Keeper of the Lost Cities – Der Aufbruch - Shannon Messenger - E-Book + Hörbuch

Keeper of the Lost Cities – Der Aufbruch Hörbuch

Shannon Messenger

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Beschreibung

Keeper of the Lost Cities. Der Aufbruch
Ein episches Fantasy-Abenteuer der preisgekrönten New York Times und USA Today Bestseller-Autorin Shannon Messenger. Der erste Band einer fantastischen Serie um Elfen, Freundschaft und Magie mit jeder Menge Spannung für Mädchen und Jungen ab 12 Jahren.  

Ein episches Abenteuer beginnt …
Die 12-jährige Sophie scheint nicht in ihr eigenes Leben zu passen. Sie ist hochintelligent und hat mehrere Klassen übersprungen. Und sie hütet ein großes Geheimnis: Sophie kann die Gedanken ihrer Mitmenschen lesen. Ihr ganzes Leben lang fühlte sie sich als Außenseiterin. Bis sie Fitz trifft, einen geheimnisvollen Jungen. Er teilt ihr das Unglaubliche mit: Sie ist mit ihren Fähigkeiten nicht allein. Und sie gehört dem Volk der Elfen an. Für Sophie beginnt ein neues Leben. Ab sofort besucht sie im Elfenreich eine Zauberschule. Doch ihre Vergangenheit holt Sophie immer wieder ein: Wer ist sie wirklich? Warum wurde sie in der Menschenwelt versteckt – und vor wem? Die Antworten auf diese Fragen könnten über Leben und Tod entscheiden … 

  • Das ideale Geschenk: Perfekter Lesestoff für Jungen und Mädchen ab 12 Jahren 
  • Wie eine richtig gute, actiongeladene Serie: Ein Jugendbuch über Fabelwesen, Magie, Liebe und Freundschaft
  • So macht Lesen Spaß: Fantastische Welten, starke weibliche Charaktere, verblüffende Wendungen und atemlose Spannung 
  • Zeitloses Fantasy-Epos: Fans von „Woodwalkers“, „Land of Stories“ und „Harry Potter“ werden dieses Buch verschlingen
  • Extra-Motivation: Zu diesem Buch gibt es ein Quiz bei Antolin


„Keeper of the Lost Cities. Der Aufbruch“ ist der spannende Auftakt zu einer preisgekrönten magischen Fantasy-Reihe – voller Zauber, Action und Abenteuer!  

Alle Bände dieser Reihe:
Band 1: Keeper of the Lost Cities. Der Aufbruch (9783845840901)
Band 2: Keeper of the Lost Cities. Das Exil (9783845840918) 
Band 3: Keeper of the Lost Cities. Das Feuer (9783845844541)
Band 4: Keeper of the Lost Cities. Der Verrat (9783845846293) 
Band 5: Keeper of the Lost Cities. Das Tor (9783845846309) 
Band 6: Keeper of the Lost Cities. Die Flut (9783845846316) 
Band 7: Keeper of the Lost Cities. Der Angriff (9783845846323) 
Band 8: Keeper of the Lost Cities. Das Vermächtnis (9783845846330) 
Band 8,5: Keeper of the Lost Cities. Entschlüsselt (9783845851488) 
Band 9: Keeper of the Lost Cities. Sternenmond (9783845851495) - erscheint im August 2023

Weitere Bände sind in Planung.

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

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Zeit:14 Std. 10 min

Sprecher:David Nathan

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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

Text copyright © 2012 by Shannon Messenger

Titel der Originalausgabe: Keeper of the Lost Cities

Die Originalausgabe ist 2012 bei Simon and Schuster (Aladdin) erschienen.

© 2021 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D-80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Doris Attwood

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung des Originalcovers

Coverillustration: Jason Chan, Typographie von geen graphy/shutterstock.com und Bildmaterial von nienora/shutterstock.com

Design: Karin Paprocki

Innenvignetten: Bildmaterial von Spicy Truffel/shutterstock.com

ISBN eBook 978-3-8458-4536-4

ISBN Printausgabe 978-3-8458-4090-1

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Für Mom und Dad,

die immer daran geglaubt haben,

dass dieser Tag einmal kommt.

(Und weil ich hoffe,

erdachte Enkelkinder gelten auch!)

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

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Danksagungen

Über die Autorin

Prolog

Verschwommene, bruchstückhafte Erinnerungen flimmerten durch Sophies Geist, aber sie konnte sie nicht zu einem richtigen Bild zusammensetzen. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, fand jedoch nichts als Dunkelheit. Irgendetwas Raues drückte gegen ihre Hand- und Fußgelenke und machte es ihr unmöglich, sich zu bewegen.

Eine Woge der Kälte rauschte durch sie hindurch, als die grauenvolle Erkenntnis ihr schließlich dämmerte.

Sie war eine Gefangene.

Ein Tuch über ihrem Mund erstickte ihren Hilfeschrei, das süßliche Aroma eines Beruhigungsmittels drang beißend in ihre Nase, wenn sie einatmete. In ihrem Kopf drehte sich alles.

Würden sie sie umbringen?

Würde Black Swan wirklich seine eigene Schöpfung zerstören? Was hatte Projekt Mondlerche dann für einen Sinn? Was hatte Everblaze für einen Sinn?

Die Droge lullte sie in traumloses Vergessen, aber sie wehrte sich dagegen – klammerte sich an die einzige Erinnerung, die wie ein winziger Punkt aus Licht durch den dichten, tintenschweren Nebel leuchtete: ein Paar wunderschöner aquamarinblauer Augen.

Fitz’ Augen. Ihr erster Freund in ihrem neuen Leben. Ihr erster Freund überhaupt.

Wenn sie ihn an jenem Tag im Museum nicht bemerkt hätte, wäre das alles vielleicht gar nicht passiert.

Nein. Sophie wusste, dass es schon damals längst zu spät gewesen war. Die weißen Feuer hatten bereits gelodert. Sie waren in Richtung ihrer Heimatstadt gekrochen und hatten den Himmel mit klebrig süßem Rauch verhüllt.

Der Funke vor dem Flammenmeer.

1

Miss Foster!«, schnitt sich MrSweeneys näselnde Stimme durch Sophies dröhnende Musik, als er sich das Kabel ihrer Ohrhörer schnappte und sie ihr aus den Ohren zog. »Halten Sie sich für zu schlau, um diesen Ausführungen zu folgen?«

Sophie zwang sich, die Augen zu öffnen. Sie versuchte, nicht zusammenzuzucken, obwohl das Neonlicht schier unerträglich grell von den leuchtend blauen Wänden des Museums reflektiert wurde und ihre hämmernden Kopfschmerzen, die sie ohnehin nur mit Mühe verbergen konnte, noch schlimmer machte.

»Nein, MrSweeney«, murmelte sie und schrumpfte förmlich unter den stechenden Blicken ihrer Klassenkameraden zusammen.

Sie strich sich das schulterlange blonde Haar ins Gesicht und wünschte sich, sie könnte sich dahinter verstecken. Das hier war genau die Art von Aufmerksamkeit, die sie nach Möglichkeit zu vermeiden versuchte. Der Grund, warum sie triste Farben trug und sich stets im Hintergrund hielt, verdeckt durch ihre Mitschüler, die alle mindestens einen Kopf größer waren als sie. Es war die einzige Möglichkeit, als Zwölfjährige in der zwölften Klasse einer Highschool zu überleben.

»Möchten Sie uns dann vielleicht erklären, warum Sie lieber Ihrem iPod lauschen, statt aufzupassen?« MrSweeney hielt ihre Ohrstöpsel hoch, als wären sie ein wichtiges Beweisstück bei einem Verbrechen. Andererseits waren sie das für ihn vermutlich auch. Er hatte Sophies komplette Klasse ins Naturkundemuseum im Balboa Park geschleppt, wahrscheinlich in der Annahme, seine Schüler würden angesichts des ganztägigen Ausflugs in Begeisterungsstürme ausbrechen. Leider schien er aber nicht zu kapieren, dass sich niemand für die Ausstellungen interessierte, solange die gigantischen Dinosauriermodelle nicht zum Leben erwachten und anfingen, die Besucher zu fressen.

Sophie zupfte sich eine lose Wimper ab – eine nervöse Angewohnheit – und starrte auf ihre Füße. Es war fraglos vollkommen unmöglich, MrSweeney begreiflich zu machen, warum sie die Musik brauchte, um den Lärm zu übertönen. Er konnte den Lärm ja noch nicht mal hören.

Das Stimmengewirr von Dutzenden Touristen hallte von den von Fossilien gesäumten Wänden wider und schwappte durch den höhlenartigen Raum. Aber das eigentliche Problem waren ihre geistigen Stimmen.

Vereinzelte, unzusammenhängende Gedankenfetzen, die direkt in Sophies Hirn gesendet wurden, so als befände sie sich in einem Raum mit Hunderten von Fernsehern, aus denen lauter verschiedene Sendungen gleichzeitig plärrten. Sie bohrten sich förmlich in ihr Bewusstsein und hinterließen ihr als Andenken dröhnende Kopfschmerzen.

Mit anderen Worten: Sie war ein Freak.

Es war ihr Geheimnis – ihre Bürde –, seit sie im Alter von fünf Jahren gestürzt war und sich den Kopf gestoßen hatte. Seitdem hatte sie alles versucht, um den Lärm abzublocken, zu ignorieren. Nichts hatte geholfen. Aber sie konnte niemals jemandem davon erzählen. Sie würden es sowieso nicht verstehen.

