider kein Alicornzaumzeug haben.«

»Vielleicht brauchen wir das ja auch gar nicht.« Sophie blickte in die starren Augen des Tieres und übermittelte ihm erneut das Wort Freunde. Dann streckte sie eine Hand aus und machte langsam einen Schritt nach vorn.

»Vorsichtig«, warnte Grady, als das Alicorn erschrocken wieherte.

»Ganz ruhig, mein Mädchen«, flüsterte Sophie und brach den Augenkontakt keinen Moment lang ab, während sie den nächsten Schritt vorwärts machte.

Ruhig.

Sie sandte eine wahre Bilderflut aus, wie sie die unterschiedlichsten Tiere streichelte, um dem Alicorn verständlich zu machen, was sie vorhatte.

Das Tier verarbeitete jede einzelne Szene und konzentrierte sich ganz auf Sophie. Es wieherte erneut.

Sophie hoffte inständig, dass das Wiehern »Ich erlaube es dir« bedeutete. Sie hielt den Atem an und schloss die letzte Lücke zwischen ihnen.

Als sie mit den Fingern über das glatte, kühle Fell auf dem Nasenrücken des Alicorn strich, schnaubte das schimmernde Pferd, wich jedoch nicht zurück.

»Braves Mädchen«, sagte Sophie und ließ ihre Hand vorsichtig zu dem Horn hinaufwandern. Sie kämmte mit den Fingern durch die Strähnen der silbernen Mähne, überrascht, wie kalt sie sich anfühlten, wie Fäden aus Eis.

Das Alicorn stieß einen Laut aus, der wie ein leises Seufzen klang. Dann stupste es Sophie mit der Schnauze an der Schulter an. Sophie musste kichern, als die nassen Nüstern auf ihrem Hals kitzelten.

»Sie mag dich«, flüsterte Grady.

»Stimmt das, mein Mädchen? Magst du mich?«

Ein Schauer huschte an Sophies Wirbelsäule hinunter, als plötzlich etwas in ihrem Bewusstsein kribbelte. Je länger es durch ihren Kopf sauste, desto mehr nahm es Gestalt an, bis es schließlich ein eindeutiges Wort bildete.

Freunde.

»Was stimmt denn nicht?«, fragte Grady, als Sophie einen Schritt zurückwich und den Kopf schüttelte.

»Tut mir leid – ich bin nur nicht daran gewöhnt, wie kraftvoll ihr Geist ist.« Sie streichelte das glänzende Fell an der Wange des Pferdes und versuchte zu begreifen, was gerade passiert war.

Hatte das Alicorn ein Wort von ihr gelernt? War das möglich?

»Glaubst du, sie lässt zu, dass ich sie berühre?«, fragte Grady und ging einen zögerlichen Schritt auf das Tier zu.

Das Alicorn wich zurück und flatterte mit den Flügeln.

Grady machte ebenfalls einen Schritt rückwärts. »Das dürfte ein Problem werden.«

Um einen Lichtsprung mit dem Alicorn durchzuführen, war ein ständiger Körperkontakt zwischen dem Springer und dem Tier nötig, denn nur so konnte eine Verbindung zwischen ihnen hergestellt werden.

»Ich kann mit ihr springen«, bot Sophie an.

»Auf gar keinen Fall!« Das Alicorn wieherte vor Schreck über Gradys Ausbruch, und er fügte flüsternd hinzu: »Das ist viel zu gefährlich.«

»Ich schaffe das schon«, beharrte Sophie. Durch die ganze Aufregung waren ihre Kopfschmerzen und die Erschöpfung von dem Hirnstoß wie weggeblasen.

»Ähm, hast du schon vergessen, was beim letzten Mal passiert ist?«, warf Dex ein.

Sophie funkelte ihn wütend an, völlig verdutzt, dass er sich in dieser Sache auf Gradys Seite stellte.

»Hey, schau mich nicht so an. Du wärst schließlich beinahe verblasst.«

Seine Stimme zitterte, als er den letzten Satz aussprach, und Sophie fragte sich unwillkürlich, wie viel Dex damals wirklich gesehen hatte. Sie hatte geglaubt, er wäre ohnmächtig gewesen, als sie den beinahe tödlichen Sprung gewagt hatte, um ihren Entführern zu entkommen. Aber anscheinend hatte er doch mit angesehen, wie das Licht Sophie mit sich fortgezogen hatte – zumindest hatte Elwin ihr das erzählt. Sie und Dex hatten nie darüber gesprochen, was an jenem Tag geschehen war. Alles, woran Sophie sich noch erinnern konnte, waren Wärme, aufblitzende Farben und ein so unwiderstehlicher Sog, dass sie bereit gewesen war, sich von ihm überallhin mitreißen zu lassen – und beinahe hätte sie das auch.

Sie würde niemals vergessen, welche Qual es gewesen war, sich wieder zusammenzufügen. Noch jetzt wurde ihr jedes Mal, wenn sie sprang, ein kleines bisschen schwindelig. Aber das Schwindelgefühl hielt immer nur ein paar Sekunden an, und davon abgesehen hatte Elwin sie, seit sie wieder gesund war, unzählige Male untersucht und nie festgestellt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte. Und überhaupt war das alles passiert, bevor sie gelernt hatte, ihre stärkere Konzentrationsfähigkeit richtig einzusetzen. Bevor sie überhaupt gewusst hatte, dass ihre Konzentrationsfähigkeit stärker geworden war. Ganz davon zu schweigen, dass ihr die Entführer damals ihren Nexus abgenommen hatten.

Sophie legte eine Hand um das glänzende schwarze Armband an ihrem Handgelenk und fuhr mit einem Finger über den aquamarinfarbenen Edelstein in der Mitte, der von verschnörkelten Linien aus Diamanten umgeben war. Der Nexus erschuf ein Kraftfeld um sie herum, das es völlig unmöglich machte, während eines Lichtsprungs auch nur einen einzigen Partikel ihrer selbst zu verlieren. Was wiederum bedeutete, dass sie ihre Konzentration voll und ganz dazu nutzen konnte, das Alicorn zu beschützen und sicher mit ihm nach Hause zu springen.

