Keeper of the Lost Cities – Der Angriff - Shannon Messenger - E-Book

Keeper of the Lost Cities – Der Angriff E-Book

Shannon Messenger

0,0
16,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Keeper of the Lost Cities. Der Angriff 
Ein episches Fantasy-Abenteuer der preisgekrönten Bestsellerautorin Shannon Messenger. Die fantastische Reihe um Elfen, Freundschaft und Magie mit jeder Menge Spannung für Mädchen und Jungen ab 12 Jahren.    

Der siebte Band des mitreißenden Abenteuers 

Sophie weiß nicht, wem sie vertrauen kann. Die Grenze zwischen Freunden und Feinden verschwimmt zusehends. Dann bedroht die düstere Geheimorganisation Neverseen das Alicorn Silveny und Sophie fasst einen Beschluss: Ihre magischen Fähigkeiten allein reichen nicht aus, um ihre Liebsten zu beschützen. Sie muss endlich lernen, sich zu verteidigen …  

  • Das ideale Geschenk: Perfekter Lesestoff für Jungen und Mädchen ab 12 Jahren 
  • Wie eine richtig gute, actiongeladene Serie: Ein Jugendbuch über Fabelwesen, Magie, Liebe und Freundschaft
  • So macht Lesen Spaß: Fantastische Welten, starke weibliche Charaktere, verblüffende Wendungen und atemlose Spannung 
  • Zeitloses Fantasy-Epos: Fans von „Woodwalkers“, „Land of Stories“ und „Harry Potter“ werden dieses Buch verschlingen 
  • Extra-Motivation: Zu diesem Buch gibt es ein Quiz bei Antolin  

„Keeper of the Lost Cities. Der Angriff“ ist der siebte Teil der preisgekrönten magischen Fantasy-Reihe – voller Zauber, Action und Abenteuer!    

Alle Bände dieser Reihe:
Band 1: Keeper of the Lost Cities. Der Aufbruch (9783845840901)
Band 2: Keeper of the Lost Cities. Das Exil (9783845840918) 
Band 3: Keeper of the Lost Cities. Das Feuer (9783845844541)
Band 4: Keeper of the Lost Cities. Der Verrat (9783845846293) 
Band 5: Keeper of the Lost Cities. Das Tor (9783845846309) 
Band 6: Keeper of the Lost Cities. Die Flut (9783845846316) 
Band 7: Keeper of the Lost Cities. Der Angriff (9783845846323) 
Band 8: Keeper of the Lost Cities. Das Vermächtnis (9783845846330)
Band 8,5: Keeper of the Lost Cities. Entschlüsselt (9783845851488)
Band 9: Keeper of the Lost Cities. Sternenmond (9783845851495) - erscheint im August 2023

Weitere Bände sind in Planung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Noch mehr Freude … 

… mit Kinderbüchern für pures Vergnügen!

www.arsedition.de

Das Neuste von arsEdition im Newsletter:

abonnieren unter www.arsedition.de/​newsletter

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe München 2022

Text copyright © 2018 by Shannon Messenger

Titel der Originalausgabe: Keeper of the Lost Cities – Flashback

Die Originalausgabe ist 2018 bei Simon and Schuster (Aladdin) erschienen.

© 2022 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D-80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Doris Attwood

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung des Originalcovers

Coverillustration: Jason Chan, Typografie von geen graphy/shutterstock.com und Bildmaterial von tomertu/shutterstock.com

Design: Karin Paprocki

Innenvignetten: Bildmaterial von Spicy Truffel/shutterstock.com

Satz: Müjde Puzziferri, MP Medien, München

ISBN eBook 978-3-8458-4644-6

ISBN Printausgabe 978-3-8458-4632-3

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Für Mara Anastas, die von Anfang an daran geglaubt hat.

Für Jon Anderson, der ein ehrgeiziges Ziel ausgegeben hat.

Und für den Rest meines unglaublichen Teams bei

Simon & Schuster, das diese Herausforderung fantastisch gemeistert hat.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

DANKSAGUNGEN

ÜBER DIE AUTORIN

Weitere Titel

Leseprobe zu "Ashwood Academy - Die Schule der fünf Türme"

Prolog

Diesmal werden wir gewinnen.

Es war Sophies einziger Gedanke, selbst als die Welt um sie herum in Schatten und Chaos versank.

Selbst als die Neverseen ihren nächsten Schritt offenbarten – ihren nächsten Schachzug in diesem tödlichen Spiel.

Einem Spiel, das Sophie ein ums andere Mal verloren hatte.

Aber diesmal war sie bereit.

Diesmal hatte sie dafür trainiert – genau wie ihre Freunde.

Diesmal wussten sie, wie sie zurückschlagen mussten.

Darum zitterte Sophies Hand auch nicht, als sie nach einem der Wurfsterne griff, mit denen sie inzwischen vertraut war.

Und sie wusste genau, worauf sie zielen musste.

Kein Zögern.

Keine Angst.

Aber … die Dinge waren nicht immer so, wie sie schienen.

Und während alles zu flackern und zu verblassen begann, ihre Freunde verzweifelt schrien und versuchten zu begreifen, was passierte …

Wusste Sophie es bereits.

Illusion war die neue Geheimwaffe ihrer Feinde.

1

Und? Ist es ein komisches Gefühl, hierherzukommen und nicht diejenige zu sein, die vor Gericht steht?«, fragte Keefe und überprüfte seine penibel gestylte Frisur in einer Facette der edelsteinernen Wände, bevor er Sophie in den Tribunalsaal folgte. »Weil ich dir nämlich gern dabei helfe, ein paar Gesetze zu brechen, falls du dich ausgeschlossen fühlst.«

»Ich auch!«, rief Ro, Keefes Leibwächterin. Sie rümpfte ihre gepiercte Nase und ließ den Blick durch den leeren Sitzungsraum schweifen, der komplett aus Smaragden erbaut war. »Igitt, mit diesem Glitzerschuppen habt ihr euch wirklich selbst übertroffen. Er bettelt mich förmlich an, irgendwas kaputtzuschlagen.«

»Hier schlägt niemand irgendwas kaputt«, warnte Sophies Leibwächter Sandor sie. »Oder verursacht sonst irgendwelche Schwierigkeiten.«

Die Drohung klang dank Sandors Quietschstimme nicht allzu Furcht einflößend, was der über zwei Meter große Koboldkrieger jedoch wieder wettmachte, indem er die grauen Arme vor der nackten Brust verschränkte und seine wirklich beeindruckenden Muskeln spielen ließ.

Ro zeigte ihm ein spitzzahniges Lächeln und tätschelte die Reihe der Dolche – die jüngste Ergänzung zu ihrem Ogerwaffenarsenal –, die sie an ihren perfekt definierten Oberschenkeln bei sich trug. »Ich würde gern sehen, wie du uns davon abzuhalten versuchst.«

»Glaub mir, ich würde jede Sekunde genießen«, knurrte Sandor und umklammerte den Griff seines riesigen schwarzen Schwerts. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass der Hohe Rat dir Zutritt zu dieser Verhandlung gewährt hat.«

Genauso wenig wie Sophie.

Andererseits hatte sie auch nicht erwartet, selbst eingeladen zu werden.

Das Tribunal hätte auf Angehörige der Familie Vacker beschränkt sein sollen, denn es handelte sich nur um eine Anhörung zum Strafmaß und war eigentlich eine reine Formalität. Alvar wurde bereits in dem geheimen Gefängnis festgehalten, das Black Swan speziell für ihn errichtet hatte. Der Hohe Rat musste nur noch beschließen, wie viele Jahre er dort verbringen sollte.

Aber Alden war an diesem Morgen in Havenfield vorbeigekommen und hatte ihnen erklärt, man habe Sophie die Erlaubnis erteilt, der Anhörung beizuwohnen. Und als sie nach Eternalia gesprungen war, hatten Keefe und Ro dort bereits auf sie gewartet.

Keefe war entschieden schicker gekleidet als gewöhnlich und trug ein gestärktes weißes Hemd zu einer maßgeschneiderten schwarzen Weste und einem bestickten grauen Umhang. Und Sophie war wirklich erleichtert über seinen Aufzug, da sie selbst beschlossen hatte, ihre Unterstützung mit einem zartrosa Kleid zum Ausdruck zu bringen, das viel eher Bianas elegantem Stil entsprach als ihrem eigenen. Außerdem hatte sie den Eyeliner mit Goldschimmer aufgetragen, von dem Biana behauptete, er bringe ihre braunen Augen besonders zum Leuchten, auch wenn Sophie es eigentlich hasste, noch mehr Aufmerksamkeit auf diese unter Elfen einzigartige Farbe zu lenken.

»Was ist?«, fragte Sophie und wischte unter ihren Wimpern vorbei, als sie sah, wie Keefe sie anstarrte. »Hab ich was verschmiert?«

»Nein, Foster. Du siehst … super aus.«

Sie errötete, als sie das leichte Stocken in seiner Stimme hörte, und verwünschte sich sofort selbst dafür, als er ihr sein typisches Grinsen zeigte.

»Hat Alden dich auch als moralische Unterstützung hergebeten?«, fragte sie und blieb in der Saalmitte stehen, da sie keine Ahnung hatte, welche der mehreren Hundert Plätze für sie bestimmt waren.

Sein Lächeln verblasste. »Ja. Er hat gesagt, dass Fitz heute einen Freund brauchen wird.«

»Er hat noch viel mehr gesagt als das«, murmelte Ro.

»Entspann dich, Foster«, sagte Keefe und schoss Ro einen funkelnden Blick zu, bevor er auf die Falte zwischen Sophies Augenbrauen zeigte. »Für dieses Stirnrunzeln gibt’s überhaupt keinen Grund. Es ist nichts, okay? Alden … macht sich nur Sorgen, wie Fitz das Ganze hier verkraften wird.«

»Ich auch«, gestand Sophie.

Fitz flüchtete sich in emotional angespannten Situationen häufig in seine Wut – und nichts brachte den Zorn in ihm mehr zum Brodeln als sein älterer Bruder, der Verräter.

