Klassiker der Erotik 6: Die Welt der Flagellanten - Friedrich Thelen - E-Book

Klassiker der Erotik 6: Die Welt der Flagellanten E-Book

Friedrich Thelen

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Beschreibung

Flagellantismus, Spanking, Rollenspiele: Sie mögen als sexuelle Fetische erst in letzten Jahren hoffähig geworden sein, doch bereits 1960 nahm sich Friedrich Thelen Anhänger dieser Praktiken unter die Lupe. Ob "Büßer und Richter", "Erzieher und Zögling" oder "Pascha und Sklave" - auch heute bleiben die Untersuchungen dieses Klassikers eine zeitlos anregende Lektüre.

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Impressum Hrsg.

Passion Publishing Ltd. Postfach 1128

Friedrich Thelen

Klassiker der Erotik

Die Welt der Flagellanten

Passion Publishing

Thema und Methode der Untersuchung

Trotz einer umfangreichen und vielseitigen Spezialliteratur über dieses Phänomen sind Bedeutung und Wesen des Flagellantismus noch immer von einer Art Geheimnis umgeben. Würde man alle Erklärungen, die dazu versucht worden sind, in gedrängter Kürze zusammenfassen, ergäbe sich ein recht verwirrendes, ja widerspruchsvolles Gesamtbild, durch das die Fragen weniger gelöst als vielmehr neue aufgeworfen werden. Einem ähnlichen Dilemma begegnet man auch auf anderen Spezialgebieten der Sexualwissenschaft.

Diese relativ junge Disziplin hat sich vielleicht in dem begreiflichen Protest gegen allzu langes Verschweigen drängender Probleme dazu verleiten lassen, das neu erschlossene Gebiet als ein Sonderreich aufzufassen, das gegen andere Bezirke des menschlichen Lebens sorgsam abgegrenzt werden müsse. Aber genau so wie man erkannt hat, dass die Sexualität weit über den eigentlich sexuellen Bereich hinaus auf die gesamte Lebenseinstellung einwirkt, hätte man auch umgekehrt sehen müssen, wie die übrigen Lebensumstände und Lebenskräfte die Sexualität beeinflussen und modulieren.

In der gleichen Weise, wie man den Gesamtkomplex Sexualität allzu isoliert dargestellt hat, hat man dieses Gebiet wiederum gewissermaßen in Provinzen eingeteilt, denen man Namen wie Algolagnie, Fetischismus, Transvestismus, Homosexualität, Mysophilie usw. gegeben hat. Man könnte sich geradezu eine Art Landkarte denken, auf der die „normale Sexualität“ das Kerngebiet darstellt, das an allen Seiten an die verschiedenen Perversionen angrenzt, die sich wieder untereinander in bestimmten Nachbarschaftsverhältnissen befinden. Man war sich zwar klar, dass sich eindeutige Grenzen zwischen normal und pervers ebenso wenig ziehen lassen, wie zwischen Algolagnie und Fetischismus, zwischen Fetischismus und Transvestismus, zwischen Transvestismus und Homosexualität usw., aber man verfuhr doch so, als gäbe es grundsätzliche Unterscheidungsmerkmale.

Tatsächlich aber ließe sich der scheinbar paradoxe Satz aufstellen, dass ein gewisser Anteil an „perversen“ Einflüssen in einer individuellen Sexualhaltung „normal“ sei. Man spricht dann gern von „kleinem“ Fetischismus oder Sadismus oder dergleichen. Ebenso ließe sich nachweisen, dass der Transvestismus etwa je nachdem eigentlich algolagnisch oder fetischistisch, oder homosexuell, oder — nach Meinung von Hirschfeld jedenfalls — manchmal sogar asexuell ist. Bei Fällen von Mysophilie fragt man sich in gleicher Weise, ob sie nicht entweder algolagnisch oder fetischistisch sind, oder ob es ein solches Phänomen als Sondererscheinung gibt.

Nirgends aber scheint die Unsicherheit so groß zu sein wie über den Charakter des Flagellantismus. Meist wird er als eine „harmlosere“ Form des Sadismus-Masochismus aufgefasst, andere wieder zählen ihn zum Fetischismus, wieder andere summieren ihn mit verschiedenen anderen Phänomenen unter dem Sammelnamen „Symbolismus“ und Peter F ranzen verfocht die These, es handele sich hier um einen selbständigen Bereich.

Diese Diskussion soll hier weder fortgesetzt noch entschieden werden. Diese Untersuchung geht von der Anschauung aus, dass alle solche Namen und Einteilungen nur nachträgliche, künstliche Ordnungsbegriffe sind, wie man sie braucht, um sich in einem schwer überschaubaren Gebiet zurechtzufinden, dass aber Tatsachen wichtiger sind als Theorien, und die Menschen wichtiger als die Begriffe.