In ihrem Kopf hörte es sich absolut logisch an – trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass sie bei der Vorstellung eines weiteren riskanten Sprungs ein klein wenig zu zittern begann.

»Uns bleibt aber gar nichts anderes übrig«, sagte Sophie und versuchte, sich selbst genauso sehr davon zu überzeugen wie Grady und Dex. »Es sei denn, ich habe irgendetwas nicht bedacht?«

Als keiner der beiden einen anderen Vorschlag machte, atmete sie ganz tief durch und stellte sich vor, wie ihre Konzentration das schillernde Pferd wie eine schützende Hülle umschloss. Sofort kehrten die Kopfschmerzen zurück, und sie musste auch den letzten Rest ihrer geistigen Energie aufbringen, um das große Tier vollständig umhüllen zu können. Aber es gelang ihr, genügend Kraft zu bündeln, um einen starken Halt zu spüren.

Ich schaffe das.

Bevor Sophie es sich noch einmal anders überlegen konnte, legte sie eine Hand auf die Wange des Alicorn und schloss die andere um den Anhänger, der an der langen Kette um ihren Hals baumelte. Sie hielt den Kristall hoch, bis das Licht auf die einzelne in den Stein geschliffene Facette traf und in Richtung Boden reflektiert wurde.

»Sophie, wage es ja nicht –«, rief Grady, aber es war zu spät.

Sie trat ins Licht und spürte, wie die Wärme unter ihrer Haut anschwoll wie Tausende kitzelnde Federn. Dann riss der funkelnde Strom sie und das Alicorn mit sich.

3

Die saftig grünen Weiden von Havenfield waren im glitzernden Licht immer deutlicher zu erkennen, als sich Sophies Körper auf dem breiten, von Blumen gesäumten Pfad, der sich durch das Hauptgelände schnitt, langsam wieder zusammenfügte. Ihre Beine fühlten sich kräftig an und gaben nicht unter ihr nach, obwohl Sophie das Schwindelgefühl beinahe überwältigte. Regenbogenbunte Lichtflecken tanzten in ihrem Sichtfeld, so als würde sie die Welt durch ein Kaleidoskop betrachten. Sie schwankte benommen und wünschte sich, sie könnte sich an irgendetwas festhalten, und dann stieß das Alicorn plötzlich ein angsterfülltes Wiehern aus und flog in den von Sonnenstrahlen durchzogenen Himmel hinauf.

Sophie taumelte ihm nach, war jedoch erst ein paar Schritte weit gekommen, als zwei starke Hände sie an den Schultern packten und herumwirbelten.

»Was hast du dir dabei gedacht?« Grady hielt sie so fest, dass seine Arme spürbar zitterten. Sophie machte sich jedoch weitaus größere Sorgen wegen des riesigen, verschwommenen grauen Flecks, der sich ihr bedrohlich hinter Grady näherte. Selbst durch die wirbelnden Farben konnte sie das wütende Funkeln in Sandors Augen erkennen.

»Mir geht’s gut, ehrlich«, sagte sie mit trockener Kehle und wünschte sich, sie könnte die Worte wahrmachen.

Das geflügelte Pferd wieherte laut, und die Woge seiner Panik half Sophie, sich wieder zu konzentrieren. »Ich muss sie beruhigen, bevor sie davonfliegt.«

Grady packte ihre Schultern für einen Moment noch fester, schüttelte dann jedoch den Kopf und ließ sie wieder los. »Wir setzen diese Unterhaltung später fort.«

Sophie war sich sicher, dass er es ernst meinte, aber sie hatte jetzt keine Zeit, sich deswegen Sorgen zu machen. Ihr Verstand wurde endlich wieder klarer – gerade noch rechtzeitig. Verdi, Havenfields hauseigene Tyrannosaurus-Rex-Dame – die sich noch immer nicht an ihre vegetarische Ernährung gewöhnt hatte –, gab ein donnerndes Brüllen von sich, das klang, als liefe ihr beim Anblick dieses schillernden Pferdchensnacks bereits das Wasser im Maul zusammen.

Nervös flatterte das Alicorn ein Stück von dem neongrünen gefiederten Dinosaurier davon und flog direkt auf den Hain zu, einen herrlich grünen Obstgarten mit knorrigen, verschlungenen Bäumen. Mehrere gedrungene Gnome strömten aus den grünen Bogentüren in den Baumstämmen heraus und starrten mit riesigen grauen Augen auf das Alicorn, das über ihnen kreiste.

»Helft mir! Ich brauche irgendetwas, um sie wieder nach unten zu locken«, rief Sophie, als sie an ihnen vorbeirannte, aber einige der Gnome waren bereits zu der Reihe goldener Silos davongeeilt, die auf den Klippen am Rand des Geländes standen. Die Gnome waren keine Bediensteten, sondern lebten aus freien Stücken bei den Elfen. Sie waren wahre Meister, wenn es um Pflanzen und Tiere ging – und wussten hoffentlich auch, welchem Leckerbissen ein Alicorn unmöglich widerstehen konnte.

»Mann, wirst du Ärger kriegen«, sagte Dex, als er Sophie eingeholt hatte. »Du kannst von Glück sagen, wenn Grady und Edaline dich überhaupt noch aus dem Haus lassen, bevor du zweihundertfünfzig bist.«

»Nicht sehr hilfreich, Dex.«

Bitte komm wieder zurück, übermittelte sie dem Pferd, das noch höher aufstieg. Freunde.

»Versuch es damit«, sagte Grady hinter ihr und hielt ihr eine Handvoll verdrehter, blassblauer Stängel hin.

Ein scharfer, zimtartiger Geruch kitzelte Sophie in der Nase, als sie ihm das Büschel abnahm und es Richtung Himmel streckte. »Komm runter, mein Mädchen«, rief sie und übermittelte Bilder des Alicorn, wie es genüsslich auf den schmalen Zweigen herumkaute. Ich habe einen Leckerbissen für dich.

