Keine Lizenz zum Töten - Gerhard Conrad - E-Book

Keine Lizenz zum Töten E-Book

Gerhard Conrad

0,0
20,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gerhard Conrad war 30 Jahre lang Agent des Bundesnachrichtendienstes und an vielen Brennpunkten der Welt mit streng geheimen Missionen betraut. Der Islamwissenschaftler und Experte für den Nahen Osten verhandelte etwa mit Terrororganisationen und Regierungen den Austausch von Gefangenen. Nur wenige kennen das operative, aber auch das analytische "Geschäft" des BND so gut wie er. Zuletzt war er als erster Deutscher Direktor am EU Intelligence Analysis Center in Brüssel und ranghöchster ziviler Nachrichtendienstmitarbeiter auf europäischer Ebene.  Der hochkarätige Geheimagent bietet exklusive Einblicke, reflektiert seine Erfahrungen, räumt mit Mythen auf und berichtigt Missverständnisse. Am Ende stellt er sich der Frage: Was brauchen wir, um mit einem leistungsfähigen Nachrichtendienst für eine immer gefährlichere Zukunft gewappnet zu sein? 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 392

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Keine Lizenz zum Töten

Die Autoren

Gerhard Conrad studierte Völkerrecht, Politologie und promovierte in Islamwissenschaften, bevor er seinen Dienst im militärischen Nachrichtenwesen der Bundeswehr und beim Bundesnachrichtendienst begann. Seit 1990 BND-Agent mit dem Schwerpunkt Naher Osten. Von 2009 bis 2012 Leiter des präsidialen Leitungsstabes des BND, danach Vertreter des Dienstes in London und schließlich von 2016 bis 2019 Direktor im Europäischen Auswärtigen Dienst (EU- INTCEN) in Brüssel. Seit seiner Pensionierung Ende 2019 ist er unter anderem Visiting Professor am King’s College London, Dozent an der Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung, Abteilung Nachrichtendienste und an Sciences Po in Paris. Darüber hinaus unterstützt er als Intelligence Advisor die Munich Security Conference, als Senior Advisor die Agora Strategy Group AG und als Vorstandsmitglied den Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland e.V. (GKND).

Martin Specht, geboren 1964, ist ein Buchautor, Ghostwriter und Journalist. Er berichtete von den Kriegsschauplätzen im Irak, Afghanistan, Ruanda, dem Kongo, Sudan, Liberia, Mali, dem Balkan, sowie aus zahlreichen Ländern Lateinamerikas und dokumentierte im Auftrag der Vereinten Nationen die Folgen eines Erdbebens in Pakistan und eine Hungersnot in Niger. Er ist Verfasser mehrer Sachbücher (Amazonas, Narco Wars, Kolumbien) und Ghostwriter des Spiegel-Bestsellers Mythos Fremdenlegion. Martin Specht lebt in Medellín, Kolumbien.

Gerhard Conrad und Martin Specht

Keine Lizenz zum Töten

30 Jahre als BND-Mann und Geheimdiplomat

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

© 2022 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Dr. Annalisa Viviani, MünchenUmschlaggestaltung: total italic, Thierry Wijnberg unter Verwendung eines Fotos von Yotam SchwartzUmschlagmotive: © Shutterstock/Rakpong Thongdet, www.textures.comAutorenfotos:Gerhard Conrad: © privatMartin Specht: © www.martinspechtphotos.comE-Book powerded by pepyrusISBN 978-3-8437-2822-5

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Die Autoren / Das Buch

Titelseite

Impressum

Zitat

EINLEITUNG EU TOP SECRET?

KAPITEL 1 Austausch erster Akt

KAPITEL 2 Frühe Erfahrungen zwischen den Fronten

KAPITEL 3 Austausch zweiter Akt

KAPITEL 4 Jeden Stein umdrehen

KAPITEL 5 Verhandlungen mit der Hizballah

KAPITEL 6 Austausch dritter Akt

KAPITEL 7 Das Ende der Geschichte: Was wollen Sie jetzt noch beim BND?

KAPITEL 8 Ideologen des Terrors: Krieg den Heuchlern, Friede den Muslimen

KAPITEL 9 Lizenz zum Töten? Von Mythen und Vorurteilen

KAPITEL 10 Dimensionen von Intelligence

KAPITEL 11 Ansichten von außen und Perspektiven von innen

KAPITEL 12 Hotel Ritz, Madrid – Spinneys Hypermarché, Beirut

KAPITEL 13 Flucht aus Beirut – Endspiel in Naqura im Sommer 2008

KAPITEL 14 Opfer des eigenen Erfolgs – Mister Hizballah in Gaza

KAPITEL 15 Vom

Proof of Life

zum

German Deal

KAPITEL 16 Skandalisierungspotenziale – Mister Hizballah in Berlin

KAPITEL 17

Intelligence Culture

und

Common Sense

– Mister Hizballah in London

KAPITEL 18 Gemeinschafts- und Partikularinteressen – Mister Hizballah in Brüssel

SCHLUSSWORT

Mission accomplished?

Danksagung

Literaturhinweise

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Zitat

Zitat

Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit, in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen. Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten. Dann kehrt man abends froh nach Haus und segnet Fried und Friedenszeiten.Johann Wolfgang von Goethe, Faust I

EINLEITUNG EU TOP SECRET?

Manchmal gibt es Momente, in denen die Zeit stillzustehen scheint. Inmitten großer Veränderungen, revolutionärer Umbrüche und Krisen, kehrt dann für einen Augenblick eine merkwürdige, fast unwirkliche Ruhe ein. Zuweilen bringt dieser Moment auch Klarheit, und man wird sich der Probleme nur allzu bewusst. Was ist bisher geschehen, wie soll und wird es in Zukunft weitergehen? Das sind die Fragen, die sich in solchen Augenblicken stellen. Einen solchen erlebte ich 2019 in Brüssel. Seit 2016 war ich dort Direktor des EU Intelligence Analysis Center (EU-INTCEN). Alle zivilen Geheim- und Nachrichtendienste der EU-Mitgliedstaaten stehen mit diesem Stab in Verbindung und unterstützen ihn. In meiner Funktion war ich der ranghöchste zivile Nachrichtendienstmitarbeiter in den Europäischen Institutionen. In wenigen Tagen würde ich diesen Posten abgeben. Einige Wochen später – nach fast dreißig Dienstjahren – auch den Bundesnachrichtendienst verlassen und mich in den Ruhestand begeben. Von Ruhe konnte in diesem Moment jedoch noch keine Rede sein, da ich vollauf damit beschäftigt war, die Amtsgeschäfte an meinen Nachfolger zu übergeben. An diesem Tag blieb ich darum bis zum Abend im Büro, im vierten Stock des Gebäudes, das auch den Militärstab der Europäischen Union beherbergt. Unten floss während der Rushhour der Verkehrsstrom stetig und gleichmäßig auf der Avenue de Cortenbergh. Der Verkehrslärm war in den klimatisierten Räumen nur gedämpft zu hören. Ein Hintergrundrauschen, wenn man so will, das von der Betriebsamkeit der europäischen Hauptstadt zeugte. Ich nahm etwas vom Schreibtisch und blickte dabei kurz aus dem Fenster auf die Lichter der Fahrzeuge. Dann fokussierte ich mich vom Verkehrsgeschehen auf mein Spiegelbild. Vor dem Hintergrund der abendlichen Großstadt betrachtete ich einen Moment lang den Mann in dunklem Anzug und Krawatte. Das war das Outfit, das man von mir als Director EU-INTCEN erwartete. In der Hand hielt ich ein geheimes Schriftstück. Passte also auch. Bei der Betrachtung des Spiegelbilds musste ich beinahe zwangsläufig an all die Schauplätze und Einsatzorte denken, an denen ich in den zurückliegenden dreißig Jahren als Mitarbeiter des BND aktiv war. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können. Das großzügige Büro in Brüssel mit seiner Sitzgarnitur, dem opulenten Besprechungstisch und dem Distanz gebietenden Schreibtisch war ebenso ein Arbeitsplatz, wie es die heißen und stickigen Hinterzimmer im kriegszerstörten Gazastreifen oder im Nachkriegs-Beirut waren, in denen ich mich mit der Hamas oder der Hizballah1 getroffen habe. Eine Runde von hochrangigen Gästen war mir ebenso vertraut wie ein konspiratives Treffen im Nahen Osten inmitten eher finster dreinschauender Bewaffneter. Ich habe an einem Tag mit Staatsoberhäuptern, Regierungschefs und UN-Generalsekretären verkehrt und am nächsten mit Personen, die im Namen ihrer Ideologie zum Schlimmsten bereit waren. So bin ich in vielen Welten zugleich zu Hause gewesen. Einige davon sind durch meine berufliche Tätigkeit eng miteinander verbunden. Viele Missionen, an denen ich teilgenommen habe, Aufgaben, mit denen ich betraut war, hatten sehr ernste Hintergründe. Die Erinnerungen daran sind intensiv und manchmal allzu gegenwärtig. Darum lässt mich mitunter ein Blick auf die tief hängenden Regenwolken über Downtown-Brüssel oder Berlin an die Rauchwolken über dem brennenden Beirut denken.