Es wird hier auch nicht der Versuch gemacht werden, eine der möglichen Aetiologien für den Flagellantismus zuungunsten anderer Erklärungen besonders herauszustellen oder gar zum „Generalnenner“ der Untersuchung zu machen. Es wird vielmehr die Hypothese aufgestellt, dass in jedem einzelnen Falle verschiedene aetiologische Momente in jeweils anderer Vermengung auftreten. Die Motive stehen in einem direkten Verhältnis zu den ebenso verschiedenen Erscheinungsformen, die der Flagellantismus annimmt.

Obwohl diese Studie deshalb von dem speziellen Charakter der jeweiligen Konflikte ausgeht, soll wenigstens einleitend ein kritischer Überblick über die wichtigsten theoretischen Auseinandersetzungen gegeben werden: Da wird einmal auf die Nervenbahnen hingewiesen, die durch Flagellantismus in einer Weise alarmiert werden, die der geschlechtlichen Erregung sehr ähnlich ist. Diese physische Stimulation wird verglichen mit derjenigen, die durch Massage usw. ausgelöst wird. Schon dieser Vergleich beweist aber, dass eine solche Erklärung in keinem Fall ausreicht. Es gibt zwar einzelne Menschen, die durch Massage, Frottage usw. besonders heftig sexuell erregt werden, aber diese Tatsache ist niemals so bedeutend geworden, dass man darin ein überindividuelles Problem sah. Zweifellos ist das aber beim Flagellantismus der Fall, weil nämlich hierbei außer den körperlichen auch geistige Ursachen vorliegen.

Allzu äußerlich bleibt auch der Hinweis darauf, dass die Bewegungen eines Flagellationsopfers den Zuckungen während des Koitus ähneln. Es ist sehr merkwürdig, dass in dem Werk von Heller-Wagner-Pauly, das den „Flagellantismus in Amerika“ weitgehend als Fesselungsmanie entpuppt, die Behauptung steht, man könne die Flagellation geradezu als eine Anspielung auf den Koitus auffassen. Durch Fesselung werden doch aber Bewegungen weitgehend verhindert. Solche Widersprüche ergeben sich, wenn man gewisse Einzelmotive verallgemeinert.

Ein Hinweis, der in den flagellantischen Untersuchungen oft wiederkehrt, ist der auf gesäßfetischistische Momente. Aber auch die fetischistische Verehrung der Glutäen, ihrer Formen, ihrer Rötung und dergleichen, ist durchaus kein charakteristisches Zeichen. Es gibt — im Gegensatz zur Meinung Schertels — viele Flagellanten, die eine „obere Disziplin“ oder eine Flagellation der Hände vorziehen, und Anhänger der Bastonade. Es gibt wieder andere, die darauf bestehen, dass das Gesäß bekleidet sein müsse, so dass sie sich dem Anblick des Fleisches und der Rötung entziehen. Solche Momente können nicht zum Kern des Problems führen. 

Die fetischistischen Züge des Flagellantismus zeigen sich in der Wichtigkeit, die Strafgerät, Strafkleidung und Strafritual so oft annehmen. Die Nachbarschaft des Flagellantismus zum Fetischismus ist, über alle bloßen Einordnungsfragen hinaus, vielleicht der Schlüssel zu seinem Wesen. Welche Schwierigkeiten gerade in diesem Nebeneinander liegen, zeigt sich an den fast gegensätzlichen Meinungen, die Schertel und Pauly dazu vertreten. Während Pauly im fetischistischen Ritual eine Verharmlosung und zugleich geistige Überhöhung der Grausamkeit sieht, fasst Schertel die Fetischisierung als eine besonders krasse Form der Besitzergreifung auf.

Erklärungen anderer Art werden aus der Geschichte des Flagellantismus und ihrem Verhältnis zur Kulturgeschichte abgeleitet. Flagellation als juristische Strafe, als Erziehungsmittel, als religiöse Übung und auch als sexuelles Stimulans hat es offenbar immer gegeben, nicht aber immer etwas, das man als „Flagellantismus“ bezeichnen könnte. Der „Flagellantismus“ des Altertums verdient diesen Namen nicht, weil er zu seiner Zeit niemals als Problem, als „Bewegung“ empfunden worden ist.

Flagellanten in diesem Sinne gibt es erst seit dem Mittelalter. Der Ursprung des Flagellantismus ist eine Verquickung sexueller Triebe oder sexueller Unterdrückung mit religiösen Emotionen. Die Flagellation war nicht mehr irgendeine Aktion, und auch nicht mehr Mittel zu einem Zweck, sondern wurde Methode, Symbol und Mittelpunkt einer spezifischen „Weltanschauung“. Dieser religiöse Ursprung ist auch heute noch, in einer längst säkularisierten Welt, erhalten geblieben, wenn auch oft in unkenntlich gewordenen Formen.

