Keeper of the Lost Cities – Die Flut - Shannon Messenger - E-Book

Keeper of the Lost Cities – Die Flut E-Book

Shannon Messenger

0,0
14,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Keeper of the Lost Cities. Die Flut 
Ein episches Fantasy-Abenteuer der preisgekrönten Bestsellerautorin Shannon Messenger. Die fantastische Reihe um Elfen, Freundschaft und Magie mit jeder Menge Spannung für Mädchen und Jungen ab 12 Jahren.    

Der sechste Band des mitreißenden Abenteuers
Sophies menschliche Familie wurde entführt! Sophie will sie unbedingt retten. Alle Spuren führen Sophie und ihre Freunde zu einem geheimnisvollen Ort namens Nightfall. Doch was sie dort herausfinden, wird nicht nur die Welt der Elfen für immer verändern …  

  • Das ideale Geschenk: Perfekter Lesestoff für Jungen und Mädchen ab 12 Jahren 
  • Wie eine richtig gute, actiongeladene Serie: Ein Jugendbuch über Fabelwesen, Magie, Liebe und Freundschaft
  • So macht Lesen Spaß: Fantastische Welten, starke weibliche Charaktere, verblüffende Wendungen und atemlose Spannung 
  • Zeitloses Fantasy-Epos: Fans von „Woodwalkers“, „Land of Stories“ und „Harry Potter“ werden dieses Buch verschlingen 
  • Extra-Motivation: Zu diesem Buch gibt es ein Quiz bei Antolin  


„Keeper of the Lost Cities. Die Flut“ ist der sechste Teil der preisgekrönten magischen Fantasy-Reihe – voller Zauber, Action und Abenteuer!    

Alle Bände dieser Reihe:
Band 1: Keeper of the Lost Cities. Der Aufbruch (9783845840901)
Band 2: Keeper of the Lost Cities. Das Exil (9783845840918) 
Band 3: Keeper of the Lost Cities. Das Feuer (9783845844541)
Band 4: Keeper of the Lost Cities. Der Verrat (9783845846293) 
Band 5: Keeper of the Lost Cities. Das Tor (9783845846309) 
Band 6: Keeper of the Lost Cities. Die Flut (9783845846316) 
Band 7: Keeper of the Lost Cities. Der Angriff (9783845846323) 
Band 8: Keeper of the Lost Cities. Das Vermächtnis (9783845846330)
Band 8,5: Keeper of the Lost Cities. Entschlüsselt (9783845851488) 
Band 9: Keeper of the Lost Cities. Sternenmond (9783845851495) - erscheint im August 2023


Weitere Bände sind in Planung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Noch mehr Freude … 

… mit Kinderbüchern für pures Vergnügen!

www.arsedition.de

Das Neuste von arsEdition im Newsletter:

abonnieren unter www.arsedition.de/​newsletter

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe München 2022

Text copyright © 2017 by Shannon Messenger

Titel der Originalausgabe: Keeper of the Lost Cities – Nightfall

Die Originalausgabe ist 2017 bei Simon and Schuster (Aladdin) erschienen.

© 2022 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D-80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Doris Attwood

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung des Originalcovers

Coverillustration: Jason Chan, Typografie von geen graphy/shutterstock.com und Bildmaterial von StunningArt/shutterstock.com

Design: Karin Paprocki

Innenvignetten: Bildmaterial von Spicy Truffel/shutterstock.com

Satz: Müjde Puzziferri, MP Medien, München

ISBN eBook 978-3-8458-4643-9

ISBN Printausgabe 978-3-8458-4631-6

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Für Nadia und Roland,

die beste Nichte und den besten Neffen, die sich eine Tante nur wünschen kann

(und das nicht *nur*, weil ihr beide die einzigen seid –

obwohl das natürlich hilft)

;)

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

DANKSAGUNGEN

ÜBER DIE AUTORIN

Prolog

Sophie starrte auf den glänzenden Pfad, der sich abwärtsschlängelte. Tiefer. Und tiefer.

Bis er schließlich weit unten in den nebligen Schatten verschwand.

Dieser Weg aus uralten silbernen und goldenen Steinen sollte eigentlich gar nicht existieren – und doch war er die ganze Zeit dort gewesen.

Mit seiner Umgebung verschmolzen.

Unter Lügen begraben.

Aus dem Gedächtnis gelöscht.

Aber nie wirklich fort.

Sie blickte zu ihren Freunden, die sich für den gefährlichen Weg wappneten, der vor ihnen lag. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern war derselbe wie bei ihr selbst.

Zögernd. Verunsichert. Aber auch: bereit.

Was immer sie in dieser unergründlichen Tiefe erwartete, war viel mehr als ein Geheimnis.

Es war eine Antwort.

Eine Wahrheit.

Und es war Zeit, sie aufzudecken.

Zeit, nicht mehr an die hübschen Geschichten zu glauben, die man ihnen ihr ganzes Leben lang aufgetischt hatte.

Zeit, sich etwas zurückzuholen.

Und gemeinsam – vereint – fassten sie sich bei den Händen und machten sich an den langen, rutschigen Abstieg.

In die Vergangenheit.

Ins Dunkel.

1

Du erinnerst dich an mich?«

Die Frage rutschte Sophie heraus, bevor sie sie zurückhalten konnte, und die bedeutungsschweren Worte schienen dumpf auf dem Boden des unordentlichen Schlafzimmers aufzuschlagen.

Das zitternde Mädchen, das vor ihr stand, blickte sie mit weit aufgerissenen Augen an und nickte, und Sophie ging das Herz auf, während es ihr gleichzeitig in die Hose rutschte.

Ihre kleine Schwester sollte sich nicht an sie erinnern.

Genau genommen war sie noch nicht mal ihre Schwester – zumindest nicht genetisch betrachtet. Sicher, sie waren zusammen im selben Haus in San Diego in Kalifornien aufgewachsen und hatten beide geglaubt, sie hätten dieselben Eltern. Trotz der Tatsache, dass Sophies blondes Haar und braune Augen überhaupt nicht zu ihrer helläugigen brünetten Familie passten.

Aber das war vorher gewesen.

Jetzt waren sie im Nachher.

In einer Welt, in der Elfen wirklich existierten – und überhaupt nichts mit den Geschöpfen der albernen, von den Menschen erfundenen Geschichten gemein hatten. Elfen waren wunderschön. Mächtig. Praktisch unsterblich. Lebten in verborgenen glitzernden Städten rund um den Globus. Beherrschten die Welt aus den Schatten.

Und Sophie war eine von ihnen.

Geboren unter den Menschen – aber kein Mensch. Das Ergebnis eines geheimen genetischen Experiments einer Rebellenorganisation, das den Namen Projekt Mondlerche trug. Ihre DNA war manipuliert worden. Ihre Fähigkeiten verstärkt und verändert. Um Sophie in etwas Besonderes zu verwandeln.

Etwas Mächtiges.

Etwas, das sie noch immer nicht völlig verstand.

Nachdem Sophie sich jahrelang immer irgendwie fehl am Platz gefühlt hatte – selbst im Kreis der Familie, die sie liebte –, hatten die Elfen ihr endlich die Wahrheit über ihr Leben offenbart und sie in die Verlorenen Städte zurückgeholt. Sie hatten vorgehabt, ihren Tod vorzutäuschen, um ihr Verschwinden zu erklären, aber Sophie hatte sie gebeten, sie stattdessen aus dem Gedächtnis ihrer Familie zu löschen, um ihren Eltern die Trauer über den Verlust eines Kindes zu ersparen. Die Erinnerungen ihrer Familie waren dabei von speziell ausgebildeten Telepathen »gewaschen« worden, damit ihre Eltern und ihre Schwester vergaßen, dass Sophie überhaupt existierte. Außerdem hatte man die drei in eine neue Stadt umgesiedelt, mit neuen Namen, neuer Schule und neuer Arbeit, in dieses schicke Tudorstil-Haus, in dem Sophie nun stand, umgeben von altmodischen Fenstern und holzverkleideten Wänden.

Aber gelöschte Erinnerungen verschwanden niemals wirklich. Es brauchte nur den richtigen Auslöser und …

»Ich verstehe das nicht«, flüsterte ihre Schwester und rieb sich die Augen, als könnte sie dadurch ändern, was sie vor sich sah. »Du … solltest nicht hier sein.«

Die Untertreibung des Jahrhunderts.

Eigentlich sollte Sophie weder die neuen Namen ihrer Familie kennen noch wissen, wo sie lebten, und es war ihr definitiv nicht erlaubt, sie zu besuchen – damit so etwas wie das hier niemals passierte.

Und dennoch, da stand sie nun und errichtete eine geistige Barriere, um die chaotischen Gedanken ihrer Schwester abzuhalten, die durch ihr Bewusstsein galoppierten wie eine panische Mastodonherde. Der Geist der Menschen war offener als der Geist der Elfen und sandte alles, was sie dachten, in voller Lautstärke aus.

»Hör mal, Amy –«

»So heiße ich nicht!«

Sophie hätte sich für diesen Ausrutscher am liebsten selbst einen Tritt verpasst. »Stimmt, ich meinte –«

»Warte.« Ihre Schwester wiederholte den Namen noch ein paarmal stumm, so als würden ihre Lippen sich wieder daran erinnern, wie er sich anfühlte. »Tue ich doch, oder? Ich bin … Amy Foster?«

Sophie nickte.

»Und wer ist dann Natalie Freeman?«

»Das bist … auch du.«

Amy – Natalie – oder wie immer Sophie sie auch nennen sollte, presste sich stöhnend die Finger an die Schläfen.