Neugier wob sich in Sophies Empfindungen.

Leckerbissen!, wiederholte Sophie.

Das Alicorn wieherte und kreiste ein wenig niedriger, landete jedoch nicht. Sophie wiederholte ihr Leckerbissenversprechen immer wieder und wedelte mit den Zweigen in der Luft herum, bis das Alicorn nach drei weiteren Runden schließlich ein paar Meter von ihr entfernt landete und mit seinen glänzenden Hufen auf dem Boden scharrte.

Sophie lächelte und hielt ihm die Zweige hin. »Bitte schön, mein Mädchen.«

Das geflügelte Pferd betrachtete Sophie mit seinen riesigen braunen Augen. Dann machte es einen Satz nach vorn und schnappte sich mit seinem nassen Maul mit den eckigen Zähnen das obere Ende der Leckerbissen direkt aus Sophies Hand. Sie hatte kaum noch Zeit, ihre Finger wegzuziehen, bevor das Alicorn auch den Rest verschlang.

»Igitt«, stieß Dex aus. »Wer hätte gedacht, dass glitzernde Pferde so üblen Mundgeruch haben?«

»Gegen Iggys Mundgeruch ist das noch gar nichts«, erinnerte Sophie ihn. Ihr Haustier, ein Imp, mochte vielleicht nur ein winziges Fellknäuel sein, das in ihre Hand passte, aber jedes Mal wenn er den Mund aufmachte, stank es, als würde man neben einem ganzen Berg aus faulen Eiern und dreckigen Windeln stehen. »Ich glaube, wir brauchen noch mehr davon«, fügte sie hinzu, als das Alicorn begann, mit seiner rauen, violetten Zunge ihre Handfläche abzulecken.

»Schon unterwegs.« Grady deutete auf einen Gnom, der mit einem ganzen Bündel der blauen Stängel, das beinahe so groß war wie er selbst, auf sie zuschwankte.

Gnome sahen eher wie Pflanzen als wie Tiere aus, mit spröder, erdiger Haut und leuchtend grünen Daumen. Sophie erschrak selbst noch immer ein bisschen, wenn sie ihre eigenartigen Gesichter sah, deshalb war sie nicht überrascht, als auch das Alicorn ein Wiehern ausstieß und ein paar Schritte zurückwich. Der Gnom ließ sich jedoch nicht beirren, setzte ein breites, grünzahniges Grinsen auf und streute die Leckerbissen in einer dünnen Spur zu der Voliere aus, die sie normalerweise für Pterodaktylen benutzten. Das nervöse Pferd betrachtete die Zweige misstrauisch, aber nach einer Minute senkte es den Kopf und begann, sich in Richtung des Geheges zu futtern. Es ließ sich gerade den letzten Happen schmecken, als Grady das Tor zumachte und das Alicorn in der kleinen Kuppelkonstruktion aus ineinander verwobenen grünen Bambusstangen einsperrte.

Panik erfüllte Sophies Geist, als das Alicorn vergeblich versuchte, in dem Gehege die Flügel auszubreiten.

»Es ist nur für ein paar Stunden«, versicherte Grady ihr, als er Sophies Stirnrunzeln sah. »Die Gnome sind schon eifrig dabei, die Koppel auf den Klippen zu umzäunen.«

»Wow, ehrlich?« Grady und Edaline hatten die Koppel auf den Klippen geräumt, kurz nachdem Sophie verschwunden war. Sie hatten sich nie wieder den Höhlen dort nähern wollen, weil sie geglaubt hatten, Sophie sei dort ertrunken. Nach Sophies Rettung hatten sie dann einen hohen Metallzaun entlang des Abgrunds aufgestellt, um zu verhindern, dass jemand den Pfad benutzte, der hinunter zum Strand führte. Sophie war sich nicht sicher, ob das komplizierte Vorhängeschloss eher dafür sorgen sollte, dass sie nicht hinauskonnte, oder dafür, andere davon abzuhalten, auf das Gelände einzudringen. So oder so: Sie hatte kein Problem damit, sich von den Höhlen fernzuhalten. Sie wollte diesen Ort niemals wiedersehen.

Die Koppel war mit ihren sanften, grasbewachsenen Hügeln jedoch der perfekte Auslauf für ein fliegendes Pferd, deshalb verstand Sophie gut, warum Grady bereit war, sie wieder zu nutzen. Trotzdem glich es einer Mammutaufgabe, auf den Klippen ein Gehege zu errichten. Sie konnten von Glück sagen, dass die kleinen Gnome so unglaublich arbeitsame Wesen waren. Die Gnome waren in der Lage, die Energie der Sonne zu absorbieren, und brauchten so gut wie keinen Schlaf, deshalb suchten sie immer nach einer Möglichkeit, sich zu beschäftigen. Wenn irgendjemand ein derartiges Wunder vollbringen konnte, dann sie.

»Können wir ihr wenigstens noch ein paar Leckerbissen geben, um sie aufzuheitern?« Das Alicorn blickte sie mit traurigen, wässrigen Augen an.

»Die Gnome besorgen schon mehr für sie. Bloß gut, dass sie heute zufällig schon einen ganzen Haufen Quirlkraut geerntet haben.«

Siehst du, dir passiert nichts, übermittelte Sophie dem Tier. Versprochen.

Das Alicorn wandte den Blick ab.

»Jetzt hasst sie mich.«

»Sie wird dir verzeihen.« Grady legte eine Hand auf Sophies Schulter, und das gab ihr den Mut, sich zu ihm umzudrehen und ihn anzuschauen.

