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Keeper of the Lost Cities
Ein episches Fantasy-Abenteuer der preisgekrönten Bestsellerautorin Shannon Messenger. Die fantastische Reihe um Elfen, Freundschaft und Magie mit jeder Menge Spannung für Mädchen und Jungen ab 12 Jahren.
Der neunte Band des mitreißenden Abenteuers
Die Geheimorganisation Black Swan möchte, dass Sophie sich ausschließlich auf ihre Vorhaben konzentriert. Doch Sophies Instinkte führen sie in eine ganz andere Richtung: Sie möchte endlich herausfinden, was sich hinter dem geheimnisvollen Begriff "Sternenmond" verbirgt. Kann er der Schlüssel zum Sieg über die Neverseen sein? Doch die Suche nach der Wahrheit fordert ihre Opfer und die schrecklichen Pläne ihrer Feinde nehmen Gestalt an. Der Kampf, der sich daraufhin entspinnt, lässt nur einen Schluss zu: Nichts wird je wieder so sein wie zuvor …
Alle Bände dieser Reihe:
Band 1: Keeper of the Lost Cities. Der Aufbruch (9783845840901)
Band 2: Keeper of the Lost Cities. Das Exil (9783845840918)
Band 3: Keeper of the Lost Cities. Das Feuer (9783845844541)
Band 4: Keeper of the Lost Cities. Der Verrat (9783845846293)
Band 5: Keeper of the Lost Cities. Das Tor (9783845846309)
Band 6: Keeper of the Lost Cities. Die Flut (9783845846316)
Band 7: Keeper of the Lost Cities. Der Angriff (9783845846323)
Band 8: Keeper of the Lost Cities. Das Vermächtnis (9783845846330)
Band 8,5: Keeper of the Lost Cities. Entschlüsselt (9783845851488) -erscheint im März 2023
Band 9: Keeper of the Lost Cities. Sternenmond (9783845851495)- erscheint im Juni 2023
Weitere Bände sind in Planung.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2023
Shannon Messenger
Sternenmond
Aus dem Englischen von Doris Attwood
arsEdition
Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe München 2023
Text copyright © 2022 by Shannon Messenger
Titel der Originalausgabe: Keeper of the Lost Cities – Stellarlune
Die Originalausgabe ist 2020 bei Simon and Schuster (Aladdin) erschienen.
© 2023 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D-80801 München
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Doris Attwood
Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung des Originalcovers
Coverillustration: Jason Chan, Typografie von geen graphy/shutterstock.com und
Bildmaterial von tomertu/shutterstock.com
Satz: Müjde Puzziferri, MP Medien, München, www.mp-medien-muenchen.de
Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne
von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
ISBN Printausgabe 978-3-8458-5149-5
ISBN eBook 978-3-8458-5151-8
www.arsedition.de
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Für meinen SohnDu hast das Schreiben dieses Buches in eine deutlich größere Herausforderung verwandelt und machst mein Leben unendlich viel besser.
Hier ist nichts.«
Sophie wusste nicht, wer es gesagt hatte, doch bestimmt dachten all ihre Freunde dasselbe, während sie durch das mondbeschienene hohe Gras stapften, das sich endlos in der Dunkelheit zu erstrecken schien.
Sie spähte zum Himmel empor und musterte erneut die Sterne.
»Irgendwas muss hier sein«, murmelte sie.
Sämtliche Rätsel, die sie gelöst hatten.
Sämtliche Wahrheiten, die sie mühsam ans Licht gebracht hatten.
All das hatte sie an diesen Ort geführt.
Zu diesem Moment.
Zu dieser seltenen Chance, ihren Feinden endlich einen Schritt voraus zu sein.
Sophie drehte sich langsam im Kreis und suchte nach dem Hinweis, den sie übersehen haben musste.
Nach der winzigen Spur einer Illusion.
Einem Funken Hoffnung.
Es gab immer noch einen weiteren Trick.
Eine weitere Lüge.
Aber diesmal würde sie sich nicht täuschen lassen.
Sie würde die Kontrolle über Sternenmond übernehmen.
Sich seine Kraft zunutze machen.
Denn sonst …
Sie blickte erneut in den Himmel und sah zu, wie der neue Stern im Licht der Morgendämmerung verblasste.
Die Zeit war beinahe abgelaufen.
Deshalb blieb ihr nur noch eine einzige Möglichkeit.
Ein verzweifeltes Wagnis.
Ein letzter Versuch.
Der Weg, gegen den alle anderen sich sträubten.
Sophie war bereit, ihn zu gehen – ganz gleich was es kostete.
Das musste sie.
Für Keefe.
Für ihre Welt.
Für die Zukunft.
Geht’s dir gut?«
Grady hatte ihr diese Frage schon dreimal gestellt und Sophie wusste noch immer keine Antwort darauf. Sie war zu nichts anderem fähig, als auf die zusammengeknüllte Nachricht zu starren, die in ihrem Zimmer auf sie gewartet hatte, und zu hoffen, sie hätte sie irgendwie missverstanden.
Keefe konnte nicht …
Würde nicht …
Ein Laut blubberte in ihrer Kehle, irgendetwas zwischen einem Lachen, einem Weinen und einem Stöhnen.
Hier ging es um Keefe.
Na klar würde er.
»Wie lange ist Keefe schon weg?«, fragte sie und blickte zwischen Grady und der winzigen Gnomin hin und her, die neben ihrem Himmelbett standen.
Grady zuckte mit den Schultern.
Flori schüttelte den Kopf und ihr geflochtenes Haar raschelte wie winddurchwehtes Laub. »Ich habe ihn nicht gesehen, weil ich draußen auf der Weide auf die neue Patrouille gewartet habe.«
Sophie seufzte.
Sandor hatte sich in die Aufgabe gestürzt, Havenfields Sicherheitsvorkehrungen zu verschärfen, da Sophie vor einigen Stunden ein Neverseen-Lager niedergebrannt hatte und offenbar alle der Ansicht waren, sie habe damit nun offiziell den Krieg begonnen, an dessen Abgrund sie sich schon seit Jahren bewegten. Doch darüber konnte sie sich im Augenblick keine Sorgen machen.
»Ist Sandor immer noch draußen?«, fragte sie und hoffte, jemand vom Wachpersonal hatte ihm bereits wegen Keefe Bericht erstattet.
Grady versperrte ihr den Weg. »Hör mal, Kleines, ich weiß, was du denkst –«
»Das bezweifle ich.« Sie wusste ja nicht einmal selbst, ob sie Keefe eine Tracht Prügel verpassen, ihn irgendwo einsperren oder ihn ganz fest in den Arm nehmen und ihm sagen wollte, dass alles gut werden würde – auch wenn Letzteres ihr am unwahrscheinlichsten schien.
»Keefe passiert schon nichts«, versicherte Grady ihr und schob sie wieder von der Zimmertür weg. »Er ist überaus einfallsreich.«
Sophie stemmte die Füße in den Boden. »Wenn du wüsstest, was er vorhat, würdest du das nicht sagen.«
Stille folgte und Grady wich ihrem Blick aus.
»Du hast mit ihm gesprochen, als er hier war, stimmt’s?«, vermutete Sophie und tippte sich an die Schläfen, als er schwieg. »Du weißt schon, dass ich rausfinden kann, was du versteckst.«
»Nicht ohne die Regeln der Telepathie zu verletzen«, erinnerte Grady sie. »Aber um deine Frage zu beantworten … Ja, ich habe mit ihm gesprochen – allerdings hat er nicht viel gesagt. Er hat ganz offensichtlich immer noch Angst, seine Stimme zu benutzen.«
Ein bitterer Geschmack legte sich auf Sophies Zunge und sie versuchte, nicht an die Furcht zu denken, die sie in Keefes Augen gesehen hatte, nachdem er aus Versehen seinen ersten Befehl ausgesprochen hatte. Oder daran, wie leer und hoffnungslos sie sich gefühlt hatte, als dieser Befehl alle komplett betäubt hatte.
»Genau darum läuft er ja weg«, murmelte sie.
Zumindest war das einer der Gründe.
In seinem Brief hatte Keefe außerdem angedeutet, er habe inzwischen weitere, noch furchterregendere Fähigkeiten manifestiert, ohne jedoch zu verraten, welche. Er hatte nur geschrieben, es sei zu gefährlich für ihn, in den Verlorenen Städten zu bleiben, und er wolle sich bei den Menschen verstecken – und deswegen musste Sophie ihn unbedingt finden.
»Wie lange ist er schon weg?«, fragte sie in einem Tonfall, der hoffentlich deutlich machte, dass sie Grady nicht damit davonkommen lassen würde, die Frage erneut mit einem Schulterzucken abzutun.
Er blickte zum Fenster hinaus. Draußen färbte der Sonnenuntergang die Wolken langsam rosa. »Seit mindestens einer Stunde, es ist also längst zu spät, um ihn noch aufzuhalten. Aber es wird alles gut werden, ganz bestimmt. Ich glaube, diesmal hat er tatsächlich einen vernünftigen Plan.«
»Ach wirklich? Dann glaubst du also, er kann ganz allein in den Verbotenen Städten überleben?«
Sie hatte gehofft, Grady würde die Kinnlade herunterklappen, wenn er hörte, wohin Keefe verschwunden war.
Stattdessen verzog sein Mund sich zu einem grimmigen Strich.
»Wow«, brummte sie. »Du hast gewusst, was er vorhat, und hast ihn trotzdem gehen lassen. Klar, du hast Keefe nie sehr gemocht, aber –«
»Das habe ich nie gesagt«, unterbrach Grady sie.
»Das war gar nicht nötig. Du nennst ihn immer bloß ›dieser Junge‹ und funkelst ihn die ganze Zeit böse an.«
»Nicht die ganze Zeit.«
Sein Lächeln sollte wahrscheinlich die Stimmung ein wenig aufheitern.