»Gut, Miss Foster. Da Sie offensichtlich der Ansicht sind, dieser Vortrag sei unter Ihrem Niveau – wieso halten Sie ihn dann nicht selbst?«, fragte MrSweeney. Er zeigte auf den riesigen orangefarbenen Dinosaurier mit Entenschnabel in der Mitte des Raums. »Erklären Sie der Klasse doch bitte, inwiefern sich der Lambeosaurus von den anderen Dinosauriern unterscheidet, die wir durchgenommen haben.«

Sophie unterdrückte ein Seufzen, während ihre Gedanken zu dem Bild auf der Informationstafel am Eingang der Ausstellung huschten. Sie hatte einen Blick darauf geworden, als sie das Museum betreten hatten − und dank ihres fotografischen Gedächtnisses hatte sie jedes einzelne Detail abgespeichert. Während sie die Fakten herunterleierte, verzerrte sich MrSweeneys Gesicht zu einer finsteren Maske, und Sophie konnte die Gedanken ihrer Mitschüler hören, die immer genervter klangen. Sie waren nicht unbedingt die größten Fans ihres schuleigenen Wunderkinds: Ihr Spitzname für Sophie war Streberbaby.

Sie brachte ihre Antwort trotzdem zu Ende, woraufhin MrSweeney irgendetwas grummelte, das sich wie »Besserwisser« anhörte, bevor er in den nächsten Ausstellungsraum schlurfte. Sophie folgte ihm nicht. Die dünnen Wände, die die beiden Säle voneinander trennten, hielten den Lärm zwar nicht ab, dämpften ihn aber immerhin ein wenig, und Sophie nutzte jede noch so kleine Erleichterung, die sich ihr bot.

»Ganz toll, Superfreak«, spottete Garwin Chang – er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift ACHTUNG! ICH FURZE GLEICH! − und drängte sich an ihr vorbei, um sich wieder zu ihren Klassenkameraden zu gesellen. »Vielleicht schreiben sie ja noch mal einen Artikel über dich: ›Wunderkind hält Referat über Lahm-o-saurus‹.«

Garwin war immer noch stinksauer, weil ihr die Yale Universität ein volles Stipendium angeboten hatte. Sein eigenes Absageschreiben war ein paar Wochen zuvor eingetroffen.

Nicht dass Sophies Eltern ihr erlaubt hätten, das Angebot anzunehmen.

Sie waren der Ansicht, ein Stipendium bedeute zu viel Aufmerksamkeit, zu viel Druck und sie sei ohnehin noch zu jung dafür. Ende der Diskussion.

Stattdessen würde sie ab dem kommenden Jahr auf das viel näher gelegene und viel kleinere San Diego City College gehen – eine Tatsache, die irgendein nerviger Journalist für nachrichtenwürdig befunden und erst gestern in der Lokalzeitung veröffentlicht hatte: WUNDERKIND WÄHLT STÄDTISCHES COLLEGE STATT ELITE-UNI, inklusive ihres Jahrbuchfotos. Ihre Eltern waren total ausgeflippt, als sie es erfahren hatten. Und »total ausgeflippt« war noch stark untertrieben. Mehr als die Hälfte der Regeln ihrer Eltern sollten Sophie dabei helfen, »unnötige Aufmerksamkeit« zu vermeiden, und Artikel auf der Titelseite irgendeiner Zeitung waren deshalb so ungefähr ihr schlimmster Albtraum. Sie hatten sogar in der Redaktion angerufen, um sich zu beschweren.

Die Redakteurin schien über die ganze Geschichte allerdings genauso unglücklich zu sein wie sie. Der Beitrag war anstelle eines Artikels über den Brandstifter erschienen, der die Stadt in Angst und Schrecken versetzte, und die Zeitung versuchte noch immer fieberhaft herauszufinden, wie dieser Fehler überhaupt hatte passieren können. Bizarre Feuer mit glühend heißen, weißen Flammen und dichtem Rauch, der nach verbranntem Zucker roch, waren im Augenblick schließlich wichtiger als alle anderen Meldungen – und definitiv wichtiger als irgendeine Story über ein unbedeutendes kleines Mädchen, das die meisten Menschen geflissentlich ignorierten.

Zumindest normalerweise.

Auf der anderen Seite des Museums fiel Sophie plötzlich ein groß gewachsener Junge mit dunklen Haaren auf, der die Zeitung von gestern las − die Ausgabe mit dem peinlichen Schwarz-Weiß-Foto von ihr auf der Titelseite.

Sie hatte noch nie zuvor Augen in diesem ungewöhnlichen Blauton gesehen. Es war eher ein Blaugrün, genau wie die vom Meer geschliffene Glasscherbe, die sie einmal am Strand gefunden hatte. Außerdem glänzten die Augen so hell, dass sie förmlich glitzerten. Irgendetwas huschte über das Gesicht des Jungen, als er ihren Blick einfing. Enttäuschung?

Bevor Sophie jedoch entscheiden konnte, was sie von der ganzen Sache hielt, stieß sich der Junge von der Vitrine ab, an der er lehnte, und steuerte direkt auf sie zu.

»Bist du das?«, fragte er und zeigte auf das Foto.

Sophie nickte, brachte jedoch kein Wort heraus. Sie schätzte ihn auf ungefähr fünfzehn, und außerdem war er mit Abstand der süßeste Junge, den sie jemals gesehen hatte. Also warum redete er dann überhaupt mit ihr?

»Dachte ich’s mir doch.« Er blickte mit zusammengekniffenen Augen auf das Bild und schaute dann wieder sie an. »Ich wusste gar nicht, dass du braune Augen hast.«

»Äh … ja«, stammelte sie, nicht sicher, was sie sonst sagen sollte. »Warum?«

Er zuckte mit den Schultern. »Nur so.«

Irgendetwas erschien ihr an dieser Unterhaltung seltsam, aber sie kam einfach nicht darauf, was es war. Außerdem konnte sie seinen komischen Akzent nicht richtig einordnen. Er klang vage britisch, aber trotzdem irgendwie anders. Klarer vielleicht? Er störte sie, auch wenn sie selbst nicht wusste, warum.

»Bist du auch in meiner Klasse?«, fragte sie und wünschte sich sofort, sie könnte die Worte wieder zurück in ihren Mund saugen, nachdem sie sie ausgesprochen hatte. Natürlich ging er nicht in ihre Klasse. Sie hatte ihn schließlich noch nie zuvor gesehen. Aber sie war nun mal nicht daran gewöhnt, sich mit Jungs zu unterhalten – vor allem nicht mit süßen Jungs −, und ganz offensichtlich wurde ihr Hirn davon ein bisschen matschig.

Sein perfektes Lächeln kehrte zurück, als er antwortete: »Nein.« Dann deutete er auf die massige grünliche Kreatur, vor der sie standen: ein Albertosaurus, in all seiner gigantischen, echsenhaften Pracht. »Sag mir eins: Glaubst du, die haben wirklich so ausgesehen? Ist doch ein bisschen absurd, oder?«

»Eigentlich nicht«, widersprach ihm Sophie und versuchte herauszufinden, was er meinte. Der Saurier sah aus wie ein kleiner Tyrannosaurus Rex: großes Maul, scharfe Zähne, lächerlich kurze Ärmchen. Ihr kam daran jedoch nichts komisch vor. »Warum? Was glaubst du denn, wie sie ausgesehen haben?«

Er lachte. »Vergiss es. Ich lasse dich lieber wieder zurück zu deiner Klasse. Es war schön, dich kennenzulernen, Sophie.«

Er wandte sich zum Gehen, als plötzlich zwei Kindergartengruppen in die Fossilienausstellung stürmten. Die Woge der schreienden Stimmen, die über Sophie hereinbrach, war so gewaltig, dass sie einen Schritt rückwärtstaumelte, und die Flut ihrer geistigen Stimmen löste noch viel heftigere Kopfschmerzen bei ihr aus.

Die Gedanken der Kinder stachen Sophie wie kreischende Nadeln und so viele auf einmal fühlten sich an, als würde ein wütendes Stachelschwein ihr Gehirn attackieren. Sie schloss die Augen, presste die Hände an den Kopf und massierte ihre Schläfen, um den stechenden Schmerz in ihrem Schädel zu lindern. Dann fiel ihr jedoch plötzlich wieder ein, dass sie nicht allein war.

Sie schaute sich um, um zu sehen, ob irgendjemand ihre Reaktion bemerkt hatte, und fing erneut den Blick des Jungen ein. Er drückte die Hände auf seine Stirn, und auf seinem Gesicht zeichnete sich derselbe schmerzvolle Ausdruck ab, der vor ein paar Sekunden vermutlich auch auf ihrem zu sehen gewesen war.

»Hast du das … gerade gehört?«, fragte er mit leiser Stimme.

Sie spürte, wie sämtliches Blut aus ihrem Gesicht wich.

Er konnte unmöglich meinen …

Wahrscheinlich sprach er nur von den schreienden Kindern. Sie veranstalteten schließlich einen ordentlichen Radau. Es war ein einziges kreischendes, quietschendes und kicherndes Durcheinander und dazu ungefähr sechzig wild drauflosplappernde Stimmen. Stimmen.

Sie schnappte nach Luft und wich einen weiteren Schritt zurück, als ihr Gehirn das Rätsel von vorhin endlich löste.

Sophie konnte die Gedanken von jedem einzelnen Menschen in diesem Raum hören − aber die Stimme des Jungen mit dem ungewöhnlichen Akzent hörte sie nur, wenn er tatsächlich etwas sagte.

Sein Geist war vollkommen still.

Sophie hatte keine Ahnung gehabt, dass das überhaupt möglich war.

»Wer bist du?«, flüsterte sie.

Seine Augen weiteten sich. »Du hast es gehört, stimmt’s?« Er kam näher, lehnte sich zu ihr und flüsterte ebenfalls: »Bist du eine Telepathin?«

Sie zuckte zusammen. Das Wort löste ein unangenehmes Kribbeln an ihrem ganzen Körper aus.

Aber ihre unübersehbare Reaktion verriet sie.