»Ja, und ich darf mir jetzt anhören, wie ein Haufen spießiger Besserwisserelfen miteinander streitet«, stöhnte Ro und drehte an einem ihrer kurzen Zöpfe, die sie erst kürzlich im selben leuchtenden Pink gefärbt hatte wie ihre lackierten Krallen. »Beinahe wünsche ich mir, ich wäre immer noch ans Bett gefesselt. Mal ernsthaft, wer war eigentlich der Meinung, zwölf Ratsmitglieder wären eine gute Idee?«

Sophie war versucht, darauf hinzuweisen, dass dieses System entschieden ausgeglichener war, als von einem machthungrigen Alleinherrscher regiert zu werden. Aber da Ro die Tochter des Angst und Schrecken verbreitenden Ogerregenten war – und das Bündnis zwischen den Elfen und König Dimitar ohnehin auf wackeligen Beinen stand, seit die Neverseen Ro bei ihrem Angriff auf Atlantis um ein Haar getötet hätten –, hielt sie es für klüger, ein solches Gespräch zu vermeiden. Vor allem weil der Hohe Rat der Elfen tatsächlich alles andere als perfekt war.

Sie wandte sich den zwölf juwelenbesetzten Thronsesseln zu, die auf einem großen Podest im vorderen Teil des grün schimmernden Saals standen. Jeder einzelne war so dekoriert, dass er Stil und Geschmack des jeweiligen Ratsmitglieds widerspiegelte, dessen Name darüber zu lesen war: Clarette, Velia, Alina, Terik, Liora, Emery, Oralie, Ramira, Darek, Noland, Zarina und Bronte.

Einige kannte Sophie besser als andere und zu ein paar von ihnen hatte sie inzwischen ein echtes Vertrauensverhältnis aufgebaut. Aber sie würde sich bis in alle Ewigkeit wünschen, dort stünde noch immer der schlichte, solide Thron von Rat Kenric.

Kenric war freundlich gewesen. Und lustig. Und einer von Sophies treuesten Unterstützern.

Und wenn sie nicht wäre, dann wäre er noch am Leben.

Sie verdrängte den Gedanken sofort wieder, denn Schuldgefühle konnten ihre geistige Gesundheit zerstören. Doch sie spürte noch immer die sengende Hitze der Flammen – hörte noch immer das Krachen und Prasseln und das Geschrei, als der Juwelenturm um sie herum zu schmelzen begonnen hatte. Und sie würde auch niemals Fintans Hohn vergessen, als er das Everblaze entfacht hatte, um zu verhindern, dass Sophie an seine Erinnerungen gelangte.

Sophie war in jener Nacht auf direkten Befehl des Hohen Rats in Oblivimyre gewesen. Aber wenn sie stärker gewesen wäre, schneller, schlauer als Fintan …

»Alles okay?«, fragte Keefe und schnipste ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Und bevor du antwortest, denk dran: Du redest mit einem Empathen. Außerdem hast du dir bereits zwei Wimpern ausgezupft, seit wir hier sind, und ich kann spüren, dass du kurz vor der dritten stehst.«

Das stimmte.

Denn wenn sie nervös war, juckten ihre Wimpern und das Auszupfen war eine echte Erleichterung. Doch da sie diese Angewohnheit langsam abzulegen versuchte, zwang sie sich, die Hände unten zu behalten und in Keefes eisblaue Augen zu schauen. »Mir geht’s gut.«

Als er eine Braue hochzog, fügte sie hinzu: »Ich bin einfach frustriert. Ich wünschte, der Hohe Rat würde ein Tribunal für Fintan abhalten, nicht für Alvar.«

Keefe lehnte sich näher zu ihr. »Das lässt du den Fitzster aber lieber nicht hören.«

»Ich weiß. Oder Biana.«

Die beiden jüngeren Vacker-Geschwister hatten ungeduldig die Tage bis zu Alvars Verurteilung gezählt – und Sophie nahm es ihnen nicht übel, dass sie sich für die Sache mit ihrem Bruder einen klaren Abschluss wünschten.

Aber …

Sie blickte über ihre Schulter und bemerkte dankbar, dass der Saal immer noch leer war. So konnte sie die Frage stellen, die sie die ganze Zeit über vermieden hatte.

»Kommt dir das nicht auch wie reine Zeitverschwendung vor?«

»Weil Alvar sich an nichts mehr erinnern kann?«

Sophie nickte.

Als jahrelanges Mitglied der Neverseen war Alvar an vielen ihrer grausamsten Taten beteiligt gewesen, bevor Sophie und ihre Freunde ihn betäubt und blutend in einer Zelle in einem verlassenen Versteck gefunden hatten. Doch als er endlich das Bewusstsein wiedererlangt hatte, hatte er sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern können.

Und dieser Gedächtnisverlust war offenbar kein Täuschungsmanöver. Sophie hatte sich dessen vergewissert. Genau wie Fitz. Und Alden. Und MrForkle. Und Quinlin. Und Rat Emery – und jeder andere Telepath, dem der Hohe Rat vertraute. Keiner von ihnen hatte in Alvars Kopf auch nur eine einzige Erinnerung gefunden, so tief sie bei ihrer Suche auch vorgedrungen waren. Black Swan hatte sogar Damel hinzugezogen, einen ausgebildeten Wäscher, der ihnen erklärt hatte, Alvars Vergangenheit sei so restlos getilgt worden, wie er es niemals für möglich gehalten hätte. Sophie hatte außerdem versucht, mithilfe ihrer einzigartigen telepathischen Fähigkeiten Alvars Geist zu heilen, jedoch keinen Erfolg gehabt. Ebenso wenig wie ein ganzes Team aus Heilern, die ihm unzählige Elixiere verabreicht hatten.

Alvars Geist war nicht gebrochen oder beschädigt.

Er war … leer.

Sophie hatte noch nie zuvor etwas Ähnliches gespürt – und sie hatte in den vergangenen Jahren einige ziemlich bizarre geistige Landschaften erlebt. In Alvars Geist gab es keine kalte, erstickende Dunkelheit. Keine scharfen, zersplitterten Bilder. Nur verschwommenes, graues Nichts.

»Ich verstehe nicht, warum sich der Hohe Rat auf jemanden konzentriert, der unter Amnesie leidet«, flüsterte sie Keefe zu, »wenn sie gleichzeitig Fintan in Gewahrsam haben und seinetwegen nichts unternehmen.«

Sie hatten den ehemaligen Anführer der Neverseen geschnappt, als sie in Nightfall eingedrungen waren. Doch Fintan hatte dem Hohen Rat seine Kooperation angeboten und einen Deal ausgehandelt: Er hatte verlangt, dass sämtliche Telepathen von ihm ferngehalten wurden, damit seine Erinnerungen unangetastet blieben, und im Austausch dafür verraten, wo er einige Dosen des Gegenmittels gegen Soporidin aufbewahrt hatte – ein gefährliches Betäubungsmittel, das die Neverseen aus noch immer unbekannten Gründen entwickelt hatten. Seitdem saß er in einem speziell für ihn gebauten Gefängnis. Zwar hatten die Ratsmitglieder ihm zumindest die Einwilligung abgenötigt, ihnen dabei zu helfen, sich Zugang zu seinem alten Verwahrer zu verschaffen – einem murmelgroßen Gerät, das gefährliche Erinnerungen enthielt, sogenannte Vergessene Geheimnisse. Doch entweder sabotierte Fintan ihre Bemühungen oder Verwahrer waren schlichtweg eine fehlerhafte Erfindung, denn inzwischen waren bereits mehrere Wochen vergangen und sie hatten noch immer keine einzige Information zutage gefördert.

»Du glaubst, er hat irgendwas vor«, vermutete Keefe.

»Du etwa nicht?«

Fintan hatte bereits bewiesen, dass er ein Meister in Sachen langwieriger, ausgeklügelter Pläne war. Er hatte Lumenaria zerstört und dabei Vespera aus dem Verlies der Festung befreit – mithilfe eines Plans, der vorsah, dass sich wichtige Mitglieder der Neverseen dort einsperren ließen. Womöglich probierte er es jetzt einfach noch mal mit einem ähnlichen Trick. Sophie war davon überzeugt, dass sie es herausfinden könnte, wenn der Hohe Rat sie nur zu ihm lassen würde.

Doch all ihre Bitten um ein Treffen waren abgelehnt worden. Und als sie das Kollektiv um Hilfe gebeten hatte, hatten die Anführer von Black Swan ihr erklärt, dass der Hohe Rat ihnen ebenfalls keinen Zugang gewährte.

»Warum kann Fintan immer noch bestimmen, was läuft?«, murmelte Sophie. »Er hat uns das Gegenmittel doch schon gegeben.«

»Keine Ahnung.« Keefe schien lange nachzudenken, bevor er hinzufügte: »Er wird niemals kooperieren. Aber willst du wirklich einen weiteren Erinnerungsbruch bei ihm durchführen? Nach dem, was mit Alden passiert ist – und mit Kenric …«

Sophie blickte auf ihre Hände und fuhr mit dem Finger über einen der Daumenringe unter ihren Spitzenhandschuhen. Die gravierten Ringe waren ein Geschenk von Fitz, als Zeichen, dass er und sie Kognaten waren. Dank der seltenen telepathischen Verbindung, die zwischen ihnen bestand, waren sie gemeinsam nun viel stärker als bei ihrem letzten Versuch, es mit Fintan aufzunehmen. Außerdem hatte Sophie seither als Verstärkerin manifestiert, was bedeutete, dass sie Fitz’ geistigen Kräften mit einer schlichten Berührung ihrer Fingerspitzen einen Energieschub geben konnte. Deshalb hegte sie auch keinerlei Zweifel daran, dass sie garantiert an Fintans Blockade vorbeikommen und finden würden, was immer er versteckte.

Aber … Erinnerungsbrüche waren schrecklich brutal. Auch die notwendigen.