»Ich weiß, wie verwirrend das sein muss«, versicherte Sophie ihr. Ausgelöste Erinnerungen kehrten oft nur sehr bruchstückhaft zurück und hinterließen zahlreiche Lücken. »Ich verspreche, dass ich dir alles erklären werde, aber –«

»Nicht jetzt«, beendete eine klare, akzentuierte Stimme den Satz für sie.

Sophie zuckte zusammen. Sie hatte beinahe vergessen, dass sie für die komplizierteste Familienzusammenführung in der Geschichte der Familienzusammenführungen ein Publikum hatten.

»Wer seid ihr?«, fragte ihre Schwester und wich vor den beiden Jungs zurück, die hinter Sophie standen.

»Das ist Fitz«, sagte Sophie und zeigte auf einen dunkelhaarigen Jungen mit leuchtenden aquamarinblauen Augen, der er ihr ein Lächeln schenkte, das jeden Hollywoodstar in den Schatten gestellt hätte. »Und das ist Keefe.«

Keefe schaute ihre Schwester mit seinem berühmten schiefen Grinsen an und hob eine Hand, um sein perfekt gestyltes blondes Haar glatt zu streichen. »Keine Sorge – wir gehören alle zum Foster-Fanklub.«

»Sie sind meine Freunde«, stellte Sophie klar, als ihre Schwester einen weiteren Schritt zurückwich. »Du kannst ihnen vertrauen.«

»Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich dir vertrauen kann.« Sie kniff die Augen zusammen und musterte Sophies Kleidung: eine eng anliegende violette Tunika mit schwarzen Leggings, Stiefeln und bis übers Handgelenk reichenden Handschuhen. Auch Fitz und Keefe trugen Tunika und Hose, und auch wenn ihre Klamotten gar nicht mal so elfenmäßig aussah, stach es im Vergleich zu der Jeans und dem TARDIS-T-Shirt von Sophies Schwester doch ziemlich hervor.

»Du hast uns immerhin schon genug vertraut, um aus deinem Versteck zu kommen, oder?«, fragte Keefe und zeigte auf die noch immer offen stehende Tür des Wandschranks.

Sophies Schwester drehte sich zu der dunklen Nische um, aus der sie aufgetaucht war. Auf dem Boden der Kammer lag ein riesiger Kleiderberg. »Ich bin nur rausgekommen, weil ich euch hab sagen hören, dass ihr meine Eltern wieder zurückholen wollt.«

Und da war er. Der Grund dafür, dass Sophie sämtliche Regeln gebrochen und in die Verbotenen Städte geeilt war, um nach ihrer Familie zu sehen. Sie hatte sich monatelang darauf konzentriert, ihre elfischen Adoptiveltern zu beschützen, nachdem Keefe sie gewarnt hatte, dass ihr Vater und ihre Mutter in Gefahr schwebten. Doch dabei hatten sie beide völlig vergessen, dass Sophie noch eine zweite Familie hatte, um die sie sich Sorgen machen musste – eine Familie ohne mächtige Fähigkeiten und Leibwächter, die dafür sorgten, dass sie in Sicherheit waren.

»Könnt ihr Mom und Dad wirklich finden?«, flüsterte ihre Schwester, als wollte sie das Stichwort liefern, damit Sophie ihr sagte: »Natürlich können wir das! Alles wird wieder gut!«

Und Sophie hätte es gern gesagt. Aber … die Neverseen steckten hinter der Sache.

Dieselben Bösewichte, die Sophie entführt und gefoltert und Leute, die ihr unendlich wichtig gewesen waren, sogar getötet hatten. Und ganz gleich wie hart Sophie auch dafür kämpfte, sie aufzuhalten, sie schienen ihr immer zehn Schritte voraus zu sein.

Keefe nahm ihre zitternde Hand. »Wir bringen sie wohlbehalten wieder zurück. Das verspreche ich dir.«

Aus seiner Stimme sprach pure Entschlossenheit. Aber Sophie konnte sehen, wie ein Schatten seine eisblauen Augen verdunkelte.

Schuldgefühle.

Vor ein paar Monaten war Keefe davongelaufen, um sich den Neverseen anzuschließen. Er hatte vorgehabt, als Doppelagent die verbrecherische Organisation von innen heraus zu zerstören. Aber sie hatten ihn die ganze Zeit nur an der Nase herumgeführt und ihn dazu gebracht, Sophie und ihre Freunde auf falsche Fährten zu schicken.

Ein Teil von Sophie hätte Keefe am liebsten weggestoßen, damit er die Schuld für all die schrecklichen Dinge, die geschehen waren, allein schulterte. Aber tief im Inneren wusste sie, dass er nicht der Einzige war, der die Warnsignale übersehen hatte. Außerdem arbeitete er seither jeden Tag daran, seine Fehler wiedergutzumachen. Und davon abgesehen war es gefährlich zuzulassen, dass er sich schuldig fühlte. Der Geist der Elfen war zu zerbrechlich für eine derartige Belastung.

Deshalb drückte Sophie nun seine Hand, schob ihre Finger zwischen seine und drehte sich wieder zu ihrer Schwester um. »Es würde helfen, wenn du uns alles über die Leute erzählen könntest, die Mom und Dad mitgenommen haben.«

Ihre Schwester schlang sich die Arme um den Bauch, der nicht mehr so rundlich war wie in Sophies Erinnerung. Außerdem sah sie größer aus und ihr lockiges braunes Haar war kurz geschnitten. Tatsächlich wirkte alles an ihr so viel älter als die aufgedrehte Neunjährige, die sie gewesen war, als Sophie ihre Familie verlassen hatte. Dabei war es noch nicht mal ganz zwei Jahre her.

»Ich kann mich nicht an besonders viel erinnern«, murmelte ihre Schwester. »Dad hat mir bei den Hausaufgaben geholfen, als wir unten plötzlich fremde Stimmen gehört haben. Er hat mir gesagt, dass ich still sein soll, während er runtergeht und nachschaut, was los ist. Aber ich hab mich zur Treppe geschlichen und …« Sie schluckte schwer. »Ich hab vier Leute im Wohnzimmer gesehen. Sie hatten lange schwarze Umhänge an, mit diesen unheimlichen weißen Augen auf den Ärmeln. Mom war ohnmächtig und einer von ihnen hat sie sich über die Schulter geworfen, während ein anderer ein Tuch auf Dads Mund gepresst hat. Ich wollte runterrennen und ihnen helfen, aber … Sie waren so viele. Ein paar Sekunden später hat Dad sich auch nicht mehr bewegt. Ich hab versucht, zu einem Telefon zu krabbeln und die Polizei zu rufen, aber dann hab ich gehört, wie sie gesagt haben, dass sie den Rest des Hauses durchsuchen wollen, deshalb hab ich mich im nächstbesten Schrank versteckt und mich unter lauter Klamotten vergraben.«

Sophie stellte sich die Szene vor und erschauderte. Sie spürte ein brennendes Kribbeln in der Nase, als sie sich an den widerlich süßlichen Geruch des Betäubungsmittels erinnerte, das die Neverseen bei ihren Entführungen bevorzugt einsetzten. »Konntest du ihre Gesichter erkennen?«

»Sie hatten die ganze Zeit ihre Kapuzen auf. Aber einer von ihnen …«

»Einer von ihnen was?«, drängte Sophie sie.

»Ihr würdet mir sowieso nicht glauben.«

»Versuch’s mal«, erwiderte Keefe. »Du wärst überrascht, was wir alles glauben, seit wir mit der hier rumhängen.«

Er knuffte Sophie sanft mit dem Ellenbogen in die Seite. Sie wusste, dass er die angespannte Situation nur ein wenig auflockern wollte. Humor war für Keefe stets das Mittel der Wahl, um mit Dingen klarzukommen.

Aber Sophie war nicht nach Frotzeleien zumute. Vor allem als ihre Schwester flüsterte: »Einer von ihnen ist immer wieder irgendwie verschwunden. Es ging blitzschnell, so als hätte er sich dauernd aus- und wieder angeknipst.«

Fitz murmelte leise etwas und sagte dann: »Das war Alvar.«

»Ihr kennt ihn?«

»Er hat eine Menge schlimmer Dinge getan«, antwortete Sophie hastig und schoss Fitz einen Bitte-sag-ihr-nicht-dass-er-dein-Bruder-ist-Blick zu. Sie bezweifelte, dass es dabei helfen würde, das Vertrauen ihrer Schwester zu gewinnen.

»Wie konnte er einfach so verschwinden?«, flüsterte sie. »Es sah beinahe aus wie …«

»Magie?«, riet Sophie mit einem traurigen Lächeln. »Ich weiß noch, dass ich das auch dachte, als ich es zum ersten Mal gesehen habe. Aber er ist ein sogenannter Entschwinder. Er tut nichts weiter, als das Licht zu beeinflussen.«

»Und was ist mit dieser Gedankenlesesache?«, fragte ihre Schwester. »Einer von ihnen hat gesagt, dass er nach Gedanken in der Nähe horchen will, während er das Haus durchsucht, deshalb hab ich an Dunkelheit und Stille gedacht, nur für den Fall.«

»Das war wirklich schlau von dir«, erwiderte Sophie und war erstaunt, dass sie es tatsächlich geschafft hatte.

Ihre Schwester zuckte mit den Schultern. »Ich hab ’ne Menge Filme gesehen. Aber … hätte er das wirklich tun können?«

»Wenn er Telepath war«, antwortete Fitz. »Ich vermute, es war Gethen.«

Der Name schleuderte Sophie in einen Albtraum aus einstürzenden Festungsmauern und Labyrinthen aus Schutt und Ruinen. Schreie gellten in ihren Ohren, als die Welt sich rot färbte – rot von ihrer Wut, aber vor allem durch eine Wunde, die so tief war, dass sie die Blutung nicht stoppen konnte.