»Du bist eine! Ich glaub es nicht!«, stieß er aus.

Sophie taumelte rückwärts Richtung Ausgang. Sie würde ihr Geheimnis sicher nicht einem völlig Fremden enthüllen.

»Schon okay«, versicherte er ihr, streckte die Hände aus und ging noch weiter auf sie zu, so als wäre sie ein wildes Tier, das er zu beruhigen versuchte. »Du musst keine Angst haben. Ich bin auch einer.«

Sophie erstarrte.

»Mein Name ist Fitz«, fügte er hinzu und kam noch näher.

Fitz? Was für ein Name war denn Fitz?

Sie betrachtete sein Gesicht, suchte nach irgendeinem Anzeichen dafür, dass das alles nur ein Scherz war.

»Das ist kein Scherz«, sagte er, als wüsste er genau, was sie dachte.

Vielleicht tut er das ja auch.

Sie spürte, wie sie zu schwanken begann.

Sie hatte sich in den vergangenen sieben Jahren nichts sehnlicher gewünscht, als jemanden zu finden, der genauso war wie sie – jemanden, der das konnte, was sie konnte. Aber jetzt, wo sie ihn gefunden hatte, kam es ihr vor, als wäre die ganze Welt aus den Angeln gekippt.

Er packte ihre Arme, um sie aufrecht zu halten. »Es ist alles okay, Sophie. Ich bin hier, um dir zu helfen. Wir suchen schon seit zwölf Jahren nach dir.«

Seit zwölf Jahren? Und was meinte er bitte mit wir?

Aber die noch wichtigere Frage war: Was wollte er von ihr?

Die Wände schienen sich auf sie zuzubewegen und der ganze Raum begann, sich zu drehen.

Luft.

Sie brauchte frische Luft.

Sie riss sich von ihm los und stürzte zur Tür hinaus, ungeschickt taumelnd, bis ihre wackligen Beine endlich wieder einen gleichmäßigen Rhythmus fanden.

Sie japste gierig nach Luft, als sie die Treppenstufen vor dem Museum hinunterrannte. Der Rauch der Feuer brannte in ihrer Lunge und weiße Ascheflocken schneiten ihr ins Gesicht, aber sie ignorierte sie. Sie wollte so weit wie möglich weg von diesem fremden Jungen.

»Sophie, komm wieder zurück!«, schrie Fitz ihr hinterher.

Sie rannte noch schneller, durchquerte den Museumsvorplatz, rauschte an dem mächtigen Springbrunnen vorbei und über die grasbewachsenen kleinen Hügel zum Gehweg. Niemand kam ihr in die Quere – aufgrund der rauchigen Luft hielten sich die meisten Leute drinnen auf. Trotzdem konnte sie hören, wie sich seine Schritte immer weiter näherten.

»Warte!«, rief Fitz. »Du musst keine Angst haben.«

Sie ignorierte ihn, schickte all ihre Energie in ihre rennenden Beine und kämpfte gegen den Drang an, über die Schulter zu blicken, um zu sehen, wie dicht er hinter ihr war. Sie befand sich in der Mitte eines Fußgängerüberwegs, als das Geräusch von quietschenden Reifen sie schlagartig daran erinnerte, dass sie nicht nach rechts und links geschaut hatte.

Ihr Kopf wirbelte herum und sie starrte einem zu Tode erschrockenen Autofahrer direkt in die Augen, der offensichtlich Mühe hatte, seinen Wagen zum Stehen zu bringen, um sie nicht zu überrollen.

Sie würde sterben.

2

Die nächste Sekunde lief in einem verschwommenen Nebel ab.

Das Auto scherte nach rechts aus − verfehlte Sophie nur um wenige Zentimeter – hüpfte über die Bordsteinkante und streifte eine Straßenlaterne. Die schwere Stahllaterne brach aus ihrer Verankerung und stürzte auf Sophie herab.

Nein!

Es war der einzige Gedanke, den sie zustande brachte, bevor ihr Instinkt die Kontrolle übernahm.

Ihre Hand schoss in die Luft und irgendwie schaffte es ihr Geist, Energie aus ihrem tiefsten Inneren zu ziehen und durch ihre Fingerspitzen freizusetzen. Sophie spürte, wie diese Kraft mit dem fallenden Laternenpfahl kollidierte und ihn packte, so als wäre sie eine Verlängerung ihres Arms.

Als sich der Staub wieder legte, hob Sophie den Blick − und ihr blieb vor Staunen die Luft weg.

Die bläulich leuchtende Laterne schwebte über ihr! Ihr Geist hatte sie irgendwie aufgehalten. Und das Ding fühlte sich noch nicht mal schwer an, obwohl Sophie sich sicher war, dass es mindestens eine Tonne wog.

»Lass sie runter«, warnte eine bekannte Stimme mit seltsamem Akzent und riss Sophie aus ihrer Trance.

Sophie stieß ein Kreischen aus, ließ, ohne darüber nachzudenken, den Arm sinken – und die Straßenlaterne stürzte wieder auf sie zu.

»Pass auf!«, brüllte Fitz und riss sie zur Seite, einen Sekundenbruchteil bevor die Laterne auf die Straße knallte. Die Wucht des Aufpralls fegte sie beide von den Füßen und sie torkelten benommen über den Gehweg. Fitz’ Körper dämpfte Sophies Sturz, als sie gemeinsam zu Boden fielen und sie mitten auf seiner Brust landete.

Die Zeit schien stillzustehen.

Sie starrte in seine Augen, die so weit aufgerissen waren, wie Augen nur sein konnten, und versuchte, den Strudel aus Gedanken und Fragen zu entwirren, der durch ihren Kopf wirbelte, schaffte es jedoch nicht, irgendetwas Zusammenhängendes darin zu finden.

»Wie hast du das gemacht?«, flüsterte er.

»Ich habe keine Ahnung.« Sie setzte sich auf und ließ die letzten Sekunden noch einmal Revue passieren. Nichts ergab einen Sinn.

»Wir müssen von hier verschwinden«, warnte Fitz und deutete auf den Fahrer, der sie anglotzte, als hätte er gerade ein Wunder erlebt.

»Er hat es gesehen«, keuchte Sophie und spürte, wie ihre Brust sich vor Panik zusammenschnürte.

Fitz rappelte sich auf und zog sie ebenfalls auf die Beine. »Komm schon, wir müssen irgendwohin, wo man uns nicht sieht.«

Sophie war viel zu durcheinander, um sich selbst einen Plan zu überlegen, und widersetzte sich nicht, als er sie mit sich die Straße hinunterzerrte.

»Wohin?«, fragte er, als sie die erste Kreuzung erreichten.

Sie wollte nicht allein mit ihm sein, deshalb zeigte sie nach Norden, in Richtung des San Diego Zoos, wo sie ganz bestimmt auf andere Menschen treffen würden – trotz des tobenden Feuersturms.

Sie rannten los, obwohl ihnen niemand folgte, und zum allerersten Mal in ihrem Leben vermisste Sophie es, Gedanken hören zu können. Sie hatte keine Ahnung, was Fitz von ihr wollte – und das veränderte alles. In ihrem Kopf liefen alle möglichen Furcht einflößenden Szenarien ab, und die meisten von ihnen hatten mit Geheimagenten zu tun, die sie im Auftrag der Regierung in dunkle Lieferwagen stießen und Experimente an ihr durchführten. Sie behielt die Straße im Auge, bereit, sofort Reißaus zu nehmen, sobald ihr irgendetwas verdächtig vorkam.

Schließlich erreichten sie den riesigen Parkplatz des Zoos und Sophie entspannte sich ein wenig, als sie die Menschen sah, die sich zwischen den Autos tummelten. Bei so vielen Augenzeugen würde ihr sicher nichts passieren. Sie hörte auf zu rennen und schlenderte in normalem Tempo weiter.

»Was willst du?«, fragte sie, nachdem sie wieder ein wenig zu Atem gekommen war.

»Ich bin hier, um dir zu helfen, das schwöre ich.«

Seine Stimme klang aufrichtig. Aber das machte es trotzdem nicht einfacher, ihm zu glauben.

»Warum hast du nach mir gesucht?« Sie zupfte sich eine lose Wimper vom Auge. Sie hatte furchtbare Angst davor, was er ihr antworten würde.

Er öffnete den Mund, zögerte dann jedoch. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir das sagen sollte.«

»Wie soll ich dir vertrauen, wenn du meine Fragen nicht beantwortest?«

Er dachte einen Moment lang darüber nach. »Na schön, in Ordnung. Aber viel weiß ich auch nicht. Mein Vater hat mich auf die Suche nach dir geschickt. Wir suchen schon lange nach einem ganz bestimmten Mädchen in deinem Alter. Meine Aufgabe war es, alles zu beobachten und ihm Bericht zu erstatten, wie immer. Eigentlich hätte ich gar nicht mit dir reden sollen.« Er legte die Stirn in Falten, als sei er von sich selbst enttäuscht. »Ich konnte dich nur einfach nicht durchschauen. Du ergibst keinen Sinn.«

»Was soll das denn bedeuten?«

»Es bedeutet, dass du … anders bist, als ich es erwartet hätte. Deine Augen haben mich total durcheinandergebracht.«

»Was stimmt denn nicht mit meinen Augen?« Sie berührte ihre Augenlider, mit einem Mal ganz verlegen.

»Wir haben alle blaue Augen. Und als ich dich gesehen habe, dachte ich, wir hätten schon wieder das falsche Mädchen. Hatten wir aber nicht.« Er blickte sie beinahe ehrfurchtsvoll an. »Du bist wirklich eine von uns.«

Sie blieb stehen und hob die Hände. »Okay, Moment mal. Was meinst du denn damit, ›eine von uns‹?«

Er warf einen Blick über die Schulter und runzelte die Stirn, als er in Hörweite eine Gruppe Bauchtaschen tragender Touristen entdeckte. Er zog Sophie in eine menschenleere Ecke des Parkplatzes und duckte sich hinter einen grünen Kleinbus.