Die Begegnung mit meinem Spiegelbild war tatsächlich nur eine Momentaufnahme, doch auch ein Moment der Reflexion im doppelten Sinn. Nachdenklich legte ich den Übergabebericht an meinen Nachfolger in den Panzerschrank. Gleich drei dieser Ungetüme befanden sich in meinem Büro. Ganz offenbar zierten sie bereits seit Einzug meines Vorvorgängers William Shapcott diese Räume. In einem davon befanden sich unsere Verschlusssachen, in einem zweiten die Geheimnisse meiner Vorgänger – nüchterner ausgedrückt: historische Akten –, und der dritte war leer und wurde nicht mehr benutzt. Die Panzerschränke waren letztlich ein Anachronismus, sie hätten zwar eine gute Kulisse in einem Spionagefilm abgegeben, der im letzten Jahrhundert spielt, doch im Zeitalter von verschlüsselter Kommunikation und Informationstechnologie hätte man sie eigentlich nicht mehr benötigt. Dass ich mich ihrer bei EU-INTCEN immer noch bediente, hing damit zusammen, dass die europäischen Institutionen den entscheidenden Schritt in die Moderne noch nicht gemacht hatten. Das wurde mir seinerzeit schmerzlich bewusst. Die in der EU vorherrschende friedliche Transparenz und allseitige Verständigung im Vordergrund sehende Mentalität hatte bislang verhindert, dass EU-INTCEN die erforderlichen Mittel und Befugnisse für einen gesicherten Informationsverbund mit seinen Abnehmern in Brüssel und in den über 140 EU-Delegationen im Ausland zugestanden worden waren. Digitale, verschlüsselte Kommunikationstechnologie anstatt Aktenstapel und Panzerschrank hätten eine milliardenschwere Investition vonseiten der Europäischen Union bedeutet. Es reicht ja nicht aus, einfach die entsprechenden Geräte aufzustellen und in einem gesicherten Netzwerk zu verbinden, sondern es müssen auch die Räume, in denen sie sich befinden, umgebaut und mit moderner Technologie abgeschirmt werden. Hier ist die Rede von weitläufigen Umbaumaßnahmen in zahlreichen Gebäuden und EU-Liegenschaften. Für ein solches Großprojekt muss der politische Wille vorhanden sein, und der wiederum basiert auf der Erkenntnis, dass es notwendig ist, ein leistungsfähiges EU Intelligence Analysis Center wirksam – und das bedeutet ebenso zeitgerecht wie sicher – in die Beratungs- und Entscheidungsprozesse der EU zu integrieren. Im Grunde war diese Erkenntnis ja ursprünglich vorhanden. Sie hatte dazu geführt, dass der »Kortenberg«, also das Gebäude, in dem sich INTCEN und EU-Militärstab befinden, um die Jahrtausendwende entsprechend konzipiert und ausgestattet war, damit jedoch im Ergebnis eine abgeschirmte Insel innerhalb der Institutionen bildete, die ihre Geheimnisse nur analog mit eingestuften Papieren verteilen konnte. Innerhalb des »Kortenberg« waren die Voraussetzungen für die höchste Geheimhaltungsstufe »EU TOP SECRET / TRÈS SECRET« geschaffen. Doch noch besaßen alle anderen Bereiche in der EU weder die Verfahren noch die Produkte, die eine solche Einstufung ermöglicht hätten. Höchste Zeit zum Handeln, dachte ich damals, während draußen der Verkehr abebbte, und ließ die verschiedenen Forderungen, die in Ratsschlussfolgerungen der vergangenen Jahre bereits dazu erhoben, jedoch nie umgesetzt worden waren, Revue passieren. Ich geriet ins Grübeln. Keiner wollte wohl den Schuss hören. In den vergangenen dreißig Jahren war die Welt beileibe kein besserer Ort geworden. Im Gegenteil, die Bedrohungslage war vielgestaltiger und schwerwiegender denn je geworden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit lebten wir in einem military global village. Im 21. Jahrhundert würde bald schon jeder jeden erreichen können, nicht nur die relativ wenigen nuklearen Großmächte. Nordkorea würde höchstwahrscheinlich über einsatzfähige Raketen verfügen, die alle europäischen Städte treffen konnten, der Iran ebenso. Dazu gesellten sich neue Risiken der allen zugänglichen hybriden Kriegführung: Terrorismus, dirty bombs, ABC- oder groß angelegte Cyberangriffe. Regionale Konflikte bedrohten aufgrund der vielfältigen globalen Abhängigkeiten zunehmend die lebenswichtigen Liefer- und Versorgungsketten auch und besonders in Europa. Eine transnationale, global organisierte Kriminalität war in der Lage, Staaten und Wirtschaftsräume zu destabilisieren. Immer deutlicher wurden die gravierenden Konsequenzen des Klimawandels für Ressourcen und Überlebensräume ganzer Völker, mehr denn je drohten existenzielle Verteilungskonflikte und Migrationsbewegungen. Die schon 1808 von Goethe ironisierte heitere Unbeschwertheit des Spießbürgers aus dem Osterspaziergang im Faust war und ist heute weniger denn je angebracht und doch noch erschreckend weit verbreitet und handlungsbestimmend.

In solchen eher beschwerten Momenten der Reflexion tauchte immer wieder der Gedanke auf, ein Buch zu schreiben, in dem es um die Bedeutung von Nachrichtendiensten und ihren möglichen Beitrag zur Problemerkenntnis und Entscheidungsfindung angesichts dieser epochalen Herausforderungen gehen würde. Keine unmittelbare operative oder administrative Verantwortung mehr tragen zu müssen könnte von Vorteil sein. Es würde mir erlauben, einen Schritt zurückzutreten und eine andere, distanziertere Perspektive ohne tagespolitische Hektik und Rücksichtnahme einzunehmen, auf meine Erfahrungen zurückzublicken und die eine oder andere Schlussfolgerung zu ziehen.

Seitdem ist noch einiges mehr auf uns alle zugekommen. Allem voran natürlich ein Russland unter Präsident Putin, das nach den ersten massiven Übergriffen und der Annexion der Krim im Jahre 2014 nunmehr einen veritablen Feldzug gegen die Ukraine mit – inzwischen öffentlich erklärten – weitreichenden imperialen und revisionistischen Ambitionen und dem Einsatz des ganzen Spektrums hybrider Kriegführung begonnen hat, die ganz Europa unmittelbar bedrohen. Doch auch Chinas umfassende Hegemonialpolitik im eigenen regionalen Umfeld bringt ein großes Konfliktpotenzial bis auf die globale Ebene mit sich, wie die jüngsten – noch begrenzten, jedoch immer schwerwiegenderen – militärischen Eskalationen um Taiwan verdeutlichen. Die ohnehin schon problematische globale Ernährungs- und Versorgungslage wird durch die aktuellen Konflikte noch weiter massiv verschärft. Hunderte von Millionen Menschen sind existenziell bedroht.