Sie atmete langsam ein und aus, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, und konzentrierte sich auf die Gefühle, die in ihr tobten. Sie stellte sich ihre Wut, Angst und Trauer als dicke Stränge vor, bevor sie sie unterhalb ihrer Rippen zu einem Knoten verschnürte. Das hatte sie von ihrem Bewirkenmentor gelernt. Es gab ihr die Möglichkeit, die Dunkelheit anzunehmen und die darin steckende Kraft zu verwahren, um sie später nutzen zu können, wenn sie sie brauchte.

»Alles okay?«, fragte Keefe und umklammerte Sophies Hand noch fester.

Sie brauchte einen Moment, bis ihr bewusst wurde, dass er auch ihre Schwester meinte, die so blass geworden war, dass ihre Haut ein wenig grün schimmerte.

»Nichts davon sollte real sein«, flüsterte sie. »All diese Dinge, die ihr mir erzählt habt. Diese seltsamen Namen, die ihr die ganze Zeit benutzt. Oder dass Mom und Dad entführt wurden. Und dass du plötzlich aus dem Nichts hier auftauchst und ich das Gefühl habe, als … als hättest du schon die ganze Zeit da sein sollen. Und jetzt fühlt sich auch noch mein eigener Name falsch an. Und dieses Haus fühlt sich auch falsch an. Alles fühlt sich falsch an.«

Sophie zögerte einen Moment, doch dann ging sie auf ihre Schwester zu und legte ihr einen Arm um die Schultern. Sie hatten nie zu der Art von Geschwistern gehört, die einander ständig drückten, als sie noch zusammengelebt hatten. Eigentlich hatten sie sich die meiste Zeit nur gezankt.

Aber nach einer Sekunde erwiderte ihre Schwester die Umarmung.

»Wo warst du, Sophie? Und woher kennst du diese unheimlichen Leute?«

Sophie seufzte. »Das ist eine sehr lange, sehr komplizierte Geschichte. Ich werde sie dir erzählen, aber im Moment müssen wir uns darauf konzentrieren, Mom und Dad zu finden, okay? Hast du sonst noch irgendwas gehört, das uns weiterhelfen könnte?«

»Nur das, was ich euch schon gesagt habe: dass sie sie nach Nightfall bringen wollten. Wisst ihr, was das zu bedeuten hat?«

Sophie schaute zu Fitz und Keefe.

Das Wort war ihnen bislang erst einmal begegnet, und zwar in einer von Keefes kürzlich wiedergefundenen Erinnerungen. Es war Teil einer Inschrift aus elfischen Runen, die in eine mysteriöse, in einen Berg eingelassene silberne Tür graviert gewesen war:

Der Stern geht nur bei Nightfall auf.

Sie wussten nicht, was der Satz zu bedeuten hatte oder wohin die Tür führte, ja nicht einmal wo genau sie sich befand. Aber sie wussten, dass sie sich mit Keefes Blut öffnen ließ und dass seine Mutter – die einst zu den Anführern der Neverseen gehört hatte, bevor sie in einem Ogergefängnis eingesperrt worden war – das Ganze als sein »Vermächtnis« bezeichnet hatte.

Wenn diese Tür nach Nightfall führt, übermittelte Sophie Keefe, indem sie ihre Gedanken direkt in seinen Kopf schickte, bräuchten die Neverseen dann nicht auch dich, damit sie überhaupt reinkommen?

Keefe senkte den Blick. Bräuchten sie – wenn sie mein Blut nicht schon hätten.

WAS?

Ja … nicht so lustige Geschichte: Ich hab ein paar Blutstropfen für einen Teil des Geheimnisses eingetauscht, das ich brauchte, um die Verwahrer zu stehlen.

SOLL DAS EIN WITZ SEIN?

Als Verwahrer wurden die murmelgroßen Geräte bezeichnet, in die Mitglieder des Hohen Rats sogenannte Vergessene Geheimnisse übertrugen – Informationen, die man für zu gefährlich hielt, als dass irgendjemand sie in seinem Gedächtnis behalten sollte. Rat Kenric hatte seinen Verwahrer nach seinem Tod Sophie überlassen – und Keefe hatte ihn ihr gestohlen, um sich damit einen Platz bei den Neverseen erkaufen zu können. Aber er hatte ihn sich zurückgeholt, bevor er die Neverseen wieder verlassen hatte, und dabei auch gleich noch den Verwahrer mitgenommen, der Fintan gehörte, ihrem Anführer. Dex versuchte zurzeit, die Apparate mithilfe seiner Fähigkeiten als Technopath zu hacken. Aber selbst wenn sie dadurch irgendetwas Wichtiges herausfanden, hätte Sophie Keefe niemals vorgeschlagen, sein Blut gegen die Verwahrer zu tauschen.

Ich weiß, sagte Keefe. Es war nicht unbedingt meine brillanteste Idee. Aber ich dachte, ich stünde so kurz davor, die Neverseen auszuschalten, dass es sowieso keine Rolle mehr spielt. Und als Fintan mich darum gebeten hat, ihm etwas von meinem Blut zu geben, hab ich gesagt, dass er mir erst eine Frage beantworten muss, um mir zu beweisen, dass ich ihm vertrauen kann. Und als er es getan hat, musste ich auch meinen Teil der Abmachung erfüllen.

Aber ich dachte, du wolltest Tams Sprungkristall gegen diese Information tauschen, erwiderte Sophie. War das nicht der Grund, warum du mich in einem Versteck der Neverseen hast sitzen lassen?

Keefe zuckte zusammen.

Von all den Fehlern, die er während seiner Zeit bei den Neverseen gemacht hatte, war dies derjenige, den Sophie ihm am schwersten hatte verzeihen können.

Das war der Plan, gab Keefe zu. Aber Fintan hat mich nach meiner Rückkehr verhört und ich musste ihm den Kristall geben, damit er mir nicht den kompletten Arm verbrennt.

Sophie gefror das Blut in den Adern. Das hast du mir nie erzählt.

Ich weiß.

Beim Anblick der Schatten um seine Augen fragte sie sich, welche Albträume er sonst noch im Stillen durchlitten hatte. Aber diese Sorgen würden warten müssen. Im Moment hatten sie viel dringendere Probleme.

Glaubst du wirklich, Fintan hätte dir dazu verholfen, die Verwahrer zu stehlen, wenn sie tatsächlich von Bedeutung wären?

Und ob, Foster. Weil er nämlich keine Ahnung hatte, dass er mir den anderen Teil seines Codeworts schon vor Wochen verraten hatte, als er mal zu viel Prickelbeerwein intus hatte. Mein Blut einzutauschen, war eine miese Idee. Aber ich SCHWÖRE, dass die Verwahrer ein echter Hauptgewinn sind. Ich hätte es dir sagen sollen, und das hatte ich auchvor. Aber dann ist das alles in Lumenaria passiert und ich hab es einfach vergessen.

Sophie schloss die Augen und wünschte sich, sie könnte verhindern, dass die einstürzenden Mauern erneut in ihrem Gedächtnis aufblitzten. Doch die Erinnerung ließ sich einfach nicht ignorieren.

In einer einzigen Nacht hatten die Neverseen die prachtvolle leuchtende Festung der Elfen zerstört, während sich Sophie, der komplette Hohe Rat und die Anführer aller anderen intelligenten Spezies darin befunden hatten, um einen Friedensgipfel mit den Ogern abzuhalten. Die meisten Anführer hatten es ohne schlimmere Verletzungen nach draußen geschafft und Lumenaria wurde bereits wieder aufgebaut. Aber nichts konnte die Botschaft auslöschen, die die Neverseen ihnen an jenem Tag gesendet hatten – oder die Gefangenen wieder zurückbringen, die aus dem Kerkerverlies geflohen waren. Genauso wenig wie die Leben, die an jenem Tag ausgelöscht worden waren.

Ich bringe das wieder in Ordnung, okay?, sagte Keefe. Ich bringe alles wieder in Ordnung.

Du meinst, »wir«, korrigierte Sophie ihn. WIR bringen es wieder in Ordnung.

Wenn sie aus all den Katastrophen der vergangenen Monate eines gelernt hatten, dann dass keiner von ihnen auf eigene Faust arbeiten sollte. Es brauchte die besonderen Fähigkeiten und Ideen aller – und einen gewaltigen Haufen Glück –, wenn sie diese ganze Sache überstehen wollten.

Soll das heißen, dass du mich nicht hasst?, fragte Keefe. Seine geistige Stimme klang weicher, beinahe schüchtern.

Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich dich niemals hassen werde, Keefe.

Aber ich gebe dir ständig neue Gründe, deine Meinung doch noch zu ändern.

Ja, damit musst du wirklich mal aufhören. Sie schenkte ihm ein hal- bes Lächeln, das er erwiderte, als sie hinzufügte: Aber wir stecken da gemeinsam drin.

Team Foster-Keefe IST ziemlich cool.

Und Team Vacker-Foster-Keefe ist sogar noch besser, übermittelte Fitz und Sophie fragte sich, wie lange er sie schon belauscht hatte.

Fitz war einer von zwei Telepathen, die dazu in der Lage waren, an Sophies undurchdringlicher geistiger Blockade vorbeizukommen. Tatsächlich war er der einzige, nun, da MrForkle …

Sophie verdrängte den niederschmetternden Gedanken, nicht bereit, diese noch viel zu frische Wunde erneut aufzureißen.

Keine Sorge, sagte sie zu Fitz. Wir werden jede Hilfe brauchen, die wir kriegen können.