»Okay … es gibt keine Möglichkeit, dir das schonend beizubringen, deshalb sage ich es einfach ganz direkt: Wir sind keine Menschen, Sophie.«

Eine Sekunde lang war sie viel zu perplex, um zu sprechen. Dann entwich ihren Lippen ein hysterisches Lachen. »Keine Menschen«, wiederholte sie und schüttelte den Kopf. »Klaaaaar.«

»Wo gehst du denn hin?«, fragte er, als sie sich Richtung Gehweg aufmachte.

»Du bist total verrückt – und ich bin total verrückt, weil ich dir vertraut habe.« Sie stapfte wütend davon.

»Ich sage die Wahrheit«, rief er ihr nach. »Denk doch nur mal eine Minute lang darüber nach, Sophie.«

Das Letzte, was sie tun wollte, war, sich auch nur noch ein weiteres Wort aus seinem Mund anzuhören, aber das Flehen in seiner Stimme brachte sie trotzdem dazu, noch einmal stehen zu bleiben und sich zu ihm umzudrehen.

»Können Menschen das hier?«

Er schloss die Augen und löste sich in Luft auf. Er war höchstens eine Sekunde lang verschwunden, bevor er ebenso plötzlich wieder auftauchte, aber es reichte aus, um Sophie ins Taumeln zu bringen. Sie lehnte sich gegen ein Auto und hatte das Gefühl, um sie herum würde sich alles drehen.

»Ich kann das aber nicht«, entgegnete sie und holte ein paarmal tief Luft, um den Kopf frei zu kriegen.

»Du hast ja keine Ahnung, was du alles kannst, wenn du es wirklich willst. Denk doch nur mal daran, was du vor ein paar Minuten mit diesem Laternenpfahl gemacht hast.«

Er schien sich so sicher zu sein – und beinahe ergab es wirklich einen Sinn.

Aber wie war das möglich?

Und wenn sie kein Mensch war … was war sie dann?

3

Also … was?«, brachte Sophie hervor, als sie endlich ihre Sprache wiederfand. »Willst du mir damit sagen, dass ich … eine Außerirdische bin?«

Sie hielt den Atem an.

Fitz brach in schallendes Gelächter aus.

Ihre Wangen begannen zu glühen, aber sie war auch erleichtert. Sie wollte keine Außerirdische sein.

»Nein«, antwortete er, als er sich schließlich wieder beruhigt hatte. »Ich will damit sagen, dass du ein Elf bist.«

Ein Elf.

Das Wort schwebte zwischen ihnen in der Luft – wie ein fremdes Objekt, das nicht hierhergehörte.

»Ein Elf«, wiederholte sie. Bilder von kleinen Leuten in engen Strumpfhosen und mit spitzen Ohren tanzten vor ihrem inneren Auge vorbei und sie konnte ein Kichern nicht unterdrücken.

»Du glaubst mir nicht.«

»Hast du das denn ernsthaft erwartet?«

»Ich schätze nicht.« Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar, woraufhin es in wilden Spitzen abstand, fast wie bei einem Rockstar.

Konnte jemand, der so gut aussah, wirklich verrückt sein?

»Ich sage dir die Wahrheit, Sophie. Ich weiß nicht, was ich dir sonst noch sagen soll.«

»Okay«, erwiderte sie. Wenn er sich weigerte, ernst zu sein, dann würde sie es eben genauso machen. »Na schön. Ich bin ein Elf. Und muss ich Frodo dabei helfen, den Ring zu zerstören und Mittelerde zu retten? Oder soll ich lieber Spielzeug am Nordpol herstellen?«

Er stieß ein Seufzen aus, aber in seinen Mundwinkeln versteckte sich ein Lächeln. »Würde es helfen, wenn ich es dir zeige?«

»Oh, na klar. Ich bin gespannt.«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, während er einen dünnen silbernen Stab mit filigran eingravierten Ornamenten herausholte. An seiner Spitze funkelte ein kleiner runder Kristall im Sonnenlicht.

»Ist das dein Zauberstab?« Sie konnte sich die Frage einfach nicht verkneifen.

Er rollte mit den Augen. »Wenn du schon fragst: Nein, das ist ein Wegfinder.« Er ließ den Kristall kreisen und stellte ihn dann mit einer silbernen Schnalle an der Spitze fest. »Okay, das kann gefährlich werden. Versprichst du mir, dass du genau das tust, was ich dir sage?«

Ihr Lächeln verblasste. »Das kommt darauf an. Was muss ich denn tun?«

»Du musst meine Hand nehmen und dich darauf konzentrieren, sie festzuhalten. Und mit ›konzentrieren‹ meine ich, dass du an nichts anderes denken darfst – ganz gleich was passiert. Kriegst du das hin?«

»Warum?«

»Willst du nun einen Beweis oder nicht?«

Sie wollte Nein sagen – er konnte in Wirklichkeit sowieso nichts beweisen. Was wollte er schon tun? Sie in eine Art magisches Elfenland entführen?

Aber sie war auch neugierig …

Und mal ehrlich, was konnte schon Schlimmes passieren, nur weil man jemanden an der Hand hielt?

Sophie hoffte inständig, dass ihre Handflächen nicht feucht von Schweiß waren, als sie ihre Finger zwischen seine schob. Ihr Herzschlag ging schon wieder in dieses dämliche Flattern über und ihre Hand kribbelte überall dort, wo Fitz ihre Haut berührte.

Er schaute über seine Schulter und ließ den Blick erneut über den Parkplatz schweifen. »Okay, wir sind allein. Auf drei geht’s los. Bist du bereit?«

»Was passiert denn auf drei?«

Er schoss ihr einen warnenden Blick zu und sie funkelte ihn verärgert an, biss sich jedoch auf die Zunge, konzentrierte sich darauf, seine Hand zu halten, und ignorierte ihr rasendes Herz. Aber mal ernsthaft: Wann hatte sie sich eigentlich in eins dieser albernen Mädchen verwandelt?

»Eins«, zählte er und hielt den Stab hoch. Das Sonnenlicht traf auf eine Facette des Kristalls und ein greller Strahl wurde auf den Boden gelenkt.

»Zwei.« Sein Griff schloss sich noch fester um ihre Hand. Sophie machte die Augen zu.

»Drei.«

Fitz zog sie nach vorn und das warme Kribbeln in ihrer Hand jagte durch ihren ganzen Körper, so als würden sich eine Million Federn unter ihrer Haut ausbreiten und sie von innen kitzeln. Sie unterdrückte ein Kichern und konzentrierte sich auf Fitz – aber wo war er? Sie wusste, dass sie sich an ihm festhielt, und trotzdem fühlte es sich an, als hätte sich ihr Körper in Glibber verwandelt, und das Einzige, was verhinderte, dass sie davonfloss, war die Decke aus Wärme, in die sie gehüllt war. Dann, schneller als ein Blinzeln, verpuffte die Wärme wieder und Sophie machte die Augen auf.

Ihr klappte die Kinnlade herunter, während sie zu begreifen versuchte, was sie sah. Gut möglich, dass ihr sogar ein Quietschen entwich.

Sie stand am Ufer eines glasklaren Flusses, der von unfassbar hohen Bäumen gesäumt war, die ihre riesigen smaragdgrünen Blätter zwischen den bauschigen weißen Wolken ausstreckten. Auf der anderen Seite des Flusses glitzerte eine Reihe kristallener Schlösser so wundervoll im Sonnenlicht, dass Walt Disney sein »Magisches Königreich« vor lauter Frust wahrscheinlich höchstpersönlich unter einem Haufen Steine begraben hätte. Zu ihrer Rechten führte ein goldener Pfad in eine weitläufige Stadt, deren prachtvolle Kuppelbauten aus ziegelsteingroßen Juwelen erbaut zu sein schienen, jedes Gebäude in einer anderen Farbe. Berge mit schneebedeckten Gipfeln umringten das herrlich grüne Tal, und die frische, kühle Luft duftete nach Zimt und Schokolade und Sonnenschein.

So wunderschöne Orte gab es in Wirklichkeit überhaupt nicht – ganz davon zu schweigen, dass sie urplötzlich aus dem Nichts auftauchten.

»Du kannst meine Hand jetzt wieder loslassen.«

Sophie zuckte vor Schreck zusammen. Sie hatte Fitz komplett vergessen.

Ihre Hand löste sich aus seiner, und erst als das Blut kribbelnd wieder in ihre Fingerspitzen strömte, wurde ihr bewusst, wie fest sie sie gedrückt hatte. Sie blickte sich um, konnte jedoch nicht wirklich begreifen, was sie sah. Die Schlosstürme waren wie Zuckerwatte verdreht und irgendetwas an ihnen wirkte seltsam vertraut, auch wenn sie nicht darauf kam, was es war. »Wo sind wir?«

»In unserer Hauptstadt. Wir nennen sie Eternalia, aber du hast vielleicht schon mal unter dem Namen Shangri-La von ihr gehört.«

»Shangri-La«, wiederholte Sophie und schüttelte den Kopf. »Shangri-La ist real?«

»Alle Verlorenen Städte sind real – nur sicher nicht so, wie du sie dir vorstellst. In den Geschichten der Menschen stimmt eigentlich nie irgendwas. Denk doch nur mal an all die lächerlichen Dinge, die du über Elfen gehört hast.«

Darüber musste sie lachen und das plötzliche laute Geräusch hallte von den umstehenden Bäumen wider. Es war vollkommen still hier, bis auf die sanfte Brise, die über ihr Gesicht strich, und das leise Gurgeln des Flusses. Kein Verkehrslärm, kein Geplapper, keine hämmernden, unausgesprochenen Gedanken. An diese Stille könnte sie sich sehr gut gewöhnen. Aber sie fühlte sich auch eigenartig an. So als würde irgendetwas fehlen.