Allein diese wenigen Beispiele zeigen: Wir befinden uns in einer epochalen Krise, deren Verlauf und Dimensionen nicht absehbar sind, die uns jedoch in jedem Fall in unserer Fähigkeit und unserem Willen zur Selbstbehauptung massiv fordern wird. Die seit den 1990er-Jahren so lieb gewordenen Vorstellungen vom »Ende der Geschichte«, von einer Ära mit den USA als »einzig verbliebener, natürlich vornehmlich im Sicherheitsinteresse ihrer Alliierten und Freunde – darunter Deutschland – handelnden Supermacht«, von einer Epoche des westlich orientierten normbasierten internationalen Multilateralismus und natürlich einer Zeit der »Friedensdividende« für Deutschland, hätte eigentlich bereits früh angesichts aller Konflikte und Kriege infrage gestellt werden müssen. Stattdessen haben zu viele zu lange an dieser vielfach auch politisch identitätsstiftenden Vorstellungswelt festgehalten, um dann plötzlich »in einer anderen Welt« aufzuwachen, die es leider zuvor schon die ganze Zeit gegeben hatte. Offensichtliche wie weniger prominente, dafür umso eindeutigere Anzeichen für das, was uns vor Kurzem schlagartig wachgerüttelt hat, hatte es eigentlich ausreichend gegeben. Gerade hier sind wirksame Auslandsnachrichtendienste aufgerufen, ihren Beitrag zu leisten. Sie sind, sachgerecht mandatiert, kompetent eingesetzt und angemessen in die staatlichen Entscheidungsprozesse einbezogen, ein wertvolles Instrument der Daseinsvorsorge, der Krisenprävention und der Krisenbewältigung, kurzum der Sicherheitsgewährleistung und Gefahrenabwehr. Im Fall des BND habe ich während meiner langjährigen Tätigkeit immer wieder erfahren müssen, dass die Möglichkeiten, die sich hier geboten hätten, nicht oder nicht angemessen genutzt, zum Teil jedoch auch noch nicht einmal geschaffen wurden.

In meinem beginnenden »Unruhestand« wollte ich mich daher zumindest noch eine Weile darum bemühen, aus meinen Erfahrungen als Soldat, Politologe, Völkerrechtler und Orientalist, den einen oder anderen Hinweis oder Denkanstoß »zur gefälligen Kenntnisnahme« oder gar Nutzung zu geben. Anfang 2019 war erstmals in Deutschland ein Masterstudiengang »Intelligence and Security Studies« an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung und der Universität der Bundeswehr in München eingerichtet worden. Dort und am King’s College London sowie an Sciences Po in Paris habe ich nunmehr entsprechende Lehraufträge beziehungsweise eine Gastprofessur aufgenommen Im »Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland e. V.« (GKND), einem gemeinnützigen Verein, dem neben ehemaligen Nachrichtendienstmitarbeitern zunehmend auch interessierte Vertreter von Medien, Wirtschaft und Wissenschaft angehören, engagiere ich mich inzwischen für ein sachgerechteres und sachlicheres Verständnis nachrichtendienstlicher Belange in Deutschland. Unser Land ist auch international dafür bekannt, dass gerade in diesem Feld bislang eher ungenaue bis missverständliche Vorstellungen davon verbreitet sind, was ein Nachrichtendienst ist und welche Aufgaben er mit welchen Mitteln und unter welchen Vorgaben erfüllen kann. Die Dienste sind allein schon aufgrund der notwendigen Geheimhaltung ihrer Arbeit in allen Gesellschaften Projektionsflächen für Mythen und Machtfantasien oder aber auch für Ängste, Verdächtigungen und Vorurteile, die wiederum stark von der jeweiligen aktuellen oder auch historisch geprägten politischen Kultur eines Landes beeinflusst sind. Hier ist der öffentliche Diskurs in Deutschland in besonderer Weise von Erfahrungen mit schwerwiegenden Unrechtsregimen geprägt, auch wenn diese, zumindest institutionell, nunmehr seit geraumer Zeit überwunden worden und einer demokratisch legitimierten, grundrechtsbasierten liberalen Ordnung gewichen sind. An einer aus obrigkeitsstaatlichen Verhältnissen stammenden – von Distanz, Furcht und Ablehnung geprägten –, häufig vagen, aber wirkungsmächtigen Wahrnehmung des »Staates« als einer für »die Gesellschaft«, mehr noch für den Einzelnen, strukturell eher bedrohlichen, jedenfalls aber inhärent fremden Institution, scheint dies jedoch nicht allzu grundlegend etwas geändert zu haben. Dass die Statik auch der deutschen Sicherheitsarchitektur notwendigerweise auch auf Elementen von hard power nach innen wie im Außenverhältnis beruht, wird vor diesem Hintergrund nur allzu gerne als unliebsame Realität verdrängt oder normativ grundsätzlich infrage gestellt, ohne sich allzu viel mit den damit einhergehenden Konsequenzen zu beschäftigen.

Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist die Entwicklung zu Demokratie und liberalem Rechtsstaat für Deutschland ein großes Glück gewesen. Dies zu bewahren und notfalls auch wirksam zu verteidigen, ist nun jedoch ebenfalls Verpflichtung, auch in partnerschaftlicher Verantwortung für unsere Nachbarn und Freunde. Deutschland ist keine Insel der Seligen, an der im Goethe’schen Sinne »hinten, weit, in der Türkei« die Weltläufe vorbeiziehen und nötigenfalls von anderen abzuwettern sind, die man dann gerne auch noch geneigt ist, aus komfortabler Zuschauerposition kritisch zu begleiten. Deutschland ist von globalen Entwicklungen existenziell abhängig, die es zu erkennen, zu verstehen und – wo möglich und nötig – zu beeinflussen oder gar in ihren Konsequenzen abzuwehren gilt.

Es ist dieser internationale Kontext, in dem der Bundesnachrichtendienst auf gesetzlicher Grundlage agieren und seine Aufgaben erfüllen muss. Seine Aufgabe ist im Kern nichts anderes als Wissenserwerb, Informationsgewinnung und Analyse, die im Interesse der Handlungsfähigkeit der Bundesregierungen und des Schutzes von Quellen und Methoden überwiegend im Verborgenen stattfindet. Die wohlbekannte Sentenz »Wissen ist Macht« ist universal, sie gilt auch für demokratisch legitimierte Regierungen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil vom 19. Mai 2020 wie folgt unmissverständlich festgestellt: »Die Versorgung der Bundesregierung mit Informationen für ihre außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen hilft ihr, sich im machtpolitischen Kräftefeld der internationalen Beziehungen zu behaupten, und kann folgenreiche Fehlentscheidungen verhindern. Insoweit geht es mittelbar zugleich um die Bewahrung demokratischer Selbstbestimmung und den Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung – und damit um Verfassungsgüter von hohem Rang. Infrage steht mithin ein gesamtstaatliches Interesse, das über das Interesse an der Gewährleistung der inneren Sicherheit als solcher deutlich hinausgeht.«

In einer globalen Welt über eine valide Wissensbasis zu verfügen und wo nötig auch einen Wissensvorsprung zu haben, kann mitunter essenziell sein – sowohl im großen Ganzen als auch in der einzelnen taktischen Situation. Während meiner Tätigkeit im Bundesnachrichtendienst habe ich mehrfach erlebt, dass es von den richtigen Informationen abhängen kann, ob es gelingt, Terroranschläge zu vereiteln, Geiseln zu befreien oder Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz vor imminenten Gefahren zu warnen. Wenn ich eines in den vergangenen vierzig Jahren – im militärischen Nachrichtenwesen der Bundeswehr, im Bundesnachrichtendienst, in privaten Studienaufenthalten, wie in späteren Auslandseinsätzen – erkannt habe, so dies: Nichtwissen kann spätestens in Krise und Gefahr tödlich sein, doch auch schon vorher kann es zu schweren Nachteilen in der eigenen Interessenwahrnehmung führen. Verantwortungsvoll Zukunftsvorsorge zu betreiben bedeutet darum eben auch, nachrichtendienstliche Erkenntnisse zu gewinnen und angemessen in sachgerechten Entscheidungen zu beherzigen. Das gilt für den Einzelnen im exponierten Einsatz ebenso wie für Staaten oder Bündnisse.