Aber wir brauchen einen VIEL cooleren Namen, warf Keefe ein. Wie wär’s mit Team Foster-Keefe und der Wunderknabe?

Fitz verdrehte die Augen.

»Warum starrt ihr euch denn alle die ganze Zeit so an?«, fragte Sophies Schwester und erinnerte die drei wieder daran, dass jemand ihre ziemlich lange telepathische Unterhaltung beobachtete.

»Wir versuchen nur herauszufinden, wo Nightfall sein könnte«, antwortete Sophie.

Sie würde ihrer Schwester irgendwann von ihren telepathischen Fähigkeiten erzählen müssen – genau wie von ihren anderen besonderen Talenten –, aber sie wollte ihr erst noch ein bisschen mehr Zeit geben, bevor sie die große »Ich-kann-Gedanken-lesen-Schmerzen-bewirken-jede-erdenkliche-Sprache-sprechen-und-die-Kräfte-anderer-Leute-verstärken«-Bombe platzen ließ. »Fällt dir sonst noch irgendwas ein, das vielleicht wichtig sein könnte?«

»Ich glaub nicht. Nachdem sie das mit Nightfall gesagt haben, ist es im Haus superstill geworden. Ich hab noch ein paar Minuten abgewartet, um ganz sicherzugehen, dass es nicht mehr gefährlich ist, und dann bin ich zu Moms Handy gerannt und hab den Notruf gewählt. Ich hatte Angst, die Polizei würde mich mitnehmen, wenn sie sehen, dass ich ganz allein hier bin, deshalb hab ich behauptet, ich wäre am Haus vorbeigegangen und hätte gesehen, wie ein paar Männer zwei Personen weggeschleppt haben. Ich hab mich zwischen den Bäumen versteckt, als die Polizisten aufgetaucht sind – aber vielleicht war das keine so gute Idee. Ich hab gehört, wie sie gesagt haben, dass sie meinen Notruf nur für einen Streich halten, weil es keine Anzeichen für einen Einbruch oder Diebstahl gibt. Einer von ihnen hat vorgeschlagen, in ein paar Tagen noch mal vorbeizukommen, aber bisher sind sie nicht wieder aufgetaucht.«

»Wie lange ist das her?«, fragte Fitz.

Ihr Kinn zitterte. »Fünf Tage.«

Keefe sah aus, als müsste er sich furchtbar zusammenreißen, um nicht laut zu fluchen. Auch Sophie hätte es liebend gern getan – oder gegen die Wände gehauen und geschrien, so laut sie nur konnte.

»Du glaubst doch nicht, dass es schon zu spät ist, oder?«, flüsterte ihre Schwester. »Du glaubst doch nicht, dass sie …?«

»Nein.« Sophie ließ das Wort durch ihren Kopf hallen, bis sie es sich selbst glaubte. »Die Neverseen brauchen sie lebend.«

»Wer sind die Neverseen?«, wollte ihre Schwester wissen. »Und was wollen sie von Mom und Dad?«

»Ich wünschte, das wüsste ich«, gestand Sophie. »Aber sie werden sie nicht umbringen.«

Zumindest noch nicht.

Die Neverseen versuchten, Sophie zu kontrollieren, seit sie von ihrer Existenz erfahren hatten, deshalb war sie sich sicher, dass sie ihre Eltern als schlimmstes aller Druckmittel einsetzen wollten, um sie zu erpressen. Doch es musste noch mehr dahinterstecken. Sonst hätten sie es Sophie auf jeden Fall direkt nach der Entführung wissen lassen.

Wenigstens ahnten die Neverseen nicht, dass ihre Schwester sie von Nightfall hatte reden hören. Also mussten die Freunde nichts weiter tun, als diese Tür zu finden – und Sophie hatte auch schon eine Idee, wie ihnen dies gelingen konnte.

Sie wünschte nur, sie müssten dafür nicht einem ihrer Feinde vertrauen.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte Keefe. »Und ich bin dabei. Bis zum bitteren Ende.«

»Wir wollen doch nichts überstürzen«, erwiderte Fitz und zeigte aus dem Fenster, wo der Himmel im Dämmerlicht verblasste. »Zuerst müssen wir mal von hier weg. Wahrscheinlich haben sie jemanden abgestellt, der das Haus überwacht und darauf wartet, dass wir auftauchen.«

Sophie nickte ihrer Schwester zu. »Geh und pack ein paar Sachen, so schnell du kannst. Du kommst mit mir.«

»Äh, das ist viel zu gefährlich«, warnte Fitz sie. »Wenn der Hohe Rat rausfindet –«

»Das werden sie nicht«, unterbrach Sophie ihn. »Sobald wir zurück sind, rufe ich das Kollektiv an.«

Black Swan – die Rebellenorganisation, die Sophie erschaffen hatte – verfügte über ein ausgedehntes Netzwerk an Geheimverstecken. Und die Anführer hatten Sophie noch nie enttäuscht, wenn sie ihre Hilfe benötigt hatte.

Andererseits war das gewesen, bevor MrForkle …

Diesmal konnte sie ihr Gehirn nicht davon abhalten, den Satz mit »ermordet worden war« zu beenden.

Sie legte sich eine Hand auf die Brust und tastete nach dem neuen Medaillon um ihren Hals, das die allerletzte Aufgabe enthielt, die MrForkle ihr mit seinen letzten Atemzügen übertragen hatte.

Wenn ein Elf starb, wurde seine DNA um einen Wanderlingsamen gewickelt, der dann in einem besonderen Wald eingepflanzt wurde. MrForkle hatte Sophie jedoch das Versprechen abgenommen, seinen Wanderlingsamen zu verwahren, und behauptet, sie würde schon wissen, wann und wo sie ihn einpflanzen sollte. Außerdem hatte er darum gebeten, seine Leiche aus dem Schutt der Ruinen fortzuschaffen, bevor jemand sie entdeckte, was bedeutete, dass nur eine Handvoll Leute von seinem Tod wussten. Doch der Rest ihrer Welt würde schon bald davon erfahren. Der Hohe Rat hatte zwar angesichts der Tragödie von Lumenaria die Schulferien an der Foxfire verlängert, aber der Unterricht sollte in weniger als zwei Wochen wieder beginnen – und eines von MrForkles geheimen Alter Egos war der Rektor der Akademie gewesen.

Keefe schob sich näher zu ihr und flüsterte: »Ich kümmere mich um deine Schwester, Foster. Das Versteck, in dem ich untergekrochen bin, ist zwar ziemlich klein und stinkt nach Sasquatchatem mit einem Hauch verfaulter Zehennägel, aber ich kann dir garantieren, dass uns dort niemand finden wird.«

Keefe war praktisch untergetaucht, seit er vor den Neverseen geflohen war – und sein Vorschlag war gar nicht mal so schlecht. Aber Sophie würde ihre Schwester ganz sicher nicht aus den Augen lassen.

»Sie kommt mit mir nach Havenfield. Über den Rest machen wir uns Gedanken, wenn wir dort sind.«

»Äh, ich gehe nirgendwo hin, schon gar nicht mit einem Haufen Fremder«, verkündete ihre Schwester.

Das letzte Wort schmerzte Sophie mehr, als sie zugeben wollte, aber sie tat ihr Bestes, um es zu ignorieren. »Glaubst du wirklich, du bist hier sicher? Selbst wenn die Neverseen nicht noch mal zurückkommen, tut es die Polizei vielleicht. Willst du in irgendeiner Pflegefamilie landen?«

Ihre Schwester kaute auf ihrer Unterlippe herum und hinterließ Kerben in dem weichen Fleisch.

»Was ist mit Marty und Watson? Wer soll sie denn füttern?«

Sophie spürte beinahe Tränen in den Augen. »Ihr habt Marty noch?«

Der flauschige graue Kater hatte jede Nacht auf ihrem Kopfkissen geschlafen und es hatte ihr das Herz gebrochen, ihn zurücklassen zu müssen. Aber sie war sich sicher gewesen, dass ihre Familie ihn noch mehr brauchen würde. Und Watson musste der Hund sein, den sie hatten bellen hören, als sie hergekommen waren. Sophie hatte die Elfen gebeten, ihrer Familie ein Haus mit Garten zu geben, der groß genug war, damit sie sich endlich einen Welpen anschaffen konnten, wie ihre Schwester es sich immer gewünscht hatte.

»Ich schätze, wir nehmen sie auch mit«, beschloss Sophie. »Leg Watson an die Leine und steck Marty in seine Transportbox.«

»Okay, ernsthaft, das können wir nicht machen«, sagte Fitz und packte Sophie an den Händen, damit sie ihm zuhörte. »Du verstehst nicht, wie gefährlich das ist.«

»Es passiert schon nichts«, beharrte sie. »Black Swan wird sie verstecken.«

»Black Swan«, murmelte ihre Schwester. »Moment mal. Ich glaube … Ich glaube, darüber haben sie auch geredet. Alles ging so schnell, deshalb kann ich mich nicht genau erinnern. Aber ich glaube, einer von ihnen hat gesagt: ›Wir müssen herausfinden, warum Black Swan sie ausgewählt hat.‹«

Sophie wechselte einen Blick mit ihren Freunden.

»Ich nehme an, ihr wisst, was das bedeutet?«, fragte ihre Schwester.

»Es … könnte was mit mir zu tun haben«, erwiderte Sophie. »Das gehört alles zu dieser langen Geschichte, die ich dir erzählen muss. Aber zuerst sollten wir von hier verschwinden.«

Sie wollte nach ihrem Heimkristall greifen, doch Fitz ließ ihre Hände nicht los.