Schertel verschiebt den Beginn des Flagellantismus sogar auf einen noch späteren Zeitpunkt. Er bringt die Empfindungen, die eine Flagellation bei Aktiven wie Passiven auslöst, mit der „Empfindsamkeit“ in Verbindung, wie sie vor allem in der Zeit der Romantik „modern“ war. So nennt er Sade den „romantischen Marquis“, weist aber auch gerade von ihm nach, dass er aus der Verquickung von Sexualität und Grausamkeit eine Philosophie, eine Weltanschauung, ja, man könnte sagen, eine Religion gemacht hat.

Wichtiger als der religiöse oder der juristische Ursprung der Flagellation erscheint für die Gegenwart sein pädagogischer. Es ist eine der wenigen wirklich gesicherten Erkenntnisse, dass flagellantische Neigungen so gut wie immer auf die Erfahrung körperlicher Strafen in die Kindheit zurückgehen. Auch im Rahmen dieser Untersuchung wird sich das aufs Neue erweisen. Aber es werden viel mehr Kinder zuhause oder in der Schule geprügelt, als es unter den Erwachsenen Flagellanten gibt. Offenbar wirken solche Erfahrungen nur auf bestimmte Menschen in dieser Weise, und unter ihnen muss es wiederum wesentliche Unterschiede geben, die bewirken, dass auch die Folgen sehr verschieden sind.

In der alten Streitfrage, ob eine bestimmte Charakterentwicklung, oder speziell eine bestimmte Sexualentwicklung, auf Erbfaktoren zurückgeht oder die Folge von Erfahrungen ist, hat man um die Jahrhundertwende eindeutig für die Vererbung plädiert, und noch Hirschfeld gehört zu den Anhängern dieser Theorie. In der modernen Psychologie dagegen ist man ebenso entschieden gegen Vererbungstheorien eingestellt und hält jede Charakterausbildung für erworben.

dass man auf diese Weise für gewisse Fragen überhaupt keine Antwort findet, macht auf dem Gebiet des Fetischismus Joachim Paul y klar. Obwohl er im allgemeinen zu den Vertretern der Psychoanalyse gehört, stutzt er doch über die merkwürdige Tatsache, dass irgendein Kindheitsereignis, das so oder ähnlich beinahe jedem widerfährt, sich bei einigen als „traumatischer Schock“ auswirken, bei allen anderen jedoch ohne sichtbare Folgen bleiben soll. Paul y sieht ein, dass es gewisse „Konstitutionstypen“ gibt, die am ehesten zu einer fetischistischen Entwicklung neigen. Auch in anderem Zusammenhang vertritt er die Meinung, dass eine gewisse Grundveranlagung vorliegen müsse, die je nach den Erfahrungen während der Kindheit unentwickelt bleibt oder sich in der jeweils durch Erlebnisse gelenkten Richtung ausbildet. Leider geht er diesen Erkenntnissen nicht weiter nach. Ähnliche Gedanken bilden aber den wesentlichen Teil der vorliegenden Untersuchung.

Ein andermal weist der gleiche Autor darauf hin, dass sexuell abweichend veranlagte Menschen merkwürdig oft im Lauf ihres späteren Lebens auf Ereignisse stoßen, die ihre bereits angebahnte Entwicklung weiter verstärken. Paul y spricht den Verdacht aus, dass sie solche Erlebnisse suchen und förmlich selbst herbeiführen. Auch diese Idee bleibt aber ein einzelner Einfall, aus dem keinerlei Folgerungen gezogen werden.

Tatsächlich bauen die meisten Menschen sich ihre Erlebnisse, ja ihre ganze Welt selbst. Wie auch immer die Wirklichkeit objektiv aussieht, man nimmt nur jenen Ausschnitt wahr, auf den das Innere positiv — oder stark negativ — anspricht. Schon bei politischen oder religiösen Anschauungen lässt sich oft nur zu leicht erkennen, dass nicht die Argumente zählen, die dafür oder dagegen ins Feld geführt werden, sondern entscheidend eine Gefühlslage ist, die den einen zum frommen Katholiken oder autoritätsgläubigen Konservativen, den anderen zum enragierten Atheisten oder toleranten Liberalen macht. Was der einzelne auch ist, er ist es dann in jeder Beziehung: ein überzeugter Katholik wird auch in der Kunst etwa auf Mystik und Feierlichkeit ansprechen, ein Liberaler wird auch in der Sexualmoral freiheitlich sein.

Besonders deutlich wird die Steuerung eines scheinbar sachlichen Bezugssystems durch das individuelle Temperament natürlich gerade im Reich des Sexus, das wie kein anderes von persönlichen Emotionen bestimmt wird. Selbst Philosophen, denen man Zutrauen möchte, dass sie über primitiven Menschlichkeiten stehen, verraten ihre Subjektivität, sobald sie über das Geschlechtliche schreiben. Die Bösartigkeit eines Schopenhauers in dieser Beziehung spricht jedem Prinzip einer sachlichen Darstellung Hohn — und sie wäre vermutlich leicht zu erklären, wenn man der sexual-psychischen Situation des Mannes Schopenhauer nachgehen könnte.