KAPITEL 1 Austausch erster Akt

Ich schrecke aus dem Halbschlaf und prüfe reflexartig mit der Hand, ob ich angeschnallt bin. Ein starkes Schütteln erfasst den Airbus. Die Turbinen heulen auf. Irgendwo fällt etwas mit lautem Klappern zu Boden. Außer mir und der Besatzung befindet sich nur eine Handvoll Passagiere an Bord – und die sterblichen Überreste dreier weiterer Menschen im Laderaum. Ich kann nicht genau sagen, wo wir sind, aber wenn ich die Flugzeit kalkuliere, müsste es an der Südseite der Alpen sein. Das würde auch die heftigen Turbulenzen erklären. Draußen ist es noch dunkel. Ich halte einen Moment lang erschöpft die Stirn an das kühle Fenster.

In den vergangenen Jahren bin ich zum Vielflieger geworden und kenne die Routen zwischen Europa und dem Nahen Osten in- und auswendig. Es ist früh am Morgen, der 29. Januar 2004. In Beirut wird bald die Sonne aufgehen. Wieder wird die Maschine durchgeschüttelt. Ein Flugbegleiter der Bundeswehr löst seinen Sicherheitsgurt und geht breitbeinig in Richtung Heck. Ich sehne mich nach einem heißen Kaffee. »Ich hoffe, der Kaffeeautomat funktioniert bei dem Gerüttel«, bemerke ich, als der junge Mann im olivgrünen Fliegeroverall an mir vorbeigeht. »Ohne Kaffee geht hier gar nichts«, scherzt er zurück. »Zum Fliegen fast noch wichtiger als Kerosin.« Ich folge mit dem Blick dem jungen Soldaten. Er gehört zur Besatzung der Medical Evacuation (MedEvac) der Bundeswehr. Eigentlich sind diese Flugzeuge zum Transport verwundeter Soldaten aus Kriegszonen gedacht und mit modernster Medizintechnik ausgestattet, sodass an Bord auch eine intensivmedizinische Betreuung möglich ist. Die Bundeswehr besitzt gleich mehrere davon. Diesen Airbus setzt sie nun für die finale Phase einer Mission ein, zu der ich seit Jahren gehöre. Das Flugzeug ist hell ausgeleuchtet und in matten Farben gehalten. So wie man es von einem Behandlungsraum oder einem Operationssaal erwarten würde. Neben dem medizinischen Equipment sind auch einige Sitzreihen, die ungefähr der Kategorie Economy entsprechen dürften, im großen Innenraum montiert. Einige Meter entfernt sitzt die libanesische Delegation mit einer israelischen Geisel. Wir sind unterwegs zu einem Austausch von Gefangenen und Gefallenen zwischen der Hizballah und der israelischen Regierung, der in wenigen Stunden auf dem militärischen Trakt des Flughafens Köln-Bonn stattfinden soll. »Jetzt dauert es nicht mehr lange«, auf den Plätzen neben mir sitzen drei Forensiker der Bundeswehr und des Bundeskriminalamts. »Etwa eine Stunde«, verrät mir der Blick auf die Uhr. »Sie und Ihre Kollegen vom BKA haben tolle Arbeit geleistet«, sage ich. »Soweit das unter diesen Umständen möglich war, schon«, räumt der BKA-Mann ein. »Die Israelis haben uns ganz gute Informationen und Vergleichsdaten zur Verfügung gestellt. Damit kann man zumindest eine vorläufige Identifizierung vornehmen. Völlig sicher ist es aber erst mit einer DNA-Analyse.« Darauf erwidere ich: »Dann hoffen wir mal, dass diese in allen drei Fällen positiv ausfallen wird.« Die Forensiker sind Vollprofis und gehören wahrscheinlich zu den Besten ihres Fachs. Nüchterne Wissenschaftler, die mit dem Tod in all seinen Formen und Schrecken vertraut sind. Mit knapp 900 Stundenkilometern rasen wir dem Ziel entgegen. Seit zweieinhalb Jahren bin ich in die Verhandlungen des bevorstehenden Austauschs eingebunden, wenn man mich fragt, kann es jetzt gar nicht schnell genug gehen.

Es war im späteren Frühjahr 2001, als die neue israelische Regierung unter Ariel Scharon den Bundesnachrichtendienst darum gebeten hatte, Verhandlungen mit der radikalen schiitischen Hizballah aufzunehmen. Die Organisation hatte einen israelischen Staatsbürger in ihrer Gewalt sowie drei israelische Soldaten in einem Überfall an der Grenze entführt, und man wollte ihre Rückkehr erwirken. Dass die israelische Regierung direkt mit der Hizballah verhandelte, war unmöglich. Sie hielt und hält sie für eine Terrorgruppe. Umgekehrt schloss auch die Hizballah Direktkontakte mit dem Erzfeind grundsätzlich aus. Die Wahl des Vermittlers fiel nicht zuletzt auf den Bundesnachrichtendienst, weil dieser bereits seit Jahren über ein ausreichendes Maß an Vertrauen bei allen direkt und indirekt beteiligten Verhandlungspartnern verfügte. Ich selbst war seit dreieinhalb Jahren Vertreter des Dienstes in Damaskus und Beirut und folglich mit den wichtigsten key playern sowie der aktuellen Situation recht gut vertraut. Also wurde ich eines Tages kurzfristig mit der Vorbereitung eines diskreten Besuchs von BND-Präsident Hanning im Libanon beauftragt. Im Schutz der Nacht flog mein Chef mit der Sondermaschine des BND, einer in die Jahre gekommenen dreistrahligen Dassault Falcon – intern auch »Dienstfliege« genannt –, in Beirut ein. Der Besuch stand unter dem Zeichen strengster Geheimhaltung, da es gerade in der Phase, in der mögliche Verhandlungen zwischen Erzfeinden sondiert werden, essenziell ist, dass nichts davon an die Öffentlichkeit dringt. Die beteiligten Parteien dürfen keinesfalls unter Druck geraten oder gar ihr Gesicht verlieren. Gerade in Israel sind Verhandlungen mit der Hizballah zutiefst umstritten und werden sehr emotional diskutiert. Aufseiten der Hizballah bestand die Gefahr, dass bei einem Bekanntwerden der Kontaktaufnahme zu Israel interne Kontroversen ausbrechen würden.

In tiefer Nacht und unter ebenso tiefer Konspiration traf sich der Präsident in kleinster Runde mit dem Generalsekretär der Hizballah, Sheikh Nasrallah. Am Morgen danach folgte ein kurzes Debriefing: Der BND habe ein Mandat zur Vermittlung erhalten. Ein Verhandlungsführer sei bereits von Sheikh Nasrallah vorgestellt worden, nun müssten auch wir dies tun. Es sei mit schwierigen und harten Verhandlungen zu rechnen. Anschließend flog Dr. Hanning genauso unbemerkt, wie er gekommen war, zurück ins winterliche Pullach.