»Ich sehe keine andere Möglichkeit«, erwiderte sie. »Selbst wenn er keinen eigenen großen Plan verfolgt, dürfte Fintan zumindest wissen, was Vespera vorhat.«

»Aber er hat ganz sicher keine Ahnung, worauf meine Mom aus ist«, erinnerte Keefe sie. »Und sie ist jetzt diejenige, die die Zügel in der Hand hält.«

Davon war Sophie noch nicht ganz überzeugt.

Lady Gisela hatte mit ihrem Versuch, Atlantis zu zerstören, tatsächlich erneut die Führung der Neverseen übernommen. Allerdings hatte Vespera einer Allianz mit ihr nur zugestimmt, weil Keefes Mutter sie in einem Kraftfeld gefangen und gedroht hatte, sie zurückzulassen, woraufhin der Hohe Rat sie erneut verhaftet hätte. Außerdem schien Vespera nicht der Typ zu sein, der langfristig mit anderen zusammenarbeitete – vor allem da sie der Ansicht war, dass Lady Giselas Vision und ihre eigene einander widersprachen.

Andererseits hatte sich Keefes Mutter schon einmal mit Zähnen und Klauen zurück an die Macht gekämpft und gewiss Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um dafür zu sorgen, dass sie nie wieder vom Thron gestoßen wurde.

»Wir haben es einfach mit zu vielen Bösewichten zu tun«, seufzte Sophie.

Keefe schnaubte. »Wo du recht hast …«

Und dabei zählte sie die anderen Mitglieder der Neverseen noch nicht mal mit. Oder die Ogerdeserteure, die König Dimitar verraten hatten. Oder die Zwerge, die schon vor Monaten verschwunden waren, wahrscheinlich um sich der Rebellion anzuschließen. Oder –

»Hey«, sagte Keefe und wedelte in der Luft herum, wie er es immer tat, wenn Sophies Emotionen sich zu sehr aufschaukelten. »Wir kriegen das hin, okay? Ich weiß, dass es sich nicht so anfühlt –«

»Tut es auch nicht«, unterbrach Sophie ihn.

Sie suchten nun schon seit Wochen nach einem Plan und hatten noch immer nichts zustande gebracht. Und wenn sie den Neverseen nichts entgegenzusetzen hatten, wurden Leute verletzt. Jedes Mal.

Sophie war sogar das Risiko eingegangen, Keefes alten Verbinder zu benutzen, der von seiner Mutter so manipuliert worden war, dass er heimlich Kontakt zu ihr aufnehmen konnte. Aber Lady Gisela ignorierte sie entweder oder hatte die Verbindung gekappt. Außerdem hatte Black Swan den Apparat inzwischen konfisziert, nur für den Fall, dass man sie damit irgendwie ausspionieren konnte.

Keefe grinste. »Du bist wirklich bezaubernd, wenn du dir Sorgen machst. Das hab ich dir aber schon mal gesagt, oder?«

Sophie bedachte ihn mit ihrem besten finsteren Blick und sein Grinsen wurde nur noch breiter.

Er machte einen Schritt auf sie zu und nahm ihre Hände. »Lass uns erst mal den heutigen Tag überstehen, ja? Dann ist keiner von uns mehr wegen Alvar abgelenkt und wir können uns wieder voll konzentrieren.«

»Ja, wahrscheinlich.«

»Hmm.« Er fuhr mit dem Daumen über den Hautstreifen zwischen ihrem Handschuh und dem Saum ihres perlenbestickten Ärmels. »Es gibt irgendwas, das du mir nicht erzählst. Das kann ich spüren.«

Richtig.

Denn da war diese andere Frage, die sie zu vermeiden versucht hatte, weil sie sehr genau ahnte, was ihre Freunde dazu sagen würden.

»Komm schon, Foster. Ich bin’s. Du weißt, dass du mir vertrauen kannst. Und außerdem kennst du schon alle meine schlimmsten Geheimnisse, also …«

Es war die Ernsthaftigkeit in seinen Augen, die sie dazu brachte, erneut über ihre Schulter zu blicken und sich zu vergewissern, dass der Saal immer noch leer war, ehe sie flüsterte: »Findest du es seltsam, jemanden für Verbrechen zu bestrafen, an die er sich nicht mehr erinnern kann?«

»Seltsam?«, fragte Keefe. »Oder falsch?«

»Vermutlich beides.«

Er nickte, trat wieder einen Schritt zurück und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Na ja … an dieser Sache ist alles seltsam. Aber nur weil Alvar sich nicht mehr an all die grausigen Dinge erinnert, die er getan hat, bedeutet das nicht, dass sie nie passiert sind.«

»Stimmt.«

Sophie wusste besser als jeder andere, wozu Alvar fähig war. Und trotzdem … die wenigen Male, die sie ihn seit seinem Gedächtnisverlust gesehen hatte, war er ihr irgendwie anders vorgekommen.

Nicht hinterlistig oder arrogant oder wütend.

Sondern furchtbar verängstigt. Und verzweifelt. Und er hatte sie alle immer wieder angefleht, endlich zu begreifen, dass er nicht der war, für den sie ihn hielten.

»Außerdem könnte es sein, dass seine Erinnerungen doch wieder zurückkehren«, fügte Keefe hinzu. »Nur weil wir bisher noch nicht den richtigen Auslöser gefunden haben, heißt das nicht, dass die Neverseen keinen eingebaut haben.«

Das war ein weiterer Grund, warum Sophie eine Chance wollte, sich in Fintans Kopf umzusehen. Sie hatten Alvar mehrere Monate vor Fintans Gefangennahme gefunden, deshalb wusste er garantiert, warum Alvar in dieser Zelle gelandet war.

Doch da der Hohe Rat nicht einwilligen wollte, hatte Sophie MrForkle davon überzeugt, Alvar an verschiedene Orte aus seiner Vergangenheit zu bringen, etwa in seine alte Wohnung oder in die zerstörten Verstecke der Neverseen, die sie aufgespürt hatten. Darüber hinaus hatten sie Alvar tagelang die unterschiedlichsten Bilder, Geräusche und Gerüche präsentiert und ihn sogar verschiedene Dinge schmecken lassen, in der Hoffnung, dass ihm irgendetwas auch nur annähernd vertraut vorkam.

Aber nichts von alldem hatte auch nur die winzigste Erinnerung ausgelöst.

Und langsam begann Sophie zu glauben, dass das auch niemals passieren würde.

»Ich sage ja nicht, dass ich Alvar traue«, versicherte sie, drehte sich im Kreis und ließ den Blick über die unzähligen leeren Sitzreihen schweifen. »Aber ich weiß auch, wie furchtbar es ist, in diesem Raum zu sein und dem Hohen Rat gegenüberzutreten. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, das durchmachen zu müssen, ohne mich überhaupt daran zu erinnern, warum ich vor Gericht stehe. Ich meine … Alvars Zukunft wird von einer Vergangenheit bestimmt, die er nicht mal für seine eigene hält.«

»Aber das ist sie«, widersprach Keefe ihr. »Wir haben uns das schließlich nicht alles nur ausgedacht. Er war dabei, als du und Dex entführt wurdet. Er hat den Neverseen geholfen, Wylie zu verschleppen und ihn zu foltern. Er war an der Entführung deiner menschlichen Familie beteiligt – und das sind nur die Dinge, von denen wir wissen. Ich habe ihn selbst erlebt, als ich mich den Neverseen zum Schein angeschlossen habe. Er war voll dabei. Er stand zu hundert Prozent hinter ihrer Sache, ganz gleich was sie von ihm verlangten. Und er wäre ihnen immer noch treu ergeben, wenn sie ihn nicht fallen gelassen hätten – falls das wirklich passiert ist. Willst du ihn ernsthaft vom Haken lassen, nur weil sie seinen Verstand ausradiert haben, damit er uns keins ihrer Geheimnisse verraten kann?«

»Nein. Aber ihn in dieser elenden Zelle einzusperren, kommt mir trotzdem irgendwie … ungerecht vor.«

»Herrje, ihr Elfen müsst immer alles zerdenken«, grummelte Ro. »Die Sache ist doch total simpel: Ein Verräter ist ein Verräter und muss bestraft werden, damit alle begreifen, dass ein Verrat Konsequenzen hat. Wenn ihr nicht bereit dazu seid, seinem Leben ein Ende zu setzen, dann sperrt ihn weg und zerstört den Schlüssel. Oder noch besser: Hängt den Schlüssel irgendwo auf, wo Alvar ihn sehen kann, damit er ihn bis in alle Ewigkeit anstarren muss, in dem Wissen, dass er ihn niemals erreichen wird.«

»Ausnahmsweise sind die Ogerprinzessin und ich einer Meinung«, sagte Sandor.

Sophie seufzte. »Na, ich bin jedenfalls froh, dass ich diese Entscheidung nicht treffen muss.«

»Ich auch«, stimmte Keefe ihr zu. »Weil ich nämlich stark vermute, dass Fitz komplett durchdrehen wird, wenn der Hohe Rat Alvar nicht mindestens lebenslänglich aufbrummt.«

Die Vorstellung ließ Sophie zusammenzucken.

Die Elfen bezeichneten ihre Lebensspanne als »unbegrenzt«, weil bisher noch keiner von ihnen an Altersschwäche gestorben war. Wenn Fitz’ Wunsch tatsächlich in Erfüllung ging, würde Alvar mehrere Jahrtausende eingesperrt sein – vielleicht sogar Jahrmillionen. Und seine Zelle war nicht nur eng und stickig, sie war auch mitten in einem stinkenden Sumpf vergraben und roch noch schlimmer als Impatem.

Keefe trat erneut an Sophies Seite, lehnte sich zu ihr und flüsterte: »Ich verstehe, worauf du hinauswillst, Foster. Die bösen Jungs zu bestrafen, sollte einfacher sein als das hier – und viel mehr Spaß machen.«

»Ja«, sagte Sophie leise. »Ich war so lange wütend auf Alvar, dass ich niemals geglaubt hätte, er würde mir irgendwann mal leidtun.«

»Uuuuuuuuuuuuuuuund das ist der Grund, warum wir stundenlang hier festsitzen werden«, jammerte Ro.