»Wo sind denn alle?«, fragte sie und ging auf Zehenspitzen, um die Stadt besser sehen zu können. Die Straßen waren so leer wie in einer Geisterstadt.

Fitz zeigte auf eines der Kuppelgebäude, das über allen anderen aufragte. Die grünen Steine seiner Mauern sahen aus wie gigantische Smaragde, aber aus irgendeinem Grund funkelten sie nicht so hell wie alle anderen. Das Gebäude schien ein ernster Ort zu sein, für ernste Zwecke. »Siehst du die blaue Flagge, die dort weht? Das bedeutet, dass gerade ein Tribunal stattfindet. Alle wohnen der Verhandlung bei.«

»Ein Tribunal?«

»Das bedeutet, dass der Hohe Rat – das ist im Prinzip unser Königshaus – eine Anhörung abhält, um zu entscheiden, ob jemand die Gesetze gebrochen hat. Ist immer eine ziemlich große Sache, wenn eins stattfindet.«

»Warum?«

Er zuckte mit den Schultern. »Die Gesetze werden hier nur sehr selten gebrochen.«

Okay, das war anders. Die Menschen brachen andauernd irgendwelche Gesetze.

Sie schüttelte den Kopf. Betrachtete sie die Menschen wirklich schon als etwas anderes?

Aber wie sollte sie sonst erklären, wo sie war?

Sie versuchte, das alles in ihren Kopf zu kriegen und logisch zu erklären. »Dann«, begann sie und schüttelte sich innerlich richtig, bevor sie ihre lächerliche Frage stellte, »ist das also … Magie?«

Fitz lachte − ein herzhaftes, schallendes Lachen, so als wäre die Frage das Lustigste, was er jemals gehört hatte.

Sie funkelte ihn wütend an. So lustig konnte es nun wirklich nicht sein.

»Nein«, antwortete er, nachdem er sich wieder eingekriegt hatte. »Magie ist nur eine einfältige Erfindung der Menschen, um die Dinge zu erklären, die sie nicht verstehen können.«

»Okay«, sagte Sophie und versuchte, sich an das letzte bisschen ihres gesunden Menschenverstands – oder besser: Elfenverstands? – zu klammern. »Und wie können wir dann hier sein, wenn wir vor fünf Minuten noch in San Diego waren?«

Er hielt den Wegfinder in die Sonne und der Kristall warf einen Lichtstrahl auf seine Hand. »Lichtsprünge. Wir sind auf einem Lichtstrahl mitgereist, der direkt hierher unterwegs war.«

»Das ist unmöglich.«

»Ist es das?«

»Ja. Für Reisen bei Lichtgeschwindigkeit benötigt man unendlich viel Energie. Hast du noch nie was von der Relativitätstheorie gehört?«

Sie dachte schon, sie hätte seiner Weisheit damit schlagartig ein Ende bereitet, aber er lachte nur wieder. »Das ist das Dämlichste, was ich je gehört habe. Wer hat sich das denn ausgedacht?«

»Äh, Albert Einstein.«

»Ha. Nie von ihm gehört. Aber er irrt sich.«

Er hatte noch nie von Albert Einstein gehört? Die Relativitätstheorie war dämlich?

Sie hatte keine Ahnung, wie sie dagegen argumentieren sollte. Er wirkte geradezu lächerlich selbstsicher – es war wirklich nervtötend.

»Konzentrier dich diesmal noch mehr«, sagte er und nahm wieder ihre Hand.

Sie schloss die Augen und wartete auf das warme Gefühl der Federn. Doch diesmal fühlte es sich an, als hätte jemand einen Föhn angeschaltet und die Federn in eine Million verschiedene Richtungen gepustet – bis eine andere Kraft sie umhüllte und alles wieder zusammenzog, wie ein riesiges Gummiband. Eine Sekunde später zitterte sie vor Kälte und eine kräftige Meeresbrise peitschte ihr die Haare ums Gesicht.

Fitz deutete auf das mächtige Schloss vor ihnen, das glänzte, als wären die Steine aus Mondlicht gehauen. »Was glaubst du denn, wie wir sonst hierhergekommen sind?«

Ihr fehlten die Worte. Es hatte sich wirklich so angefühlt, als wäre das Licht durch sie hindurchgerauscht und hätte sie mit sich fortgerissen. Doch sie konnte sich einfach nicht dazu überwinden, es laut auszusprechen − denn wenn das wirklich stimmte, dann irrte sich jedes einzelne naturwissenschaftliche Buch, das sie jemals gelesen hatte.

»Du siehst verwirrt aus«, bemerkte er.

»Na ja, das hier ist, als hättest du gesagt: ›Hey, Sophie, vergiss einfach alles, was du je gelernt hast, weil es total falsch ist.‹«

»Na, genau genommen sage ich das ja auch.« Er bedachte sie mit einem selbstgefälligen Grinsen. »Die Menschen geben ihr Bestes, aber ihr Verstand kann noch nicht mal annähernd begreifen, wie komplex die Realität in Wirklichkeit ist.«

»Was? Der Verstand der Elfen ist also besser?«

»Natürlich. Was glaubst du wohl, warum du deiner kompletten Klasse so weit voraus bist? Selbst der langsamste Elf ist jedem Menschen noch bei Weitem überlegen – auch wenn er keine vernünftige Ausbildung genossen hat.«

Sie ließ die Schultern hängen, als Fitz’ Worte langsam wirklich bei ihr ankamen.

Wenn er tatsächlich die Wahrheit sagte, dann war sie nichts weiter als ein dummes Mädchen, das von nichts irgendeine Ahnung hatte.

Nein, kein Mädchen.

Ein Elf.

4

Die Landschaft verschwamm vor ihren Augen, aber Sophie war sich nicht sicher, ob es an den Tränen oder an ihrer wachsenden Panik lag.

Alles, was sie wusste, war falsch. Ihr ganzes Leben war eine Lüge.

Fitz stupste sie an. »Hey, das ist doch nicht deine Schuld. Du hast nur geglaubt, was sie dir beigebracht haben – ich bin mir sicher, dass ich dasselbe getan hätte. Aber es ist an der Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. So funktioniert die Welt wirklich, und das hat nichts mit Magie zu tun. Es ist einfach so.«

Die Schlossglocken läuteten und Fitz zerrte Sophie hinter einen großen Felsen, als sich ein Tor öffnete. Zwei Elfen mit bodenlangen Samtumhängen über ihren schwarzen Tuniken erschienen, gefolgt von Dutzenden bizarren Kreaturen, die in Militärformation den steinigen Pfad hinabmarschierten. Sie waren über zwei Meter groß und trugen nichts als schwarze Hosen, wodurch ihre strammen Muskeln nicht zu übersehen waren. Mit ihren platten Nasen und der rauen gräulichen Haut, die sich in dicken Falten kräuselte, sahen sie aus, als wären sie halb außerirdisch, halb Gürteltier.

»Kobolde«, flüsterte Fitz. »Wahrscheinlich die gefährlichsten Wesen, denen du jemals begegnen wirst. Deshalb ist es auch gut, dass sie den Vertrag unterzeichnet haben.«

»Und warum verstecken wir uns dann?«, flüsterte Sophie zurück und hasste das Zittern in ihrer Stimme.

»Wir sind wie Menschen gekleidet. Menschen ist der Zutritt zu den Verlorenen Städten verboten, vor allem hier, in Lumenaria. In Lumenaria treffen alle Welten aufeinander: die der Gnome, Zwerge, Oger, Kobolde, Trolle …«

Sophie war viel zu überwältigt, um auch nur an all die anderen Wesen zu denken, die er erwähnt hatte, deshalb konzentrierte sie sich lieber auf eine bessere Frage: »Warum ist Menschen der Zutritt denn verboten?«

Fitz bedeutete ihr mit einem Winken, ihm noch weiter hinter den Felsen zu folgen, und ging in die Hocke. »Sie haben uns verraten. Die Ältesten des Hohen Rats haben ihnen denselben Vertrag angeboten, den sie mit allen intelligenten Wesen geschlossen haben, und die Menschen haben ihm zugestimmt. Aber dann haben sie beschlossen, dass sie über die Welt herrschen wollten – als würde das tatsächlich so laufen −, und angefangen, einen Krieg zu planen. Die Ältesten wollten keine Gewalt, deshalb sind sie einfach verschwunden, haben den Elfen jeglichen Kontakt mit den Menschen untersagt und sie ihrem eigenen Schicksal überlassen. Und du weißt ja selbst, wie gut es danach für die Menschen gelaufen ist.«

Sophie machte den Mund auf, um ihresgleichen zu verteidigen, aber sie verstand durchaus, was Fitz meinte. Krieg, Verbrechen, Hungersnöte – die Menschen hatten viele Probleme.

Und außerdem: Wenn wirklich alles stimmte, was er ihr erzählt hatte, dann waren sie gar nicht ihresgleichen. Bei der Erkenntnis wurde ihr mit einem Mal viel kälter als von dem eisigen Wind, der über ihre Wangen strich.

»Die Geschichten, die sich die Menschen erzählt haben, die uns noch kannten, müssen nach unserem Verschwinden absolut unglaublich geklungen haben. Im Lauf der Zeit haben sie sich dann zu den verrückten Mythen entwickelt, die du heute kennst. Aber das hier ist die Wahrheit, Sophie.« Fitz machte eine ausladende Geste. »Das hier bist du. Und hier gehörst du hin.«

Hier gehörst du hin.

Sie hatte ihr ganzes Leben darauf gewartet, diese vier simplen Worte zu hören. »Ich bin also wirklich ein Elf?«, flüsterte sie.