Tat es aber nicht.
»Okay, na schön. Manchmal macht mich deine Freundschaft mit Keefe … ein bisschen nervös«, gab Grady zu und fuhr mit der Stiefelspitze durch die in den Teppich geflochtenen Blumen. »Er hat ein Talent dafür, sich in Schwierigkeiten zu bringen – dabei schaffst du das allein schon oft genug. Aber er wirkte heute nicht so übertrieben selbstsicher wie sonst. Er sah müde aus. Und furchtbar verängstigt –«
»Und das schien dir kein Zeichen zu sein, dass du ihn lieber aufhalten solltest?«, fragte Sophie dazwischen.
»Hey, wir wissen beide, dass man Keefe Sencen gar nicht aufhalten kann, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat.«
»Ähm, soweit ich weiß, bist du immer noch Mesmer«, hatte Sophie das Bedürfnis zu erwidern, auch wenn sie niemals gewollt hätte, dass Grady seine besondere Fähigkeit auf diese Weise einsetzte.
Es war einfach leichter, jemandem die Schuld geben zu können.
Weil sie sich dann nicht fragen musste, ob sie Keefe womöglich zum Bleiben hätte überreden können, wenn sie bei seinem Besuch zu Hause gewesen wäre, anstatt dermaßen lange in Solreef herumzusitzen und Mr Forkles endlose Fragen zu ihrem unerwarteten Inferno zu beantworten.
Oder wenn sie öfter nach Keefe gesehen hätte, nachdem er aus diesem Trance-Koma-Zustand erwacht war, anstatt sich von ihm wegstoßen zu lassen.
Oder wenn sie in Loamnore nur ein bisschen mehr Widerstand geleistet und so seine Mom davon abgehalten hätte, Keefes verstörende neue Fähigkeiten auszulösen.
Oder wenn sie wenigstens etwas mehr über sein »Vermächtnis« herausgefunden hätte, um eine Ahnung zu haben, womit sie es zu tun hatten.
Grady kam zu ihr und schob ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich weiß, wie hart das ist. Und falls es irgendwie hilft: Ich habe versucht, Keefe auszureden, dass er fortgeht. Aber ich hab ihn noch nie so entschlossen erlebt. Das Einzige, was ich tun konnte, war …«
»War was?«, drängte Sophie ihn, als er nicht weitersprach.
Grady schloss die Augen und seine Lippen formten stumm ein paar Worte, bevor er schließlich fragte: »Du vertraust mir doch, oder?«
»Warum ist das nötig?«
»Weil … ich Keefe etwas versprochen habe und dieses Versprechen gern halten würde. Aber das fällt mir äußerst schwer, wenn du mir weiter Fragen stellst.«
Sophie musterte ihn und wünschte sich, sie wäre Empathin und könnte spüren, was er fühlte. Doch dieses spezielle Talent hatte Black Swan ihr nicht gegeben.
»Na schön«, beschloss sie. »Ich stelle dir keine Fragen mehr – wenn du aufhörst, mir ausreden zu wollen, dass ich ihn suchen gehe.«
Grady atmete langsam aus. »Du vergisst offenbar, dass es im Moment nicht besonders klug von dir wäre, Havenfield zu verlassen. Wir haben keine Ahnung, wie die Neverseen reagieren werden, sobald sie entdecken, was du mit ihrem Lager angestellt hast. Hier hast du eine eigene Armee –«
»Und die Neverseen wissen genau, wo sie mich finden können«, widersprach Sophie. »Außerdem werde ich ganz sicher nicht hier rumhocken und auf einen Angriff warten, der vielleicht nie kommt. Ich habe keine Angst vor ihnen!«
»Solltest du aber.« Grady ließ sich auf die Bettkante sinken und vergrub das Gesicht in den Händen, sodass Sophie ihn kaum hörte, als er hinzufügte: »Ich habe Angst.«
Sophie hätte sich am liebsten neben ihn gesetzt, sich an ihn gelehnt und sich gemeinsam mit ihm für das gewappnet, was womöglich als Nächstes auf sie zukam. Sie zwang sich jedoch, stehen zu bleiben. »Ich bin fertig damit, irgendwelche Entscheidungen aus Angst zu treffen. Das verleiht den Neverseen nur noch mehr Macht.«
»Ist Angst nicht auch der Grund, warum du Keefe unbedingt finden willst?«, konterte Grady.
Sophie warf erneut einen Blick auf Keefes Nachricht. »Ja, aber … das hier kann ich in Ordnung bringen.«
»Kannst du das?«
Und da war sie.
Die Frage, die Sophie die ganze Zeit über so mühsam verdrängt hatte.
Konnte sie Keefe wirklich in Ordnung bringen?
Konnte das überhaupt jemand?
»Es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden«, murmelte sie, hauptsächlich zu sich selbst.
Sie wandte sich zum Gehen und Grady ergriff ihre Hand. Erst als sie seine Finger auf ihrer Haut spürte, wurde ihr klar, dass sie keine Handschuhe anhatte.
Eigentlich brauchte sie auch keine mehr, seit sie gelernt hatte, ihr Verstärken ein- und auszuschalten. Meistens jedoch trug sie trotzdem welche, nur zur Sicherheit.
Vielleicht wurde es langsam Zeit für den Glauben daran, dass alle Fähigkeiten beherrschbar waren.
»Ich kann ihm helfen«, versicherte sie Grady, zog ihre Hand aus seiner und ging zur Tür, ohne ihre Handschuhe zu holen.
»Ich hoffe, du hast recht. Aber ihn zu finden, wird schwieriger, als du glaubst. Ich hab gesehen, wie er den Kristall an seinem Wegfinder wahllos auf irgendeine Facette eingestellt hat und dann einfach fortgesprungen ist.«
»War es ein blauer Kristall?«, fragte Sophie und spürte, wie ihr Magen sich jäh verkrampfte, als Grady nickte.
Keefe befand sich wirklich in einer Menschenstadt.
Und diese Stadt konnte überall sein.
Sanft zog Grady sie zu sich heran. »Ich weiß, wie sehr du es hasst, deine Freunde Risiken eingehen zu lassen. Aber Keefe kann auf sich selbst aufpassen –«
»Nein, kann er nicht! Keefe hat keine Ahnung, wie die Welt der Menschen funktioniert. Er hat kein Geld, keinen Ausweis und spricht keine ihrer Sprachen.«
Andererseits … war er jetzt Polyglott, deshalb war Letzteres vielleicht doch kein Problem für ihn. Trotzdem würde er auch damit nicht weit kommen.
»Die Menschen haben haufenweise Gesetze, die regeln, wo man Zutritt hat oder sich aufhalten darf«, fügte sie hinzu. »Man kann nicht einfach irgendwo auftauchen und erwarten, dass man einen Unterschlupf findet – oder Trinkwasser und was zu essen. Außerdem haben sie eine Million Vorschriften, zum Beispiel wann man die Straße überqueren oder wie spät man abends noch unterwegs sein darf. Außerdem kommt es total oft vor, dass man nirgends eine Toilette findet, wenn man sie gerade am dringendsten braucht! Und jedes Land ist anders, deshalb macht er alles nur noch schlimmer, wenn er wild durch die Gegend springt – vor allem weil er echt mies darin ist, nicht aufzufallen. Selbst wenn er sich einigermaßen bedeckt hält, werden die Leute bemerken, wie gut er aussieht – nach Menschenmaßstäben«, stellte sie hastig klar, spürte jedoch, wie ihre Wangen zu glühen begannen. »Ich habe zwölf Jahre lang bei den Menschen gelebt und bezweifle, dass ich mich dort verstecken könnte, ohne dass mich irgendwann das Jugendamt aufgreift. Er könnte verhaftet werden. Oder von einem Bus überfahren. Oder –«
»Ich sage ja nicht, dass du unrecht hast«, warf Grady ein. »Aber … mir scheint, du vergisst, dass Keefe hier bei uns auch nicht gerade in Sicherheit war.«
Richtig.
Doch das galt ebenso sehr für Sophie selbst, wie alle andern ihr unermüdlich in Erinnerung riefen.
Und sie würden niemals in Sicherheit sein, bis sie die Neverseen endlich aufhielten – und die Chancen dafür standen wesentlich besser, wenn sie zusammenarbeiteten. Sicher, Keefes neue Fähigkeiten waren ziemlich beängstigend und seine Mom würde garantiert alles daransetzen, sie für ihre Zwecke zu missbrauchen. Doch es gab bestimmt einen Weg, seine Kräfte gegen sie zu wenden.
»Ich muss es zumindest versuchen«, erwiderte Sophie und trat ein paar Schritte von Grady zurück. »Wenn ich ihn nicht finde …«
Sie wusste nicht, wie sie den Satz zu Ende bringen sollte.
Hoffentlich musste sie das auch nie.
Grady fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Dann … versprich mir wenigstens, dass du in den Verlorenen Städten bleibst.«
»Das wird sie«, verkündete eine hohe, quiekende Stimme vom Flur aus. »Dafür werde ich sorgen.«
Sophie widerstand dem Drang, mit den Augen zu rollen.
Sie hatte genügend Erfahrung mit ihrem Koboldleibwächter und dessen übertriebenem Beschützerinstinkt, um zu wissen, dass Sandor sie definitiv begleiten würde. Eigentlich war sie sogar überrascht gewesen, dass er sie nach der gemeinsamen Rückkehr aus Solreef überhaupt aus den Augen gelassen hatte. Und sie war dankbar für seinen Schutz. Sie brauchte ihn jetzt mehr als je zuvor.
Aber sie hatte es auch satt, vorsichtig zu sein – und damit würde Sandor sich abfinden müssen.
Wenn Keefe in den Verbotenen Städten war, dann würde sie ihm dorthin folgen.