Wie sehr eine individuelle Sexualkonstellation mit dem gesamten Weltbild des betreffenden Menschen zusammenhängt, lässt sich im Durchschnitt allerdings schwer erweisen, weil das Normalempfinden eben der „Normalwelt“ entspricht, die uns viel zu selbstverständlich vorkommt, als dass wir den Motiven ihres Zustandes nachgehen wollten. Sichtbar wird die Relation erst, wenn sie sich von dem Üblichen unterscheidet. Dazu kommt noch, dass Menschen mit einer abweichenden Sexualhaltung sich unter den Normalen fremd, verloren und angefeindet fühlen, und sie schon deshalb ihre „Sonderwelt“ zu festigen, zu verteidigen und zu komplettieren wünschen.

Auch Sonderlinge anderer Art verhalten sich ähnlich. Ein streitbarer Anti-Alkoholiker beurteilt alles und jeden nur nach seinen einseitigen Prinzipien, ein Naturapostel macht aus jeder Wanderung eine Art Gottesdienst. Jaspers spricht in diesem Zusammenhange von „Überwertideen“, das heißt Weltanschauungen, die ihren Anhängern nicht wegen eines objektiven Gehaltes wichtig sind, sondern weil sie zu ihnen „passen“. Damit ist nicht gesagt, dass solche Ideen nicht manchmal auch objektiv von Wert sein können.

Eine Überwertidee auf sexuellem Gebiet ist zweifellos die Freikörperkultur. Sicherlich steckt in diesen Anschauungen viel Richtiges und Wertvolles, aber ebenso sicher stoßen die meisten Anhänger aus — oft unerkannten — sexualpsychischen Neigungen und Konflikten zum Nudismus.

„Eine Welt für sich“ bilden ebenso die Homosexuellen und die Transvestiten; das kann man besonders leicht in den Werken von Magnus Hirschfeld erkennen. Zu seiner Zeit hatten sie ihre Zirkel, ihre Zeitschriften, ihre Lokale, auch aber ihre eigenen Propheten und Dichter.

Über die Flagellanten weiß man in der Öffentlichkeit sehr viel weniger. Über die homosexuelle Veranlagung eines Oscar Wilde ist jeder Gebildete informiert, aber wem ist schon bekannt, dass ein Rousseau passiver Flagellant war? Den Kreis des Schweigens und des Unwissens haben offenbar auch die vielen Publikationen über Flagellantismus nicht brechen können; ihre Wirkung blieb auf aufgeschlossene Ärzte, Juristen, Pädagogen beschränkt — und selbstverständlich bemächtigten sich dann auch die Flagellanten dieser Literatur.

Obwohl sich keinerlei statistischer Nachweis erbringen lässt, gibt es Anzeichen dafür, dass die Zahl der Flagellanten relativ groß ist. Sie treten als Gruppe äußerlich nicht in Erscheinung, aber wenn einmal die Möglichkeit der Gruppenbildung gegeben ist, — etwa durch Zeitschriften oder Treffpunkt-Lokale —, so wird diese Chance eifrig ergriffen, bis das Gesetz einschreitet und sie zerstört. Dann muss die Gruppe wieder unsichtbar und ohne Kommunikation untereinander weiterexistieren, als eine Geheimwelt für sich.

Diese Welt zu betrachten, ist Aufgabe der vorliegenden Untersuchung. Es ist kein Gebiet einheitlicher Erscheinungen, sondern wirklich eine Art Welt, in der es die verschiedensten Unterströmungen und sogar Gegensätze gibt.

Worauf diese Unterschiede und Gegensätze beruhen, soll nicht vorweggenommen werden. Wie also kann man sich in dieser Sonderwelt orientieren, um überhaupt in sie einzudringen? Wenn man sein Interesse auf die Einzelmenschen richtet, steht man ja einer Fülle unverbundener Einzeltatsachen gegenüber. Audi die Vermutung, dass es bestimmte „Konstitutionstypen“ oder Charaktere gäbe, die zu einer Entwicklung zum Flagellantismus am ehesten neigen, hilft nicht viel weiter, da wir die entsprechenden Typenmerkmale ja erst aus den Tatsachen erfahren und nur von ihnen abstrahieren können.