Obwohl ich in die logistische Vorbereitungsphase involviert war, ging ich nicht davon aus, dass ich auch Teil der Operation werden würde. Ich nahm damals an, dass ich im Sommer 2002 nach vier Jahren regulär zurück nach Deutschland versetzt werden würde. Doch dann kam alles anders: Bereits im Januar 2002 wurde ich zum »Co-Piloten« in einem inzwischen noch einmal neu konstituierten Zwei-Mann-Verhandlungsteam berufen, das dann kurzfristig den geheimen Kontakt mit den israelischen Vertretern in Deutschland wieder aufnahm. In Israel selbst wäre das wegen des dort zu erwartenden Medieninteresses zu riskant gewesen. In Berlin oder München dagegen war das Risiko deutlich geringer. Die grundsätzlichen, natürlich unvereinbaren Forderungen waren zu diesem Zeitpunkt bereits ausgetauscht. Unsere Aufgabe war es nun, im Dialog mit beiden Seiten nach möglichen Kompromissen zu suchen. Von israelischer Seite wollte man die Freilassung Elhanan Tennenbaums, eines israelischen Geschäftsmanns, der in Dubai entführt worden war, sowie die Rückkehr von Benny Avraham, Omar Suwayed und Adi Avitan erreichen. Die drei Soldaten der israelischen Armee waren im Oktober 2000 mit ihrem Fahrzeug auf einer Patrouillenfahrt entlang der Grenze zum Libanon von Kämpfern der Hizballah überfallen worden. Die Angreifer schossen mit einer Panzerabwehrrakete auf den Humvee, sprengten anschließend eine Bresche in den Grenzzaun und zogen die Soldaten aus dem Wrack. Dann verfrachteten sie diese in einen eigenen Geländewagen und fuhren unter dem Kugelhagel der alarmierten israelischen Streitkräfte davon. Seitdem hatte man von den dreien nichts mehr gehört. Für Tennenbaum und die Soldaten forderte die Hizballah die Freilassung aller noch in israelischer Haft verbliebenen libanesischen Gefangenen. Darunter befanden sich so prominente Häftlinge wie Sheikh Obaid, Mustafa Dirani und Samir Kuntar, bei denen feststand, dass die israelische Regierung sie nicht einfach in die Freiheit entlassen würde.

Die Verhandlungen waren von Beginn an ebenso komplex wie kompliziert. Ich musste mich erst einmal in die Materie, ihre Vorgeschichte und insbesondere auch in ihre damit verbundenen humanitären und politischen Implikationen einarbeiten. Auf der »Wunschliste« der Hizballah stand immerhin eine Vielzahl von Namen. Einige davon waren von hoher politischer Symbol- und auch Sprengkraft. Ein langer Reigen von Forderung, Ablehnung, Modifikationen und Neufassung der Austauschrelationen war die notwendige Konsequenz.

Allein im ersten Jahr flogen wir im Schnitt ein- bis zweimal im Monat nach Beirut. Es blieb so auf Dauer nicht aus, dass ich vom »Kofferträger« und note taker, der sich während der Gespräche Notizen zu deren Verlauf machte und diese anschließend zu einem Protokoll zusammenfasste, zu einer Art Spindoktor avancierte. Damit fiel mir quasi die Verantwortung für die inhaltliche Dokumentation ebenso zu wie die Aufgabe, Vorschläge zur Entwicklung der Verhandlungsmaterie zu unterbreiten. Es war in der Tat viel Detailarbeit und Verhandlungspsychologie vonnöten, um sich in kleinen Schritten in Richtung einer Lösung zu bewegen.

Mit dem arabischen Kulturraum vertraut, wusste ich natürlich auch um seine Schwächen. So werden selbst wichtige Verhandlungen oft nur mündlich, im Vertrauen auf die Bindungswirkung des gesprochenen und bekräftigten Wortes geführt. Diese Kultur der Mündlichkeit ist eine uralte Tradition, und der Weg zur Schriftlichkeit ist ein Schritt, der zumindest in einer fluiden Verhandlungssituation eher selten gewählt wird. Das birgt den Nachteil fehlender Verbindlichkeit in sich, der häufig gerade in der Frühphase jedoch als Vorteil empfunden wird, bringt er doch ein hohes Maß an »Flexibilität« in der Verhandlungsführung mit sich. Doch die Fixierung des Gesprochenen in eine Schriftform erhöht dessen Verlässlichkeit. Wenn sich alle einig sind, dass das, was in einem Dokument steht, auch das ist, was gesagt wurde, kann man Schritt für Schritt eine ausreichend belastbare Verhandlungsgrundlage entwickeln. Aus diesem Grund ließ ich in der Frühphase der Verhandlungen und später immer dann, wenn wir zu entscheidenden Festlegungen kamen, mein Protokoll von der Hizballah am Folgetag gegenlesen, was praktisch darauf hinauslief, dass es quasi gegengezeichnet wurde. So ließ sich das Risiko von Missverständnissen und differierenden Erinnerungen minimieren, aber auch bestmögliche Transparenz schaffen und Vertrauen bilden. »Der heilige Sankt Bürokratius bei den Verhandlungen mit der Hizballah, das ist mein epochemachender Beitrag«, sagte ich einmal scherzhaft zu einem meiner Mitarbeiter angesichts dieser kleinen, aber doch sehr wichtigen Neuerung.

Gereist wurde low profile mit normalen Linienflügen zwischen Beirut und Europa. Noch auf der Rückreise schrieb ich auf meinem Laptop mein Protokoll, das den aktuellen Stand der Verhandlungsergebnisse wiedergab. Wie immer war auch hier Diskretion oberstes Gebot, und so saß mein Chef stets auf dem Gangplatz neben mir und gab mir Deckung vor neugierigen Blicken. Die israelische Delegation wartete meist schon auf unsere Ankunft in Deutschland. Sobald wir in einer ruhigen Ecke zusammensaßen, begann ich, die Papiere auf einem mobilen Tintenstrahldrucker auszudrucken. Man hätte die Dokumente zwar auch auf einen USB-Stick ziehen und extern ausdrucken können, aber damit wäre die Geheimhaltung nicht mehr gegeben gewesen, denn auch ein unbeobachteter Drucker oder Laptop lässt sich kompromittieren, und Unbefugte können auf die Daten zugreifen. Der kleine Tintenstrahldrucker orgelte so immer zu Beginn unserer Treffen Zeile für Zeile vor sich hin, während die gespannt Wartenden ihm genervt zusahen. Bald bürgerte sich für das Gerät der Spitzname lazy printer und für mich die scherzhafte Bezeichnung man with the lazy printer ein. Tatsächlich hatte ich das Gerät aus Sicherheitsgründen immer in einer schwarzen Umhängetasche dabei. Zusammen mit Laptop und Papier muss ich wohl jedes Mal zwischen acht und zwölf Kilo Handgepäck zwischen Deutschland und dem Libanon transportiert haben.

Zum Jahreswechsel 2003/2004 gab es nach verschiedenen Krisen und Kontroversen in den Verhandlungen einen Durchbruch. Das israelische Kabinett legte sich auf einen Vertragsentwurf fest, den Sheikh Nasrallah akzeptierte. Zuvor hatte die Hizballah bereits offiziell den inoffiziell ohnehin als sicher angenommenen Umstand bekannt gegeben, dass die drei israelischen Soldaten schon bei dem Überfall auf ihr Fahrzeug ums Leben gekommen waren. Vor unserem Abflug aus Beirut hatte ich sie mir als Vertreter der deutschen Vermittlungsgruppe zusammen mit den Forensikern von BKA und Bundeswehr ansehen und die Ergebnisse ihrer Arbeit weitergeben müssen. Nachdem wir mit dem MedEvac im Schutz der Nacht gelandet waren, folgten wir dem Empfangskomitee zu einem flachen Hangar. Die Nachtluft in Beirut war im Vergleich zum winterlichen Deutschland mild, obwohl ein frischer Wind vom Mittelmeer her wehte. Ich blickte mich um und sah nur noch schwach den Umriss der unbeleuchteten Bundeswehrmaschine. Dank ihres mattgrauen Anstrichs verschmolz sie fast mit der Dunkelheit. Perfekt für unsere Zwecke. Auch die Forensiker hoben sich kaum von der Umgebung ab. Drei Männer mit Rollkoffern auf dem Weg zur Arbeit. Eine Arbeit allerdings, die nicht jedermanns Sache ist.