Trotzdem: Sie hatte gelernt, ihre Kämpfe mit Sandor Stück für Stück auszutragen, und im Moment brauchte sie vor allem weitere Informationen, um sich den besten Plan zurechtlegen zu können. Deshalb sagte sie nur: »Gehen wir«, und stieg die Treppe zum Sprungmaster hinauf.
»Wohin?«, fragten Sandor, Flori und Grady in ihrem Schlepptau wie aus einem Mund.
Sophie betrachtete die riesige Kugel aus kleinen, glitzernden Kristallen, die von der Decke des Kuppeldachs in Havenfield hing. »Ro war nicht bei Keefe, oder?«
»Er war allein«, bestätigte Grady.
Sophie hatte keine Ahnung, mit welchen Tricks es Keefe gelungen war, seiner Ogerleibwächterin zu entwischen, aber Ro würde zweifellos alles in ihrer Macht Stehende tun, um Keefe aufzuspüren – vor allem damit sie ihn dann allerlei peinlichen Bestrafungen unterziehen konnte.
»Splendor Plains«, rief Sophie und wandte sich an Flori, während der Sprungmaster sich in Bewegung setzte. »Kommst du mit?«
»Mir wäre es lieber, wenn Flori hierbleiben und die neuen Sicherheitsmaßnahmen umsetzen würde«, bemerkte Sandor.
»Wie du möchtest.« Flori schloss die Augen und wiegte sich wie ein Baum im Sturm hin und her. »Ich hoffe, unsere Mondlerche macht sich keine allzu großen Sorgen. Ich höre Lieder der Veränderung in der Luft. Aber es sind keine unglücklichen Melodien. Sie erzählen von Freiheit. Und neuen Möglichkeiten.«
Sophie wünschte, sie könnte diese Lieder auch hören.
Doch das einzige Geräusch in ihren Ohren war ihr Herzschlag, der wie eine Kriegstrommel dröhnte, als sie Sandors Hand nahm, mit ihm ins Licht trat und sich von der rauschenden Wärme davontragen ließ.
Genau das hatte ich befürchtet«, grummelte Sandor, als er durch die Tür von Elwins farbenfrohem Zuhause marschierte.
Sophie lugte um seinen mächtigen grauen Körper herum. »Ernsthaft? Du hast befürchtet, wir würden das hier vorfinden?«
Das Erdgeschoss von Splendor Plains war von Glaswänden in sämtlichen Schattierungen des Spektrums gesäumt. Es bestand aus einem einzigen riesigen Raum. Er war leer, abgesehen von einem einsamen Sessel und einem Tisch in der Mitte, die beide umgekippt auf dem Boden lagen. Elwin und Ro hockten daneben und schienen sich gerade einen bizarren Zweikampf zu liefern. Die Ogerprinzessin hielt mehrere Plüschtiere auf dem Arm und presste ihnen ihr Schwert an die Kehlen, während Elwin per Telekinese ein Dutzend schimmernder Phiolen um Ros Kopf schweben ließ.
»Tja, Dr. Glitzer hätte seinen Knuddelkumpels das alles ersparen können, wenn er mir geholfen hätte, Hammerhaar zu finden!«, brüllte Ro und richtete ihre Klinge auf den Plüschpupsie. »Aber er wollte ja lieber den Dickkopf spielen. Und deshalb muss sein kleines Vögelchen jetzt dafür büßen!«
»Wenn du Pupu auch nur einen Faden krümmst«, drohte Elwin, »dann werde ich dafür sorgen, dass dir für die nächsten drei Tage Glitzer aus sämtlichen Körperöffnungen quillt!«
Ro biss ihre spitzen Zähne zusammen. »Ich hab dir doch schon gesagt, dass deine Elfenmixturen mir keine Angst machen! Aber wie es aussieht, brauche ich deine Hilfe wohl gar nicht mehr.« Sie deutete mit dem Kinn auf den Brief, den Sophie immer noch in der Hand hielt. »Lass mich raten. Captain Trübsal hat dir verkündet, dass er für immer abhaut, also hast du Gigantor hergeschleppt, weil du unseren hitzigen kleinen Draufgänger vor einer weiteren miesen Entscheidung bewahren willst.«
»Mehr oder weniger«, bestätigte Sophie. »Irgendeine Idee, wo er hin ist?«
»Im Moment nicht.« Ro schob ihr Schwert ein wenig energischer als nötig zurück in die Scheide. »Eigentlich wollte ich ihn mir bei dir zu Hause schnappen, weil ich wusste, dass er nie und nimmer ohne einen letzten rührseligen Gruß verduften würde – aber jemand hat sich geweigert, mit mir hinzuspringen.«
»Geweigert?« Sophie taumelte rückwärts, als Elwin nickte.
»Es ist nicht so, wie es klingt«, versicherte er ihr. »Als ich Ro oben fand, hatte sie zwei lahme Beine und –«
»Lahme Beine?«, fragte Sandor dazwischen.
»Hammerhaar hatte mir befohlen zu schlafen, damit ich ihn nicht aufhalten kann«, erklärte Ro. »Und sein Weckbefehl funktionierte nur halb. Ich hatte Kraft genug, um mich aufzusetzen und seine albernen Bettlakenfesseln zu zerreißen. Aber selbst als ich sie befreit hatte, wollten meine Beine für ein Weilchen einfach nicht aufwachen.«
»Das war mehr als ein Weilchen«, widersprach Elwin, während die Elixierfläschchen in den um seine Schultern hängenden Beutel schwebten. »Ich brauchte fast eine Stunde, um ihren Blutfluss wieder auf Touren zu bringen, und da war es ohnehin längst zu spät, Keefe noch einzuholen.«
»Das konntest du gar nicht wissen! Er hat garantiert erst noch einen Abstecher zu seinem herzallerliebsten Vater gemacht, um seine restlichen Sachen zu holen, bevor er zu Blondie nach Hause gesprungen ist – und bei Blondie hat er garantiert eine halbe Ewigkeit winselnd in ihrem Zimmer gestanden, weil er total hin- und hergerissen war, ob er sie wirklich allein zurücklassen soll. Wir hätten zumindest nachsehen müssen!«
»Absolut richtig!«, nickte Sophie und warf Elwin einen tödlichen Blick zu.
Er hatte ihr unzählige Male das Leben gerettet und sie hätte nie erwartet, dass er Keefe einfach so im Stich lassen würde.
Der Heiler fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle, zerzauste Haar. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, was du denkst, Sophie. Aber … ich habe gesehen, wie viel Angst Keefe zurzeit davor hat, seine Stimme zu benutzen – und wie heftig er dagegen ankämpfen muss, irgendwelche Befehle auszusprechen. Wenn er also dazu bereit war, Ro zu befehlen, sie solle schlafen, und dann nicht mal lange genug dablieb, um sich zu vergewissern, dass sie wieder vollständig aufwacht, dann muss ihn irgendwas Großes in die Flucht getrieben haben. Und vielleicht sollten wir einfach darauf vertrauen, dass er weiß, was er tut.«
»Tja, Spoileralarm: Hammerhaar weiß nie, was er tut«, erwiderte Ro und warf Elwin Pupu an den Kopf.
Er fing den flauschigen Pupsie mit seinem Geist auf. »Ich glaube, diesmal weiß er es sehr wohl.«
»Argh, du klingst wie Grady«, grummelte Sophie, die sich immer noch nicht sicher war, ob sie ihrem Adoptivvater verzeihen würde, dass er Keefe hatte gehen lassen. »Ihn musste ich auch erst daran erinnern, wie wenig Keefe über die Menschen weiß und wie leicht er im Gefängnis landen könnte – oder noch Schlimmeres.«
Elwin zuckte zusammen.
Ro grummelte eine Reihe sehr unanständiger Ogerflüche. »Das bedeutet dann vermutlich, dass unser Kleiner sich bei den einzigen Kreaturen verstecken will, die noch nervtötender sind als Kobolde, richtig?« Sie feuerte auch den Rest der Plüschtiere auf Elwin ab. »Siehst du, was du angerichtet hast?«
Elwin hatte Mühe, seine flauschigen Freunde aufzufangen. »Hey, eins ist doch wohl klar: Selbst wenn wir Keefe erwischt hätten, wäre er einfach erneut abgehauen – womöglich mithilfe von irgendwelchen Befehlen, durch die irreparabler Schaden entstanden wäre.«
»Nicht wenn ich ihn geknebelt und im Verlies meines Vaters eingesperrt hätte!«, fauchte Ro zurück.
»Oder wenn ich mit ihm geredet hätte!«, fügte Sophie hinzu, obwohl ein paar ihrer jüngsten Gespräche mit Keefe nicht unbedingt gut gelaufen waren.
Elwin drückte seine Knuddelkumpel an sich. »Ich weiß, es ist schwer zu akzeptieren. Mir fällt es auch nicht leicht. Aber … Keefe muss seine neuen Fähigkeiten unter Kontrolle kriegen – und ich glaube, er muss das allein lernen. Ich hatte gehofft, Kesler und ich könnten ein paar Elixiere brauen, die ihm dabei helfen, oder Dex könnte irgendein Gerät für ihn basteln. Aber bisher haben wir nicht das Geringste erreicht – und solange das so bleibt, wird Keefe ganz krank vor Sorge sein, er könnte irgendjemandem wehtun oder von seiner Mutter manipuliert werden oder –«
»Genau darum wäre das Verlies ja perfekt!«, schnitt Ro ihm das Wort ab. »Außerdem kenne ich einen ganz entzückenden Sumpf, der aussieht und riecht, als hätte sich sämtliche Kotze der Welt dort zum Sterben versammelt. Wenn er erst mal ein paar Tage in diesem Matsch rumgedümpelt hat, wird unser Kleiner darum betteln, dass wir ihn wieder ins Glitzerland lassen. Bloß müssen wir ihn dazu erst mal finden – und anscheinend könnte er überall auf diesem Planeten sein, weil er natürlich beschlossen hat, sich bei der Spezies zu verstecken, denen ihr Elfen viel zu viel Land zugestanden habt. Aber über die absurden Regierungsentscheidungen eures Hohen Rats können wir ein andermal diskutieren. Zuerst … müssen wir nachdenken.« Sie wickelte eines ihrer leuchtend roten Rattenschwänzchen um ihren Krallenfinger. »Du hast doch eine Zeit lang bei den Menschen gelebt, richtig, Blondie? Gibt’s da irgendeinen Ort, wo man besonders gut rumhocken und sich selbst leidtun kann?«
»Du springst nicht in die Verbotenen Städte!«, warnte Sandor Sophie.