»Und was ist mit dir?«, fragte sie leise. »Hasst du mich noch, weil ich einfach hierhergesprungen bin?«

Grady schloss die Augen. »Sophie, du könntest niemals etwas tun, für das ich dich hassen würde. Aber was du getan hast, war sehr gefährlich. Wenn dir irgendetwas passiert wäre, hätte ich …«

Sophie senkte den Blick. »Es tut mir leid. Ich versuche wirklich, vorsichtig zu sein.«

»Das weiß ich. Aber du kannst nie vorsichtig genug sein, verstehst du?«

Sie nickte und er erdrückte sie beinahe mit seiner Umarmung.

Dann stieg ihr jedoch ein Hauch des Sasquatchgestanks seiner Tunika in die Nase und sie löste sich hustend wieder von ihm. »Und, wie sieht meine Bestrafung aus?«

»Ich will, dass Elwin dich morgen früh untersucht und sich vergewissert, dass mit dir wirklich alles in Ordnung ist.«

Leider war das keine Überraschung. Sophie hatte vermutlich längst einen neuen Rekord für die meisten Hausbesuche aller Zeiten aufgestellt – die pure Ironie, wenn man bedachte, wie sehr sie Ärzte hasste.

»Und du darfst einen Monat lang das Verminion baden«, fügte Grady hinzu.

Sophie stöhnte. Sie hätte jeden Eid geschworen, dass das riesige Mutanten-Hamstervieh ihren Untergang plante, seit sie dabei geholfen hatte, es bei seiner Ankunft in Havenfield einzufangen. »Das ist einfach nur gemein.«

»Nein, das ist fantastisch!«, widersprach Dex ihr.

»Schön, dass du dieser Ansicht bist, Dex«, sagte Grady. »Weil du ihr nämlich dabei helfen darfst.«

»Hey! Aber ich habe doch überhaupt nichts angestellt!«

»Das habe ich auch nie behauptet. Aber glaubst du wirklich, Sophie wird zulassen, dass du einfach danebenstehst und ihr bei der Arbeit zusiehst?«

Grady hatte recht: Sie würde Dex definitiv dazu bringen, ihr zu helfen. Schließlich kam er fast jeden Tag nach Havenfield, und außerdem waren sie beste Freunde.

Gradys Grinsen hatte jedoch etwas an sich, von dem Sophies Wangen plötzlich ganz heiß zu glühen begannen. Dex musste es ebenfalls spüren, denn auch sein Gesicht war knallrot, und bevor er hastig davonsprang, murmelte er irgendetwas davon, dass seine Eltern sich bestimmt Sorgen machen würden, wenn er nicht bald wieder nach Hause käme.

Grady nahm Sophies Hand und sein Lächeln verblasste. »Ich finde nicht, dass wir Edaline von deinem kleinen Abenteuer erzählen sollten. Vor allem weil morgen …«

»Es tut mir leid, dass ich dir Angst gemacht habe.«

Er lächelte sie traurig an. »Tu es einfach nie wieder, ja? Und jetzt komm, wir waschen uns den Sasquatchmief ab und erzählen Edaline, was wir gefunden haben.«

Als Sophie geduscht, sich umgezogen und Iggy sein Abendessen serviert hatte, damit er ihr Zimmer nicht völlig zerlegte – kleine Imps konnten ziemlich großen Ärger machen, wenn sie wegen irgendetwas unzufrieden waren –, war die Sonne bereits untergegangen und die Gnome hatten die Koppel fertiggestellt. Mit kribbelnder Gänsehaut am ganzen Körper ging Sophie auf das neue Gehege zu, und obwohl sie versuchte, nicht hinzuschauen, wanderte ihr Blick unwillkürlich zu den Klippen hinüber, wo das Mondlicht auf dem eisernen Tor schimmerte.

Sie zwang sich jedoch, die Augen wieder abzuwenden, und konzentrierte sich auf die dicken Stäbe aus violettem Bambus, die in mächtigen Bogen gespannt waren, wodurch eine Art gewebter Kuppel über der kilometerbreiten Fläche entstand. Weitere gebogene Stangen waren wie Dominosteine in einer langen Reihe aufgestellt und bildeten einen überdachten Durchgang, um das Alicorn sicher von einem Gehege ins andere zu führen. Das Tier war jedoch nirgends zu sehen.

»Sie ist immer noch in heller Panik«, erklärte Grady ihr, als Sophie ihn vor dem Pterodaktylusgehege fand. »Die Gnome haben Angst, sie in diesem Zustand zu verlegen. Sie könnte sich selbst verletzten, falls sie zu fliehen versucht.«

»Du brauchst keine Angst zu haben, mein hübsches Mädchen«, flüsterte Edaline dem Tier zu, näherte sich den Gitterstäben und hielt ihm ein Bündel Quirlkraut hin. »Wir versuchen, dir zu helfen.«

Das Alicorn wieherte und bäumte sich auf.

Edaline wich zurück und strich sich das wellige bernsteinfarbene Haar aus dem Gesicht. »Ich habe keine Ahnung, was wir sonst noch versuchen sollen.«

»Glaubst du, du kannst sie beruhigen, Sophie?«, fragte Grady.

»Vielleicht.« Sophie machte einen Schritt auf das Gehege zu, und sobald das Alicorn sie entdeckte, hörte es auf zu zappeln. Das Mondlicht verwandelte das schillernde Fell des Tieres in glänzendes Silber und seine dunklen Augen funkelten wie Sterne.

Freunde?, übermittelte Sophie.

Freunde!, schickte das Alicorn zurück und senkte den Kopf. Sophie steckte eine Hand durch die Gitterstäbe und kraulte seine Wangen.

»Unglaublich«, staunte Edaline und lächelte zum ersten Mal seit mindestens einer Woche. Die dunklen Schatten unter ihren türkisfarbenen Augen waren ebenfalls verblasst. »Kannst du sie dazu bringen, in ihr neues Gehege umzuziehen?«

»Ich kann’s versuchen.« Sophie übermittelte Bilder von der Koppel auf den Klippen und wiederholte immer wieder: Dein neues Zuhause. Es schien jedoch nicht zu funktionieren, deshalb fügte sie ein Bild des Alicorn hinzu, wie es in dem Gehege graste.