»Du verstehst nicht, was ich meine«, sagte er. »Hast du irgendeine Ahnung, wie riskant es ist, mit einem Menschen lichtzuspringen?«

Er hatte leise gesprochen, aber Sophies Schwester blaffte ihn trotzdem an: »Was soll das denn heißen, mit einem Menschen?«

»Genau das, wonach es klingt«, antwortete eine etwas tiefere, noch klarere Stimme vom Türrahmen aus.

Alle wirbelten herum und sahen die drei anderen vor sich, die Sophie, Keefe und Fitz bei ihrem hastig geplanten – und höchst illegalen – kleinen Ausflug in die Verbotenen Städte begleitet hatten: Fitz’ Vater Alden, der wie eine ältere und hoheitsvollere Version seines Sohnes aussah, sowie Sandor und Grizel, die sofort ein ohrenbetäubendes Geschrei auslösten.

»Schon okay«, versicherte Sophie ihrer Schwester. »Sie sind unsere Leibwächter.«

Das führte allerdings nur dazu, dass sie noch lauter brüllte.

Fairerweise musste Sophie einräumen, dass Sandor und Grizel über zwei Meter groß waren, mit grauer Haut, platten Nasen und steinharten Muskelbergen, und beide hatten riesige schwarze Schwerter um die Hüften geschnallt.

»W-was sind s-sie?«, stammelte ihre Schwester.

»Kobolde«, antwortete Sandor mit seiner unerwartet hohen, quiekenden Stimme.

»Und wir wollen dir nichts Böses«, fügte Grizel heiser hinzu.

Sophies Schwester stieß ein hysterisches Kichern aus. »Kobolde? Wie in der Bank in Harry Potter?«

Fitz grinste. »Sie klingt wie Sophie, als ich ihr damals eröffnet habe, dass sie ein Elf ist.«

Noch mehr hysterisches Kichern.

»Okay, also, zwei Dinge«, warf Keefe ein. »Erstens: Wieso kann sie uns verstehen? Mir ist eben bewusst geworden, dass wir alle die Erleuchtete Sprache sprechen – und sie auch.«

»Ich habe ihr und auch ihren Eltern Grundkenntnisse in unserer Sprache übertragen, bevor wir sie umgesiedelt haben«, erklärte Alden. »Nur für den Fall, dass so etwas wie das hier jemals passiert. Kommunikation kann eine mächtige Waffe sein – und eine wesentliche Form der Verteidigung.«

»Wovon redet er da?«, brüllte Sophies Schwester. »WAS HABEN SIE MIT MEINEM GEHIRN GEMACHT?«

»Und das ist der zweite Punkt«, sagte Keefe und wedelte mit einem Arm hin und her, wie er es immer tat, wenn er Gefühle aus der Luft las. »Ich würde wetten, deine Schwester ist nur noch drei Minuten von einem kompletten Nervenzusammenbruch entfernt.«

»Ich tippe eher darauf, dass es noch früher passiert«, erwiderte Alden mit einem Seufzen. »Das ist genau die Art von schlimmstmöglichem Fall, die ich inständig zu vermeiden gehofft hatte. Aber zum Glück bin ich auf alles vorbereitet.«

»Was tust du da?«, fragte Sophie und löste ihre Hände ruckartig aus Fitz’ Griff, als Alden in die Innentasche seines blauen Umhangs fasste. Sie hatte befürchtet, er würde ein Beruhigungsmittelfläschchen herausholen. Aber die runde Silberdose, die er stattdessen vor ihre Füße warf, war noch viel furchterregender.

Sophie hatte damals genau die gleiche benutzt, um ihre Familie zu betäuben, damit die Elfen sämtliche Erinnerungen an sie aus ihren Gedächtnissen löschen konnten. Und während nun die Welt um sie herum zu verschwimmen begann, wurde ihr bewusst, dass sie in dem Augenblick, in dem die Dose auf dem Boden gelandet war, die Luft hätte anhalten sollen.

»Bitte«, flehte sie Alden an, als ihre Schwester zusammenbrach. »Sie wird mich brauchen. Du darfst mich nicht noch mal aus ihrem Leben löschen.«

Keefe stürzte zu Sophie, um ihr zu helfen, konnte sich aber nur noch eine Sekunde lang auf den Beinen halten. Im nächsten Moment sackte auch Fitz zu Boden.

Sophies Knie gaben unter ihr nach. Sie krabbelte zu ihrer Schwester und flehte Alden erneut an, es sich noch einmal anders zu überlegen. Er war immer so nett zu ihr gewesen – ein treuer, vertrauenswürdiger Ratgeber. Beinahe eine Vaterfigur. Aber seine Miene wirkte traurig und ernst, als er den angehaltenen Atem ausstieß. »Wehre dich nicht gegen das Betäubungsmittel, Sophie. Du kommst nicht dagegen an.«

Er sagte noch etwas anderes, doch sie verstand ihn nicht mehr. Dann hörte sie ein Klingeln in den Ohren und das Licht um sie herum verblasste immer mehr.

Sie hasste dieses Gefühl – hasste Alden dafür, dass er ihr das antat. Aber sie konnte sich nicht genug konzentrieren, um sich zu wehren.

»Bitte«, sagte sie erneut, als ihr Gesicht auf den Teppich sank. »Bitte, nimm mir meine Schwester nicht weg. Nicht noch einmal.«

Mit verschwommenem Blick sah sie, wie Alden neben ihr in die Hocke ging. Es tut mir leid, formten seine Lippen.

Dann wurde alles von Dunkelheit verschluckt.

2

Wach auf, Sophie.«

Die Worte schwebten durch ihren Geist, gedämpft zunächst, dann immer lauter und lauter. Sie wollte die Stimme verdrängen, wollte sich in sich selbst verkriechen und nie wieder in die Realität zurückgerissen werden, um sich nicht dem stellen zu müssen, was sie erwartete. Doch dann fügte die Stimme hinzu: »Es besteht kein Grund zur Sorge«, und Sophie rauschte auf einer Woge der Wut ins Bewusstsein zurück.

Sie kannte nur eine einzige Person, die diesen Satz benutzte. Dieselbe Person, der sie am liebsten eine reingehauen hätte, mit so viel Wucht, wie sie nur aufbringen konnte – und dank der Erfindung an ihrem Handgelenk, einem K.-o.-Haken, war das eine ziemlich beträchtliche Wucht.

Ein blassblaues Licht brannte auf ihrer Netzhaut, als sie die Augen aufriss und sich in einem spärlich beleuchteten Raum mit schicken Möbeln wiederfand, die so makellos wirkten, als wären sie noch niemals benutzt worden. Alden saß ihr gegenüber in einem silbernen, dick gepolsterten Ohrensessel, sein Haar und seine Kleidung untypisch zerwühlt.

»Wo ist meine Schwester?« Sophies Kopf fühlte sich an, als hätte ein Tyrannosaurus Rex darauf herumgekaut, und ihre Zunge war so pelzig, dass sie ebenso gut mit Fell hätte bedeckt sein können.

»Sie schläft friedlich im Zimmer nebenan«, versprach Alden ihr. »Grizel hat Fitz und Keefe nach Everglen zurückgebracht. Aber Sandor hat – natürlich – darauf bestanden, an deiner Seite zu bleiben.«

Sandor nickte ihr aus den Schatten in einer Ecke zu.

»Und was die Haustiere deiner Schwester betrifft«, fuhr Alden fort und hob die Arme, um ihr die zerfetzten Ärmel seiner Tunika zu zeigen. »Wir haben sie auch mitgebracht – obwohl sie alles andere als glücklich darüber waren.«

»Wenigstens konnten sie sich wehren«, murmelte Sophie.

»Ich dachte mir schon, dass das deine Reaktion sein würde. Deshalb will ich dir zuerst versichern, dass die Erinnerungen deiner Schwester nicht verändert wurden.«

Sophie wartete darauf, dass er noch nicht hinzufügte. Als er es nicht tat, entspannte sie sich ein wenig und stellte fest, dass sie die ganze Zeit ein Samtkissen des langen schwarzen Sofas umklammert hatte, auf dem sie lag.

Alden reichte ihr eine Flasche Jugend – das spezielle Wasser, das die Elfen wegen der darin enthaltenen einzigartigen Enzyme tranken. »Du musst durstig sein.«

»Ja, das kommt schon mal vor, wenn man ungefragt betäubt wurde.«

Sie war versucht, ihm die Flasche über den Kopf zu schütten. Doch ihre Kehle fühlte sich an, als bestünde sie aus zerknittertem Schleifpapier, deshalb setzte sie sich auf, trank einen großen Schluck und wartete, bis ihr vernebelter Geist durch die Wirkung der kühlen, süßen Flüssigkeit wieder klarer wurde.

»Ich weiß, dass du wütend bist«, sagte Alden. »Und du hast auch jedes Recht dazu. Aber deine Schwester war nur noch wenige Sekunden von einem Nervenzusammenbruch entfernt und es wäre unmöglich gewesen, in diesem geistig labilen Zustand mit ihr zu springen. Fitz hat nicht übertrieben mit seinem Hinweis, dass es riskant ist, mit Menschen einen Lichtsprung zu wagen – selbst unter idealen Bedingungen. Ihre Konzentrationsfähigkeit ist nicht nur sehr schwach, sie neigen auch dazu, in Panik zu verfallen, wenn ihre Körper sich auflösen und ihr Instinkt ihnen sagt, dass sie sich gegen unsere Hilfe wehren sollen. Angesichts ihres hysterischen Zustands war es daher die sicherste Lösung, sie zu betäuben, damit sie während des Sprungs nicht bei Bewusstsein ist.«

»Das erklärt aber noch nicht, warum du mich auch betäubt hast«, konterte sie.