»Nee, ich bin mir ziemlich sicher, dass der Hohe Rat seine Entscheidung bereits gefällt hat«, erwiderte Keefe. »Sie ziehen für die Vackers bloß eine Show ab.«

»Willst du wetten?« Ros Grinsen sah richtig gefährlich aus, als sie hinzufügte: »Ich sage, dass wir bis Sonnenuntergang hier rumhocken werden – und wenn ich recht habe, dann musst du in einer Ogerrüstung in der Schule auflaufen statt in deiner Uniform.«

Keefe grinste. »Und wenn schon – ich würde in diesem Metallhöschen fantastisch aussehen. Aber ich sage, dass diese Anhörung höchstens eine Stunde dauern wird – und falls ich richtig liege, musst du mich ab sofort Lord Hammerhaar nennen.«

Sophie schüttelte den Kopf. »Ihr zwei seid echt unausstehlich.«

»Darum liebst du uns ja so!« Keefe schlang einen Arm um ihre Schultern. »Du solltest auch mitwetten, Foster. Deinem verschlagenen kleinen Geist würden bestimmt ein paar extrapeinliche Strafen für uns einfallen, sollten wir falschliegen.«

Damit hatte er wahrscheinlich recht. Aber sie würde es auf keinen Fall riskieren, in der Foxfire einen Brustpanzer tragen zu müssen. Ros Rüstung sah aus wie eine Kombination aus mittelalterlichem Korsett und stachelbestücktem Bikinihöschen.

»Vergiss es.«

Keefe seufzte dramatisch. »Na schöööööön. Ich schätze, das kann ich dir nicht übel nehmen, schließlich schulde ich dir bereits einen Gefallen. Hast du dir übrigens schon Gedanken darüber gemacht, wie meine Bestrafung aussehen soll? Glaub ja nicht, ich hätte nicht bemerkt, wie lange du die Sache schon rauszögerst.«

»Ich zögere gar nichts raus«, widersprach Sophie ihm. »Ich … hab mich nur noch nicht entschieden, was ich will.«

»Ja, ich weiß.« Der neckende Unterton war aus seiner Stimme verschwunden und durch etwas ersetzt worden, das Sophie plötzlich sehr bewusst machte, wie nahe sie nebeneinanderstanden. »Lass dir ruhig Zeit«, fügte er hinzu, die Worte kaum mehr als ein Flüstern. »Sag mir … einfach Bescheid, wenn du dich entschieden hast. Weil ich –«

Das Auffliegen der Saaltüren ließ ihn verstummen.

»Oh, gut. Hier kommt die Elfenparade«, murmelte Ro.

»Die Vacker-Parade«, korrigierte Keefe sie. »Aber mach dich auf was gefasst – sie glitzern von uns allen am meisten.«

Das taten sie wirklich.

Sophie blieb sogar kurz der Mund offen stehen, als sie die legendäre Familie in einer langen Reihe förmlich in den Saal gleiten sah, alle in elegante Roben, maßgeschneiderte Westen und mit Edelsteinen besetzte Umhänge gewandet. Sie hatte geglaubt, sie wäre inzwischen an den unglaublichen Reichtum und die alterslose Schönheit der Elfen gewöhnt. Aber die Vackers verlangten auf eine Weise Aufmerksamkeit, die Sophie nicht erklären konnte. Jede und jeder Einzelne von ihnen hatte etwas Atemberaubendes an sich – was nur umso beeindruckender war, wenn man bedachte, wie unterschiedlich sie jeweils aussahen. Sophie entdeckte alle erdenklichen Haar- und Hautfarben, Gesichtszüge und Körperformen. Wahrscheinlich hätte es sie nicht überraschen sollen, schließlich reichte der Stammbaum der Familie mehrere Tausend Jahre zurück und die Elfen trennten sich nicht anhand von Äußerlichkeiten voneinander ab, wie die Menschen es häufig taten. Aber sie war so sehr daran gewöhnt, wie ähnlich Fitz, Biana und Alvar ihren Eltern sahen, dass sie sich törichterweise auch sämtliche ihrer Verwandten mit dem gleichen dunklen Haar und blassen Teint vorgestellt hatte.

Sophie musterte die an ihr Vorbeikommenden, um vielleicht einen Blick auf Fallon Vacker zu erhaschen, Fitz’ und Bianas Urururururururururururururururururururgroßvater. Sie versuchte schon seit Monaten, ihn zu einem Treffen zu bewegen, in der Hoffnung, er könnte ihr mehr darüber erzählen, warum er Vespera zu lebenslanger Haft im Verlies von Lumenaria verurteilt hatte. Aber leider hatte er sich überaus unkooperativ gezeigt.

Sophie entdeckte zwar mehrere Männer mit spitzen Ohren – das Erkennungsmerkmal der Ältesten –, doch da sie sonst nichts über Fallons Aussehen wusste, ließ die Suche sich nicht weiter eingrenzen. Und sie konnte auch nicht Keefe danach fragen, weil es im Raum viel zu still war. Niemand sagte ein Wort, alle stiegen nur schweigend die Stufen der Sitzreihen hinauf und nahmen ihre Plätze ein.

Trotzdem schien diese Stille noch tiefer zu werden, als sich erneut die Türen öffneten und Alden und Della den Saal betraten, gefolgt von Fitz und Biana und ihren Koboldleibwachen Grizel und Woltzer.

Sophie hatte ihre Freunde schon von Trauer zerstört gesehen, vor Wut bebend und vor Panik schluchzend – sogar schwer verletzt, blutüberströmt und halb tot. Aber noch nie so … verzagt. Ihre Kleidung wirkte düster und unauffällig, ihre türkisblauen Augen hielten sie auf den Boden gerichtet. Außerdem machte Biana sich mithilfe ihrer Entschwinderinnenkräfte bei jedem Schritt länger unsichtbar, als sie es normalerweise tat.

Das Gleiche galt für Della, die ihr langes Haar zu einem schlichten Knoten zusammengefasst hatte und ein Kleid mit passendem Umhang in mattem Grau trug, ohne jegliche Zierde.

Aldens Umhang und Weste waren ebenso schmucklos.

Nicht dass sie dadurch weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätten.

Die Luft im Raum schien mit jedem starren, auf sie gerichteten Blick heißer und schwerer zu werden – ein glühender Sturm der Verurteilung jenes Familienzweigs, der Schande über den Namen Vacker gebracht hatte. Fitz und Biana schienen unter der gewaltigen Last förmlich zu schrumpfen und beschleunigten mit hängenden Köpfen ihre Schritte, während das wütende Gemurmel immer lauter wurde und von einem leisen Raunen zu einem dumpfen Dröhnen anschwoll.

Sophie versuchte, sich irgendetwas einfallen zu lassen, was sie zu ihnen sagen konnte, als die beiden sich ihr näherten, doch ihr Verstand verweigerte ihr den Dienst – und auch Keefe schien ausnahmsweise keinen Witz parat zu haben. Sophie war daher gezwungen, auf ein alles andere als inspiriertes »Hey« zurückzugreifen.

Biana riss den Kopf hoch. »Oh! Was macht ihr denn hier?«

»Hat euer Dad euch nicht gesagt, dass er uns eine Zugangsberechtigung organisiert hat, damit wir dabei sein können?«, fragte Keefe und ließ seinen Arm von Sophies Schulter fallen, als er sah, wie Fitz sie anstarrte.

»Ich wollte, dass es eine Überraschung ist«, erklärte Alden. »Ich hoffe, das ist in Ordnung.«

»Natürlich!« Biana warf sich in Sophies Arme und riss sie beinahe zu Boden, aber Sophie erwiderte die Umarmung so sanft, wie sie konnte.

Biana betonte zwar stets, sie habe sich längst von den grausamen Verletzungen erholt, die sie in Nightfall davongetragen hatte, aber Sophie war durchaus aufgefallen, dass ihre Freundin nun stets lange Ärmel trug und Kleider und Tuniken wählte, die Hals und Schultern bedeckten.

»Du siehst übrigens sensationell aus«, sagte Biana und löste sich von Sophie, um deren Kleid zu bewundern. »Jetzt wünschte ich, ich hätte mir die Haare geflochten oder so.«

»Ach bitte, du bist wunderschön«, versicherte Sophie ihr. »Wie immer.«

Es war nicht gelogen.

Selbst in einem Saal voller Vackers schaffte Biana es, besonders zu strahlen.

Ebenso wie Fitz – auch wenn Sophie sich alle Mühe gab, es nicht zu bemerken.

»Hey, Fitzy«, sagte Keefe und knuffte ihn in die Seite. »Willst du bei unserer Wette einsteigen, wie lange dieses Tribunal dauern wird? Du kannst deine Bedingungen selbst bestimmen – oh, aber wenn du verlierst, musst du in der Schule ein Metallhöschen tragen und mich von jetzt an Lord Hammerhaar nennen.«

»Äh … okay, nein«, sagte Fitz, während Biana fragte: »Hammerhaar?«

»Lord Hammerhaar«, korrigierte Keefe sie. »Was denn? Der Name passt ja wohl perfekt.« Er schüttelte sein Haar wie in einer Shampoowerbung. »Ich denke, wir sollten ihn so oder so übernehmen, findest du nicht auch, Foster?«

»Ich finde dich total lächerlich«, erwiderte Sophie.

Andererseits … Biana kicherte. Und auch um Fitz’ Mundwinkel zuckte ein Lächeln. Selbst Alden und Della entspannten sich ein wenig.

Doch dann wurden alle wieder ernst, als Alden ihnen bedeutete, ihm zu einer silbernen Stiege zu folgen. Sie führte auf ein Podest, auf dem eine Stuhlreihe den Thronen der Hohen Rätinnen und Räte gegenüberstand.