Das Tier verarbeitete das Bild und antwortete mit einem eigenen: ein dunkler Sternenhimmel mit einem schillernden, frei umherfliegenden silbernen Pferd.

»Ich glaube nicht, dass sie hierbleiben will«, flüsterte Sophie.

»Na, das muss sie aber. Sie ist viel zu bedeutend«, erinnerte Grady sie. »Außerdem ist es die einzige Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass sie in Sicherheit ist. Denk doch nur mal darüber nach, was passieren würde, wenn die Menschen sie in die Finger kriegen würden.«

Ein Bild des an eine Million unheimlicher medizinischer Apparate angeschlossenen Alicorn huschte durch Sophies Geist, und sie erschauderte richtig, als sie übermittelte: Hier bist du sicher.

Sicher, antwortete das Alicorn, aber Sophie hatte nicht das Gefühl, als würde das Tier das Wort wirklich begreifen. Oder vielleicht war es ihm auch einfach egal.

Sophie versuchte es mit einer anderen Taktik. Hier wirst du nicht mehr einsam sein.

Das Alicorn verarbeitete die Worte, und nach einigen Sekunden schickte es ein vorsichtiges Freunde? zurück.

Freunde, versicherte Sophie ihm und schickte erneut ein Bild des Geheges. Sicher. Wir bringen dich in dein neues Zuhause.

Diesmal widersprach das Alicorn nicht und Sophie nickte Grady zu. Er gab den Gnomen das Zeichen, die Tore zwischen den beiden Gehegen zu öffnen.

Ruhig, übermittelte Sophie, als sich das Alicorn erneut anspannte. Sie spürte jedoch noch immer einen Anflug von Panik, als die Tore sich langsam zur Seite schoben und das Alicorn losgaloppierte und in vollem Tempo durch den Tunnel preschte. Sophie rannte dem Tier hinterher, dicht gefolgt von Grady und Edaline. Dann schnappten sie alle vor Staunen nach Luft, als das schimmernde Pferd sein neues Gehege erreichte, die Flügel ausbreitete und zum höchsten Punkt der Kuppel hinaufflog.

»Gut gemacht, Sophie«, sagte Grady und drückte ihre Schultern. »Was wären wir nur ohne dich?«

Sie errötete bei seinem Lob. »Hast du schon jemandem erzählt, dass wir sie gefunden haben?«

»Ich habe versucht, Alden anzurufen, aber er war nicht in Reichweite. Ich probiere es morgen früh noch mal.«

Sophie zitterte, obwohl ihr nicht kalt war. Es gab nur wenige Orte, die außerhalb der Reichweite eines Verbinders lagen – eines kleinen, quadratischen Kristalls aus Silber, der wie eine Art Bildtelefon funktionierte –, und bei allen handelte es sich ausschließlich um düstere, verbotene Orte. Sie hasste die Vorstellung, dass Alden irgendwo dort draußen war und sein Leben bei dem Versuch riskierte, ihre Entführer aufzuspüren.

Das Alicorn landete mit einem Wiehern wieder und riss Sophie in die Gegenwart zurück.

Sie streckte eine Hand zwischen den violetten Gitterstäben hindurch, und nach einem Moment des Zögerns trottete das Pferd so nahe zu ihr, dass Sophie seinen glänzenden Hals streicheln konnte. Ich wünschte, ich wüsste, wie ich dich nennen soll.

Es kam ihr falsch vor, ein so atemberaubendes Wesen einfach ganz nüchtern als »das Alicorn« zu bezeichnen. Hast du einen Namen, mein hübsches Mädchen?

Sie erwartete nicht wirklich eine Antwort, aber es kribbelte tatsächlich ein Gedanke in ihrem Kopf. Er fühlte sich seltsam warm und weich an, und als sie sich darauf konzentrierte, nahm er langsam Gestalt an und verwandelte sich in ein Wort.

»Silveny?«, flüsterte Sophie.

Das Alicorn wieherte zur Bestätigung.

»Was hast du gesagt?«, fragte Edaline.

Sophie schüttelte den Kopf und versuchte zu begreifen, was gerade passiert war. »Ich glaube, ihr Name ist Silveny.«

Silveny wieherte erneut.

»Warte mal – du kannst mit Worten mit ihr kommunizieren?«, fragte Grady.

»Manchmal wiederholt sie die Worte, die ich ihr übermittle, aber gerade eben hat es sich anders angefühlt. Es war eher so, als hätte sie in ihrer eigenen Sprache zu mir gesprochen, und ich habe es dann übersetzt.«

Eine Sekunde lang starrten die beiden sie einfach nur an. Dann lachte Grady. »Das Wunder deiner Talente gleicht einer nie versiegenden Quelle.«

Sophie versuchte zu lächeln, aber in ihrem Magen rumorte es unangenehm.

Sie war Polyglottin und konnte jede noch so seltene Sprache verstehen – ein weiteres Talent, das während ihrer Entführung ausgelöst worden war. Eine dritte besondere Fähigkeit. Wahrscheinlich hätte sie stolz darauf sein sollen, dass sie über so viele Talente verfügte, aber sie konnte einfach nicht aufhören, sich Sorgen darüber zu machen, was ihre besonderen Fähigkeiten bedeuteten. Und was man deswegen von ihr erwarten würde.

Eine unheimliche Stimme flüsterte in ihrer Erinnerung: Du bist ihre kleine Marionette.

»Geht’s dir gut, Sophie?«, fragte Edaline, eine dünne Sorgenfalte auf ihrer Stirn.

»Ja, ich bin nur müde.« Nachdem die Worte ihre Lippen verlassen hatten, wurde Sophie bewusst, dass sie der Wahrheit entsprachen. Jeder einzelne Zentimeter ihres Körpers tat weh und die letzten Nachwirkungen ihrer Kopfschmerzen pulsierten noch immer hinter ihren Augen. »Ich glaube, ich gehe ins Bett.«

Sie konnte sehen, dass Grady und Edaline nicht überzeugt waren, wusste jedoch, dass sie sie nicht weiter drängen würden. Sie streichelte Silvenys seidige Schnauze, versprach ihr, dass sie am Morgen wieder nach ihr sehen würde, und zog sich auf ihr Zimmer zurück, das die komplette dritte Etage von Havenfield einnahm.