Nach meinen Erfahrungen kommt man am weitesten, wenn man die einzelnen nach ihren Motiven fragt. Es ist nun, namentlich von psychoanalytisch geschulten Autoren, viel darüber geschrieben worden, dass die Motive, die sexuell abweichend veranlagte Menschen für ihr Empfinden und Verhalten angeben, nicht die wirklichen sind, sondern nachträgliche Entschuldigungen, mit denen tiefer liegende Zusammenhänge zugedeckt werden sollen. Aber selbst wenn dies wirklich so wäre, müsste dann nicht die Frage untersucht werden, warum gerade diese Motive vorgegeben werden? Bei der Traumdeutung nach den Methoden Freuds schließt man ja auch auf den eigentlichen, so genannten latenten Trauminhalt, indem man danach fragt, welche Gedankenverbindungen durch die offenkundigen, „manifesten“ Traumbilder ausgelöst, werden. Auch die „Traumzensur“, der innere Widerstand, der dafür sorgt, dass der latente Trauminhalt auf dem Wege zum endgültigen Traumbild verändert wird, erregt und verdient Interesse des Analytikers. Endlich arbeitet er namentlich dann, wenn der Träumer keine Assoziationen angeben kann, mit der Deutung von „Traumsymbolen“, die über-individuell festgelegt sind und bei den verschiedensten Träumern wiederkehren, ohne dass ihnen der Symbolgehalt bekannt ist.

In ähnlicher Weise verfährt diese Untersuchung. Sie fragt zunächst nach den zugegebenen Motiven — mit dem Ergebnis, dass sie sehr viel mehr bedeuten, als man nach psychoanalytischer Schule annehmen würde. Dabei ergeben sich gewisse Gruppen, deren Symbolik der Traumsymbolik vergleichbar ist. Religiöse und juristische Straf- und Rache- oder Reinigungs-Ideen herrschen bei den Typen von „Büßer und Richter“ vor, die pädagogischen Gesichtspunkte bei „Erzieher und Zögling“, die Macht- und Unterwerfungsgedanken bei „Pascha und Sklave“.

Nach den Erfahrungen aus dem Material, dass unter diesen Gruppenbezeichnungen beigebracht werden soll, ist man vorbereitet, Motive einer anderen Schicht kennen zu lernen und zu ergründen, die zu besserer Unterscheidung als „Empfindungen“ bezeichnet werden können. Dabei kommt es nicht mehr auf das historische Vorbild an, das im ersten Teil so oft als „Archetypus“ erscheint, und nicht mehr auf die polare Paar-Auseinandersetzung, sondern auf ein innerseelisches Spannungsverhältnis. So flüchten sich einige in „Schwärmerei und Ritual“, während andere von „Unruhe und Rebellion“ getrieben sind und wieder andere „Genuss und Ekstase“ suchen.

Gesichtspunkte und Methoden dieser Art wären wohl auch für die Untersuchung anderer psychologischer Probleme, insbesondere auf sexuellem Gebiet, brauchbar. Neben den Ergebnissen für das Thema erhoffe ich auch einen Erfolg für die Methode. dass sie gerade auf das Phänomen des Flagellantismus zuerst angewandt wird, liegt an dem Zufall — wenn man es so nennen will —, dass darüber besonders reiches Material zur Verfügung stand. Zufall waren freilich nur die ersten Begegnungen mit dieser „Welt“; als einmal klar war, wie interessante Aspekte sich hier ergeben, folgte die planmäßige Arbeit.

Ich danke an dieser Stelle nochmals für das Vertrauen der Betroffenen, die Selbstzeugnisse zur Verfügung stellten, und für die selbstlose Mitarbeit von Fachleuten, die mir Einblick in ihre Erfahrungen gewährten. Selbstverständlich wurden alle Dokumente in den psychologisch nicht entscheidenden Details derart verändert, dass niemand Rückschlüsse auf die Identität der Beteiligten ziehen kann.

Dieses Material wurde ergänzt durch einige Fälle, die bei anderen Autoren bereits zitiert wurden, um auch an ihnen die Brauchbarkeit der neuen Betrachtungsweise zu erproben. Wertvolle Erkenntnisse ergaben sich weiterhin aus sadomasochistischen Bildern und Texten, die zumeist von einschlägig Perversen stammen oder doch genau auf deren Geschmack eingestellt sind. Endlich gibt es recht treffende und aufschlussreiche Beispiele auch in der allgemeinen Publizistik, in Presse und unterhaltender oder höherer Literatur.

Besonders an diesen Zeugnissen erweist sich aber, dass die Probleme des Flagellantismus schließlich doch nicht auf eine Welt von Sonderlingen beschränkt sind, sondern sich in diesen Merkwürdigkeiten etwas widerspiegelt, das uns alle angeht — und der Beweis, dass wir alle einen Einfluss darauf haben, ob sich bei der kommenden Generation ähnliche Perversionstendenzen entwickeln können oder verhütet werden.

I Büßer und Richter

Die religiöse Buße für weltliche Lüste, vor allem für die der geschlechtlichen Liebe, und die juristische Strafe für Vergehen gegen die jeweiligen Gesetze der Gemeinschaft, sind die frühesten Motive körperlicher Züchtigung. Die Unterschiede sind nicht so groß, wie sie dem modernen Menschen erscheinen. In früheren Kulturen waren die Gesetze der Gemeinschaft stets religiös begründet und befestigt, und noch heute wird beim Eid vor Gericht Gott angerufen. Umgekehrt haben die geistlichen Richter des Mittelalters die Opfer ihrer Hexen- und Inquisitionsprozesse schließlich dem Arm des weltlichen Richters übergeben.