Fitz bot Sophie seinen Arm an und sie versuchte auszublenden, dass dank der Geste alles in ihr zu flattern begann. Wahrscheinlich tat er es sowieso nur, weil alle wussten, dass es nicht unbedingt zu ihren Stärken gehörte, irgendwo hochzuklettern, ohne ins Straucheln zu geraten – vor allem wenn sie hohe Absätze trug. Doch sie errötete trotzdem, als sie sich bei ihm unterhakte.

Und sie erglühte förmlich, als Fitz sagte: »Ich bin froh, dass du hier bist.«

»Ich auch.«

Und Sophie meinte es so, auch wenn sie bemerkte, wie sich der Tonfall des Gemurmels im Raum veränderte, und sie genügend Gesprächsfetzen auffing, um zu wissen, dass viele der Anwesenden über sie tuschelten.

»Bei den Menschen aufgewachsen.«

»Genetisch verändert.«

»Projekt Mondlerche.«

Außerdem hörte sie mehrfach das Wort »Heiratsvermittlung«, beschloss jedoch, dass sie nicht wissen wollte, was genau sich die betreffenden Vackers zuflüsterten. Besonders als sie Keefes Grinsen bemerkte.

Fitz führte sie zu einem Stuhl am linken Rand des Podests und setzte sich neben sie, während Keefe sich auf seiner anderen Seite niederließ, gefolgt von Biana, Della und Alden. Ihre Leibwachen bezogen geschlossen hinter ihnen Posten.

»Wo wird Alvar sein?«, flüsterte Sophie, als ihr auffiel, dass kein einziger Platz mehr frei war.

Alden zeigte auf eine Stelle im Fußboden, wo ein Quadrat zu erkennen war. »Diese Plattform wird nach oben fahren, sobald er darauf steht.«

»Er muss dem Hohen Rat allein gegenübertreten«, fügte Della leise hinzu.

»Und wie es aussieht, läuft unsere Zeit ab jetzt«, sagte Keefe zu Ro, als zwei Dutzend schwer bewaffnete Kobolde in den Saal marschierten und sich rund um die Throne der Ratsmitglieder aufstellten.

»Das nennen die Sicherheitsvorkehrungen?«, schnaubte Ro. »Ich könnte sie allesamt ausschalten, ohne überhaupt einen Dolch zu ziehen.«

Fanfaren übertönten Sandors Antwort, was vermutlich auch besser war. Sophies Brust krampfte sich zusammen, als alle zwölf Ratsmitglieder in ihren silberglänzenden Umhängen und mit funkelnden Reifen im Haar auf die Plattform glitzerten.

Ro stöhnte. »Wow. Passen die Juwelen an ihren Krönchen ernsthaft zu ihrem jeweiligen Thron?«

»Ich nehme an, es wäre Euch lieber, wir würden uns unseren Zierrat auf die Haut tätowieren lassen?«, fragte Rat Emery sie.

Seine tiefe, samtene Stimme hallte von den Smaragdwänden wider, aber Ro wirkte nicht im Geringsten eingeschüchtert, als sie eine Hand hob und mit einer ihrer pinkfarbenen Krallen über die verschnörkelten Tattoos an ihrer Stirn fuhr.

»Ich bezweifle, dass ihr die Schmerzen ertragen würdet.«

»Ich glaube, Ihr wärt überrascht, was wir alles ertragen können«, sagte Rat Emery.

Seine Haut hatte normalerweise einen ähnlichen Farbton wie sein langes dunkles Haar – doch welche Erinnerungen auch immer zu seiner Entgegnung geführt haben mochten, sie ließen ihn ein wenig fahl erscheinen.

»Aber wir sind nicht hier, um darüber zu diskutieren«, fügte er dann hinzu und ließ sich auf seinem saphirblauen Thron nieder, der sowohl zu seinem Reif als auch zu seinen Augen passte. »Ich weiß, dass viele in diesem Saal wichtige Verpflichtungen haben, zu denen sie zurückkehren müssen. Deshalb wollen wir keine Zeit vergeuden.«

»Hast du gehört?«, fragte Keefe Ro, während auch die anderen Hohen Rätinnen und Räte auf ihren Thronen Platz nahmen. »Sie wollen keine Zeit vergeuden.«

»Pah, als ob sie das durchhalten würden«, brummte Ro.

»Bringt den Angeklagten herein!«, befahl Rat Emery und vier weitere Koboldkrieger marschierten in den Saal. Sie flankierten einen von einer Kapuze verhüllten Mann, der mit jedem Schritt an und aus blinkte, genau wie seine Mutter und seine Schwester.

Alvar war nie so mühelos attraktiv gewesen wie seine jüngeren Geschwister, was er jedoch stets durch stilsichere Kleidung, perfekt gestyltes Haar und seinen makellosen Körperbau wieder wettgemacht hatte, durch den er aussah, als würde er jeden Tag stundenlang trainieren. Er wäre sicher selbst entsetzt gewesen über den ausgemergelten, kraftlosen Elf, in den er sich verwandelt hatte. Der viel zu weite graue Umhang schien ihn regelrecht zu verschlucken und fettige Haarsträhnen fielen ihm über die blassblauen Augen.

Doch am schlimmsten waren die bogenförmigen roten Narben, die sein hageres Gesicht verunstalteten.

»Der Hohe Rat macht jetzt hoffentlich keinen Fehler«, flüsterte Fitz, als die Plattform mit Alvar nach oben fuhr, bis er auf Augenhöhe mit den Ratsmitgliedern war.

»Nennen Sie fürs Protokoll Ihren vollständigen Namen«, wies Rat Emery ihn an.

Alvar verneigte sich wackelig und streifte seine Kapuze ab. »Wie man mir sagt, heiße ich Alvar Soren Vacker.«

»Es klingt ganz so, als glaubten Sie nicht, dass dies tatsächlich Ihr Name ist«, bemerkte Emery.

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, erwiderte Alvar. »Wie ich Ihnen schon mehrfach versichert habe, habe ich keinerlei Erinnerungen an meine Vergangenheit.«

Fitz nahm Sophies Hand, als Rat Emery die Augen schloss. Als Sprecher des Hohen Rats war es Emerys Aufgabe, sämtliche Diskussionen unter den Mitgliedern telepathisch zu leiten, um sicherzustellen, dass sie vor den Anwesenden als vereinte Front auftraten.

Lange Sekunden verstrichen – und Ros Grinsen wurde mit jeder von ihnen breiter –, bevor Emery Alvar fragte: »Verstehen Sie, weshalb wir Sie heute hierher zitiert haben?«

Alvar verneigte sich erneut. »Ich verstehe, dass gewisse Anschuldigungen gegen mich vorgebracht wurden. Aber ich kann ihren Wahrheitsgehalt nicht überprüfen.«

»Wollen Sie damit sagen, wir lügen?«, bellte eine scharfe Stimme.

Sämtliche Augen richteten sich auf Rat Bronte. Er war das älteste Mitglied des Hohen Rats, was die spitzen Ohren ebenso bewiesen wie sein durchdringend starrer Blick, mit dem er bei anderen jederzeit unbeschreibliche Schmerzen bewirken konnte.

Alvar wich einen Schritt zurück. »Natürlich nicht. Ich will nur … meine missliche Lage erläutern. Mir wird ständig erklärt, welche Verbrechen ich begangen haben soll, aber ich fühle zu keinem davon irgendeine Verbindung. Ebenso wenig wie ich eine Verbindung zu irgendjemandem in diesem Raum spüre, obwohl man mir gesagt hat, dies sei meine Familie.«

Er blickte hinter sich und betrachtete die einschüchternde Menge im Saal, bevor er den Blick auf Alden und Della richtete. »Ich wünschte, ich könnte mich an euch erinnern. Ich wünschte, ich könnte mich an irgendetwas erinnern. Aber da ich es nicht kann, werde ich nur Folgendes sagen: Wer immer diese grauenvollen Dinge auch getan hat, die man mir vorwirft – das bin nicht ich. Vielleicht war ich es einmal. Und falls dem wirklich so ist, dann tut es mir aufrichtig leid. Aber ich verspreche euch, dass ich nicht mehr diese Person bin.«

»Sicher«, grummelte Fitz so laut, dass das Wort von den Wänden widerhallte.

»Ich verstehe Ihre Skepsis, MrVacker«, versicherte Rat Emery ihm. »Auch wir hegen Zweifel daran.«

»Dann gebt mir die Gelegenheit, mich zu beweisen!«, flehte Alvar. »Mir ist bewusst, dass die Chancen, meine Freiheit zurückzuerlangen, verschwindend gering stehen. Aber falls Ihr sie mir tatsächlich zurückgeben würdet –«

»Würden wir damit das Leben sämtlicher Bewohner der Verlorenen Städte in Gefahr bringen«, beendete Rat Emery den Satz für ihn. »Ob Sie sich nun an Ihre Vergangenheit erinnern oder nicht, Ihre Verbindung zu den Neverseen stellt eine Bedrohung dar, die wir nicht ignorieren können.«

Alvar ließ die Schultern sinken.

»Aber«, fügte Emery hinzu und alle im Saal schienen nach Luft zu schnappen, »Ihre momentane Gefangenschaft wirft auch ein recht kompliziertes Problem auf.«

Fitz Hand zitterte und Sophie umfasste sie noch fester, indem sie ihre behandschuhten Finger zwischen seine schob, während Rat Emery erneut die Augen schloss und sich die Schläfen massierte.

Ro beugte sich nach unten und flüsterte Keefe zu: »Stell dich schon mal auf eine lange Debatte ein, Wettmeister. Und mach dich darauf gefasst, in einer winzigen Rüstung durch die Schule zu spazieren.«

Keefe zuckte nur mit den Schultern.

Emery erhob sich und ging zweimal auf der Plattform hin und her, bevor er sich zu Alvar umdrehte. »Ich gestehe, dass keiner von uns sich wirklich wohlfühlt mit dem, was ich gleich verkünden werde – doch wir sind auch nicht bereit, ein Urteil zu sprechen, solange noch so viele Aspekte ungewiss sind.«

»WAS?«, platzte Fitz heraus und sprang von seinem Stuhl auf.