In ihrem Zimmer war es dunkel – die einzige Beleuchtung war das Mondlicht, das durch die Fensterwand hereinströmte. Sie blieb auf der Türschwelle stehen, schnipste mit den Fingern und wartete darauf, dass die Kristallsterne, die von der Decke hingen, den Raum mit Licht fluteten, bevor sie hineinging.

Sandor hatte seine allnächtliche Überprüfung auf Eindringlinge in ihrem Zimmer bereits durchgeführt, aber Sophie ließ den Blick trotzdem in jeden schattigen Winkel schweifen, auf der Suche nach irgendeinem Anzeichen dafür, dass außer ihr noch jemand hier gewesen war. Abgesehen von einem übel zerkauten Schuh – Iggys Werk – war jedoch alles an seinem Platz, auch die in den Teppichboden eingewebten Blüten waren unberührt.

Beruhigt schloss sie die Tür, schlüpfte in ihren Schlafanzug, ließ sich auf ihr riesiges Himmelbett sinken und streckte ihre erschöpften Muskeln. Sie kuschelte sich mit dem Gesicht an Ella, den knallblauen Plüschelefanten, ohne den sie nicht schlafen konnte, und schnipste erneut mit den Fingern, um das Licht zu löschen. Iggy legte sich auf seinen Platz auf ihrem Kopfkissen, rollte seinen winzigen grauen Körper zu einer Kugel zusammen und begann schon nach wenigen Sekunden, wie eine Kettensäge zu schnarchen. Sophie kraulte seinen zerzausten Bauch und wünschte sich, sie könnte genauso schnell einschlafen. Sie klatschte in die Hände, um die schweren Jalousien vor ihren Fenstern herunterzulassen.

Sie hatte gehofft, einfach die Augen schließen und von schillernden geflügelten Pferden träumen zu können, die über einen strahlend blauen Himmel flogen. Aber stattdessen wurde sie im Traum von dunkel gewandeten Gestalten heimgesucht, die sich aus den Schatten auf sie stürzten, sie betäubten und verschleppten. Beißende Fesseln schnitten sich in Sophies Hand- und Fußgelenke, während irgendjemand Fragen brüllte, auf die sie keine Antworten wusste. Dann verbrannten feurige Hände ihre Haut und geisterhaftes Geflüster wirbelte durch die Finsternis.

Wir werden dich finden.

Du wirst uns nie wieder entkommen.

4

Es war nur ein Traum, versuchte Sophie, sich selbst zu beruhigen, während sie sich den kalten Schweiß von der Stirn wischte. Doch ihre Haut kribbelte noch immer von der Erinnerung an die Schmerzen, und sie konnte das widerlich süße Betäubungsmittel nach wie vor riechen, das in ihrer Nase gebrannt hatte. Und diese Stimme …

Diese Stimme würde sie niemals vergessen.

Zitternd krabbelte sie aus dem Bett, huschte auf Zehenspitzen über den Teppich und presste ein Ohr an die glatte Holztür. Ihr rasendes Herz beruhigte sich, als sie Sandors gleichmäßigen Atem auf der anderen Seite hörte. Tief in ihrem Inneren war Sophie wirklich dankbar dafür, dass er sie beschützte. Sie wünschte sich nur, sie bräuchte ihn nicht.

Dex hatte keinen Leibwächter. Er war damals schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, und Sophie fühlte sich deswegen immer noch schrecklich. Sie war diejenige gewesen, auf die ihre Entführer es abgesehen hatten, weil sie hatten herausfinden wollen, wozu Sophie in der Lage war.

Aber … was glaubten sie, wozu sie in der Lage war?

Diese Frage machte Sophie mehr zu schaffen als all ihre Albträume. Sie trippelte zu ihrem Schreibtisch hinüber und holte das Einzige hervor, von dem sie wusste, dass es sie beruhigen würde. Das in Seide eingewickelte Bündel versteckte sie stets ganz hinten in der untersten Schublade und nahm das Tuch erst herunter, nachdem sie sich komplett unter ihrer Bettdecke verkrochen hatte. Die kühle silberne Kugel erwärmte sich bei ihrer Berührung, und das Wort SPYBALL leuchtete in goldenen Buchstaben auf und warf ein schwaches Licht in ihre kleine Höhle aus Bettdecken.

Sophie schloss die Augen. Sie musste sich einen Moment lang sammeln, bevor sie die Namen aussprach, die sie sich unauslöschlich eingeprägt hatte – die Namen, die sie gar nicht hätte kennen dürfen, weil der Hohe Rat es verboten hatte.

»Zeig mir Connor, Kate und Natalie Freeman«, flüsterte sie und öffnete die Augen wieder, als der Spyball aufblitzte und drei Personen in der Mitte der Kugel immer deutlicher zu erkennen waren.

Ihre Mom wirkte dünner, ihre Schwester größer, und in den Haaren ihres Vaters erkannte sie graue Strähnen, an die sie sich gar nicht erinnern konnte – aber sie waren es, ganz eindeutig. Sie saßen um einen Esstisch in irgendeinem weit entfernten Teil der Welt und aßen wie eine perfekte, glückliche Familie Fettuccine. Und sie hatten nicht einmal den Hauch einer Ahnung, dass Sophie überhaupt existierte.

Es war das, was Sophie sich für sie gewünscht hatte. Das, worum sie ausdrücklich gebeten hatte: ausgelöscht zu werden, damit die drei sie in ihrem neuen Leben nicht vermissen mussten. Es war jedoch nicht leicht, vergessen zu sein. Vor allem weil Sophie sie nicht genauso vergessen konnte.