Religiöse und juristische Körperstrafen sind heute keineswegs ausgestorben. Es ist wahrscheinlich, dass einige Richter und Professoren, die sie verhängen und vollziehen, dabei eine Lust verspüren, die oft außer dem Machtkitzel und der Grausamkeit auch sexuelle Gefühle einschließen mag. Gelegentlich werden auch die Büßer und Delinquenten Lust mit umgekehrtem Vorzeichen verspüren. Doch hier geht es nicht darum, an solchen Grenzfällen das Wirken einer „versteckten Algolagnie“ nachweisen, wie das Pauly versucht hat. Hier handelt es sich einzig um jene Motive und Formen, die man bei denen antreffen kann, die als „Flagellanten“ im modernen Sinne in der körperlichen Züchtigung offenkundig sexuelle Aktionen vollziehen und sexuelle Gefühle daraus gewinnen.

Ein solcher Mann ist Albert L. Er ist heute nahe an Fünfzig und der für seine verlässliche Arbeit sehr geschätzte Bürovorsteher eines Rechtsanwalts und Notars. Er führt mit seiner Frau und zwei Kindern, einem jetzt siebzehnjährigen Sohn und einer fünfzehnjährigen Tochter, ein geordnetes Familienleben. In politischen und kulturellen Fragen ist er konservativ eingestellt und regelmäßiger Kirchgänger. Wöchentlich einmal nimmt er an einem Stammtisch von Männern seiner Berufswelt teil. Er gibt zu, dass er am liebsten selbst Jurist geworden wäre, nur habe das Geld seiner Eltern nicht zu einer akademischen Ausbildung gereicht. Er nimmt in allen juristischen und moralischen Problemen eine sehr strenge Haltung ein.

Neben diesem offiziellen führt er jedoch eine Art geheimes Leben. Es besteht aber nicht aus Handlungen, sondern nur aus Gedanken, die durch eine Sammlung von Büchern und Bildern unterstützt werden. Oft versucht er dies vor sich selbst und vor denen, die davon wissen, mit seinen juristischen Interessen zu entschuldigen, die in seiner eher subalternen Berufsarbeit doch zu kurz kämen. Im Grunde weiß er jedoch ganz genau, und — zur Rede gestellt — gibt er das auch zu, dass dieses „Steckenpferdu ganz andere Gründe hat und ihm ganz andere Freuden bietet.

Alle seine Bücher und Bilder haben mit der Inquisition und den Hexenverfolgungen zu tun. Unnötig zu sagen, dass er Corvins „Pfaffenspiegel“ und „Die Geißler“ besitzt, eine vollständige Ausgabe des Hexenhammers und den als Chronik getarnten Roman „Die Bernsteinhexe“. Zu seinen besonderen Schätzen, an denen er am innigsten hängt, gehört eine Serie von Fotografien, die um 1900 in den Handel gekommen ist.

Auf diesen Bildern sieht man immer wieder zwei Männer in schwarzen Mönchskutten und einen dritten mit langen Strumpfhosen, langer schwarzweißer Jacke und weißer Kapuze, der als Henkersknecht agiert. Auf einem Bild steht als Hexe eine schlanke, auf den übrigen eine mollige Frau. Die Schlanke steht, nur mit einem weißen Lendenschurz bekleidet, an einen Pfahl gebunden auf dem Holzstoß, der offenbar sogleich angezündet werden soll.

Die andere erleidet einmal das Martyrium der Heiligen Agatha: ihre Brüste werden von dem Henker mit der Zange gefoltert. Dann wieder sieht man sie rücklings an einen Pfahl gebunden; sie wird von dem Profoß mit einer langen Peitsche geschlagen. Schließlich ist sie sogar auf einen Liegebock geschnallt, um die Wasserfolter zu erdulden.

In allen Fällen werden die grausamen Handlungen nur durch den Henkersknecht verübt, während die Mönche im äußersten Fall drohend daneben stehen. Meist hält einer von ihnen ein Kreuz, einmal liest einer aus einem Verhörsprotokoll oder Urteil oder vielleicht in frommen Sprüchen.

Der Besitzer dieser alten Bilder, die gewiss nicht leicht aufzutreiben gewesen sind, wird darauf aufmerksam gemacht, dass es sich hier ja bestimmt nicht um irgendein historisches Dokument, sondern um eine nach Herkunft und Zweck ziemlich eindeutige „Mache“ handelt. Das räumt er ein und erklärt: „Aber so kann ich mir das besser vor stellen."