»Versuch ruhig, uns aufzuhalten!«, konterte Ro.
»Das Problem ist«, ging Sophie dazwischen, bevor Sandor sein Schwert ziehen konnte, »Keefe hat wahllos eine Facette auf seinem Wegfinder eingestellt und ist einfach davongesprungen. Logik wird uns bei der Suche also nicht helfen.«
Ro stieß ein dramatisches Seufzen aus. »Dann gibt es wohl auch keinen coolen Telepathinnentrick, mit dem du ihn aufspüren kannst, richtig, Miss Mondlerche?«
»Nicht auf diese Entfernung. Ich kann seine Gedanken nicht hören, wenn er mich ignoriert. Und ich kann seinen Geist nicht aufspüren, wenn ich nicht weiß, wo ich hinspüren soll.«
»Argh. Ein Grund mehr, dass ich nie kapieren werde, warum ihr Elfen euch dermaßen viel auf eure ach so elfischen Fähigkeiten einbildet.«
Sandors Schnauben klang zustimmend – und Sophie konnte es den beiden kaum übel nehmen. Black Swan hatte ihre Gene manipuliert und ihr mehr Fähigkeiten gegeben, als irgendein anderer Elf je besessen hatte. Und trotzdem war sie allzu oft unterlegen und schlecht vorbereitet.
»Kannst du deinen Schutzbefohlenen nicht ausfindig machen?«, fragte Sandor Ro. »Bestimmt hast du ihn doch von Kopf bis Fuß mit einem dieser Enzyme eingepinselt, die ihr Oger so liebt.«
Sophies Herz vollführte einen Salto. »Stimmt! Ich hatte Aromark schon völlig vergessen!«
Doch Ro schüttelte den Kopf. »Ich musste dem Kleinen versprechen, ihn keiner Substanz auszusetzen, die wir nur wieder abkriegen, indem wir ihm die Haut wegschmelzen. Und nach allem, was seine liebe Mommy ihm angetan hat, dachte ich … das ist nur fair.«
Sophie konnte Ro deswegen keinen Vorwurf machen – Sandor hingegen offenbar schon.
»Leibwachen haben die Aufgabe, ihre Schutzbefohlenen im Auge zu behalten, und nicht, deren Wünsche zu erfüllen!«, blaffte er.
»Nein, wir haben die Aufgabe, unsere Schutzbefohlenen zu beschützen, und das kann ich mit denen hier ganz ausgezeichnet.« Ro deutete auf die zahlreichen Dolche, die um ihre muskulösen Oberschenkel geschnallt waren.
»Und wie beschützt du ihn damit jetzt gerade?«, konterte Sandor.
»Ich gebe zu, ich war nicht darauf vorbereitet, dass mein Kleiner plötzlich lernen würde, alle mit einem einzigen Wort außer Gefecht zu setzen.« Sie erschauderte. »Aber du wärst genauso beinlahm gewesen wie ich – und falls du glaubst, diese albernen Dinger, die du so gern in Blondies Klamotten einnähst, hätten irgendeinen Unterschied gemacht, dann leidest du an Realitätsverlust. Die hätte er nämlich im Handumdrehen einfach rausgerissen.«
»Vorausgesetzt, er hätte sie gefunden.« Sandors Lächeln war so selbstgefällig, dass Sophie am liebsten sofort all ihre Klamotten durchforstet hätte.
Aber es spielte keine Rolle. »Streiten hilft uns bei der Suche nach Keefe nicht weiter«, erinnerte sie die beiden.
»Stimmt«, nickte Ro. »Aber nur fürs Protokoll: Sollte ich meinem Kleinen tatsächlich etwas mehr Freiraum gegönnt haben, dann bloß deswegen, weil ich sehen konnte, wie kurz er vor einem Nervenzusammenbruch stand. Und weil ich abwarten wollte, ob er von selbst begreift, dass sein Blick auf diese neuen Kräfte völlig falsch ist. Klar, aus Versehen seine Freunde zu betäuben, ist alles andere als cool – aber dafür braucht er sich jetzt auch nicht mehr vor seiner herzallerliebsten Mutter zu fürchten! Wenn sie das nächste Mal auftaucht, kann er ihr einfach befehlen einzuschlafen. Oder noch besser: ihr sagen, sie soll sich von einem eurer Glitzerpaläste stürzen – Problem gelöst!«
Sophie wünschte, es wäre so einfach. »Ich bin mir sicher, Lady Gisela weiß sich zu schützen.«
Die Neverseen waren ihnen stets fünf Schritte voraus.
Manchmal sogar zehn.
Oder fünfzig.
Andererseits hatte Sophie eines ihrer geheimen Lager gefunden und niedergebrannt. Darum hatte sich das Inferno auch angefühlt wie ihr erster echter Sieg – und darum musste sie darauf vorbereitet sein, noch weitere furchterregende Entscheidungen zu treffen.
»Darf ich?«, fragte Ro und zeigte auf Keefes Brief.
»Es steht nichts Hilfreiches drin«, erwiderte Sophie, überließ Ro die Nachricht aber trotzdem und begann, auf und ab zu gehen. »Hat Keefe noch irgendwas gesagt, bevor er weg ist?«
»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Elwin. »Allerdings war ich mit Stöpseln in den Ohren hier unten, während er oben dabei war, den Verbinder mit Dex zu testen.«
»Sie wollten ausprobieren, ob Hammerhaar über das Gerät mit anderen reden kann, ohne dass er den Drang verspürt, irgendwas zu befehlen«, erklärte Ro. »Hat übrigens perfekt geklappt.«
Sophie hielt mitten im Schritt inne. »Irgendwas ist während dieser Unterhaltung passiert, hab ich recht?«
»Gut möglich, denn unmittelbar danach ist Keefe verschwunden«, erwiderte Elwin. »Aber ich hab das Gespräch nicht mit angehört.«
»Moment mal! Wieso bitte reden wir nicht über das hier?« Ro deutete auf einen Satz am Ende des Briefs.
Sophie wurde im selben Moment klar, was dort stand, in dem Ro eine ziemlich überzeugende Imitation von Keefes Stimme zum Besten gab.
»Du bedeutest mir viel, Foster. Mehr, als dir jemals klar sein wird.«
Sophie stürzte sich auf das Papier.
»Nein! Hier werden keine Beweise vernichtet – und denk nicht mal dran zu behaupten, du wüsstest nicht, was er damit meint, Blondie! Dafür sind deine Bäckchen viel zu rot!«
Sophie strich sich das Haar ins Gesicht.
Der Rest von Keefes Nachricht hatte sie dermaßen aufgewühlt, dass sie diesen Teil völlig vergessen hatte – und ihr Hirn hatte wahrhaftig nicht den Hauch einer Ahnung, was es damit anfangen sollte.
Es kam ihr beinahe so vor, als versuchte Keefe, ihr zu sagen, dass …
Aber das konnte er nicht damit meinen.
… oder doch?
»Wow. Ich glaube, die Zeit der großen Fosterschen Ahnungslosigkeit könnte tatsächlich vorbei sein!« Ro stieß eine Faust in die Luft. »Jetzt freu ich mich nur umso mehr darauf, Hammerhaar wieder nach Hause zu zerren! Dann könnt ihr zwei euch mal ausführlich unterhalten und –«
»Ist das dein Ernst?« Sophie stürzte sich erneut auf den Brief und diesmal gelang es ihr, ihn sich zu schnappen – auch wenn das Papier dabei ein Stück einriss. »Vor zwei Minuten hast du noch damit gedroht, einen Haufen Plüschtiere einen Kopf kürzer zu machen, weil Elwin dir nicht helfen wollte, Keefe zu finden. Und jetzt verschwendest du Zeit damit, mich wegen irgendeiner dahingekritzelten Zeile aufzuziehen –«
»Diese Zeile ist nicht nur so dahingekritzelt! Du weißt das. Ich weiß das. Dr. Glitzer weiß das. Verflucht, sogar Gigantor weiß das – guck dir doch nur mal an, wie interessiert er gerade auf seine Füße starrt. Aber … ich schätze, du hast nicht ganz unrecht, was unsere Prioritäten betrifft. Tut mir leid. Ich bin bloß so aufgeregt! Hast du irgendeine Ahnung, wie lange ich darauf schon warte? Es wird so entzückend werden, wenn ihr zwei endlich …«
Sie machte ein paar widerwärtig laute Knutschgeräusche und Sophie hasste ihr Gehirn dafür, dass es sich das Ganze tatsächlich bildlich vorstellte.
Und sie hasste noch mehr, wie schwitzig mit einem Mal ihre Handflächen waren.
Sie steckte den Brief in ihre Umhangtasche und verschränkte die Arme vor der Brust, um sich die Hände an den Ärmeln zu trocknen. »Können wir uns bitte wieder konzentrieren? Ich muss wissen, was passiert ist, als Keefe mit Dex gesprochen hat.«
Ros Lächeln verblasste. »Danach solltest du wahrscheinlich am besten deinen Technikerkumpel fragen.«
»Damit würden wir nur noch mehr Zeit vergeuden.«
»Glaub ich nicht. Ich hab nur teilweise verstanden, warum sie so ausgeflippt sind, also wenn du sowieso alles noch mal checken musst, dann kannst du dich auch ebenso gut direkt bei der Quelle danach erkundigen, oder?«
Sophie fand es beinahe unerträglich, dass Ro damit ein durchaus schlüssiges Argument vorgebracht hatte. Und als sie den Verbinder aus ihrer Tasche holte, war sie noch immer versucht, ihn der Ogerin wie einen Koboldwurfstern an den Kopf zu schleudern. Doch sie widerstand dem Drang und sagte in das kleine, flache Gerät: »Zeig mir Dex Dizznee.«
Der Verbinder blieb leer.