Ich versicherte mich, dass ich mein kleines Nokia-Mobiltelefon in der Tasche meines Jacketts dabeihatte. Mit ihm würde ich immer wieder in Deutschland anrufen müssen und meinem Chef den Stand der Dinge vor Ort mitteilen. Dieser würde die Informationen dann an die israelischen Kollegen weitergeben, die mit ihm in Köln-Bonn zur Vorbereitung der Austauschaktion präsent waren, damit diese wiederum Tel Aviv informieren konnten. Erst wenn ich die Identität der auszutauschenden Personen und die Wahrung der vereinbarten Prozeduren bestätigen würde, würden beide Parteien ihre assets – man sehe mir den technischen Ausdruck nach – in einem ausdifferenzierten Zug-um-Zug-Verfahren bereitstellen und auf den Weg nach Deutschland schicken.

Ich stolperte fast über die Schwelle der Tür, die ins Innere der Halle führte. Neonlicht im Inneren blendet mich. In einem Nebenraum, einem kleinen Büro im hinteren Teil, wartete bereits Elhanan Tennenbaum, von seinen Bewachern umgeben. »Guten Tag. Wir kennen uns ja. Ich bin Gerhard Conrad, Unterhändler der deutschen Regierung«, stellte ich mich vor. Tennenbaum kamen die Tränen, der Mann war zwar äußerlich unversehrt, aber ansonsten ziemlich fertig. »Ich bin hier von der Hizballah gut behandelt worden«, fing er an. »Sie werden mit uns nach Deutschland fliegen und von dort weiter nach Israel«, sagte ich in ruhigem Ton. Wieder kamen dem Mann die Tränen. Ich kontaktierte meinen Chef und gab im verabredeten Code durch: »Nummer eins ist o. k.« Es wäre leichtsinnig gewesen, über eine relativ einfach abzuhörende offene Leitung die Namen der Beteiligten oder andere aussagekräftige Details zu nennen. Seit der förmlichen Entscheidung des israelischen Kabinetts über den Austausch, die mit einer gesetzlich gebotenen Einspruchsfrist veröffentlicht worden war, wusste alle Welt Bescheid. Die Jagd auf Bilder und Informationen war eröffnet. Nach Tennenbaum musste ich mich nun »Nummer zwei, drei und vier« widmen. Drei unförmig wirkende Zinksärge standen im hinteren Teil der Halle. Gemeinsam mit den Forensikern und der libanesischen Delegation unter Leitung des Chefs der Sûreté schritt ich beklommen darauf zu. Die Forensiker legten ihre Kittel und Masken an und streiften Handschuhe über. Die Libanesen hoben die Deckel der Särge. Die Körper darin befanden sich in einem Zustand, wie er nach über drei Jahren wenig sachgemäßer Aufbewahrung zu erwarten war. Alle wichen zurück, manch einer hielt ein Taschentuch vors Gesicht. Ich musste jedoch dem ganzen Prozess der vorläufigen Identifizierung beiwohnen, da ich als Gewährsmann für einen korrekten Ablauf zu bürgen hatte. »Mit Fingerabdrücken ist hier wohl nicht mehr viel zu machen«, sagte einer der Forensiker. Zahnstände und andere unverkennbare Merkmale boten aber ausreichende Anhaltspunkte, und so konnte ich nach einer Weile eine erste positive Rückmeldung geben. »Nummer drei ist o. k.«, gab ich durch. Es folgte »Nummer zwei«, und zuletzt stellte ich mit Erleichterung fest: »Nummer vier ist o. k. Wir packen auf und sind so gut wie auf dem Weg.« Die Leichen wurden in die Maschine gebracht. Gemeinsam mit Tennenbaum und einer hochrangigen libanesischen Sicherheitsdelegation, zu der auch ein Angehöriger der Hizballah-Verhandlungsgruppe gehörte, bestiegen wir den MedEvac. Ich setzte meine letzte Meldung ab: »Ready for take off.« Die ganze Aktion hatte knapp drei Stunden gedauert. Mit heulenden Turbinen hob die dunkle Militärmaschine ab und flog in die Nacht hinaus.

Die Nacht geht jetzt zu Ende, und die Ankunft in Deutschland steht bevor. Müde schaue ich aus dem Fenster, als die Maschine in den Sinkflug geht. Die Choreografie des Austauschs ist angelaufen, alles folgt jetzt vorab vereinbarten Schritten. Nach jeder meiner Rückmeldungen aus Beirut müssten in Tel Aviv die Vorbereitungen eingeleitet worden sein, um die Gefangenen freizulassen. Die 14-köpfige Kerngruppe müsste sich unter schwerer Bewachung an Bord einer Boeing 707, die ebenfalls in Richtung Köln-Bonn starten sollte, befinden. Ein zweites Flugzeug mit einem forensischen Labor an Bord dürfte ebenfalls unterwegs sein. Die israelische Armee wird die rechtsverbindliche Identifizierung der Gefallenen vor Ort als Voraussetzung für den Vollzug des Austauschs vornehmen. Tennenbaum schläft. Niemand spricht. Die Turbulenzen haben aufgehört. Bis auf das gleichmäßige Brummen der Turbinen ist es still an Bord. Wir tauchen in die graue Wolkendecke ein.

KAPITEL 2 Frühe Erfahrungen zwischen den Fronten

Während ich mich Köln-Bonn nähere, wenden sich meine Gedanken noch einmal Beirut zu. Für mich ist es eine vielgestaltige Stadt mit einer tragischen Geschichte. Im Laufe der Zeit habe ich mich oft dort aufgehalten und kenne sie mittlerweile recht gut. Im Herbst 1979 war dies noch nicht der Fall. Ich war als Student der Orientalistik von Damaskus aus mit einem Sammeltaxi über die libanesische Bekaa-Ebene in die Metropole gekommen, um das Institut der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) im Stadtteil Zoqaq al-Blat aufzusuchen. Im äußersten Westen der Stadt, in Ra’s Beirut, hatte ich ein kleines Hotel gefunden. Am Vormittag machte ich mich zu Fuß auf den Weg durch die belebte Einkaufsmeile der Hamra. Händler boten ihre Waren an, und Taxis schoben sich hupend durch die verstopften Straßen. Als Student reiste ich low budget und wollte meine Ressourcen schonen, außerdem dachte ich, es könne nicht schaden, die Stadt zu Fuß ein wenig zu erkunden. Ich spürte die aufmerksamen Blicke, mit denen ich gemustert wurde. Ich war wohl unschwer als Fremder zu erkennen. Das war ich bereits gewohnt, doch hier hatte ich den Eindruck, dass auch Argwohn mit im Spiel war. Die ersten brutalen Bürgerkriegsjahre hatten ihre Spuren bei den Menschen hinterlassen. Der Weg zum Institut führte in die Nähe des umkämpften Stadtzentrums, doch der Betrieb sollte, so hatte ich in Bonn gehört, weiterhin aufrechterhalten worden sein. Daraus folgerte ich, dass die Situation nicht allzu schlimm sein konnte, und ging beherzt darauf los.