Auf die Frage nach dem Charakter dieser Vorstellungen und den dadurch ausgelösten Gedankenverbindungen geht er auf die körperlichen Qualen der imaginären Opfer zunächst nicht ein. „Es handelt sich doch schließlich um Sünderinnen“, sagt er. „Das Ziel der Inquisition ist doch, selbst um den Preis der Vernichtung des Körpers, die Seele zu retten. Es gab genug Hexen, die auch ohne Folter zugegeben haben, dass sie Geschlechtsverkehr mit dem Teufel hatten.“

Die nächste Frage lautete: „Glauben Sie denn an Teufel?“

Die Teufel seien in uns — in Gestalt unserer Triebe, unseres Verlangens nach Lust und Vergehen, vor allem natürlich als Trieb nach geschlechtlicher Lust.

Aber die geschlechtliche Lust sei doch im Manne mindestens ebenso lebendig wie in der Frau? wird eingewendet. Warum dann denn nur die Frauen bestraft werden müssten?

Sie seien die Verführerinnen, wie schon Eva im Paradiese. Diese Mönche und Inquisitoren hätten ja ihre eigenen fleischlichen Lüste unterdrückt, hätten sich freiwillig Bußübungen unterworfen, hätten oft genug unter dem Zwang zu strafen selber gelitten.

Das sind Angaben der Art, wie sie hier als „Motive“ bezeichnet und zum Leitprinzip der Untersuchung gemacht werden. Für gewöhnlich werden sie als „Entschuldigungen“ abgetan, die nur dazu dienten, die geschlechtliche Lust hinter andersartigen Vorstellungen zu tarnen. Die geschlechtliche Lust soll hier keineswegs geleugnet werden; die Frage ist nur, warum sie sich in so seltsame Formen geflüchtet hat. Die Auskunft der Psychoanalyse, dass daran jeweils andere, individuelle Entwicklungsumstände schuld sind, mag als Hilfsmittel einer seelischen Therapie wertvoll, ja unerlässlich sein, aber damit wird nicht das Rätsel gelöst, dass gewisse Motive und Formen als so genannte Tarnungen so häufig ganz gleichartig auftreten.

Denn das, was in jenen Bildern dargestellt ist, oder was Albert L. aus ihnen herausliest, ist eine Grundsituation, ein „Archetyp“, im Sinne Jungs. Schon die historischen Vorgänge, die in den gestellten Fotos theaterhaft beschworen werden, gehen auf frühere Muster zurück. Körperliche Disziplin zum Zweck des religiösen Heils gibt es bereits in verschiedenen primitiven Religionen und ebenso in der Antike, etwa bei den Vestalinnen. Die Hexenverfolgung ist nicht denkbar ohne den heidnischen Geisterglauben, der durch die Christianisierung zunächst nur an der Oberfläche unterdrückt worden war, in den Seelen und Köpfen jedoch weiterlebte und sich nun in pseudo-christlichen Formen wieder Geltung verschaffte.

Doch schuf die Christianisierung zugleich eine völlig neue Situation. Die neue Lehre vom jenseitigen Heil wurde als Forderung zur Abkehr von diesseitigem Glück nicht nur für wenige Sektierer, sondern für alle verstanden. Die Haupthindernisse für eine ewige Seligkeit sah man in den Haupttriebkräften des Lebens: dem Hunger und der Liebe. Sie wurden so sehr entwertet, dass man in einer gewissen geistlichen Führungsschicht nur noch von „Völlerei“ und von „Hurerei“ sprach. Die Umkehrungen, das Fasten und die geschlechtliche Askese, galten als Teil des Gottesdienstes.

Diese religiösen Ideale waren von Männern geschaffen worden, sie wurden von Männern verbreitet und ständig neu moduliert. Die Versuchung durch den eigenen Geschlechtstrieb, der sie ausgesetzt waren, haben Männer stets gern statt in sich selber nur in den Frauen gesehen. Das bringt auch Albert L. klar zum Ausdruck.

Wie er, so liest man allgemein aus der Geschichte der Paradieses-Vertreibung gern nur das eine heraus: die Versuchung durch Eva mit Hilfe des Apfels, einem Symbol für die weibliche Brust als einem der wichtigsten erotischen Anziehungspunkte. Man übersieht, dass vorher Eva durch die Schlange verführt worden war, die zweifellos ein Symbol für den männlichen Phallus ist.

So wurde ein für allemal die Sexual-„Schuld“ der Frau konstruiert. Aber niemals hat das so deutliche, so furchtbare Folgen gehabt wie im Mittelalter. Man gestattete damals zum Beispiel zwar eine peinlich genau reglementierte Prostitution, weil man deren Unvermeidlichkeit einsah, betrachtete aber ihre Dienerinnen als rechtlos, bürdete nur ihnen alle Strafen auf, während man das Verhalten der männlichen Nutznießer mehr oder weniger als „lässliche Sünde“ ansah. Das war nur der Ausdruck der gleichen Gesinnung, die die Hexenprozesse hervorbrachte.

dass es sich bei ihnen um ein Sexualproblem handelt, geht schon aus den rabulistischen Definitionen über „Incubus“ und „Succubus“, darauf- und darunterliegende Teufel, hervor. Denn der Pakt mit dem Teufel erfolgte angeblich meist als Geschlechtsakt. Schon deshalb mussten die „Besessenen“ fast ausnahmslos Frauen sein; die Zahl der männlichen Hexer, die verbrannt worden sind, steht zu den etwa eine Million weiblichen Opfern in gar keinem Verhältnis.