Alden lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Sag mir eins: Glaubst du, deine Schwester hätte freiwillig ein Beruhigungsmittel eingenommen?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Da stimme ich dir zu. Und was glaubst du, wem sie eher zu vergeben bereit ist, nachdem sie ohne ihre Einwilligung ruhiggestellt wurde? Einer Schwester, der dasselbe Beruhigungsmittel verabreicht wurde? Oder einer Schwester, die nichts unternommen und es einfach zugelassen hat?«

Sophie nervte es kolossal, dass er ziemlich gute Argumente hatte.

»Und was passiert jetzt?«, fragte sie und ließ den Blick erneut durch den spärlich beleuchteten Raum wandern. Die meisten elfischen Häuser, die sie bislang gesehen hatten, waren hell und luftig, mit jeder Menge Fenstern und Kronleuchtern. Hier stammte das einzige Licht jedoch von einem einsamen Leuchter an der Kristallwand, in dem eine kleine blaue Signalfeuerflamme flackerte.

»Jetzt warten wir darauf, dass deine Schwester ebenfalls aufwacht – was bald passieren sollte. Und dann erklärst du ihr, was ich arrangiert habe. Ich habe fast die ganze Nacht gebraucht, um alles in die Wege zu leiten.«

»Moment mal – wie lange war ich denn weggetreten?«

»Etwas mehr als vierzehn Stunden.«

VIERZEHN STUNDEN?!

»Keine Angst«, sagte Sandor aus der Ecke. »Ich habe Grady und Edaline gesagt, dass es dir gut geht und dass ich dich später nach Hause bringen werde.«

»Danke«, sagte Sophie, froh, dass ihre Adoptiveltern sich keine Sorgen um sie machten. »Aber warum hat mich nicht schon früher jemand geweckt? Ich hätte –«

»Was tun können?«, unterbrach Alden sie. »Keefes Mutter anrufen?«

Sophie weigerte sich, auch nur mit der Wimper zu zucken, obwohl sie überrascht war, dass er ihren Plan erraten hatte. »Lady Gisela ist die Einzige, die weiß, wo Nightfall ist.«

»In der Tat. Und ich glaube, sie hat dich gewarnt, dass du das nächste Mal, wenn du Kontakt zu ihr aufnimmst, das Blut ihres Sohnes benutzen sollst.«

Keefes Mutter hatte seinen Verbinder manipuliert und darin eine Abhörwanze sowie einen speziellen Sensor eingebaut, der Zugriff auf einen geheimen Kanal gewährte, wenn man etwas von Keefes Blut darauf schmierte. Dex hatte den Blutsensor schon einmal umgangen, aber Keefes Mutter hatte während ihrer letzten kurzen Unterhaltung eindeutig klargestellt, dass sie den nächsten Anruf nicht entgegennehmen würde, es sei denn, sie traten auf diese entschieden unheimlichere Weise mit ihr in Kontakt.

»Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass Keefe alles tun wird, um dir zu helfen«, fuhr Alden fort. »Aber diese Forderung verheißt nichts Gutes im Hinblick darauf, was ihre Unterstützung kosten wird. Und vergiss nicht, es besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Verschleppung deiner Familie zu ihrem ursprünglichen Plan gehörte.«

»Ich weiß«, murmelte Sophie und würgte den bitteren Geschmack in ihrer Kehle hinunter. »Ich überlege immer noch, wie wir in dieser Sache vorgehen sollen. Aber vielleicht hätte ich ja mehr Fortschritte gemacht, wenn ich in der Lage gewesen wäre, mich mit meinen Freunden zu unterhalten, anstatt die vergangenen vierzehn Stunden ausgeknockt zu sein!«

Alden fummelte an seinen zerfetzten Ärmeln herum. »Es tut mir aufrichtig leid, dass du so viel Zeit verloren hast. Aber ich wollte dich nicht aufwecken, bevor ich nicht alles für deine Schwester in die Wege geleitet hatte. Ich weiß, dass du sie bei Black Swan verstecken wolltest, weil du dich auf die Organisation immer verlassen konntest –«

»Ich gehöre zu dieser Organisation«, korrigierte Sophie ihn und hielt das Schwanenmonokel hoch, das sie bekommen hatte, als sie Black Swan vor einigen Monaten die Treue geschworen hatte. »Genau wie dein Sohn und deine Tochter. Und deine Frau.«

»Und ich bin deswegen sehr stolz auf meine Familie«, erwiderte Alden. »Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Black Swan in Aufruhr ist. Nachdem sie MrForkle verloren haben«, er machte eine kurze Pause, so als hätte allein die Erwähnung des Namens einen Moment der Stille verdient, »brauchen die restlichen Mitglieder des Kollektivs Zeit, um den Notfallplan, den er erwähnt hat, in die Tat umzusetzen, wie immer er auch aussehen mag. Ich habe mich heute Abend bereits mit Tiergan in Verbindung gesetzt und er hat mir versichert, dass Black Swan nichts unversucht lassen wird, um dir dabei zu helfen, deine menschlichen Eltern wiederzufinden. Aber er hat mir auch darin zugestimmt, dass die Organisation im Moment nicht in der Lage ist, jemandem ein stabiles Zuhause zu bieten.«

»Wenn Tiergan findet, dass meine Schwester nicht bei Black Swan unterkommen sollte, dann werde ich ihm nicht widersprechen.«

»Und was ist, wenn ich dir sage, dass die einzig vernünftige Alternative darin besteht, sie an einen Ort zu bringen, an dem du sie schwerlich besuchen kannst?«

Er zeigte auf den Kristall, der in einen mattierten silbernen Ring an Sophies engem Halsband eingelassen war: ein elfischer Signaturanhänger, der jede ihrer Bewegungen verfolgte und aufzeichnete. »Black Swans Technopathin hat unsere Signale für die kommenden paar Stunden verschlüsselt, aber den Trick können wir nicht endlos anwenden. Und die Wohnung hier ist ein überaus wertvolles Geheimnis. Es waren ungeheure Anstrengungen nötig, um diese einundfünfzigste Etage geheim zu halten. Und was glaubst du wohl, wie lange es dauern würde, bis der Hohe Rat sich fragt, warum du dich immer wieder in diesem Gebäude aufhältst?«

»Falls du glaubst, dass ich meine Schwester allein lasse –«

»Natürlich nicht«, unterbrach Alden sie. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie bei Vormunden unterkommt – vorübergehenden Vormunden«, stellte er klar, als Sophie zusammenzuckte. »Keins dieser Arrangements soll von Dauer sein. Ich versuche nur, eine sichere, stabile Umgebung für deine Schwester zu schaffen, bis sie und ihre Eltern wieder vereint sind.«

»Und was passiert dann?«, musste Sophie einfach fragen. »Wirst du den dreien schon wieder eine Gedächtniswäsche verpassen?«

»So weit habe ich noch nicht geplant. Und das solltest du auch nicht tun.«

Er nahm ihre Hand. »Ich weiß, wie schmerzhaft es beim letzten Mal für dich war, dich löschen zu lassen. Deshalb verstehe ich auch, warum du das nicht noch einmal durchmachen willst. Aber –«

»Hier geht’s nicht nur um mich«, unterbrach sie ihn, hielt dann jedoch inne, um die richtigen Worte zu finden und ihm zu erklären, was ihr selbst erst langsam bewusst wurde. »Meine Familie ist Teil dieser ganzen Sache, ob es uns nun gefällt oder nicht. Und ich finde, sie sollten das auch wissen. Vielleicht hätten sie irgendwas anders gemacht, als die Neverseen in ihr Zuhause eingedrungen sind, wenn sie gewusst hätten, dass jemand es auf sie abgesehen haben könnte. Denk doch mal darüber nach. Meine Schwester hat es geschafft, ihre Gedanken so leise zu halten, dass Gethen sie nicht gefunden hat – und der einzige Grund dafür war, dass du ihr eine Möglichkeit gegeben hast zu verstehen, was die Neverseen sagen.«

»Ja, aber ihnen ein unbewusstes Verständnis für unsere Sprache zu geben, ist etwas vollkommen anderes, als ihnen ein bewusstes Wissen über unsere Welt zu vermitteln. Glaubst du wirklich, sie könnten ein derartiges Geheimnis bewahren und trotzdem ein normales Leben führen? Oder würden mit der Tatsache klarkommen, dass jemand anders ihre Tochter adoptiert hat?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Sophie und hasste es, wie kompliziert dieses ganze Durcheinander war. »Aber ihre Erinnerungen zu löschen, kommt mir auch nicht mehr wie die richtige Lösung vor.«

Alden lehnte sich erneut in seinem Sessel zurück. »Nein. Ich schätze, das ist es nicht. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um diese Dinge zu klären. Im Augenblick befindet sich im Zimmer nebenan ein elfjähriges Mädchen, das gerade erfahren hat, dass alles, was sie über die Welt zu wissen glaubte, falsch ist. Du kannst dich sicher noch gut daran erinnern, wie sich das anfühlt – und du musstest nicht auch noch gleichzeitig mit dem Trauma fertigwerden, die Entführung deiner Eltern mit angesehen zu haben. Sie braucht jemanden, der ihr dabei hilft zu verstehen, was hier passiert. Außerdem musst du sie davon überzeugen, dass diese Wohnung im Augenblick der beste Ort für sie ist – denn das ist sie tatsächlich. Sag ihr, dass du sie besuchen wirst, sooft du kannst, dass du aber auch alle Hände voll damit zu tun haben wirst, ihre Eltern zu finden und wohlbehalten zu ihr zurückzubringen.«

»Glaubst du wirklich, sie wird damit einverstanden sein, hier einfach tatenlos rumzusitzen, während ich nach meiner Familie suche?«

»Ihr wird gar nichts anderes übrig bleiben angesichts der begrenzten Möglichkeiten ihrer Spezies. Und willst du sie wirklich einer derartigen Gefahr aussetzen?«

Nein.