Sie beobachtete die drei, bis ihr Blick verschwamm. Sie wischte die Tränen weg und flüsterte: »Zeig mir MrForkle.«

Der Spyball wurde wieder schwarz, bevor das Wort darin aufleuchtete, das sie inzwischen so satthatte:

UNBEKANNT.

Sie schloss die Hände noch enger um die Kugel und versuchte, die Antwort aus ihr herauszuquetschen. Sie wusste, dass es nicht sein echter Name war, aber ein Teil von ihr hoffte trotzdem, dass der Spyball seine wahre Identität irgendwie herausfinden würde. Er war ihre einzige Verbindung zu Black Swan. Derjenige, der sie und Dex gerettet hatte, nachdem sie entführt worden waren. Derjenige, der all ihre neuen Fähigkeiten ausgelöst hatte. Er hatte sich als ihr harmloser Nachbar getarnt, als sie noch bei ihrer Menschenfamilie gelebt hatte, und er war es höchstwahrscheinlich auch gewesen, der all die Geheimnisse in ihren Kopf gepflanzt hatte.

Er kannte sämtliche Antworten, die sie brauchte.

Aber er wollte nicht gefunden werden.

Sie wickelte den Spyball wieder in das Tuch ein und brachte ihn in sein Versteck zurück. Die Schublade darüber enthielt ein dickes blaugrünes Buch, das sie als Nächstes herausholte, zusammen mit einem weiteren seidenen Bündel. Sie ließ sich auf dem Boden nieder, lehnte sich an die Seite ihres Schreibtischs und wickelte die Flasche im Schein des Mondlichts aus. Das blasse Glühen darin war gerade hell genug, dass Sophie etwas sehen konnte, ohne Sandor zu verraten, dass sie wach war.

Sie fuhr mit den Fingern über die gravierten Linien des silbernen Vogels auf dem Buchdeckel. Eine Mondlerche.

Bei ihrem Anblick jagte ihr jedes Mal ein Schauer über den Rücken.

Alden hatte ihr das Erinnerungstagebuch gegeben, damit sie ihre Träume darin festhalten und Erinnerungen aufspüren konnte, die nicht ihre eigenen waren.

Seit der Entführung hatte sie es jedoch dazu benutzt, ihre eigenen Nachforschungen über Black Swan anzustellen. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass sie Hinweise in ihren Erinnerungen hinterlassen hatten, die ihr verraten würden, wo sie sie finden konnte.

Das Problem war nur, dass Sophie keine Ahnung hatte, wie sie die geheimen Informationen anzapfen sollte, die sie ihr eingepflanzt hatten. Jedes Mal wenn sie einen dieser »Flashbacks« gehabt hatte, hatte irgendetwas die verborgene Erinnerung ausgelöst – für gewöhnlich ein Geschenk oder eine Nachricht, die Black Swan ihr hinterlassen hatte. Und ohne etwas, das den Flashback auslöste, blieb ihr nichts anderes übrig, als ziellos durch dreizehn Jahre Erinnerungen zu waten – und dank ihres fotografischen Gedächtnisses hatte sie eine Menge Erinnerungen, die es zu durchforsten galt. Trotzdem hatte Sophie sich auf zwei Vorfälle konzentriert, weil sie das Gefühl hatte, dass sie der Schlüssel sein konnten.

Der erste Vorfall hatte sich ereignet, als sie fünf Jahre alt gewesen war. Sie war in der Notaufnahme aufgewacht, und die Ärzte hatten ihr erzählt, dass sie gestürzt war, sich den Kopf gestoßen hatte und ihr Nachbar den Notruf gewählt hatte. Von jenem Moment an war Sophie in der Lage gewesen, Gedanken zu lesen. Sie wusste inzwischen, dass MrForkle ihre telepathischen Fähigkeiten an jenem Tag ausgelöst hatte. Was sie jedoch nicht wusste, war, warum. Fünf war ein ungewöhnlich junges Alter, was die Manifestation einer speziellen Fähigkeit anging. Außerdem hatte es ihr das Talent viel schwerer gemacht, unter den Menschen nicht aufzufallen. Warum hatte MrForkle es also ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt ausgelöst? Und warum konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, was passiert war?

Bei dem zweiten Vorfall war Sophie neun gewesen. Auch damals war sie im Krankenhaus gelandet, allerdings aufgrund einer starken allergischen Reaktion. Die menschlichen Ärzte hatten nie herausgefunden, was sie ausgelöst hatte, aber vor ein paar Monaten hatte Sophie auf schmerzhafte Weise erfahren, dass sie eine lebensgefährliche Allergie gegen Limbium hatte, eine spezielle Substanz, die sich auf gewisse Bereiche des Gehirns auswirkte. Seither musste sie stets eine Ampulle mit dem Gegengift dabeihaben, das Elwin zusammengerührt hatte für den Fall, dass sie die Substanz aus Versehen erneut zu sich nahm. Nur Elfen waren in der Lage, Limbium herzustellen, aber Sophie wusste inzwischen, dass sie schon in der Welt der Menschen zumindest zu einem Elf Kontakt gehabt hatte, ohne es zu wissen. Außerdem waren die Symptome bei beiden allergischen Reaktionen identisch gewesen. Es musste ihr damals also irgendjemand Limbium verabreicht haben. Aber wer? Und warum?

Es waren zwei verschwommene Ereignisse in ihrer Vergangenheit und beide Male hatten sich eindeutig Elfen in ihr Leben eingemischt. Das konnte kein Zufall sein. Den Entführern war es vielleicht nicht gelungen, ihre Erinnerungen auszulöschen – aber Black Swan hatte sie erschaffen. Und sie hatten kein Problem damit gehabt, geheime Informationen in ihren Kopf einzupflanzen. War es dann nicht auch möglich, dass sie andere daraus entfernt hatten?

Sie musste sich diese Erinnerungen zurückholen. Tief in ihrem Unterbewusstsein musste noch etwas davon übrig sein, ein Hinweis, der zu einer winzigen Spur führen konnte, die sie bislang übersehen hatten.