»Uns ist klar, dass diese Situation eine emotionale Herausforderung für Sie ist, MrVacker«, wandte Rat Emery sich an Fitz. »Darum werde ich Ihre Unterbrechungen auch tolerieren. Aber Sie werden mir doch gewiss darin zustimmen, dass es der wichtigste Zweck einer jeden Bestrafung sein muss, weitere Verbrechen zu verhindern. Und wir können nicht mit Sicherheit sagen, welche Maßnahmen bei Ihrem Bruder in dieser Hinsicht vonnöten sind, solange wir nicht herausgefunden haben, wer er jetzt ist. Wir müssen erst einmal beobachten, wie er mit anderen interagiert, und sehen, wie er sich in ganz gewöhnlichen Situationen verhält – und in der Isolation seiner Zelle ist das unmöglich. Da wir ihm jedoch auch nicht vertrauen können, müssen wir ihn in eine Umgebung verlegen, in der wir ihn ständig überwachen und vom Großteil unserer Welt fernhalten können, während wir gleichzeitig die Möglichkeit haben, diese notwendige Einschätzung zu treffen.«

Sophie fiel auf, dass Alden und Della von dieser Ankündigung nicht im Geringsten überrascht waren, und im selben Moment begriff sie, dass das der Grund sein musste, warum man sie als moralische Unterstützung eingeladen hatte.

Ein flüchtiger Blick zu Keefe verriet ihr, dass er zu derselben Schlussfolgerung gelangt war.

Darum schnappte auch keiner von ihnen nach Luft wie der Rest der Anwesenden, als Emery die Entscheidung des Hohen Rats kundtat. Trotzdem meldete sich bei seinen Worten eine böse Vorahnung in Sophie, die auf ihrer Zunge einen bitteren Nachgeschmack hinterließ: »Für die nächsten sechs Monate wird Alvar nach Everglen zurückkehren.«

2

Aber er ist ein Mörder!«, brüllte Fitz. »Haben Sie etwa schon vergessen, dass Alvar dabei geholfen hat, Lumenaria zu zerstören?«

»Ganz sicher nicht!« Stille legte sich über den Saal, kaum dass Rat Terik sich von seinem smaragdenen Thron erhob.

Sophie war ihm seit dem verheerenden Friedensgipfel und dem Einsturz der majestätischen Festung nicht mehr begegnet – und er sah besser aus, als sie es erwartet hatte, wenn man seine Verletzungen bedachte. Seine blasse Haut zeigte keinerlei Anzeichen von Narben, seine kobaltblauen Augen strahlten hell und klar. Doch als er ein paar Schritte vortrat …

Das rechte Bein bewegte sich geschmeidig, doch das linke wirkte viel steifer und langsamer. Ohne den silbernen Gehstock, den er aus den Falten seines Umhangs gezogen hatte, wäre er vermutlich gestürzt.

»Wie Sie unschwer erkennen, muss ich mich immer noch daran gewöhnen.« Er klopfte mit dem Stock gegen sein linkes Bein und füllte den Saal mit einem leisen Klappern, das verriet, was sich unter dem dicken Stoff seiner Kleidung befand.

Elfenheiler waren der Medizin der Menschen um Lichtjahre voraus, aber nicht einmal sie konnten abgetrennte Gliedmaßen nachwachsen lassen. Stattdessen hatte ein ganzes Team von Technopathen eine maßgefertigte Prothese für Terik entwickelt.

Doch Metall funktionierte niemals genauso wie Muskeln und Knochen.

Bei seinem nächsten unsicheren Schritt konnte Rat Terik eine schmerzverzerrte Grimasse nicht unterdrücken, was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass er zu Fitz sagte: »Ich verstehe Ihren Zorn besser als jeder andere. Aber … diese Wut darf nicht dazu führen, dass wir Potenzial außer Acht lassen.«

Die Bedeutung des Wortes breitete sich wie eine Welle langsam im Raum aus.

»Ja«, sagte Terik und steckte eine lose Strähne seines welligen braunen Haars unter seinen Smaragdreif zurück. »Ich habe bei Alvar eine neue Lesung durchgeführt.«

Terik war der einzige Erspäher in den Verlorenen Städten und konnte erkennen, welches Potenzial jemand in sich trug. Er setzte diese Fähigkeit allerdings nur sehr selten ein, weil sie, wie er Sophie erklärt hatte, zu viele Probleme verursachte.

Er drehte sich zu Alvar um und betrachtete ihn. »Ich habe mir selbst geschworen, für Ihre lebenslange Haft zu stimmen, falls das Ergebnis genauso ausfallen sollte wie beim ersten Mal. Doch etwas hat sich verändert.«

Alvar schnappte nach Luft. »Was soll das bedeuten?«

»Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung«, gab Terik zu. »Lesungen sind oft schwer zu deuten.«

»Und woher wissen Sie dann, dass er nicht noch schlimmer geworden ist?«, konterte Fitz.

»Das weiß ich nicht. Unsere Potenziale sind eine komplizierte Angelegenheit. Wir müssen ihnen gerecht werden, wollen wir sie mit Bedeutung füllen. Aber wir dürfen sie auch nicht ignorieren – vor allem in einer Situation wie dieser. Wir alle werden mit gewissen Eigenschaften geboren. Gewissen Einschränkungen und Fähigkeiten. Doch es sind unsere Erfahrungen, die uns wirklich formen. Alles, was wir sehen, lernen und tun, macht uns zu denen, die wir sind. In Alvars Fall allerdings wurde all das ausgelöscht. Deshalb dürfen wir nicht einfach annehmen, etwas über ihn zu wissen. Ebenso wenig wie wir davon ausgehen dürfen, dass er die Entscheidungen von einst erneut treffen wird.«

»Und aus ebendiesem Grund gewähren wir Ihnen sechs Monate Zeit, MrVacker«, wandte Rat Emery sich an Alvar. »Stellen Sie Ihren Wert in dieser Frist unter Beweis, werden wir dies bei der endgültigen Strafmaßverkündung berücksichtigen. Sollten Sie es jedoch versäumen, uns zu beeindrucken, werden wir dafür sorgen, dass Sie das Tageslicht nie wieder erblicken.«

»Und Sie sollten auch keine Nachsicht erwarten«, fügte Rätin Alina hinzu – Sophies unliebstes Ratsmitglied. Sie erhob sich von ihrem Peridotthron und warf ihr langes dunkles Haar zurück, in dem karamellfarbene Strähnen glänzten. »Die kleinste Verfehlung – und Ihre Probezeit ist sofort beendet. Darüber hinaus werden Sie sich die Wohnung mit zweien unserer vertrauenswürdigsten Koboldkrieger teilen, die uns über alles informieren werden, was Sie tun.«

Biana runzelte die Stirn. »Welche Wohnung?«

»Einige Gnome errichten auf unserem Anwesen eine separate Unterkunft für Alvar«, erklärte Alden. »Eure Mutter und ich dachten, das wäre einfacher, als ihn bei uns im Haupthaus unterzubringen.«

Fitz wirbelte herum. »Dann wusstet ihr also, dass das passieren würde!«

»Fitz …«, begann Della.

Er schüttelte den Kopf und drehte sich zu Sophie und Keefe um. »Wusstet ihr es auch? Ist das der Grund, warum ihr hier seid?«

»Sie sind hier, weil ich sie darum gebeten habe«, antwortete Alden für sie. »Ich habe ihnen nicht gesagt, warum. Aber ja, deine Mutter und ich haben es heute Morgen erfahren, als Rat Terik uns einen Besuch abgestattet und uns gebeten hat, es dem Hohen Rat zu erlauben, Alvar auf unser privates Anwesen zu verlegen.«

»Und ihr habt ihnen die Erlaubnis erteilt?«, fragte Biana und stellte sich an Fitz’ Seite, als hätte gerade jemand eine unsichtbare Linie zwischen ihnen und ihren Eltern gezogen.

Della seufzte. »Ich weiß, dass das keiner von euch hören will. Aber Alvar ist unser Sohn – und euer Bruder. Wir sind es ihm schuldig –«

»Wir sind ihm überhaupt nichts schuldig!«, unterbrach Fitz sie. »Er hat uns verraten! Und wenn ihr glaubt, dass er es nicht wieder tun wird, dann seid ihr –«

»Ich würde es mir gut überlegen, bevor ich irgendeine Beleidigung ausspreche«, warnte Rat Emery ihn. »Dies ist die Entscheidung des Hohen Rats.«

Fitz spannte den Kiefer so fest an, dass sein Kinnmuskel zuckte.

Alden räusperte sich. »Ich weiß, dass du wütend bist, Fitz. Und ich werde dir nicht sagen, dass du es nicht sein sollst. Aber mach diese Sache bitte nicht größer, als sie in Wahrheit ist. Es sind sechs Monate deines Lebens.«

»In sechs Monaten kann eine Menge passieren«, rief eine Stimme vom Eingang des Saals mit demselben klaren Akzent, den auch Fitz, Biana und Alden teilten.

Ein Flüstern lief durch die Menge, als ein blonder Mann in einem makellos weißen Umhang hereintrat. Sein Gesicht schien nur aus scharfkantigen Linien zu bestehen und seine Ohren waren von den längsten Spitzen gekrönt, die Sophie jemals gesehen hatte. Deshalb war sie nicht allzu überrascht, als Bronte sagte: »Es ist schön, dich zu sehen, Fallon. Ich hatte nicht erwartet, dass du heute zu uns stößt.«

»Ich hatte auch nicht erwartet, hier zu sein«, erwiderte Fallon und warf einen Blick über die Schulter, als sei er versucht, sich wieder umzudrehen und die Flucht zu ergreifen.

Sophie reckte den Hals, um den bekanntermaßen einsiedlerischen Vacker besser sehen zu können – und zum ersten Mal verstand sie, warum die Leute dem Wort »attraktiv« oft ein »umwerfend« vorausschickten. Der Ansatz seines weißblonden Haars war geradezu dramatisch spitz und verlieh seinen perfekt gemeißelten Gesichtszügen eine gewisse Strenge. Doch am bemerkenswertesten waren seine Augen: dunkel wie der Mitternachtshimmel, schimmerten sie mit einer Intensität, die nur durch jahrtausendelang gewachsene Weisheit entstehen konnte.