Vor allem nicht falls Keefes Mutter etwas damit zu tun hatte.

»Wenn du deiner Schwester begreiflich machst, wie bösartig die Neverseen wirklich sein können, dann ist sie vielleicht dankbar dafür, ein sicheres Versteck zu haben«, fuhr Alden fort.

»Richtig. Weil man ja immer bloß tatenlos rumhocken will, wenn man hört, dass die Menschen, die man liebt, in Gefahr sind.«

Alden seufzte. »Ich habe nie behauptet, es wäre leicht. Aber ich habe das absolute Vertrauen, dass du einen Weg findest, sie zu überzeugen. Bitte, Sophie«, fügte er hinzu, als sie Anstalten machte, ihm zu widersprechen. »Ich weiß, dass du mich normalerweise nicht mehr um Hilfe bittest. Aber es gab eine Zeit, in der du mir vertraut hast, Dinge wie diese in Ordnung zu bringen. Ich habe ausführlich darüber nachgedacht, was die beste Lösung für dich und deine Schwester ist. Sie kann nicht sicher lichtspringen. Kann sich nicht selbst verteidigen. Kann noch nicht einmal wirklich begreifen, wie komplex unser tägliches Leben ist – ganz davon zu schweigen, dass schon ihre Anwesenheit in unserer Welt illegal ist. Sie würde dich nur aufhalten und darin einschränken, wohin du gehen und wie du dich dorthin begeben kannst. Sie wäre nur eine weitere – und sehr verletzliche – Person, die du beschützen musst. Und du wirst ohnehin kaum Zeit haben, wenn du wieder in die Schule gehen –«

»Schule?«, unterbrach Sophie ihn. »Du glaubst nicht, dass wir diese Sache in Ordnung bringen können, bevor die Schule wieder anfängt?«

»Ich … glaube, es wäre klug, sich auf einen längeren Zeitrahmen einzustellen, nur für den Fall.«

Sie schlang sich die Arme um den Bauch, um die aufsteigende Übelkeit in Schach zu halten. »Ich werde nicht an die Foxfire zurückkehren, solange meine Familie vermisst wird.«

»Ich denke, das wäre ein Fehler. Deine Ausbildung wurde ohnehin bereits zu sehr beeinträchtigt, erst durch deine Verbannung und nun durch diese verlängerten Ferien – ganz davon zu schweigen, wie viel Zeit du verloren hast, weil du dich von deinen diversen Verletzungen erholen musstest. Außerdem wird sich die Foxfire einem strafferen Lehrplan unterwerfen müssen, wenn der Unterricht wieder beginnt, deshalb kommt es noch viel mehr auf jeden einzelnen Tag an. Ich verspreche dir, dass andere – ich selbst eingeschlossen – mit allen Mitteln daran arbeiten werden, deine Familie zu finden, während du in der Schule bist, und dass wir tun werden, was immer sonst noch getan werden muss, um den Neverseen Einhalt zu gebieten. Das ist der Vorteil, einer Organisation anzugehören. Jeder Einzelne bei Black Swan hat auch in seinem Privatleben Verpflichtungen und sie alle vertrauen darauf, dass andere Mitglieder der Gruppe die Zügel übernehmen, wenn sie diesen Verpflichtungen nachgehen. Und für dich und deine Freunde gilt das genauso. Aber lass uns bitte nicht darüber streiten, bis wir wirklich an diesem Punkt angekommen sind – falls wir überhaupt an diesem Punkt ankommen. In Ordnung? Können wir uns in der Zwischenzeit darauf einigen, dass unsere dringendste Verantwortung im Augenblick darin besteht, deine Schwester hierzubehalten, wo sie in Sicherheit ist, gut versteckt und versorgt?«

Erneut waren seine Argumente nervtötend vernünftig. Außerdem musste es eine Möglichkeit geben, ihre Schwester öfter zu besuchen, als er behauptet hatte. Vielleicht wenn sie –

»Ich sehe, die Rädchen in deinem Kopf drehen sich weiter«, riss Alden sie aus ihren Gedanken. »Und falls du eine andere Lösung findest, bin ich für alle Vorschläge offen. Aber für den Moment müssen wir uns darauf konzentrieren, deine Schwester davon zu überzeugen, dass alles gut werden wird, solange sie hierbleibt.«

»Aber was, wenn es das nicht wird? Was, wenn meine Eltern …?«

Sie konnte den Rest des Satzes nicht aussprechen.

Alden lehnte sich zu ihr und steckte ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. »Wir wissen beide, ich kann dir nicht versprechen, dass keine großen Herausforderungen vor uns liegen. Aber ich kann dir versprechen, dass du, was immer auch passiert, stark genug bist, um es zu verkraften.«

Sophie wusste, dass er ihr mit seinen Worten nur Mut machen wollte. Und sie halfen auch ein bisschen. Nur …

»Manchmal bin ich es so leid, stark zu sein.«

»Ich kann dir deswegen keinen Vorwurf machen. Du hast in den letzten paar Jahren mehr durchgemacht als die meisten Ältesten in ihrem ganzen langen Leben. Du warst dadurch gezwungen, viel zu schnell erwachsen zu werden und eine Verantwortung zu übernehmen, die niemand in deinem Alter tragen sollte. Ich kann dir nicht sagen, dass du weiterkämpfen sollst, aber … die einzige Alternative wäre aufzugeben und –«

»Und dann gewinnen sie«, beendete Sophie den Satz für ihn.

Sie blickte auf den Schwanenhals, der sich um ihr Monokel schlang, und erinnerte sich selbst wieder an den Eid, den sie geschworen hatte, um es sich zu verdienen.

Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um meiner Welt zu helfen.

»Wo genau sind wir denn eigentlich?«, fragte sie, um zu einem Thema zu wechseln, das ihr nicht den Atem raubte.

»Von allen Orten, die dir einfallen, welcher wäre am besten geeignet, um dort einen Menschen zu verstecken? Kleiner Tipp: Wir befinden uns in einer Stadt, die der Hohe Rat nur sehr selten besucht, weil es so aufwendig ist hierherzukommen.«

»Du hast uns nach Atlantis gebracht?«

»Ja – und dem Kater hat die Reise überhaupt nicht gefallen.«

Sophie musste lächeln, als sie sich vorstellte, wie Alden den zappelnden Marty auf dem Arm hielt, während er auf einem gigantischen Strudel zum Grund des Ozeans hinunterrutschte. Kein Wunder, dass seine Ärmel zerfetzt waren!

Ursprünglich hatten die Elfen Atlantis als einen Ort der Einheit zwischen der Elfen- und der Menschenwelt erbaut, an dem beide Spezies gemeinsam leben und voneinander lernen konnten. Doch vor mehreren Tausend Jahren hatten die Menschen beschlossen, einen Krieg zu beginnen und die Herrschaft zu übernehmen, und der älteste Hohe Rat der Elfen hatte es für die klügste Lösung gehalten, einfach zu verschwinden. Deshalb hatten sie die gesamte Stadt in einer gewaltigen Flutwelle versinken lassen und sie unter einer Luftkuppel geschützt, wo sie im Geheimen unter Wasser weiter wachsen und gedeihen konnte, während die Menschen langsam vergaßen, dass die Elfen tatsächlich existierten.

»Hältst du es wirklich für eine gute Idee, meine Schwester mitten in der Stadt zu verstecken?«, fragte Sophie, als sie sich wieder an die überfüllten Straßen und geschäftigen Kanäle erinnerte, die sie bei ihren Besuchen in Atlantis gesehen hatte.

»Solange sie hierbleibt, wird niemand sie finden können.«

Sophie blickte erneut zu den fensterlosen Wänden. Sie schimmerten wunderbar glatt und sahen tatsächlich ganz hübsch aus. Dennoch wirkte der Raum wie ein Gefängnis.

»Es ist eine große Wohnung«, versicherte Alden ihr. »Und sie verfügt über jeden erdenklichen Luxus, damit sie es hier so komfortabel wie möglich hat. Außerdem habe ich mir die Freiheit genommen, ein paar ihrer Sachen aus der Menschenwelt einzupacken, bevor ich sie hierhergebracht habe.«

»Aber was soll sie hier denn den ganzen Tag machen?«

»Was immer sie will. Ihre Vormunde sind bei ihr, ebenso ihre Haustiere. Außerdem bekommt sie einen Verbinder, damit ihr euch unterhalten könnt, wann immer ihr wollt. Und ich habe veranlasst, dass genügend Bücher und Spiele hergebracht werden, damit ihr nicht langweilig wird. Und Quinlin und Livvy arbeiten an einem Stundenplan, um ihr alles über die komplizierte gemeinsame Geschichte von Elfen und Menschen beizubringen.«

Na, das klang ja nach mächtig viel Spaß …

Sophie wollte gerade protestieren, als ihr auffiel, dass sie einen der Namen kannte.