Bald tat sich eine sprichwörtlich andere Welt auf. Die Fassaden der Gebäude waren von Einschusslöchern zernarbt, das Innere ausgebrannt. Leere Fensterhöhlen säumten den Weg. Es herrschte beklemmende Stille. Riesige Seecontainer waren in zwei bis vier Lagen turmhoch aufeinandergestapelt, verhinderten die Durchfahrt für Fahrzeuge und nahmen jede Sicht auf das, was dahinter lag. An einigen Stellen klafften Löcher in den Außenwänden. Es sah so aus, als habe eine Riesenkralle große Stücke aus dem Metall herausgerissen. Daneben war – besonders in den unteren Reihen – eine Vielzahl kleinerer Löcher zu sehen. Manche hatten an den Rändern Rost angesetzt, und die Farbe war von den Stahlwänden abgeplatzt, an anderen Stellen glänzten die Zacken des zerfetzten Metalls scharfkantig und bedrohlich in der Sonne. Erde und Schutt quollen heraus. Aus Bundeswehrzeiten war mir der Anblick von Einschusslöchern nicht unbekannt. Der improvisierte Schutzwall war sowohl von Handwaffen als auch von Granatsplittern und Artilleriemunition getroffen worden. Menschen waren nicht zu sehen. Lediglich einige Straßenhunde drückten sich im Schatten herum und schauten mich aus lauernden Augen an. Ich ließ mich nicht abschrecken, sondern ging einfach weiter geradeaus. Nach einigen Metern holte ich den Stadtplan aus der Tasche. Das Papier knisterte und blendete, als ich die Carte Touristique de Beyrouth auseinanderfaltete. Ich kniff die Augen zusammen, konzentrierte mich. Der Plan war 1977 herausgegeben worden und somit auf einem relativ aktuellen Stand. Zumindest glaubte ich das. Ich fand die Küstenlinie samt Hafen und folgte mit dem Blick einer breiten Straße ins Zentrum von Beirut, als mich ein schepperndes Geräusch aufschrecken ließ. Mit einem zusammengekniffenen Auge spähte ich über den Rand des Papiers: Auf der anderen Straßenseite erstreckte sich eine Brachfläche, zu sehen war weit und breit nichts. Ein Hund schleppte sich gähnend durchs Blickfeld und verschwand in die Richtung, aus der ich gekommen war. Wieder versuchte ich, mich auf die Karte zu konzentrieren. Schließlich konnte ich meine vermutliche Position und den Standort des Deutschen Morgenländischen Instituts bestimmen. »An der nächsten Ecke rechts und dann nach 200 Metern an einem kleinen Platz abbiegen«, murmelte ich vor mich hin, um mir den Weg einzuprägen. Da es bis zum Institut nicht mehr weit sein konnte, ging ich weiter und bog in eine Straße zu meiner Rechten ein. Auf beiden Seiten waren die Gebäude zerstört. Alles war von Einschusslöchern geradezu übersät. An einigen Stellen klafften größere Lücken, die durch Explosionen entstanden sein mussten. Auch die Straße selbst lag – sprichwörtlich – in Trümmern. Da waren zum einen die Bruchstücke, die von den Gebäuden herabgefallen waren, und zum anderen der Straßenbelag, der ebenfalls von Granaten getroffen und an vielen Stellen aufgerissen worden war. Durch die massive Gewalteinwirkung musste auch die darunterliegende Kanalisation zerstört worden sein; Kloakengestank lag in der Luft. Der Boden war von einer grün überwucherten Schicht und Schlamm überzogen. Zögerlich setzte ich einen Fuß vor den anderen und ging weiter. Erst im Gehen bemerkte ich, dass es unter meinen Füßen bei jedem Schritt knirschte und knackte: Das Glas der Fenster war durch die Explosionen herausgerissen worden und lag nun ebenfalls am Boden. In der Stille waren nur das Knirschen der Splitter und mein Atmen zu hören. Inzwischen war es heiß und stickig geworden. Links und rechts zogen die leeren Fenster wie schwarze Höhleneingänge in einem Stummfilm an mir vorbei. Ich blickte nach unten und sah einen einzelnen Männerschuh im Schutt liegen. Wenig später trat ich gegen eine leere Patronenhülse. Sie rollte klimpernd zur Seite. Es war eine von vielen an dieser Stelle. Der Kadaver eines grauen Hundes mit hellen Pfoten lag neben einem Hauseingang. Selbst für Straßenhunde war dies also eine No-go-Area. Ein Niemandsland inmitten des Schlachtfelds des libanesischen Bürgerkriegs.

Ich wusste von dem Konflikt, der seit 1975 zwischen den verschiedenen Volksgruppen des Libanon tobte, und hatte am Vortag sogar von der ehemals mondänen Uferpromenade in Westbeirut, der Corniche, aus beobachtet, wie unter dem johlenden Applaus der meist jugendlichen Umstehenden die syrische Artillerie den Hafen im christlichen Ostbeirut beschoss. Da hatte ich mich in vergleichsweise sicherer Entfernung vom Kriegsgeschehen aufgehalten und war von Menschen umgeben gewesen, die mit der Situation vertraut waren. Nun war ich mutterseelenallein in eines der Epizentren des Bürgerkriegs hineinmarschiert und wusste nicht, was mich erwartete.

Ein lautes metallenes Ratschen unterbrach jäh die beklemmende Stille. Das Geräusch kannte ich ebenfalls nur zu gut aus meiner Bundeswehrzeit: Jemand lud offenbar seine automatische Waffe durch. Ich schaute nach oben. Nichts war zu sehen. Stattdessen hörte ich Schritte, die sich knirschend im Inneren der Gebäude bewegten. Auch dort war offensichtlich alles mit Glassplittern bedeckt. Wieder wurde eine Waffe durchgeladen. Trotzdem ging ich weiter: Jetzt nur keine Unsicherheit erkennen lassen, sagte mir mein Instinkt. Wenn ich diese Situation mit meinem Wissen von heute betrachte, muss ich zugeben, dass ich mich wohl auch als aktiver Nachrichtendienstler selten derart schutzlos in einer ähnlich unkalkulierbaren Situation befunden habe. Kollegen aus Israel, mit denen ich Jahre später einmal über meine Abenteuer gesprochen hatte, hatten mich in aller Freundschaft für »verrückt« erklärt, derart vor die Flinte schießwütiger Bürgerkriegsmilizen gelaufen zu sein. Natürlich konnte mich persönlich zwar niemand als Feind oder Kriegspartei betrachten, doch ich war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gelandet. Was würde geschehen, wenn sich jemand in den Ruinen durch meine Anwesenheit bedroht oder auch nur irritiert fühlte? Würde man mich einfach wie einen Straßenhund über den Haufen schießen? Ein Menschenleben, noch dazu das eines erkennbar Fremden, galt hier wahrscheinlich nicht allzu viel. Dennoch ging ich einfach weiter. Wäre ich umgekehrt oder hätte ich gezögert, hätte ich mich möglicherweise verdächtig gemacht und am Ende gar »Jagdinstinkte« ausgelöst. Klopfenden Herzens gelangte ich zu dem kleinen Platz, den ich auf dem Stadtplan gesehen hatte. Kein Schuss war gefallen. Niemand hatte sich gezeigt. Mein Mund war trocken, und vor Anspannung schmerzten mir die Muskeln im Nacken. Die Straße der Zerstörung – wohl eine direkte Frontlinie – lag hinter mir, und so war ich glücklich beim Institut angekommen. Auch hier sah ich Spuren kurz zurückliegender Kampfhandlungen. Einschusslöcher, Autowracks und nur wenige Menschen, die sich schnell und gehetzt durch die Straßen bewegten. Das Gebäude lag verdeckt hinter hohen Mauern, das Tor war verschlossen. Neben dem Eingang entdeckte ich einen Klingelknopf, den ich gleich mehrmals hintereinander betätigte. Eine Glocke schellte. Erst Minuten später vernahm ich Schritte. Mit lautem Schlag öffnete sich ein kleines Sichtfenster. Daraus blickte mir das bleiche – und verschreckt fassungslose – Gesicht eines jungen Europäers entgegen. Ich begrüßte ihn der Einfachheit halber erleichtert auf Deutsch. »Bist du denn wahnsinnig?«, schrie er mich an. Zeit zu antworten ließ er mir nicht. »Wie bist du hierhergekommen? Und was, um Gottes willen, willst du hier?« Ein menschliches Gegenüber, mit dem ich mich noch dazu in meiner Muttersprache unterhalten konnte, gab mir ein wenig von meiner Sicherheit und dem Gefühl von Normalität zurück. Es fiel mir darum leicht, die Beweggründe für mein Erscheinen am Institut zu erklären. Das Gespräch verlief dann doch sehr nett, wobei wir beide nicht mehr auf die Frage Nummer eins zurückkamen. Als schließlich einer der Torflügel zurückschwang, empfing mich die vorübergehende Geborgenheit des Instituts.