Iggy sauste an Sophies Bein hinauf und rollte sich über ihrem Knie zusammen, während sie die erste leere Seite in dem Erinnerungstagebuch aufschlug.

Komm schon, flehte sie ihr Gehirn an. Gib mir diesmal endlich etwas Nützliches.

»Schläfst du immer noch so schlecht?«, wollte Elwin wissen und kniff die Augen hinter der dicken schillernden Brille zusammen, während er vor Sophie in die Hocke ging. Die Morgensonne strömte durch die Fensterfront im Wohnzimmer herein, wo Sophie auf der edlen weißen Couch saß. »Diese dunklen Augenringe sehen langsam wie blaue Flecken aus.«

»Mir geht nur so einiges durch den Kopf.«

Er nahm die Brille ab und beäugte sie eindringlich. »Gibt’s irgendetwas, worüber du reden willst?«

Sophie musste an den Schwindelanfall am Tag zuvor denken, wandte jedoch nur den Blick ab und zuckte mit den Schultern. Sie war es leid, ständig untersucht, begutachtet und umsorgt zu werden. Außerdem hätte Elwin es inzwischen längst entdeckt, wenn mit ihr wirklich etwas nicht stimmen würde. Mit seiner magischen Brille konnte er bis zu jeder einzelnen Zelle in ihren Körper hineinsehen.

Elwin stieß ein Seufzen aus und erhob sich wieder. In dem eleganten, makellosen Raum wirkte er in seiner limettengrünen, von kleinen Gremlins bedeckten Tunika unglaublich fehl am Platz. Normalerweise lagen in Havenfield wenigstens ein paar Bücher und kuriose Apparate herum, die für einige Farbtupfer sorgten, aber Edaline hatte sich in den vergangenen Tagen kopfüber in einen wahren Putzanfall gestürzt, um sich abzulenken.

»Schau nach oben«, wies Elwin Sophie an und setzte die Brille wieder auf.

Sie gehorchte, und das Licht der Kristalle, das sich aus dem opulenten Kronleuchter in der Mitte des Raums ergoss, fiel ihr in die Augen. Es fühlte sich an, als würde der farbige Blitz direkt in ihr Gehirn schießen, und ihr Herz begann, wie wild zu rasen.

»Geht’s dir gut?«, fragte Elwin, als sie zusammenzuckte.

»Warum? Siehst du irgendwas?«

Er runzelte die Stirn, lehnte sich näher zu ihr und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen ihre Stirn. »Nein, scheint alles normal.«

Sophie stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte, ohne dass es ihr bewusst gewesen wäre.

Alles schien normal.

Alles war normal.

Sie war nur müde, weil sie in der vergangenen Nacht so schlecht geschlafen hatte.

»Du solltest dich wirklich ausruhen«, sagte Elwin, wie ein Echo ihrer eigenen Gedanken. »Vielleicht versuchst du es doch mal mit einer Tasse Schlummerbeerentee vor dem Zubettgehen.«

»Keine Beruhigungsmittel!«

»Es ist nur Tee –«

»Keine Beruhigungsmittel.« Sie hatte mehrere Wochen ihres Lebens in einem nebelhaften Dämmerzustand verloren, als man sie gefangen gehalten hatte, und sie wollte sich nie wieder so fühlen.

Elwin ließ sich neben ihr auf der weichen Couch nieder. »Na schön. Wir können die Sache mit der Schlaflosigkeit fürs Erste auf sich beruhen lassen. Aber wenn du nicht bald wieder besser schläfst, müssen wir uns irgendwas einfallen lassen. Verstanden?«

Er wartete, bis Sophie genickt hatte.

»Gut. Und ich möchte dich in zwei Wochen noch mal untersuchen. Dann hat die Schule wieder angefangen, du kannst also einfach bei mir im Büro vorbeikommen. Ich halte dein übliches Bett für dich frei.«

Sophie blickte wütend zu Boden. Natürlich musste sie in der ersten Schulwoche sofort im Heilungszimmer vorbeischauen. Ihre Freunde würde sie deswegen ganz sicher ohne Ende aufziehen, allen voran Keefe.

»Freut mich, dass du so begeistert bist, mich bald wiedersehen zu dürfen.« Elwin zwinkerte ihr zu, erhob sich und holte seinen Wegfinder aus der Tasche.

Sophie machte den Mund auf, um sich zu entschuldigen, aber eine gewaltige Welle der Panik flutete ihren Geist und nahm ihr die Worte.

»Was ist denn los?«

»Ich … ich weiß es nicht. Ich glaube, mit Silveny stimmt etwas nicht.« Sie stand ein wenig wacklig von der Couch auf und rannte zu der goldenen Bogentür am Haupteingang von Havenfield.

Sandor stellte sich ihr in den Weg. »Du musst im Haus bleiben, falls es Schwierigkeiten gibt.«

Erneut bohrte sich Todesangst in ihren Geist, kalt und scharf. »Aber Silveny braucht mich!«

Als ihr Leibwächter sich nicht rührte, stürmte sie zur Hintertür. Sandor gab ein Knurren von sich und klang dabei so sehr wie ein wütendes Kaninchen, dass Sophie nicht anders konnte, als darüber zu grinsen. Sie schlüpfte nach draußen und rannte, so schnell sie konnte, quer über die Weiden.

Sandor jagte ihr nach und brüllte ihr hinterher, sofort wieder zurückzukommen, aber Sophie stürmte unbeirrt an den Gehegen der Triceratops und Wollmammuts vorbei – und an einem Käfig, in dem irgendeine riesige käferartige Kreatur hockte, die in der vergangenen Nacht in Havenfield eingetroffen sein musste. Silvenys Panik wuchs mit jedem ihrer Schritte weiter, und als Sophie den Gipfel des letzten Hügels erklommen hatte, hatte sie das Gefühl, ihr würde das Herz in die Magengrube stürzen.