Sophie tippte fester auf den Bildschirm. »Dex Dizznee!«
Weitere Sekunden krochen dahin.
»Funktioniert das Ding nicht?«, fragte Ro. »Oder ignoriert er dich?«
»Keine Ahnung.« Sophie hielt sich den Verbinder direkt vor den Mund und wiederholte Dex’ Namen.
Immer noch nichts.
Sie massierte sich die Schläfen und wandte sich wieder an Ro. »Na schön, warum erzählst du mir nicht erst mal alles, woran du dich noch erinnerst, und falls ich bei irgendwas nachhaken muss, dann –«
»Sophie?« Dex’ Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Entschuldige … ich war, ähm … Ist alles okay?«
»Ich wollte dich gerade dasselbe fragen.« Seine efeugrünen Augen sahen rot und verquollen aus und seine blasse Haut war ganz fleckig.
»Was ist denn los? Und sag nicht ›Nichts‹, es ist nämlich echt nicht zu übersehen, dass du geweint hast.«
»Nein, hab ich nicht!« Er wischte sich über Nase und Wangen. »Mir geht’s gut.«
Das war womöglich die mieseste Lüge in der Geschichte des Lügens.
Sophie seufzte. »Wir haben keine Zeit, uns zu streiten, okay? Ich muss wissen, was zwischen dir und Keefe passiert ist.«
Sämtliche Farbe wich aus Dex’ Gesicht. »Warum? Was hat er dir denn erzählt?«
»Nichts. Aber … er ist abgehauen.«
Dex schloss die Augen und schaffte es irgendwie, noch bleicher zu werden. »Bist du sicher?«
»Leider ja.« Sie ersparte es sich, Keefes Brief zu erwähnen – es gab keinen Grund, diese Peinlichkeit ein weiteres Mal zu durchleben. »Ich überlege noch, wie ich ihn finden kann, aber –«
»Bist du sicher, dass das eine so gute Idee ist?«, warf Dex ein. »Ich meine … vielleicht muss er einfach für eine Weile allein sein, weißt du? Könnte sicherer für ihn sein.«
»Ernsthaft?«, fragte Sophie.
Was war bloß mit allen los?
»Keefe braucht Hilfe!«, zischte sie. »Und er muss wissen, dass er immer noch unser Freund ist und wir unter allen Umständen an ihn glauben. Außerdem ist es hier viel sicherer als bei den Menschen –«
Dex’ riss die Augen auf. »Moment mal – er ist in den Verbotenen Städten?«
»Jap. Und er hat keine Ahnung, wie man dort überlebt. Außerdem hat er kein Geld – und er kann schließlich nicht aus Versehen einen Geldautomaten ausrauben wie andere Leute.«
Sophie hatte gehofft, mit ihrer kleinen Neckerei die Stimmung ein wenig aufzulockern. Doch Dex wandte nur den Blick ab und kaute so angespannt auf seiner Unterlippe herum, dass seine Zähne Abdrücke in seiner Haut hinterließen.
»Wenn du mir sagst, warum Keefe fortgegangen ist, verstehe ich vielleicht auch, wovor du solche Angst hast«, sagte Sophie. »Vertraust du mir nicht?«
»Es geht nicht um Vertrauen.«
»Es geht immer um Vertrauen – und Keefes Leben steht auf dem Spiel, Dex. Ich weiß, wie dramatisch das klingt, aber es ist wahr. Jede Minute, die wir hier vergeuden, ist eine Minute, in der er verletzt werden könnte oder verhaftet – oder irgendwas, woran ich noch nicht mal denken will.«
Eine Ewigkeit verging, bis Dex erwiderte: »Ich kann ihn vielleicht aufspüren.«
Er verschwand vom Bildschirm und tauchte kurz darauf wieder auf, einen kleinen kupfernen Würfel in der Hand, aus dem ineinander verdrehte Drähte herausragten. »Wenn er seinen Signaturanhänger noch trägt, kann ich das Signal anpeilen. Gib mir eine Minute.«
Sophie zählte jede einzelne Sekunde mit.
Bei vierhundertneunzehn hatte Dex die Drähte auf eine Fantastilliarde verschiedene Arten neu zusammengezwirbelt – und Sophie hatte sich zwei juckende Wimpern ausgezupft.
»Lass mich raten: Er hat den Anhänger abgelegt?«, murmelte sie.
Dex legte das Gerät beiseite. »Tut mir leid.«
»Argh, wenn wir’s ein Mal echt gebrauchen könnten, dass unser Bürschchen sich dämlich anstellt!« Ro zückte einen ihrer Dolche und stach damit in die Luft. »Hast du sonst noch irgendwelche Techniktricks auf Lager?«
Dex schüttelte den Kopf. »Keefe trägt keinen Nexus mehr –«
»Was ist mit seinem Panikknopf?« Sophie hielt ihren leicht verbogenen Ring hoch und wünschte sich, sie hätte schon vorher daran gedacht. »Du hast doch einen Peilsender in sie eingebaut, richtig?«
»Stimmt. Bloß … ich hab Keefe nie einen gegeben. Den für dich hab ich zuerst gemacht, die für die anderen, als Keefe bei den Neverseen war, weißt du noch? Eigentlich wollte ich nach seiner Rückkehr auch einen für ihn basteln, aber es kamen dauernd irgendwelche anderen Projekte dazwischen, an denen ich arbeiten musste, verstehst du?«
Natürlich verstand sie das. Dennoch gelang es ihr nicht, ihre Enttäuschung zu verbergen, als sie erwiderte: »Schon in Ordnung.«
»Tut mir echt leid«, murmelte Dex. »Ich wünschte, ich könnte dir helfen.«
»Das kannst du. Sag mir, was passiert ist, als ihr den Verbinder getestet habt. Wenn es dir leichter fällt, mir alles persönlich zu erzählen, kann ich auch zu dir kommen –«
»NEIN!«
Dex verschwand erneut vom Bildschirm. Dann ertönten mehrere dumpfe Laute, so als würde er seine Tür verrammeln.
»Was meinst du denn, was ich tun würde?«, rief Sophie ihm nach. »Zu euch rüberspringen und dir die Geheimnisse aus dem Geist reißen?«
Ehrlich gesagt stand sie bereits kurz davor, genau das zu tun, als Dex zurückrief: »Versprich mir einfach, dass du nicht herkommst, okay?«
»Wieso?«
»Weil …«, noch mehr dumpfe Geräusche, »hier gerade … ähm … totales Chaos herrscht!«
»Bei euch herrscht immer totales Chaos. Ich kenne die Drillinge, schon vergessen?«
»Ich weiß. Aber … Lex und Bex haben manifestiert, deshalb geht’s hier gerade besonders verrückt zu. Lex überzieht alles mit einer Eisschicht und Bex probiert, durch sämtliche Wände zu gehen.«
»Warum kommst du dann nicht hierher? Oder wir treffen uns in Havenfield. Oder –«
»Ich kann nicht.«
»Kannst nicht? Oder willst nicht?«
»Um uns allen Zeit zu sparen«, warf Ro ein, »hilft es womöglich, wenn ich erwähne, dass ich dein komplettes Gespräch mit Hammerhaar gehört habe. Ich hab Blondie gesagt, sie soll dich persönlich danach fragen, weil ich euer komisches Elfenzeugs nicht immer ganz verstehe. Aber wenn du dich unbedingt wie eine Nervensäge aufführen willst, kann ich ihr auch erzählen –«
»NEIN!« Dex sauste wieder ins Bild und eine Sekunde lang fragte Sophie sich, ob er die Verbindung kappen würde. Stattdessen jedoch holte er tief und zitternd Luft und sagte: »Die Sache ist … ich kann es dir nicht verraten, weil es nicht mein Geheimnis ist.«
»Und wessen dann?«, fragte Sophie.
»Das kann ich dir auch nicht sagen.«
»Tja, bloß gut, dass ich’s kann!« Ro legte Sophie einen Arm um die Schultern. »Er hat zehn Sekunden, alles auszuspucken, dann übernehme ich. Zehn … neun … acht …«
»Bitte nicht.« Als sie hörte, wie Dex’ Stimme brach, wurde Sophie unendlich schwer ums Herz.
»Ich will dir nicht wehtun, Dex. Oder dich dazu zwingen, mir irgendwas zu verraten, wenn du dich nicht wohl dabei fühlst. Aber Keefe ist völlig allein da draußen, verloren in einer Menschenstadt, ohne was zu essen, ohne Ausweis, ohne Unterschlupf und ohne jemanden an seiner Seite. Ich hab keine Ahnung, wie ich ihn finden soll, aber ich muss es versuchen. Und falls ich ihn tatsächlich aufspüre, muss ich ihn dazu überreden, wieder zurückzukommen. Er hält sich für zu gefährlich, um in den Verlorenen Städten zu bleiben – und ich kann ihn nicht vom Gegenteil überzeugen, wenn ich nicht weiß, warum er das glaubt. Also bitte sag mir, was du weißt. Ich verspreche dir, dass ich es niemandem erzähle.«
Dex vergrub das Gesicht in den Händen.
Ein gefühltes Jahr verstrich, bevor er murmelte: »Absolut niemand sonst darf davon erfahren. Deshalb …«
Er verschwand abermals vom Bildschirm und im Hintergrund war ein lautes Klicken zu hören, gefolgt von einem dauerhaften knisternden Brummen, wie statisches Rauschen.