Gewöhnlich herrscht an solchen Orten eine gelehrte Geschäftigkeit. Studenten und Mitarbeiter kommen und gehen, sind in den Bibliotheksräumen in ihre Studien versunken oder stehen in kleinen Gruppen zusammen und unterhalten sich. Nicht mehr an diesem Institut, so der blasse Student, bis auf eine kleine Notbesetzung habe man die Mitarbeiter evakuiert. Der Lehrbetrieb sei eingestellt, man rechne täglich mit dem Schlimmsten, da sich verfeindete Milizen in dem Viertel immer wieder mit Schusswaffen und Artillerie bekämpft hätten. Bislang wäre es nur den guten Beziehungen zu einer Kurdenmiliz, die hier die stärkste Kraft darstellte, und einer guten, über Jahrzehnte gewachsenen Integration in die Nachbarschaft zu verdanken, dass das Institut eine gewisse Protektion genieße. »Ich haue ab, sobald sie mir die Gelegenheit dazu geben«, sagte der Student. »Hier hält mich nichts mehr. Ich will nur noch lebend aus dem Kampfgebiet herauskommen.«

Anders sah es der Bibliothekar, ein Italiener fortgeschrittenen Alters. Es war nicht nur sein graues Haar, das ihm die Würde eines Gelehrten verlieh. Er freute sich über meinen Besuch und lud mich ein, die Bibliothek zu besichtigen. Auf dem Weg deutet er mit lässiger Handbewegung auf eine Mörsergranate, die am Boden lag. »Ein Blindgänger«, schüttelte er missbilligend den Kopf. Die Bibliothek, die er im Laufe der Jahre zusammengetragen hatte, war beeindruckend. Zum Bestand zählten sowohl historische Quellen als auch moderne arabische Literatur. Ich war fasziniert – war ich doch selbst mit einem etwa vierzig Kilo schweren Koffer voller Bücher auf meiner Studienreise aus Damaskus angereist – vom Lebenswerk des Italieners. Wir verstanden uns auf Anhieb. Zu dieser Zeit war das Studium der Sprache und historischer Quellen ja auch meine größte Leidenschaft und Antrieb für meine Reisen in den Nahen und Mittleren Osten.

Nach der Bundeswehr hatte ich mich 1975 für das Studium der Orientalistik eingeschrieben. Die Wahl fiel auf Germersheim, seinerzeit der einzige Ort, an dem man Arabisch nicht nur studieren, sondern auch praktisch erlernen konnte, sogar unter Zuhilfenahme eines veritablen Sprachlabors mit Kabinen und einem frühen, noch in der Entwicklung befindlichen, tonbandgestützten Kurs. Deutsche Orientalistik war seit dem 18. Jahrhundert im besten Humboldt’schen Sinne »zweckfrei« und dem »Guten, Wahren und Schönen« zugewandt. Ihre frühen Exponenten kamen häufig aus der Bibelforschung und genossen als Meister aller schriftlich überlieferten semitischen Sprachen und Dialekte große Anerkennung in der kleinen internationalen Schar der Historiker des Nahen Ostens. Sprachpraxis, etwa auch Regionalerfahrung, standen dabei nicht im Zentrum der Ambitionen, die sich auf weit zurückliegende Jahrhunderte richteten, die durch die noch erhaltenen schriftlichen Quellen zu erschließen und zu interpretieren waren. Mit dieser Einstellung wurde ich zu Beginn meiner Orientierungsbesuche an deutschen Universitäten konfrontiert, wo mir ein würdiger Vertreter des Fachs mit leicht mitleidig-verächtlichem Unterton bedeutete, dass es nicht darauf ankomme, »Arabisch zu plappern«, sondern die frühen Schriften, einen Tabari, einen Ibn Hischam, einen Bukhari oder Ibn Hanbal lesen und verstehen zu können. Wo man vielleicht das »Plappern« lernen könnte, wusste er natürlich nicht, weil es ihn wohl in keiner Weise interessierte.

In Germersheim gewann ich einen ersten Eindruck von den riesigen Unterschieden, welche die regionalen Dialekte von Marokko bis in den Irak und all diese wiederum von der Hochsprache Arabisch trennten. Nach einem Jahr Studium stand dann der erste Feldversuch an. Im Sommer 1976 schiffte ich mich in Genua mit dem Ziel Tunesien ein. Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als ich vom Deck der Fähre aus die nordafrikanische Küste erblickte. Es wurde mir immer mehr bewusst, dass ich mich anschickte, für einige Wochen in einem mir bislang völlig fremden Kultur- und Sprachraum zu leben, ohne familiäre oder freundschaftliche Beziehungen oder Ansprechpartner. Ich war recht behütet in bildungsbürgerlichen, jedoch auch recht bodenständigen Verhältnissen in Südwestdeutschland aufgewachsen. Damals basierten meine Auslandserfahrungen hauptsächlich auf Besuchen der Nachbarländer Frankreich und Schweiz. Zwar hatte ich auf dem Gymnasium – wie wahrscheinlich so mancher Schüler meiner Generation – den großformatigen Diercke-Atlas immer wieder mit einem gewissen Anflug von Fernweh betrachtet und, den Folianten auf den Knien, Reiserouten in exotischen Gegenden ersonnen, doch war dies bislang stets im Bereich von »Wille und Vorstellung« geblieben. Als den geborenen Abenteurer oder Weltenbummler betrachtete ich mich jedenfalls nicht. Trotzdem versuchte ich, angesichts der fremden Küste ein Gefühl des Zutrauens und der Selbstsicherheit zu entwickeln. »Wenn andere es schaffen, Arabisch zu sprechen, und dort zurechtkommen, so kannst du es auch«, ging es mir ein wenig trotzig durch den Kopf. In Tunis immatrikulierte ich mich am Institut Bourguiba des Langues Vivantes (IBLV), um in den nun folgenden sechs Wochen einen Sprachkurs zu absolvieren. Das Studentenwohnheim glich eher einer Kaserne, der allerdings die militärische Ordnung fehlte. Abgesehen von dem vordergründigen, aber durchaus spürbaren »Kulturschock«, der durch das Erscheinungsbild der Waschräume und Toiletten hervorgerufen wurde, fühlte ich mich dort nach kurzer Eingewöhnung dennoch ganz wohl. Daran hatten meine Zimmergefährten einen maßgeblichen Anteil: ein Palästinenser, in Großbritannien aufgewachsen und von seinem Vater zum Erlernen der Muttersprache nach Tunis geschickt, sowie ein Ire, der als Karmelitermönch in Damaskus zum Islam konvertiert war. Der Ex-Mönch lernte aus religiöser Überzeugung und mit dem Eifer eines Konvertiten Arabisch, um das Wort Gottes, den Koran, und die großen religiösen Werke des Islam in der Originalsprache lesen und verstehen zu können. Meine Zimmergefährten nahmen mich ohne großes Federlesen in ihre »Leidensgemeinschaft« auf, die es uns allen ermöglichte, uns über die ungewohnte Situation und das eine oder andere Tief hinwegzuhelfen.

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.