»Ja.«

Sophie blickte durch eine Felsspalte auf das leuchtende Schloss – dieser Ort sollte eigentlich gar nicht existieren, befand sich aber trotzdem direkt vor ihrer Nase. Alles, was Fitz ihr erzählt hatte, war vollkommen verrückt. Aber sie wusste, dass es die Wahrheit war. Sie konnte es fühlen. So als sei ein ganz wesentlicher Teil ihrer Identität plötzlich mit einem Klicken an seinen Platz gerutscht.

»Okay«, beschloss sie, obwohl sich in ihrem Kopf noch immer alles in tausend verschiedene Richtungen drehte. »Ich glaube dir.«

Ein lautes Scheppern ertönte, als sich ein anderes Tor schloss. Fitz trat aus den Schatten und zog erneut einen Zauberstab hervor. Es war jedoch nicht der Wegfinder von vorhin, sondern ein dünner, schwarzer Stab mit einem kobaltblauen Kristall. »Bereit, nach Hause zu gehen?«

Nach Hause.

Die Worte rissen sie zurück in die Realität. MrSweeney würde ihre Mutter anrufen, wenn sie nicht in den Bus einstieg. Sie musste unbedingt zurück nach Hause, bevor ihre Mom total ausrastete.

Ihr wurde ein wenig schwer ums Herz.

Die Wirklichkeit erschien Sophie so trist und langweilig nach allem, was sie gesehen hatte. Trotzdem nahm sie Fitz’ Hand und warf einen letzten heimlichen Blick auf die traumhafte Aussicht, bevor sie von blendend hellem Licht verdrängt wurde.

Die rauchige Asche brannte nach der klaren, frischen Luft von Lumenaria in ihrer Lunge. Sophie blickte sich um, überrascht, als sie die unauffälligen, kastenförmigen Häuser in der schmalen, von Bäumen gesäumten Straße erkannte. Sie befanden sich nur einen Block von ihrem eigenen Haus entfernt. Sie beschloss, ihn nicht zu fragen, woher er wusste, wo sie wohnte.

Fitz hustete und blickte wütend in den Himmel empor. »Man sollte doch meinen, die Menschen wären in der Lage, ein paar Feuer zu löschen, bevor der Rauch den kompletten Planeten verschmutzt.«

»Sie arbeiten dran«, erwiderte Sophie. Sie verspürte das eigenartige Bedürfnis, ihr Zuhause zu verteidigen. »Außerdem sind das keine normalen Feuer. Der Brandstifter hat irgendeine Chemikalie verwendet, um sie zu entfachen, deshalb brennen sie glühend weiß und der Rauch riecht ganz süß.«

Für gewöhnlich roch es bei Waldbränden in der Stadt wie bei einem Grillfest. Diesmal erinnerte der Geruch jedoch eher an Zuckerwatte, was eigentlich sogar ganz nett gewesen wäre, wenn er nicht so in ihren Augen gebrannt und es keine Asche geregnet hätte.

»Brandstifter.« Fitz schüttelte den Kopf. »Warum sollte jemand mit ansehen wollen, wie die Welt verbrennt?«

»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. Sie hatte sich selbst schon dieselbe Frage gestellt und war sich nicht sicher, ob es überhaupt eine Antwort darauf gab.

Fitz zog den silbernen Wegfinder aus seiner Hosentasche.

»Gehst du?«, fragte sie und hoffte, dass er nicht bemerkt hatte, wie ihre Stimme dabei stockte.

»Ich muss herausfinden, was mein Vater jetzt tun will – falls er es überhaupt selbst weiß. Keiner von uns hat wirklich geglaubt, dass du das Mädchen bist.«

Das Mädchen. So als sei sie jemand Bedeutendes.

Wenn sie seine Gedanken hätte hören können, hätte sie gewusst, was er damit meinte. Aber sein Geist war nach wie vor ein stilles Rätsel für sie − und sie hatte noch immer keine Ahnung, warum.

»Er wird jedenfalls nicht begeistert sein, dass ich dich in unsere Städte mitgenommen habe«, fügte er hinzu, »obwohl ich aufgepasst habe, dass uns niemand sieht. Also, erzähl bitte niemandem, was ich dir heute gezeigt habe.«

»Das werde ich nicht. Versprochen.« Sie hielt seinen Blick fest, damit er wusste, dass sie es auch wirklich so meinte.

Er stieß den Atem aus, den er angehalten hatte. »Danke. Und vergiss nicht, dich ganz normal zu verhalten, damit deine Familie keinen Verdacht schöpft.«

Sie nickte. Aber sie musste ihm trotzdem noch eine Frage stellen, bevor er ging. »Fitz?« Sie spannte die Schultern an und nahm all ihren Mut zusammen. »Warum kann ich deine Gedanken nicht hören?«

Die Frage ließ ihn einen Schritt rückwärtstaumeln. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du eine Telepathin bist.«

»Sind denn nicht alle Elfen Telepathen?«

»Nein. Das ist eine ganz besondere Fähigkeit. Sie gehört zu den selteneren. Und du bist erst zwölf, richtig?«

»Ich werde aber in sechs Monaten dreizehn«, korrigierte sie ihn, weil ihr ganz und gar nicht gefiel, wie Fitz ihr Alter betonte.

»Das ist wirklich jung. Zu mir haben sie damals gesagt, ich sei der Jüngste, bei dem es sich jemals manifestiert hat, und ich habe erst mit dreizehn angefangen, Gedanken zu lesen.«

Sie runzelte die Stirn. »Aber … ich höre schon Gedanken, seit ich fünf bin.«

»Fünf?« Er stieß es so laut aus, dass das Wort von den Häusern widerhallte. Sie ließen beide den Blick die Straße hinauf- und hinunterhuschen, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war.

»Bist du sicher?«

»Todsicher.«

Wie sie damals im Krankenhaus aufgewacht war, nachdem sie sich so schlimm den Kopf gestoßen hatte, gehörte wohl nicht zu den Momenten, die sie jemals wieder vergessen würde. Sie war an alle möglichen komischen Maschinen angeschlossen gewesen und ihre Eltern hatten sich über sie gebeugt und irgendetwas geschrien, das sie kaum von den Stimmen hatte trennen können, die ihren Geist erfüllten. Sie selbst hatte die ganze Zeit nur geweint, sich den Kopf gehalten und versucht, einer Gruppe Erwachsener, die es nicht verstehen konnten – die es niemals verstehen würden −, zu erklären, was mit ihr passierte. Doch niemand hatte den Lärm vertreiben können, und seither quälten sie die Stimmen.

»Ist das falsch?«, fragte sie. Die Sorgenfalte zwischen seinen Augenbrauen gefiel ihr ganz und gar nicht.

»Ich habe keine Ahnung.« Seine Augen verengten sich, so als würde er versuchen, in ihren Kopf zu blicken.

»Was machst du?«

»Blockierst du mich?«, ignorierte er ihre Frage.

»Ich weiß ja nicht mal, was das bedeutet.« Sie wich einen Schritt zurück und wünschte sich, die größere Distanz würde ihn daran hindern, ihre persönlichsten Gedanken zu lesen.

»Das ist eine Methode, um Telepathen abzuhalten. Ungefähr so, als würdest du eine Mauer um deinen Geist errichten.«

»Ist das etwa der Grund dafür, dass ich dich nicht hören kann?«

»Vielleicht. Kannst du mir sagen, was ich gerade denke?«

»Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich deine Gedanken nicht so hören kann wie die von anderen Leuten.«

»Das liegt daran, dass der Geist der Menschen schwach ist. Aber das habe ich nicht gemeint. Wenn du ganz genau horchst, kannst du mich dann hören?«

»Ich … weiß es nicht. Ich habe noch nie versucht, absichtlich die Gedanken von jemandem zu lesen.«

»Du musst einfach nur deinem Instinkt vertrauen. Konzentrier dich. Du weißt dann schon, was du tun musst. Versuch es einfach.«

Sie hasste es, sich von ihm herumkommandieren zu lassen – vor allem weil er ihre Fragen nicht beantwortete. Andererseits war das, worum er sie gebeten hatte, vielleicht die einzige Möglichkeit zu erfahren, warum er so besorgt wirkte. Dafür musste sie allerdings nur noch herausfinden, was genau er mit »horchen« meinte.

Ihren Ohren musste sie schließlich nicht erst sagen, dass sie hören sollten – sie taten es einfach. Zuzuhören erforderte hingegen ein aktives Handeln. Dafür musste sie sich konzentrieren. Vielleicht funktionierte das Gedankenlesen ja ganz genauso – wie ein zusätzlicher Sinn.

Sie blickte starr auf seine Stirn und stellte sich vor, sie würde ihr Bewusstsein wie einen geistigen Schatten auswerfen und nach seinen Gedanken tasten. Nach einer Sekunde schoss Fitz’ Stimme durch ihren Kopf. Sie war nicht so schrill oder laut wie die Gedanken der Menschen, sondern glich eher einem sanften Flüstern, das über ihr Gehirn strich.

»Du hast noch nie einen so ruhigen Geist gespürt wie meinen?«, platzte sie heraus.

»Du hast mich gehört?« Er sah auf einmal sehr blass aus.

»Sollte ich das denn nicht?«

»Sonst kann das niemand.«

Sie brauchte ein paar Sekunden, um seine Worte zu verarbeiten. »Aber du kannst meine Gedanken nicht lesen?«

Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht mal, wenn ich mich richtig anstrenge.«

Eine komplett neue Welt voller Sorgen drückte auf ihre Schultern. Sie wollte nicht anders sein als die anderen Elfen. »Warum?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber in Kombination mit deinen Augen − und wenn man sich anschaut, wo du wohnst …« Er verstummte, so als hätte er Angst, er könnte bereits zu viel gesagt haben. Er fummelte nervös an dem Kristall des Wegfinders herum. »Ich muss meinen Vater fragen.«

»Warte – du kannst jetzt nicht einfach gehen.« Nicht solange sie noch viel mehr Fragen als Antworten hatte.