»Das ist mein Schalldämpfer«, erklärte er, als er wieder vor den Verbinder trat. »So kann uns garantiert niemand belauschen – zumindest auf dieser Seite.«
»Ich schätze, das war mein Stichwort«, sagte Elwin so unvermittelt, dass Sophie zusammenzuckte. »Du hattest vergessen, dass ich auch noch da bin, stimmt’s? Keine Sorge, ich werde mit keinem Wort erwähnen, was ich bereits gehört habe – nicht dass ich mir wirklich einen Reim darauf machen könnte.« Er wandte sich zur Treppe und steckte sich im Gehen Stöpsel in die Ohren. »Ich bin in meinem Zimmer.«
»Was ist mit Sandor?«, fragte Dex.
Sandor beugte sich über den Bildschirm. »Ich gehe hin, wo Sophie hingeht. Und ich bleibe, wo sie bleibt.«
»Ach, komm schon, Gigantor!«, quengelte Ro. »Wir machen hier endlich Fortschritte! Ich kann Blondie beschützen –«
»Darüber ließe sich streiten«, unterbrach Sandor sie. »Aber viel mehr beunruhigt mich, dass ihr zwei in die Verbotenen Städte verschwinden könntet.«
»Ich werde nirgendwo ohne dich hingehen«, versprach Sophie.
»Außerdem dachte ich, du hättest Peilsender in ihre Klamotten eingenäht«, fügte Ro mit einem Grinsen hinzu. »Mr Superbodyguard wäre doch bestimmt in der Lage, uns wieder einzufangen, falls wir versuchen würden –«
»Wir werden überhaupt nichts versuchen!«, ging Sophie dazwischen. »Das schwöre ich bei Ella – und Wynn und Luna!«
Sandor ließ seine Knöchel knacken. »Ich bin direkt da draußen und beobachte euch durch die Fenster.«
Ro schnaubte. »Weil das ja mal überhaupt nicht gruselig klingt!«
Sandor knallte die Tür so fest zu, dass die Glaswände schepperten. »Alles klar, du kannst loslegen«, forderte Sophie Dex auf.
Er nahm eine kotzgrüne Farbe an. »Ich … weiß gar nicht, wie ich’s sagen soll.«
»Dann platz einfach damit raus – es muss ja keine große Rede werden.«
»Je knapper, desto besser«, fügte Ro hinzu.
Dex schluckte schwer und schloss die Augen. »Okay … also … Keefe hat eine weitere Fähigkeit manifestiert. Wir sind uns noch nicht hundertprozentig sicher, wie sie funktioniert, aber … anscheinend kann er spüren, ob jemand manifestieren wird, und außerdem erkennen, welche Fähigkeit er oder sie bekommt.«
Sophie ließ sich die Worte kurz durch den Kopf gehen.
»Und was ist daran so schlimm?«, musste sie dann einfach fragen.
»DANKE SEHR!«, johlte Ro. »Es tut echt gut, nicht die Einzige zu sein, die findet, dass Technik-Boy und Hammerhaar das Ganze völlig überdramatisieren!«
»Kapierst du wirklich nicht, wie beängstigend das ist?«, fragte Dex.
Sophie zuckte mit den Schultern. »Ich kann mir vorstellen, dass wahrscheinlich haufenweise Leute zu Keefe kommen und ihn fragen würden, welche Fähigkeit sie kriegen. So ähnlich wie bei Rat Terik und seinen Erspäherkünsten. Aber Terik hat irgendwann einfach aufgehört, Lesungen durchzuführen.«
»Tja, na ja, beim Erspähen wird aber nur das Potenzial einer Person erfasst«, rief Dex ihr in Erinnerung. »Besondere Fähigkeiten entscheiden jedoch über den Rest unseres Lebens.«
»Bloß fürs Protokoll: Da kann ich euch Elfen nicht mehr folgen«, merkte Ro an.
»Ich auch nicht«, gestand Sophie leise. »Und das klingt immer noch nicht so schlimm, Dex, deshalb vermute ich, es gibt noch mehr, das du mir nicht erzählst.«
Dex warf einen Blick über die Schulter, lehnte sich dann näher zu dem Verbinder und flüsterte: »Wir sind uns ziemlich sicher, dass Keefe Manifestationen auslösen kann.«
»Woher wollt ihr wissen …?« Sophie brach den Satz ab und beantwortete sich die Frage selbst. »Ihr glaubt, Keefe hätte ausgelöst, dass Rex und Bex manifestieren?«
»Lex und Bex«, korrigierte Dex sie mit seltsam erstickter Stimme. Er musste sich zweimal räuspern, bevor er hinzufügen konnte: »Keefe war gestern mit den beiden zusammen und meinte, Lex’ Hand habe sich superkalt angefühlt und Bex’ irgendwie matschig – und das konnte niemand sonst spüren. Heute hat Lex dann als Froster manifestiert und Bex als Schweberin. Das kann auf keinen Fall Zufall sein.«
Da musste Sophie ihm zustimmen. Aber sie war trotzdem nicht bereit, dieselben womöglich voreiligen Schlüsse zu ziehen. »Könnte Keefe nicht einfach bloß gespürt haben, dass es bald passieren wird?«
»Möglich. Aber wenn man bedenkt, wie jung sie noch sind, dürfte es wahrscheinlicher sein, dass er es ausgelöst hat. Und falls dem so ist …«
Sophie versuchte, sich für diesen Satz einen Schluss einfallen zu lassen, der das nötige dramatische Ta-ta-ta-taaaaaa bot.
»Ich kapier trotzdem nicht, warum Keefe weggelaufen ist«, gab sie zu. »Selbst wenn er tatsächlich besondere Fähigkeiten auslösen kann, beschleunigt er damit doch nur etwas, das sowieso passieren wird, oder? Außerdem hat Mr Forkle auch schon öfter Fähigkeiten ausgelöst –«
»Das ist was anderes«, wandte Dex ein. »Bei Mr Forkle gab es nie eine Garantie, dass es funktioniert – na ja, außer in deinem Fall, aber du bist ja auch … du weißt schon …«
»Seltsam?«, beendete Sophie den Satz für ihn.
»Ich wollte eigentlich einzigartig sagen«, erwiderte Dex.
»Klaaaaaaar wolltest du das.«
Ihr Lächeln verblasste, als Dex es nicht erwiderte.
Er sah so ernst aus.
So traurig.
So … verängstigt.
»Was erzählst du mir nicht?«, flüsterte Sophie.
Sie ließ das bisherige Gespräch in ihrem Geist noch einmal ablaufen und achtete darauf, ob sie vielleicht irgendetwas nicht richtig mitbekommen hatte.
Das Einzige, was ihr von Bedeutung zu sein schien, war, dass Keefes Fähigkeit sich laut Dex von dem unterschied, was Mr Forkle tat, um Manifestationen auszulösen.
»Also … Mr Forkle kann nicht garantieren, dass jemand manifestiert«, wiederholte Sophie langsam. »Soll das bedeuten, Keefe … kann es?«
Dex’ Augen füllten sich mit Tränen. »Nein.«
Sophie wollte ihn gerade fragen, wie er sich da so sicher sein konnte, als ihr etwas wieder einfiel, das er vorhin gesagt hatte.
Ich kann es dir nicht verraten, weil es nicht mein Geheimnis ist.
Sie hatte angenommen, er meinte Keefe. Doch jetzt konnte sie ausschließlich daran denken, dass nur zwei der Drillinge manifestiert hatten.
Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals und es fiel ihr schwer, die nächste Frage auszusprechen. Sie räusperte sich und flüsterte: »Ist Rex auch dabei gewesen, als Keefe Bex’ und Lex’ Hände berührt hat?«
Die Tränen strömten über Dex’ Wangen – was ihre Frage im Prinzip beantwortete. Trotzdem erwiderte er: »Laut Keefe hat Rex’ Hand sich irgendwie leer angefühlt. Und … dasselbe hat er auch bei meinem Dad gespürt.«
»Oh.«
Das winzige Wort schien förmlich zu pulsieren und mit jedem Schlag lauter zu werden, bis das Geräusch das riesige Zimmer ausfüllte.
Genau wie das Wort, das niemand von ihnen aussprach.
Talentlos.
Weitere Tränen liefen über Dex’ Wangen und Sophie merkte, wie auch ihr Blick verschwamm.
Sie wollte darauf beharren, dass es sich um einen Irrtum handeln musste. Schließlich hatte Keefe gerade erst begonnen, seine Kräfte richtig zu verstehen.
Doch die Wahrheit fühlte sich stets anders an.
Sie hatte mehr Gewicht.
»Versprich mir, dass du es Rex nicht sagen wirst«, flüsterte Dex und trocknete sich mit dem Ärmel das Gesicht.
»Er weiß nichts davon?«
Dex schüttelte den Kopf. »Er weint sich sowieso schon den ganzen Tag die Augen aus, weil er Angst hat, es wäre möglich. Kannst du dir vorstellen, wie er sich fühlen würde, wenn er es mit Sicherheit wüsste? Er hat noch ein paar Jahre vor sich, bis er an den Punkt kommt, an dem alle ihn aufgeben – es sei denn, der Hohe Rat findet heraus, wozu Keefe in der Lage ist, und zwingt ihn dazu, in der Foxfire alle auf ihre Fähigkeiten zu testen.«
Sophie schnappte nach Luft. »Meinst du, das würden sie tun?«
»Ich würde es ihnen durchaus zutrauen. Immerhin wäre es so deutlich leichter zu entscheiden, wer auf die Foxfire gehört und wer nicht. Und wer weiß? Vielleicht würden sie ja sogar anfangen, sämtliche Kinder schon kurz nach der Geburt zu testen. Sie würden wahrscheinlich behaupten, es sei für alle das Beste, so früh wie möglich Bescheid zu wissen. Aber das einzige Resultat wäre, dass die Talentlosen sich dann wirklich ihr ganzes Leben mit Vorurteilen herumschlagen müssten.«
Ein eiskalter Schauer jagte über Sophies Rücken. »Nie und nimmer würde Keefe dabei mitmachen.«
»Er hätte vielleicht gar keine andere Wahl. Sie bräuchten ihn einfach bloß festzuhalten und seine Gedanken von einem Telepathen lesen zu lassen, während die Leute seine Hände berühren.«
Sophie war sich nicht sicher, ob sie sich wirklich vorstellen konnte, dass der Hohe Rat etwas dermaßen Grausames anordnete.