»Nun … wir freuen uns, dass du es trotzdem einrichten konntest«, sagte Emery und alle zwölf Ratsmitglieder neigten kaum merklich den Kopf. Die Geste war zwar nicht direkt eine Verbeugung, aber Sophie nahm an, sie würdigten damit vor allem die Tatsache, dass Fallon einst selbst dem Hohen Rat angehört hatte. Er war eines der Gründungsmitglieder gewesen und hatte dieses Amt fast tausend Jahre lang bekleidet, bevor er Fitz’ und Bianas Urururururururururururururururururururgroßmutter geheiratet hatte.

Ratsmitgliedern war es nicht erlaubt, verheiratet zu sein oder Kinder zu bekommen, weil es ihre Entscheidungen beeinflussen konnte.

Fallon rang die Hände, während er den Blick durch den Raum schweifen ließ. »Entschuldigt, dass ich zu spät komme. Ich ziehe die Einsamkeit meines Zuhauses vor. Es ist der einzige Ort, an dem mein Geist keine Mühe hat, voneinander zu trennen, was ist und was einmal war. Ich weiß wirklich nicht, wie du das aushältst, Bronte.«

»Es hilft mir, mich zu vertiefen«, erwiderte Bronte. »Voll und ganz in die Gegenwart einzutauchen.«

»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.« Fallons Augen wurden ganz glasig, als er auf einen Punkt in der Ferne starrte. »Doch die heutige Welt ist so … ermüdend.«

Stille folgte, bis Emery mit einem winzigen Anflug von Gereiztheit in der Stimme sagte: »Ich nehme an, du hast einen guten Grund dafür, unsere Anhörung zu unterbrechen?«

Fallon blinzelte heftig und ließ die Hände sinken. »Den habe ich. Oder … hatte ich. Ich glaube, ich habe den Faden verloren. Was habe ich gerade noch gleich gesagt?«

»Der Typ ist mein neuer Lieblingself«, flüsterte Ro, packte Keefe an den Schultern und schüttelte ihn unsanft. »Mach dich schon mal drauf gefasst, deine dürren Beinchen demnächst in der Schule zu präsentieren.«

»Sie sind nicht dürr«, murmelte Keefe, bevor er Fallon zurief: »Sie haben gesagt: ›In sechs Monaten kann eine Menge passieren.‹«

»Ah. Ja. Das kommt mir bekannt vor. Und es kann viel passieren.« Fallon starrte auf seine Finger und verknotete sie ineinander. »Ich wollte noch etwas hinzufügen … aber ich scheine vergessen zu haben, was es war.«

Ro kicherte leise, während sich abermals Stille über den Raum legte, und Sophie unterdrückte mühsam ein Grinsen, als Keefe sich auf seinem Stuhl zu winden begann.

Schließlich sagte Emery: »Nun, du darfst uns gern jederzeit einen Besuch in unserem Amtszimmer abstatten, wenn es dir wieder einfällt. Für den Moment allerdings müssen wir uns wieder der eigentlichen Angelegenheit zuwenden.« Er drehte sich zu Alvar um. »Wir verlegen Sie nach Everglen, sobald –«

»Everglen!«, wiederholte Fallon. »Das war es!« Er trat einen Schritt vor, in die Schatten der Throne des Hohen Rats. »Haltet ihr es nicht für unvorsichtig, ihn nach Hause zu schicken?«

»Weshalb unvorsichtig?«, fragte Emery.

»Mir fallen spontan zwei Gründe ein«, antwortete Fallon. »Erstens ist Everglen ein uraltes Anwesen. Tatsächlich glaube ich, ein Teil des ursprünglichen Gebäudes steht noch immer.«

»Ein Raum, ja«, bestätigte Alden. »Den Raum, den ich als Arbeitszimmer nutze, gibt es schon von Anfang an. Aber warum sollte das eine Rolle spielen?«

»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen.« Fallons Blick richtete sich auf Bronte. »Nur dass Dinge aus unserer Vergangenheit oft mehr sind, als sie zu sein scheinen.«

Sophies Herz setzte bei den Worten einen Schlag aus und sie ging im Kopf eine Liste mit all den Lügen durch, die mit ihrer Hilfe bereits aufgedeckt worden waren.

Der Vierjahreszeitenbaum. Nightfall. Oder der wahre Grund, weshalb die Elfen Atlantis versenkt und sämtliche Verbindungen zu den Menschen gekappt hatten.

All diese Dinge waren in Wirklichkeit vollkommen anders gewesen, als was ihre Mentoren ihnen in Elfengeschichte beibrachten – falls sie im Unterricht überhaupt erwähnt wurden.

Die Verlorenen Städte waren kein schlechter Ort. Aber sie waren auch nicht die heile Welt, die alle sich wünschten. Und es lagen eine Menge Geheimnisse darin vergraben.

»Gibt es in Everglen denn irgendwas Seltsames?«, fragte Sophie Alden.

»Nicht dass ich wüsste«, antwortete er. »Als ich das Anwesen damals erbte, ließ ich es umfassend umgestalten. Doch es wurde von jeher als privates Zuhause genutzt. Weißt du etwas, das mir nicht bekannt ist, Fallon?«

»Nicht unbedingt«, antwortete er und starrte erneut in die Ferne. »Allerdings wissen alle in diesem Raum, dass die Vackers niemals etwas willkürlich tun. Dieses Anwesen wurde aus einem ganz bestimmten Grund ausgewählt.«

»So ist es. Denn mir gefiel die Aussicht«, sagte eine wunderschöne Frau mit spitzen, aus ihrem glänzenden schwarzen Haar herausragenden Ohren und erhob sich von ihrem Platz. Ihre schräg stehenden, quellblauen Augen waren dunkelviolett umrandet, in derselben Farbe wie ihr langes, seidenes Kleid. Auch auf ihrer bronzefarbenen Haut schimmerte ein Hauch von Amethystglitzer. »Der See war nachts so unendlich friedlich, wenn die Sterne sich darin spiegelten. Es war der perfekte Ort, um meinem Geist die nötige Erholung zu gönnen, wenn ich mal wieder einen ganzen Tag lang das Licht der Sonne gebeugt hatte.«

»Wer ist das?«, flüsterte Sophie Keefe zu.

Er neigte den Kopf. »Ich glaube, das ist Luzia Vacker, eine superberühmte Blitzerin.«

»Aber nicht die allerberühmteste«, stellte Luzia klar und Sophie errötete und wunderte sich, wie Luzia sie hatte hören können. »Dieser Titel gebührt meinem Sohn.«

»Orem«, raunte Keefe Sophie zu und deutete auf einen Elf ein paar Plätze von Luzia entfernt, mit kurz geschorenem Haar und derselben Hautfarbe wie seine Mutter.

Orem gehörte zu den wenigen Vackers, von denen Sophie bereits gehört hatte. Sie war sogar schon einmal bei der berühmten Lichtershow gewesen, die er während des Sternenfestivals veranstaltete.

»Sei nicht so bescheiden, Schwesterherz«, sagte Fallon zu Luzia, und bei dem letzten Wort schossen Sophies Augenbrauen nach oben. »Ohne dein Wirken würden wir alle unter der Erde hausen.«

»Luzia hat dabei geholfen, viele der Illusionen zu erschaffen, mit denen wir unsere Städte verbergen«, erklärte Alden.

»Moment mal«, sagte Sophie und setzte sich gerader auf. »Soll das heißen, sie hat mit Vespera zusammengearbeitet?«

»Gelegentlich«, räumte Luzia ein und strich die Taille ihres Kleides zurecht. »Ich habe zahlreiche ihrer Ideen als Ausgangspunkt benutzt. Doch wir hatten kaum Kontakt zueinander. Ich fand sie immer äußerst verstörend – und ich habe sie ganz sicher nie zu mir nach Hause eingeladen, nur für den Fall, dass sich das irgendjemand hier fragt. Tut mir leid, Bruderherz, aber du bist auf der falschen Fährte.«

Mehrere andere Vackers stimmten Luzia murmelnd zu. Und Sophie wollte ihnen glauben.

Aber sie erinnerte sich auch noch daran, was Alvar damals zu Biana gesagt hatte, kurz nach der Enthüllung, dass er zu den Neverseen gehörte.

Du wirst es verstehen, eines Tages, wenn du das Vermächtnis der Vackers als das erkennst, was es wirklich ist.

»Glauben Sie nicht, Sie sollten sich vergewissern, bevor Sie Alvar nach Everglen verlegen?«, fragte Sophie, lauter diesmal und an den Hohen Rat gerichtet. »Nur um sicherzugehen, dass nicht doch etwas übersehen wurde?«

»Es gibt nichts zu übersehen«, beharrte Luzia. »Das Anwesen war mein persönlicher Rückzugsort, sonst nichts.«

»Und warum hast du dich dann davon getrennt?«, wollte Fallon wissen. »Ich würde Mistmead niemals verlassen und ich bin mir sicher, dass wir alle so empfinden, wenn es um unser Zuhause geht.«

»Tja, ich habe eben gelernt, mich von solch albernen Gefühlen nicht beeinflussen zu lassen«, erwiderte Luzia.

Fallon kniff die Augen zusammen. »Ich glaube dir nicht. Du kannst vielleicht andere mit deiner Unbekümmertheit täuschen. Aber ich bin dein Bruder.«

Luzia lachte. »Mein Bruder, der sich seit Jahrhunderten nicht dazu bequemt hat, mich zu besuchen. Ja, du hast recht – du kennst mich unglaublich gut.«

»Ich kenne dich besser, als du glaubst«, widersprach Fallon ihr. »Wir wissen beide, dass du bei ebenso vielen Geheimnissen eine Rolle gespielt hast wie jedes Ratsmitglied. Der einzige Unterschied ist, dass deine Geheimnisse niemals ausgelöscht werden.«

»Das liegt daran, dass sie nicht ausgelöscht werden müssen!«, fauchte Luzia. »Und ich habe in dieser Angelegenheit nichts weiter zu sagen.«

»Ebenso wenig wie wir«, fügte Emery hinzu. »Abgesehen davon, dass wir euch allen versichern, Everglen und das gesamte Gelände einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen, sobald die Unterkunft fertiggestellt ist.«

»Außerdem werden wir auf dem Anwesen zahlreiche weitere Sicherheitsvorkehrungen installieren«, ergänzte Bronte.