»Ich muss. Ich bin schon viel zu lange weg. Und du musst auch wieder nach Hause.«

Sie wusste, dass er recht hatte. Sie wollte keinen Ärger bekommen. Aber ihre Knie zitterten noch immer, als er den Kristall ins Sonnenlicht hielt. Er war ihre einzige Verbindung zu der unglaublichen Welt, die sie gesehen hatte – der einzige Beweis, dass sie sich das alles nicht nur eingebildet hatte.

»Werde ich dich jemals wiedersehen?«, flüsterte sie.

»Natürlich. Ich komme morgen wieder.«

»Aber wie soll ich dich denn finden?«

Er schenkte ihr ein vorsichtiges Lächeln. »Keine Sorge – ich finde dich.«

5

Da bist du ja!«, rief ihre Mutter erleichtert. Ihre panischen Gedanken bombardierten Sophies Verstand förmlich, als sie ihr vollgestelltes Wohnzimmer betrat, wo ihre Mom am Telefon hing. »Ja, sie ist wieder zu Hause«, sagte sie in den Hörer. »Keine Sorge, ich werde mich sehr ausführlich mit ihr unterhalten.« Sophies Herz setzte einen Schlag aus.

Ihre Mutter legte den Telefonhörer auf und wirbelte zu ihr herum. Ihre weit aufgerissenen grünen Augen durchbohrten sie wie Dolche. »MrSweeney hat mich angerufen, weil er dich im Museum nicht mehr finden konnte. Was hast du dir nur dabei gedacht, einfach so wegzulaufen? Besonders jetzt, wo wegen der Feuer sowieso schon alle so nervös sind? Hast du irgendeine Ahnung, welche Sorgen ich mir gemacht habe? MrSweeney war kurz davor, die Polizei zu rufen!«

»Ich … Es tut mir leid«, stammelte Sophie. Es fiel ihr schwer, sich eine überzeugende Lüge auszudenken. Sie war eine furchtbar schlechte Lügnerin. »Ich … hatte Angst.«

Die Wut ihrer Mutter verwandelte sich in Besorgnis und sie zupfte nervös an ihrem lockigen braunen Haar. »Wovor hattest du denn Angst? Ist irgendwas passiert?«

»Ich hab diesen Typen gesehen«, antwortete Sophie, als ihr wieder einfiel, dass die besten Lügen auf einem Körnchen Wahrheit basierten. »Er hatte den Artikel über mich dabei. Er hat angefangen, mir alle möglichen Fragen zu stellen, und mir richtig Angst eingejagt, deshalb bin ich vor ihm weggelaufen. Und dann hatte ich Angst, wieder zurückzugehen, deshalb bin ich zur Straßenbahn und allein nach Hause gefahren.«

»Warum hast du denn nicht einfach einen Lehrer oder einen Museumswärter geholt – oder die Polizei angerufen?«

»Daran hab ich wohl einfach nicht gedacht. Ich wollte nur noch weg.« Sie zupfte sich eine Wimper ab.

»Hey! Hör auf damit«, schimpfte ihre Mutter, schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Dann atmete sie ganz tief durch. »Na schön, ich schätze, das Wichtigste ist, dass es dir gut geht. Aber wenn so was Ähnliches noch mal passiert, dann will ich, dass du dich sofort an einen Erwachsenen wendest, hast du mich verstanden?«

Sophie nickte.

»Gut.« Ihre Mom massierte die Falte zwischen ihren Augenbrauen, die immer erschien, wenn sie gestresst war. »Das ist genau der Grund, warum dein Vater und ich über diesen Artikel so aufgebracht waren. Es ist nicht sicher, sich in dieser Welt von anderen abzuheben – man weiß schließlich nie, was irgendein Irrer vielleicht vorhat, wenn er erst einmal weiß, wo er dich finden kann.«

Niemand verstand besser als Sophie, wie gefährlich es war, sich von anderen abzuheben. Sie wurde schon ihr ganzes Leben lang gehänselt, verspottet und gemobbt. »Mir geht’s gut, Mom, okay?«

Ihre Mutter schien richtig in sich zusammenzusacken, als sie ein schweres Seufzen ausstieß. »Ich weiß. Ich wünschte nur …«

Ihre Stimme erstarb und Sophie schloss die Augen und hoffte, dass sie den Rest des Gedankens ausblenden konnte.

… du könntest einfach ganz normal sein, wie deine Schwester.

Die Worte stachen wie eine winzige Nadel in Sophies Herz. Es war das Härteste daran, eine Telepathin zu sein – zu hören, was ihre Eltern wirklich dachten.

Sie wusste, dass ihre Mom es nicht so meinte. Aber deshalb tat es kein bisschen weniger weh, es zu hören.

Ihre Mutter drückte sie ganz fest an sich. »Sei einfach vorsichtig, Sophie. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn dir irgendetwas passiert.«

»Ich weiß, Mom. Ich versuch’s.«

Im nächsten Moment kam ihr Vater zur Haustür herein und ihre Mutter löste sich wieder von ihr.

»Willkommen zu Hause, Schatz! Abendessen ist in zehn Minuten fertig«, begrüßte sie ihn. »Amy!«, rief sie dann so laut, dass es auch im ersten Stock zu hören war. »Zeit, dass du runterkommst!«

Sophie folgte ihrer Mutter in die Küche, ein mulmiges Gefühl im Magen. Das abgenutzte Linoleum, die pastellfarbenen Wände, der kitschige Krimskrams – all das kam ihr nach den glitzernden Städten, die Fitz ihr gezeigt hatte, so gewöhnlich vor. Konnte sie wirklich dort hingehören?

Gehörte sie wirklich hier hin?

Ihr Vater gab ihr einen Kuss auf die Wange und stellte seine abgeschabte Aktentasche auf dem Küchentisch ab. »Und, wie geht’s meiner Sonne?«, fragte er mit einem Zwinkern.

Sophie machte ein finsteres Gesicht. Er nannte sie schon so, seit sie ganz klein gewesen war. Angeblich hatte sie Schwierigkeiten gehabt, ihren Namen richtig auszusprechen, und es hatte eher wie »Sonne« geklungen. Sie hatte ihn schon hundert-, ach was, tausendmal gebeten, damit aufzuhören, aber er weigerte sich, ihr zuzuhören.

Ihre Mom nahm den Deckel von einem der köchelnden Töpfe und der Duft von Knoblauch und Sahne erfüllte den Raum. Sie reichte Sophie das Besteck. »Du bist mit Tischdecken dran.«

»Ja, Sonne. Zack, zack«, triezte ihre Schwester sie, als sie ins Zimmer sauste und sich auf ihren üblichen Stuhl fallen ließ.

Mit ihren neun Jahren hatte Amy die Rolle der nervtötenden kleinen Schwester perfekt verinnerlicht.

Sie war in jeder Hinsicht das Gegenteil von Sophie, von ihrem lockigen braunen Haar und den grünen Augen bis hin zu ihren unterdurchschnittlichen Noten und ihrer unglaublichen Beliebtheit. Niemand konnte begreifen, dass sie und Sophie tatsächlich Schwestern waren – am allerwenigsten Sophie. Selbst ihre Eltern wunderten sich in Gedanken darüber.

Sophie rutschte plötzlich das Besteck aus den Händen.

»Was ist denn los?«, fragte ihre Mom.

»Gar nichts.« Sie sank auf ihren Stuhl.

Wie konnten sie und Amy Schwestern sein? Amy war definitiv menschlich. Genau wie ihre Eltern. Sophie hatte ihre Gedanken zur Genüge gehört und wusste mit Sicherheit, dass sie keine geheimen Kräfte verbargen. Aber wenn sie selbst wirklich ein Elf war …

Das ganze Zimmer begann, sich zu drehen, und Sophie ließ den Kopf in ihre Hände sinken. Sie versuchte, sich aufs Atmen zu konzentrieren: einatmen, ausatmen, noch mal von vorn.

»Alles in Ordnung, Sonne?«, fragte ihr Dad.

Ausnahmsweise störte sie der Spitzname nicht. »Mir ist ein bisschen schwindlig … Muss wohl an dem Rauch liegen«, fügte sie in dem Versuch hinzu zu verhindern, dass ihre Eltern irgendeinen Verdacht schöpften. »Kann ich mich hinlegen?«

»Ich finde, du solltest erst noch was essen«, erwiderte ihre Mutter und Sophie wusste, dass sie ihr nicht widersprechen sollte. Das Abendessen ausfallen zu lassen, fiel definitiv nicht unter »normales Verhalten« − vor allem wenn es Fettuccine gab. Es war ihr Lieblingsgericht, auch wenn die schwere Sahnesoße ihre plötzliche Übelkeit kein bisschen besser machte. Genauso wenig wie die Art, wie der Rest ihrer Familie sie anstarrte.

Sophie ignorierte die Sorgen in ihren Gedanken und versuchte, nicht an ihren Wimpern zu zupfen, während sie jeden Bissen ausführlich kaute, bevor sie sich zwang, ihn langsam hinunterzuschlucken. Schließlich legte ihr Vater seine Gabel weg – das Zeichen, dass das Abendessen im Hause Foster offiziell beendet war − und Sophie sprang von ihrem Stuhl auf.

»Danke, Mom, das war echt lecker. Ich geh Hausaufgaben machen.« Sie verließ die Küche und eilte die Treppe hinauf, bevor ihre Eltern irgendetwas erwidern konnten, um sie aufzuhalten.

Sie rannte in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich und stolperte direkt in ihr Bett. Ein lautes Fauchen durchbrach die Stille. »Entschuldige, Marty«, flüsterte sie und ihr Herz pochte wie wild in ihren Ohren.