Aber sie konnte sich vorstellen, dass Keefes Mutter es tun würde.
»Warum sollte Lady Gisela das wollen?«, murmelte sie, hauptsächlich zu sich selbst. »Warum sollte sie all diese schmerzhaften Experimente an sich selbst und an ihrem Mann durchführen – und Keefe all das antun –, bloß damit Keefe ihr sagen kann, ob jemand manifestieren wird oder nicht?«
»Er könnte auch in der Lage sein, die Fähigkeiten auszulösen«, rief Dex ihr Erinnerung. »Außerdem ist er jetzt Polyglott und kann Befehle aussprechen, um andere zu allen möglichen grausigen Sachen zu zwingen. Und vielleicht ist er noch zu ganz anderen Dingen fähig, von denen wir bisher gar nichts wissen.«
»Vermutlich«, gab Sophie widerwillig zu. »Aber … ich sehe trotzdem keinen Zusammenhang. Sie versucht schließlich, die Weltherrschaft an sich zu reißen – wie soll ihr das dabei helfen?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Dex. »Aber ich will es auch nicht herausfinden.«
Genauso wenig wie Sophie.
Und Keefe wollte es ganz offensichtlich auch nicht – was endlich erklärte, warum er die Verlorenen Städte verlassen hatte.
Und all das würde es so gut wie unmöglich machen, ihn von einer Rückkehr zu überzeugen.
»Meinst du, es wird ihm jemals gelingen, seine Fähigkeiten zu beherrschen?«, fragte Sophie und starrte auf ihre handschuhlosen Hände.
Sie hatte einen Weg gefunden, ihr Verstärken zu meistern …
Aber sie hatte Monate dafür gebraucht.
Und mehrere spezielle Erfindungen.
Und eine seltsame geistige Übung.
Und Hilfe.
Jede Menge Hilfe.
»Ich arbeite an ein paar Prototypen«, antwortete Dex, als wüsste er, was sie dachte. »Und ich rede später auch noch mit Patent – obwohl es nicht leicht sein wird, ihr zu erklären, was ich brauche, ohne ihr zu verraten, warum. Aber … es muss irgendwas geben, das wir tun können.«
»Das werde ich Keefe ausrichten«, versprach sie. »Na ja … falls ich ihn finde.«
»Oh, wir finden ihn!«, sagte Ro mit entschieden mehr Zuversicht, als Sophie zustande brachte. »Und mir ist egal, ob wir dafür jede einzelne Menschenstadt auf den Kopf stellen müssen.«
»Wo wollt ihr anfangen?«, fragte Dex.
»Einfach irgendwo, schätze ich«, antwortete Sophie leise. »Laut Grady hat Keefe den blauen Kristall an seinem Wegfinder wahllos auf eine Facette gedreht und ist dann einfach losgesprungen.«
»Woher hatte er denn einen blauen Kristall?«
»Wahrscheinlich von seinem herzallerliebsten Vater«, knurrte Ro. »Hammerhaar hat immer damit geprahlt, dass er ihm das Ding früher ständig geklaut hat.«
»Glaubst du, Lord Cassius weiß, in welche Städte sein Wegfinder führt?«, fragte Sophie.
»Das muss er«, erwiderte Dex. »Sonst könnte er ihn gar nicht benutzen.«
Ein Funken Hoffnung flammte in ihr auf. »Wie’s aussieht, müssen wir den Gestaden des Trostes wohl einen kleinen Besuch abstatten.«
Ro steckte ihren Dolch wieder weg, streckte die Arme aus und ließ ihre Knöchel knacken. »Ich hoffe wirklich, Lord Wichtigtuer macht auf extraschwierig. Ich hab Lust, auf irgendwas einzuschlagen.«
Auch Sophie käme ein Anlass dafür nicht ganz ungelegen.
»Gib mir Bescheid, falls ich euch irgendwie helfen kann«, sagte Dex. »Und halt mich auf dem Laufenden, ja?«
»Mach ich. Und … danke, dass du mir alles erzählt hast. Ich weiß, dass das nicht leicht für dich war.«
»Nichts ist mehr leicht«, murmelte Dex.
»Stimmt«, nickte Sophie und wünschte, sie könnte ihn durch den winzigen Bildschirm hindurch in den Arm nehmen.
Doch das konnte sie nicht.
Genauso wenig wie sie ihm versprechen konnte, dass alles gut werden würde.
Sie konnte nur weitermachen.
Es weiter versuchen.
Weiterkämpfen mit allem, was sie hatte.
Und stets auf das Beste hoffen.
Wo ist mein Sohn?«
Natürlich empfing Lord Cassius sie mit exakt der Frage, die Sophie um jeden Preis hatte vermeiden wollen.
Während sie zu den Gestaden des Trostes teleportiert waren, war ihr bewusst geworden, dass Keefes Vater überhaupt keine Ahnung vom Verschwinden seines Sohnes hatte – und dass es vermutlich besser war, daran fürs Erste auch nichts zu ändern. Doch Lord Cassius würde niemals irgendwelche Fragen zu seinem Wegfinder beantworten, ohne zu wissen, weshalb Sophie sie ihm stellte. Und einen Empathen anzulügen, war lästigerweise eine ziemliche Herausforderung.
Deshalb kam sie direkt zur brutalen Wahrheit: »Keefe ist weggelaufen.«
Normale Eltern hätten geweint – eine Panikattacke bekommen – Sophie mit Fragen bombardiert.
Lord Cassius hingegen glättete nur sein ohnehin perfekt sitzendes blondes Haar und trat einen Schritt beiseite, um Sophie, Ro und Sandor in sein schickes Strandhaus zu lassen.
Er führte sie in den hintersten Winkel des Anwesens, auf eine von Bougainvillea gesäumte Terrasse mit Meerblick, und ließ sich auf der einzigen Sitzgelegenheit nieder, einer mit abgenutzten türkisen Polstern bedeckten Liege.
»Ich vermutete schon, dass das passieren würde«, sagte er und schnipste eine winzige Fluse von seinem grauen Umhang. »Wäre Keefe mit mir nach Hause gekommen –«
»Wäre er noch schneller davongerannt«, beendete Ro den Satz für ihn. »Und hätte dabei wohl ein Keefe-förmiges Loch in der Wand hinterlassen.«
Lord Cassius’ Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, doch es wirkte düster, verzerrt. »Ziemlich forsch für jemanden, deren Aufgabe es war zu verhindern, dass es überhaupt dazu kommt.«
»Tja, und war es nicht Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass niemand gruselige Experimente an Ihrem Sohn durchführt, statt ihn noch vor seiner Geburt dafür als Freiwilligen zu melden?«, fauchte Ro zurück. »Und da wir schon mal bei mangelnder Pflichterfüllung sind, können wir gleich auch noch eine andere Tatsache erwähnen: Väter sind nämlich außerdem dafür verantwortlich, dass ihre Kinder sich glücklich, geborgen und geliebt fühlen!«
»Ist es das, was deine Narbe beweisen soll?«, erwiderte Lord Cassius mit Bezug auf das gezackte Mal, das sich über die gesamte Länge von Ros Wirbelsäule erstreckte. »Die Liebe deines Vaters?«
Ro fasste sich an den Rücken und fuhr mit den Fingern sanft über das raue, erhabene Gewebe. »Sie haben recht. Mein Vater hat mich damit gezeichnet – so wie er es auch bei allen übrigen seiner vertrauenswürdigsten Krieger getan hat. Und dabei habe ich seinen Stolz gespürt, seinen Respekt – und ja, auch seine Liebe. Kann Keefe dasselbe von irgendetwas behaupten, das Sie jemals für ihn getan haben?« Sie wartete, bis Lord Cassius’ Lächeln verblasst war, bevor sie hinzufügte: »Ihr Elfen redet gern über uns Oger, als wären wir kaltherzige, grausame Bestien. Aber ich habe noch nie etwas Kaltherzigeres und Grausameres gesehen als die Art, wie Sie Ihren Sohn behandeln.«
Sophie hätte Ro am liebsten auf ihre Schultern gehoben und in einem Triumphzug durch den Raum getragen – doch dann hätte Keefes Vater sie wahrscheinlich hochkant rausgeworfen.
Trotzdem hoffte sie, dass Lord Cassius ihren durch die Luft wirbelnden Abscheu spürte.
Er wandte den Blick ab und starrte auf den sich verdunkelnden Horizont. »Wie lange ist Keefe schon fort?«
»Seit ein paar Stunden«, antwortete Sophie. »Und wir sind uns ziemlich sicher, dass er Ihren Wegfinder benutzt hat, um zu verschwinden, deshalb brauche ich eine Liste mit sämtlichen Orten, an die er führt.«
»Das wird eine sehr lange Liste werden.«
»Wie lang?«, wollte Sandor wissen.
»Lang. Der Hohe Rat hat mir die höchste Sicherheitsfreigabe erteilt. Ich war einer ihrer wichtigsten Abgesandten –«
»Mir ist völlig egal, wie lang die Liste ist«, unterbrach Sophie ihn, ehe er zu einer Rede darüber ansetzen konnte, wie fantastisch er war.