»Und wir wollen auch nicht vergessen«, fügte Alina hinzu, »dass wir hier von Alvars Zuhause sprechen. Es ist schließlich nicht so, als hätte er noch nie Zugang zu diesem Anwesen gehabt.«

»Ja, aber mein Dad hat die Sicherheitsvorkehrungen am Tor geändert, nachdem wir erfahren hatten, dass Alvar zu den Neverseen gehört«, warnte Biana. »Was, wenn Alvar dort etwas versteckt hatte und nicht mehr in der Lage war, es zu holen?«

»Wenn das wirklich der Fall wäre, warum hätten die Neverseen dann seine Erinnerung daran auslöschen sollen?«, konterte Alina.

»Weil Erinnerungen zurückkehren können«, blaffte Fitz sie an. »Es braucht nur den richtigen Auslöser.«

»Weshalb er auch ständig bewacht werden wird«, erinnerte Emery ihn.

Fallon seufzte und rieb sich die Stirn. »Es ist wirklich tragisch, wie oft unsere wichtigsten Entscheidungen letzten Endes auf Vermutungen basieren.«

»Diese basiert ganz sicher nicht nur auf einer Vermutung«, widersprach Emery ihm.

»Ja, ich erinnere mich daran, dass ich mir häufig dasselbe einredete, als ich dieses Amt noch bekleidete«, erwiderte Fallon. »Aber ob es euch nun gefällt oder nicht: Es ist die Wahrheit. Wir tragen so viele Informationen zusammen, wie wir können, und lassen uns bei unseren Entscheidungen davon leiten. Doch allein die Zeit wird zeigen, ob es die richtige Entscheidung war. Und falls sie es nicht war …« Er streckte die Arme aus und zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Was können wir dann schon tun?

»Darf ich auch mal was sagen?«, fragte Alvar.

Fallon ignorierte ihn. »Außerdem bereitet mir die Vorhersehbarkeit dieser ganzen Sache Kopfschmerzen. Gewiss haben diese Rebellen – diese Neverseen, wie sie sich nennen – damit gerechnet, dass wir ihn in diesem Zustand zurück nach Hause zu seiner Familie schicken. Ist es da wirklich so weit hergeholt anzunehmen, dass sie genau das beabsichtigt haben?«

»Wir haben diese Möglichkeit ebenfalls in Betracht gezogen«, räumte Rat Emery ein. »Und das ist ein weiterer Grund, warum wir ihn bewachen lassen. Und ja, es ist den Neverseen in der Vergangenheit schon des Öfteren gelungen, diverse Mitglieder in entscheidende Positionen zu schmuggeln, aber sie waren sich der Rolle, die sie spielen mussten, stets bewusst.«

»Da bin ich mir ganz sicher«, stimmte Fallon ihm zu. »Doch wie bereits erwähnt: Erinnerungen können zurückkehren. Oder … vielleicht waren die Rebellen auch der Ansicht, ein unwissender Komplize sei für uns schlicht schwerer zu enttarnen.«

Alina gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Glaubst du wirklich, die Neverseen wären derartige Meister der Manipulation, dass sie Alvar dazu benutzen könnten, irgendeine komplizierte Mission zu erfüllen, ohne dass es ihm selbst bewusst ist?«

»Sie muss nicht kompliziert sein, um effektiv zu sein«, gab Fallon zu bedenken. »Für gewöhnlich sind die wirkungsvollsten Pläne auch die simpelsten.«

»Ernsthaft – dürfte ich bitte mal was sagen?«, fragte Alvar erneut. »Ihr tut alle so, als hätte ich über diese ganze Sache überhaupt keine Kontrolle. Aber die habe ich. Selbst wenn meine Erinnerungen wieder zurückkehren und ich tatsächlich ein Teil irgendeiner Verschwörung bin, gebe ich euch mein Wort, dass ich die mir zugedachte Rolle nicht spielen werde. Stattdessen werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass ihre Pläne fehlschlagen. Aber mal ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass ihre Ziele irgendetwas mit mir zu tun haben. Hätten sie mir die hier wirklich zugefügt, wenn sie auf meine Loyalität zählen würden?«

Er schob seine Ärmel nach oben und enthüllte noch weitere rote Narben, genau wie die an seinem Hals und in seinem Gesicht, nur dass sie viel tiefer und länger aussahen, so als hätte die Waffe sich bis zu den Knochen ins Fleisch geschnitten.

Die Wunden waren ihm mit einem Shamkniv zugefügt worden, einer speziellen Ogerklinge, mit der jemand markiert wurde, der bei einer Aufgabe versagt hatte – was die Theorie stützte, dass die Neverseen mit Alvar fertig waren.

»Sie haben mich zum Sterben zurückgelassen«, fügte er hinzu. »Und sie werden sich wünschen, ich wäre gestorben, weil es mein neues Ziel ist, sie für all das bezahlen zu lassen, was sie getan haben. Ich weiß, dass Ihr mir nicht genug vertraut, um es mir zu erlauben, mich dem Widerstand anzuschließen – und nach allem, was ich über meine Vergangenheit gehört habe, kann ich Euch deswegen keinen Vorwurf machen. Aber ich werde einen Weg finden, Euch dabei zu helfen, sie zur Strecke zu bringen.«

»Aber wenn sie dich als unwissenden Komplizen einsetzen wollen«, warnte Fallon, »dann würdest du ihnen helfen, ohne auch nur zu ahnen, dass du es tust. Und ich weiß, dass du behaupten wirst, dies wäre ein viel zu komplizierter Trick, den die Neverseen niemals meistern könnten«, fügte er an Alina gewandt hinzu. »Aber wer von uns hätte jemals geglaubt, dass sie Lumenaria zum Einsturz bringen könnten? Oder Atlantis überfluten? Oder die glitzernde Stadt niederbrennen, in der wir uns befinden? Wir waren nicht gut beraten, diesen Gegner zu unterschätzen.«

»Ebenso wenig sollten wir den Rebellen mehr Anerkennung zollen, als sie verdienen«, widersprach Alina. »Wenn wir sie als diese geradezu lächerlichen Superbösewichte betrachten, hinterfragen wir uns nur ständig selbst und sind zögerlich – was uns ebenfalls bereits teuer zu stehen gekommen ist.«

»Aber wenn wir …« Fallon verstummte, neigte seitlich den Kopf und musterte sie. »Ich hatte ein Gegenargument zu deiner Bemerkung, aber ich höre jedes Mal diese Musik, wenn ich dich ansehe, und verliere die Konzentration. Weißt du, woran das liegt?«

Alina rollte mit den Augen. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

Fallon summte ein paar Takte einer sanften Melodie und Sophie fragte sich, ob ihm bewusst war, dass er mit jeder weiteren Note an Glaubwürdigkeit verlor. »Das kommt dir nicht bekannt vor?«

»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Alina.

Er summte noch einige weitere Takte und wippte auf den Fersen auf und ab. »Ich glaube, sie stammt von einer Hochzeit. Ich habe das Kleid ganz deutlich vor mir. Es hat ausgesehen wie … gesponnenes Sonnenlicht. Und ich glaube, es hat irgendeinen Tumult gegeben. Moment mal! Du bist diejenige gewesen, die die Zeremonie unterbrochen hat!«

Alinas Gesicht lief tomatenrot an. So wie Aldens. Und Dellas.

Es war kein Geheimnis, dass Alina für eine Weile mit Alden zusammen gewesen war und später versucht hatte, seine Hochzeit mit Della zu verhindern. Doch ganz offensichtlich freute sich keiner der drei darüber, daran erinnert zu werden.

»Nun«, krächzte Alina und strich sich das Haar glatt, »das war vor langer Zeit und am Ende hat sich ja alles zum Besten gewendet.« Sie zeigte auf ihren Peridotreif.

»Der Dienst im Hohen Rat ist eine unglaubliche Ehre«, erwiderte Fallon. »Aber er sollte nicht dein Leben sein. Diese Empfehlung habe ich schon einmal jemandem gegeben. Leider hat wohl auch sie nicht auf mich gehört.«

Natürlich hätte er jede andere Rätin damit meinen können, aber …

Oralies Wangen hatten denselben tiefen Rosaton angenommen wie die ihren Thron zierenden Turmaline und ihre azurblauen Augen glänzten vor unvergossenen Tränen. Es brach Sophie das Herz. Sie vermutete schon seit Langem, dass Oralie ihren Gefühlen für Kenric widerstanden hatte, um weiter dem Hohen Rat angehören zu können. Und nun war Kenric fort.

»In Ordnung«, sagte Emery und klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden wieder auf sich zu lenken. »Wir schweifen gerade viel zu weit ab.«

»So ist es«, bekräftigte eine neue Stimme, als sich die nächste Vacker erhob, eine Frau mit leuchtend rotem Haar und kleinen Spitzen an den Ohren. »Und es hat bisher noch niemand die wichtigste aller Fragen gestellt: Was glaubt Ihr, wie die Leute reagieren werden, wenn sie hören, dass ein berüchtigter Verbrecher wieder zu Hause bei seiner Familie lebt, anstatt eingesperrt zu sein? Und erzählt mir nicht, sie würden es nicht herausfinden. Derlei Klatsch verbreitet sich stets wie ein Lauffeuer.«

»Interessante Wortwahl, Norene«, erwiderte Alina mit einem frostigen Lächeln. »Sag mir, fürchtest du ein Unbehagen in der Bevölkerung? Oder deren Aufschrei gegen deine Familie?«