Ihr flauschiger grauer Kater bedachte sie mit einem erzürnten Funkeln, weil sie sich auf seinen Schwanz gesetzt hatte. Aber als sie die Hand ausstreckte, tapste er zu ihr und kuschelte sich auf ihrem Schoß zusammen. Martys leises Schnurren erfüllte die Stille und gab Sophie den Mut, sich der Erkenntnis zu stellen, die sie in der Küche eben wie ein Schlag getroffen hatte.

Ihre Familie konnte gar nicht ihre Familie sein.

Sie holte tief Luft. Diese Tatsache musste sie erst einmal verdauen.

Das Seltsame war jedoch, dass es in gewisser Weise absolut logisch war. Es erklärte, warum sie sich immer so fehl am Platz gefühlt hatte: das schlanke blonde Mädchen inmitten seiner rundlichen, dunkelhaarigen Familie.

Und wenn sie nicht ihre Familie waren … wer war es dann?

Panik schnürte ihr die Brust zusammen und ihre Lunge schrie förmlich nach Luft. Doch ein anderer Schmerz pulsierte noch viel heftiger, so als sei etwas in ihrem tiefsten Innersten zerrissen.

Tränen brannten in ihren Augen, aber sie blinzelte sie weg. Es musste ein Fehler sein. Wie konnte sie nicht mit ihrer Familie verwandt sein? Sie hörte ihre Gedanken schon seit sieben Jahren – sie hätte es doch längst erfahren müssen, oder? Und selbst wenn es irgendwie möglich war, veränderte die Tatsache, dass sie nicht mit ihnen blutsverwandt war, doch eigentlich nichts, oder? Eine Menge Kinder waren schließlich adoptiert und sie waren trotzdem ein Teil ihrer neuen Familie.

Ihre Mutter steckte den Kopf durch die Tür. »Ich hab dir E. L. Fudges mitgebracht.« Sie reichte Sophie einen vollen Teller mit ihren Lieblingskaramellkeksen und ein Glas Milch. Dann blickte sie sie stirnrunzelnd an. »Du siehst blass aus, Sophie. Wirst du krank?« Sie drückte eine Handfläche auf Sophies Stirn. »Fieber hast du nicht.«

»Mir geht’s gut. Ich bin nur … müde.« Sie nahm sich einen Keks, erstarrte jedoch, als ihr Blick auf das winzige Elfengesicht fiel, das darin eingeprägt war. »Ich muss ins Bett.«

Ihre Mutter ließ sie allein, damit sie sich umziehen konnte. Wie benommen schlüpfte Sophie in ihren Schlafanzug, kroch unter die Bettdecke und wickelte sich so fest darin ein, wie sie nur konnte. Marty legte sich auf seinen angestammten Platz auf ihrem Kissen, direkt neben ihren Kopf.

»Träum süß, Sonne«, sagte ihr Vater und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Ihre Eltern deckten sie jeden Abend zu – noch so eine Foster’sche Familientradition.

»Nacht, Dad.« Sie versuchte zu lächeln, konnte jedoch kaum atmen.

Ihre Mom küsste sie auf die Wange. »Hast du Ella?«

»Jap.« Sie zeigte ihr den blauen Elefanten unter ihrem Arm. Wahrscheinlich war sie schon zu alt, um noch ein Kuscheltier mit ins Bett zu nehmen, aber ohne Ella konnte sie einfach nicht schlafen. Und heute Abend brauchte sie sie mehr denn je.

Ihre Mutter knipste das Licht aus und die Dunkelheit gab Sophie den Mut, den sie brauchte. »Ähm, kann ich euch was fragen?«

»Natürlich«, antwortete ihr Vater. »Was gibt’s?«

Sie drückte Ella noch fester an sich. »Bin ich adoptiert?«

Ihre Mom lachte, als sie in Gedanken zu den zwölf Stunden sehr schmerzhafter Wehen zurücksauste, die sie durchlitten hatte. »Nein, Sophie. Warum fragst du das denn?«

»Könnte ich vielleicht nach der Geburt vertauscht worden sein?«

»Nein. Natürlich nicht!«

»Seid ihr sicher?«

»Ja! Ich denke, ich würde wohl meine eigene Tochter erkennen!« In den Gedanken ihrer Mom schwang nicht der leiseste Zweifel mit. »Was ist denn hier eigentlich los?«

»Gar nichts. Ich hab mich das einfach nur gefragt.«

Ihr Dad lachte. »Tut mir leid, Sonne, aber wir sind deine Eltern – ob es dir nun gefällt oder nicht.«

»Okay«, sagte sie.

Aber sie war sich da nicht mehr so sicher.

6

In jener Nacht träumte Sophie, die Elfen auf der Packung ihrer Lieblingskekse würden sie als Geisel halten, bis sie sämtliche Keksrezepte perfektioniert hatte. Als sie ihnen verkündete, dass sie Oreos sowieso viel lieber mochte, versuchten sie, sie in einem riesigen Kessel voller Karamell zu ertränken. Sie erwachte in kalten Schweiß gebadet und beschloss, dass Schlaf total überbewertet wurde.

Als der Morgen kam, duschte sie hastig und schlüpfte dann in ihre beste Jeans und ein T-Shirt, das sie noch nie getragen hatte – buttergelb mit braunen Streifen. Es war das einzige Kleidungsstück in ihrem Schrank, das nicht grau war, aber sie war nie selbstbewusst genug gewesen, um es zu tragen. Heute würde sie Fitz wiedersehen und die Farbe des Shirts brachte die goldenen Sprenkel in ihren braunen Augen zum Leuchten. Sosehr sie es auch hasste, das zuzugeben: Sophie wollte heute gut aussehen. Sie hatte sich sogar eine Spange ins Haar gesteckt und mit dem Gedanken gespielt, Lipgloss aufzutragen, war dann jedoch zu dem Schluss gekommen, dass dies doch ein wenig zu weit ging. Sie schlich sich nach unten, um nachzusehen, ob sie ihn draußen schon irgendwo entdecken konnte.

Sie huschte durch den Vorgarten und blinzelte die herabregnende Asche aus ihren Augen. Der Rauch war so dicht, dass er förmlich an ihrer Haut klebte. Mal ernsthaft: Wann würden sie diese Feuer endlich unter Kontrolle bekommen?

»Suchst du jemanden?«, fragte ihr Nachbar von nebenan von seinem Stammplatz in der Mitte seines Rasens. Mr Forkle war so gut wie immer dort anzutreffen und arrangierte Hunderte von Gartenzwergen in den unterschiedlichsten ausgefeilten Formationen.

»Nein«, antwortete Sophie, genervt von seiner Neugier. »Ich wollte nur mal sehen, ob sich der Rauch schon verzogen hat. Aber das hat er offensichtlich nicht.« Sie hustete, um ihre Aussage zu unterstreichen.

Seine blauen Knopfaugen bohrten sich in ihre und sie konnte in seinen Gedanken lesen, dass er ihr nicht glaubte. »Ihr Kinder«, grummelte er, »führt doch immer irgendwas im Schilde.«

Mr Forkle begann seine Sätze am liebsten mit den Worten »ihr Kinder«. Er war alt, roch nach Schweißfüßen und beschwerte sich andauernd über irgendetwas. Aber er war auch derjenige gewesen, der damals den Notruf gewählt hatte, als sie gestürzt war und sich den Kopf gestoßen hatte, deshalb musste sie nett zu ihm sein.

Er schob einen der Zwerge einen Millimeter nach links. »Du solltest lieber wieder reingehen, bevor der Rauch noch diese Kopfschmerzen bei dir auslöst, die du immer −«

Lautes Kläffen schnitt ihm das Wort ab. Ein Knäuel aus Fell auf vier Beinen sauste den Gehweg entlang und bellte so laut, dass sein winziger Kopf kurz vor dem Explodieren sein musste. Ein blonder Mann in Laufshorts jagte ihm hinterher.

»Würdest du sie dir bitte schnappen?«, rief er Sophie zu, als der Hund über den Rasen flitzte.

»Ich versuch’s.« Der Hund war schnell, aber Sophie gelang es mit einem wackligen Ausfallschritt, auf die Leine zu treten. Sie ging in die Knie, streichelte das heftig japsende Tier, das sie mit wilden Augen anschaute, und versuchte, es zu beruhigen.

»Vielen, vielen Dank«, keuchte der Mann und rannte über die Steinplatten zu ihr. Sobald er sich näherte, begann der Hund jedoch zu knurren, zog an seiner Leine und bellte wie verrückt.

»Sie gehört meiner Schwester«, schrie er über das laute Kläffen hinweg. »Sie hasst mich. Nicht meine Schwester – der Hund«, fügte er hinzu. Er streckte eine Hand aus und zeigte ihr mehrere halbmondförmige Bisswunden, noch immer frisch und blutend. Eine davon war so tief, dass sie garantiert eine Narbe hinterlassen würde.

Sophie nahm die zitternde Hündin auf den Arm und drückte sie an sich. Warum hatte das Tier solche Angst?

»Ich nehme nicht an, dass du bereit wärst, sie zurück zum Haus meiner Schwester zu tragen? Es ist nur ein paar Blocks entfernt und sie scheint dich viel lieber zu mögen als mich.« Er zwinkerte mit einem seiner durchdringenden blauen Augen.

»Das ist sie ganz sicher nicht«, brüllte Mr Forkle, bevor Sophie auch nur den Mund aufmachen konnte, um etwas zu antworten. »Sophie, geh wieder rein. Und Sie«, er deutete mit dem Finger auf den Jogger, »verschwinden sofort von hier, sonst rufe ich die Polizei!«

Der Mann kniff die Augen zusammen. »Sie habe ich gar nicht gefragt −«

»Das ist mir egal!«, unterbrach Mr