»Quinlin Sonden? Der Telepath, zu dem du mich hier in Atlantis gleich an meinem ersten Tag in den Verlorenen Städten gebracht hast?«

Alden nickte. »Eigentlich ist das hier seine Wohnung, obwohl seine offizielle Adresse das fünfzigste Stockwerk ist. Er hat diesen Ort erschaffen – ebenso wie die abgetrennte Etage in seinem Büro, an die du dich vielleicht noch erinnerst –, um mir bei Projekten, die wir vor neugierigen Blicken verbergen mussten, besser assistieren zu können. Niemand wird deine Schwester so hingebungsvoll beschützen wie Quinlin. Außerdem ermöglicht es ihm sein Amt als Oberster Mentalist, sofort zu erkennen, falls der Hohe Rat Verdacht schöpfen sollte.«

»Aber was ist, wenn meine Schwester kein gutes Gefühl dabei hat, mit irgendeinem wildfremden Typen zusammenzuwohnen? Vor allem weil ich mich nicht erinnern kann, dass Quinlin besonders … kuschelig ist.«

Herzhaftes Lachen erschallte hinter ihr und Sophie drehte sich um und sah eine elegante schwarze Frau in der schmalen Bogentür stehen, die sich mit beiden Händen den Bauch hielt und sich gar nicht mehr beruhigen konnte. Sie musste ein paarmal tief Luft holen, bevor ihre Stimme wieder funktionierte und sie sagen konnte: »Nein, das gehört wirklich nicht zu den Worten, mit denen ich meinen Mann beschreiben würde.«

»Du meinst Ex-Mann, richtig, Livvy?«, korrigierte sie eine scharfe Stimme vom Flur aus.

Livvys Lächeln erstarb, als sie einen Schritt zur Seite machte, damit Quinlin den Raum betreten konnte. Er sah genauso aus wie in Sophies Erinnerung: dunkle Haut, schulterlanges schwarzes Haar und kantige Züge, die zu dem Ausdruck auf seinem Gesicht passten. Trotzdem war er wahnsinnig gut aussehend, wie alle Elfen. Nur dass alles an ihm ernst wirkte.

»Um genau zu sein, ich habe das ›Ex‹ nie offiziell gemacht«, erwiderte Livvy und warf einige ihrer dünnen geflochtenen Zöpfe zurück. »Ich hatte keine Lust, mich mit diesem ganzen Drama herumzuärgern. Sofern du also nicht beschlossen hast, die Fehlvermittlung selbst anzumelden, bist du mich – rein rechtlich betrachtet – immer noch nicht los.«

Es klang, als würden die beiden über eine Scheidung sprechen, auch wenn Sophie gar nicht bewusst gewesen war, dass es so etwas in den Verlorenen Städten überhaupt gab. Die Elfen verließen sich auf ein unglaublich striktes Heiratsvermittlungssystem, und wenn sich ihm ein Paar widersetzte, wurden sie als »Unpassende« gebrandmarkt und sahen sich für den Rest ihres Lebens Hohn und Verachtung ausgesetzt – ebenso wie ihre Kinder. Es gehörte zu den wenigen Dingen, bei denen die Elfen sich von Vorurteilen leiten ließen. Sie interessierten sich nicht dafür, wie reich jemand war oder welche Hautfarbe er hatte. Aber Unpassende – und Talentlose – wurden als Schande betrachtet, ganz gleich wie ungerecht und willkürlich diese Unterscheidungen waren.

Quinlin stieß ein Seufzen aus, bei dem sein ganzer Körper in sich zusammenzufallen schien, und wandte sich an Alden. »Ich glaube immer noch, dass es ein Fehler ist, Livvy einzubeziehen. Ich komme damit auch –«

»Na also, wie viele Sekunden waren das? Dreißig?«, unterbrach Livvy ihn. »Länger hast du nicht gebraucht bis zum Ich kann alles allein? Damit wäre das große Rätsel, warum ich dich verlassen habe, endlich gelöst!«

»Und du hast keine dreißig Sekunden gebraucht, um einen Streit mit mir anzufangen«, fauchte Quinlin zurück. »Jetzt weißt du, warum ich dir nie nachgerannt bin.«

Livvy kniff die Augen zusammen. »Wenn ich wollte, dass du mir nachrennst, dann würdest du mir permanent an den Fersen kleben, darauf kannst du dich verlassen.«

Alden räusperte sich. »Vielleicht solltet ihr zwei diese Unterhaltung fortsetzen, wenn ihr wieder allein seid?«

»Wir werden nie allein sein«, informierte Livvy ihn. »Ich werde hier oben wohnen und er unten. Wir werden uns überhaupt nur begegnen, wenn das Mädchen auch dabei ist.«

»Sie hat einen Namen«, warf Sophie ein, auch wenn sie sich selbst nicht sicher war, ob ihre Schwester lieber Natalie oder Amy genannt werden wollte. »Und wird das hier etwa so für sie laufen? Sie wird in dieser Wohnung festsitzen und sich anhören dürfen, wie ihr zwei euch die ganze Zeit zankt?«

»Nein«, versprachen Alden, Quinlin und Livvy wie aus einem Mund.

»Tut mir leid«, sagte Livvy. »Es ist nur seltsam, nach so vielen Jahren wieder hier zu sein. Aber Quinlin und ich haben jede Menge Übung darin, so zu tun, als liefe zwischen uns alles bestens.«

»Und … ich schätze, Livvy wird viel besser darin sein als ich, dafür zu sorgen, dass sich deine Schwester hier wie zu Hause fühlt«, fügte Quinlin leise hinzu. »Außerdem kann sie ihr Gesellschaft leisten, wenn ich bei der Arbeit bin.«

»Und umgekehrt«, ergänzte Livvy. »Obwohl ich sowieso hauptsächlich hier arbeiten werde. Ich habe vor, deine Schwester einer umfassenden Entgiftung zu unterziehen, um all diese menschlichen Chemikalien aus ihrem Körper zu vertreiben. Und ich werde sie ausführlich durchchecken.«

»Du bist Heilerin?«, fragte Sophie und erinnerte sich wieder daran, dass Elwin mit ihr genau das Gleiche getan hatte, als sie in die Verlorenen Städte gezogen war. Livvy lächelte nur und ihr Ausdruck hatte irgendetwas an sich, bei dem Sophies Verstand zu rattern begann.

Als Livvy erneut ihre Zöpfe nach hinten warf und winzige blaue Edelsteine enthüllte, die in dem dichten Flechtwerk funkelten, machte es schließlich klick. Sophie schnappte nach Luft. »Du bist Tinktur!«

3

Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis du eins und eins zusammenzählst«, sagte Livvy – Tinktur – und tätschelte Sophie den Kopf. »Obwohl wir fairerweise erwähnen sollten, dass mein Kostüm ziemlich minimal war.«

Tinktur war dafür bekannt, bunte Karnevalsmasken zu tragen, die nur die obere Hälfte ihres Gesichts verbargen – eine Verkleidung, die viel leichter zu durchschauen war als die bizarren Ganzkörpertarnungen, hinter denen der Rest des Kollektivs sich versteckte. Dennoch – während Sophie nun die vollen Lippen und die sanft gerundete Nase betrachtete, bezweifelte sie, dass sie dahintergekommen wäre, hätte Livvy nicht die ganze Zeit ihr geflochtenes glitzerndes Haar zurückgeworfen.

»Moment mal«, sagte Quinlin. »Wer ist Tinktur?«

»Ich glaube, das ist die Heilerin, die mit Black Swan zusammenarbeitet«, antwortete Alden und betrachtete Livvy aus einem anderen Blickwinkel.

Quinlin erstarrte. »Du gehörst zu Black Swan?«

Sophie konnte nicht sagen, ob Livvy nervös oder stolz wirkte, als sie antwortete: »Überraschung?«

Stille folgte und zog sich so sehr in die Länge, dass sie sich von unbehaglich in erdrückend verwandelte.

»Nun, das ist definitiv eine Wendung, die ich nicht erwartet hatte«, gestand Alden schließlich. »Aber Black Swan hat immer wieder bewiesen, wie meisterhaft unvorhersehbar sie sind. Und … ich stehe tief in deiner Schuld, weil du meinem Sohn das Leben gerettet hast, Livvy.«

Fitz war während einer alles andere als nach Plan verlaufenden Mission von Black Swan, bei der sie ins Exil, ein Gefängnis, eingebrochen waren, von dem gewaltigen Stachel eines Rieseninsekts durchbohrt worden. Wenn Tinktur die Wunde nicht verarztet und Fitz dabei geholfen hätte, das Gift aus seinem Körper zu vertreiben, hätte er niemals überlebt.

»Du schuldest mir überhaupt nichts«, versicherte Livvy ihm. »Ich habe nur meine Aufgabe erfüllt.«

»Und wie lange gehst du dieser Aufgabe schon nach?«, wollte Quinlin wissen.

Livvys Lächeln verblasste und sie spannte die Schultern an. »Na schön, wenn du es wirklich wissen willst … Ich habe meinen Eid ungefähr ein Jahr nach unserer Hochzeit abgelegt. Und diese hervortretende Ader da«, sie zeigte auf seine Stirn, »ist genau der Grund dafür, warum ich es dir nie erzählt habe.«

»Es ist mein gutes Recht, aufgebracht zu sein, nachdem ich fast«, Quinlin zählte es an den Fingern ab, »achtzehn Jahre lang angelogen wurde!« Er ließ sich auf den nächstbesten Sessel sinken und vergrub das Gesicht in seinen zitternden Händen. »Achtzehn Jahre.«

»Ich habe mich immer gefragt, ob ein Teil von dir wohl Verdacht schöpft«, sagte Livvy leise. »Aber offensichtlich nicht.«

Quinlins Lachen klang so kalt, dass es Sophie eine Gänsehaut bescherte.

»Achtzehn Jahre«, wiederholte Alden. »Du musst eine der Gründerinnen gewesen sein.«

»Tatsächlich gibt es Black Swan schon viel länger, als irgendjemandem bewusst ist«, entgegnete Livvy. »Aber Forkle hat mich ins Boot geholt, um ihm bei Projekt Mondlerche zu helfen und –«

»Du warst bei Projekt Mondlerche dabei?«, unterbrachen Alden und Quinlin sie gleichzeitig.

»Das wusstest du doch, oder?«, fragte Livvy Sophie.