»Das sollte es aber nicht. Es sind über einhundert Städte. Und mein Sohn hat vermutlich vor, jede einzelne davon aufzusuchen.« Er faltete gelassen die Hände im Schoß. »Keefe dürfte inzwischen klar geworden sein, dass seine Mutter meinen Wegfinder im Lauf der Jahre immer wieder ohne mein Wissen benutzt hat. Sicher hofft er, eins ihrer geheimen Verstecke zu finden. Er hat die Sinnlosigkeit derartiger Unterfangen noch immer nicht akzeptiert. Und auch du kannst nicht akzeptieren, wie sinnlos es ist, kreuz und quer über den Planeten zu springen, um einen Jungen aufzuspüren, der ganz offenbar nicht gefunden werden will.«
»Einen verängstigten Jungen, der keine Ahnung hat, wie man in den Verbotenen Städten überlebt«, konterte Sophie. »Ich kann nicht glauben, dass Sie –«
Sie brach den Satz ab.
Es war keine Überraschung, Lord Cassius nicht im Geringsten besorgt zu sehen.
»Immer diese Verurteilungen«, murmelte er und fuhr mit den Fingern durch die Luft, um ihre Emotionen zu lesen. »Es ist fast, als hättest du vergessen, was du in meinem Geist gefunden hast.«
Sophie rollte mit den Augen.
Sie hatte tatsächlich ein paar Erinnerungen entdeckt, die bewiesen, dass er seinen Sohn wirklich liebte – aber die zählten nicht. Er hatte diese Gefühle zu tief begraben, mit der Begründung, Liebe würde alles nur verkomplizieren.
Er seufzte. »Zuneigung nimmt die unterschiedlichsten Formen an. Sogar das Eingeständnis einer Niederlage. Deshalb bin ich auch bereit zuzugeben, dass ich niemals in der Lage war – und niemals in der Lage sein werde –, meinen Sohn zu zügeln. Niemand kann das. Noch nicht einmal du – auch wenn du es gewiss weiterhin versuchen wirst. Du bist sogar noch starrköpfiger als er. Doch die gute Nachricht ist: Meine Frau ist von euch allen womöglich die Starrköpfigste – und sie hat törichterweise darauf bestanden, Keefe zu einem entscheidenden Teil ihres Plans zu machen. Ich vermute, dies wird letzten Endes ihren Untergang bedeuten – was ziemlich poetisch wäre, findet ihr nicht auch?«
Das wäre es.
Doch Sophie war nicht in der Stimmung, ihm recht zu geben.
»Möchten Sie, dass ich Ihnen ein Blatt Papier bringe?«, fragte sie. »Oder soll ich mir die Städteliste einfach aus Ihrem Geist holen?«
Eigentlich hatte sie die zweite Option als Drohung gemeint, aber Lord Cassius schenkte ihr ein weiteres schiefes Lächeln und erwiderte: »Letzteres dürfte wesentlich praktischer sein.«
Sophie blickte zu Ro und Sandor.
»Hey, wenn Lord Grusel unbedingt will, dass du in seinem Kopf rumwühlst, dann nur zu«, sagte Ro. »So kannst du all seine peinlichen Geheimnisse gleich mit ans Licht zerren!«
»Oder es ist bloß ein Trick«, warnte Sandor.
Lord Cassius schnalzte mit der Zunge. »Muss ich euch wahrhaftig erst daran erinnern, dass wir auf derselben Seite stehen?« Er fasste unter seine Tunika und zeigte ihnen das Schwanenhalsmonokel, das er nach seinem Treueschwur von Black Swan erhalten hatte. »Euer Kollektiv vertraut mir. Gewiss könnt ihr dasselbe –«
»Was für einen Auftrag haben sie Ihnen erteilt?«, unterbrach Sophie ihn.
Bei ihrer letzten Begegnung hatte Lord Cassius einen Auftrag für Black Swan erwähnt, ihr aber nicht verraten, worum es sich dabei handelte.
»Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen vertraue«, fügte sie hinzu, »dann sollten Sie mir sagen, woran Sie arbeiten.«
Er schnipste noch mehr unsichtbare Flusen weg. »Mein Auftrag ist streng geheim.«
»Aber wenn Sie Blondie in Ihren Kopf lassen, kann ihr Superhirn doch sowieso rausfinden, was sie wissen will«, wandte Ro ein. »Es hat also gar keinen Sinn, irgendwas vor ihr geheim zu halten.«
»Vielleicht nicht vor ihr. Allerdings ist sie ja nicht allein hier, oder?« Er beugte die Knie und zog die Füße zu sich heran, dann deutete er auf den nun freien Platz auf dem Sofa. »Du ziehst es vor zu sitzen, während du dich deiner Telepathie bedienst, nicht wahr, Sophie?«
Sophie starrte auf die unförmigen Polster.
»Solltest du Antworten und diese Liste wollen«, blaffte er, »so hast du meine Erlaubnis, in meinen Geist einzudringen. Andernfalls findet ihr sicher allein wieder hinaus.«
Er zog herausfordernd eine Augenbraue hoch und sah seinem Sohn dadurch viel ähnlicher – wenn Keefe genauso hart und kalt gewesen wäre und genauso …
Traurig.
»Na schön«, willigte Sophie schließlich ein und setzte sich auf die äußerste Sofakante. »Aber es wird Ihnen nicht gefallen.«
»Oh, da bin ich mir ganz sicher. Doch nur zu: Fangen wir an.« Mit einer schwungvollen, kreiselnden Geste lud er sie in seinen Geist ein.
Sophie schloss die Augen und ließ ihr Bewusstsein stahlhart werden – wie eine Panzerung, deren Kanten gerade scharf genug waren, um seine mickrigen geistigen Barrieren mit einem schnellen Stoß zu durchdringen.
Okay, bringen wir’s hinter uns, übermittelte sie ihm. Ich muss wissen …
Ihr Satz verebbte, als sie das Durcheinander wahrnahm.
Lord Cassius’ Geist war stets makellos gewesen – penibel geordnet und streng organisiert, so als wäre sein Kopf eine stickige Bibliothek, in der niemand auch nur ein einziges Buch berühren durfte.
Nun jedoch wirkte er wie durch ein Erdbeben verwüstet: Sämtliche Erinnerungen waren über den Boden verstreut, aufgetürmt zu einem wirren Gebirge, laut und grell, blitzend und dröhnend, wie Berge aus kaputten Fernsehern.
Du gewöhnst dich schon an den Lärm, dachte Lord Cassius, während Sophie die Hände hob, um ihre Schläfen zu massieren.
Sie bezweifelte es.
Bei jedem anderen hätte sie sich vergewissert, dass es ihm gut ging.
Stattdessen übermittelte sie: Woran arbeiten Sie für Black Swan?
Es hat nichts mit dem geistigen Chaos zu tun, das du hier siehst, falls du dich das gefragt hast. Ebenso wenig wie es das Ausmaß an Verärgerung rechtfertigt, das ich spüren konnte, als ich dir erklärte, der Auftrag sei streng geheim. Du verabscheust Geheimnisse wirklich, stimmt’s?
Tue ich, bestätigte Sophie.
Und dennoch versteckst du selbst mehr als sonst irgendjemand, nicht wahr? Unsere furchtlose Mondlerche mit ihrem undurchdringlichen Geist. Die Anführerin von Team Kämpferherz, die nach der Pfeife des Hohen Rats tanzt –
Sie haben meine Frage nicht beantwortet, schnitt Sophie ihm das Wort ab.
Ein tiefes Rumpeln ließ die Erinnerungsberge erzittern und Lord Cassius schien Mühe zu haben, sich zu beherrschen. Es war nicht gelogen, als ich behauptete, der Auftrag sei streng geheim. Aber bevor du wieder einen Trotzanfall kriegst –
Ich kriege keine Trotzanfälle!
Natürlich nicht. Genauso wenig wie du dich gerade an eins meiner Kissen klammerst und versucht bist, es mir ins Gesicht zu schleudern.
Sophie löste ihren Griff um das Kissen. Daher hat Keefe also seine nervtötende Seite.
Ich schätze, das wäre möglich. Sein Geist hellte sich bei dem Gedanken ein wenig auf. Aber wie ich bereits vor deiner unnötigen Unterbrechung zu sagen versuchte: Du kannst dir zur Befriedigung deiner Neugier gewiss ausreichend viel zusammenreimen, wenn ich dir verrate, dass mein Auftrag mit ins Stocken geratenen Vertragsverhandlungen zu tun hat.
Sophie brauchte ein paar Sekunden, um den Zusammenhang herzustellen. Meinen Sie die Verhandlungen mit den Trollen?
Ich jedenfalls weiß von keinen anderen Verhandlungen, die derzeit im Gange sind – du etwa?
Nein, Sophie ebenfalls nicht. Allerdings hatte sie die Angelegenheit mit den Trollen auch für längst geklärt gehalten. Obwohl sie es eigentlich hätte besser wissen sollen, da Tarina noch immer nicht auf ihren Posten als Sophies Leibwächterin zurückgekehrt war.
Warum sind die Verhandlungen denn ins Stocken geraten?, fragte sie.
Was glaubst du wohl? Du und deine Freunde habt innerhalb unserer Grenzen einen illegalen Hort entdeckt, randvoll mit blutrünstigen, genmanipulierten Neugeborenen, die ganz offensichtlich zu einem laufenden Experiment gehörten.
Schlagartig hatte Sophie wieder Bilder von zerfetzenden Krallen und bluttriefenden Zähnen vor Augen, deshalb brauchte sie einen Moment, um das entscheidende Wort in diesem Satz zu bemerken.
Laufenden? Heißt das, es gibt noch mehr Horte?
Genau das würde der Hohe Rat gern herausfinden. Zumal Kaiserin Pernille die Grenzübergänge nach Marintrylla inzwischen geschlossen hat und nun einen ähnlichen Vertrag fordert, wie ihn König Dimitar nach der Zerstörung von Ravagog verlangte. Sie will sämtliche Verbindungen zu den Verlorenen Städten kappen und die Trolle komplett isolieren.