Nun aber geht nichts, was in der Geistesgeschichte jemals lebendig war, in ihrem späteren Verlauf völlig verloren. In gewissem Sinne haben wir heute noch Fetische und Totems (Stammeszeichen) oder Einweihungsriten. Aber in dem Maße, in dem ein bestimmter Glaube und ein bestimmtes Ritual die offizielle Anerkennung verliert und mit den wandelbaren Lebens- und Gesellschaftsverhältnissen in Widerspruch gerät, verflüchtigt es sich in immer abgelegenere Winkel, wird in seinen Formen und Motiven immer mehr verfälscht — es degeneriert sozusagen.

So ist Albert L. ein später Abkömmling jener Gedankenwelt, die einst Inquisition und Hexenverfolgung hervorgebracht und für richtig gehalten hat. Er argumentiert wie die geistlichen Richter jener Epoche. Er schiebt die sexuelle Schuld von sich weg auf die Frauen. Falls an der Art der Bestrafung eine neue Schuld sein sollte, nimmt er auch sie nicht auf sich — er vergeht sich nicht, er beschwört nur Bilder, und selbst auf ihnen ist nicht der geistliche Richter aktiv grausam, sondern nur der Profis.

Das Motiv, die Sexuallust am Weibe — oder durch über sich selbst verhängte Bußübungen auch am eigenen Körper — zu bestrafen, ist eines der Grundmotive von Sadismus, Masochismus und Flagellantismus. Man wird ihm auch dort begegnen, wo es von Motiven wie „Erziehung“, „Sklaverei“ und anderen überlagert ist. Beide Seiten, die sadistische wie die masochistische, sind im Fall Albert L. bereits angedeutet.

Aber neben der Frage nach dem Motiv soll hier die nach dem Typ gestellt sein, der zu flagellantischen Vorstellungen neigt. Wir wollen wissen, was für Menschen und warum gerade sie ein mehr oder weniger abweichendes Sexualinteresse entwickelt haben, warum gerade dieses, und warum gerade unter solchen Motiven.

In Albert L. tritt uns ein ordentlicher, rechtlicher, nach strengen Prinzipien lebender Mann entgegen, der sich in gewisser Weise zu kurz gekommen fühlt. Man kann seine etwas verschlossene, ja fast starre Art auffassen als einen Schutzpanzer gegen die Umwelt, in der er sich trotz Handicap durchsetzen muss. Bei seinem Lebensziel und seinen Lebensauffassungen mögen „Versuchungen“, besonders sexueller Natur, als ernsthafte Gefahr erscheinen, der man aus dem Wege gehen und gegen die man sogar etwas tun muss.

Sein „geheimes“ Leben steht zu dem offiziellen nur scheinbar in Widerspruch; es ist ein Gegensatz im Sinne einer notwendigen Ergänzung. Umgekehrt könnte man seine juristischen Berufsinteressen, denen er ja in bedeutenderer Stellung hätte dienen mögen, als Ausdruck eines bestimmten Rechts- und Moralbedürfnisses ansehen, das mit der Selbstverteidigung gegen Sexual Versuchung in Zusammenhang steht. Tatsächlich finden sich sadomasochistische und flagellantistische Interessen auffallend häufig in der Berufswelt von Gericht und Polizei.

Sowohl die Art der Motive als auch der Charaktertyp Albert L.s wurden noch deutlicher durch die weitere Befragung:

„ Weiß Ihre Frau von diesen Bildern“

„Von meinen Büchern natürlich, von den Bildern nicht.“

„Gibt es irgendeine Beziehung zwischen diesen Bildern und Ihrem tatsächlichen Sexualleben?“

„Ja und nein. Nein insofern, als ich den Geschlechtsakt vollkommen normal vollziehe, ohne jede Andeutung einer sadistischen Handlung. Das heißt, ich habe nicht sehr oft Interesse daran, und meine Frau wohl auch nicht. Ich spüre auch nur dann das Bedürfnis danach, wenn mich gewisse Vorstellungen übermannt haben, die mich auch während der Kohabitation nicht verlassen.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie solche Vorstellungen nicht suchen?“ Albert L. zögert, und dann heißt es wiederum: „Ja und nein. Sie überfallen mich, wenn ich irgendwo zufällig einer entsprechenden Notiz, einem Bilde begegne. So etwas fällt mir in manchen Zeiten merkwürdig oft auf, dann wieder habe ich es Wochen hindurch vergessen. Ich suche ... in meinen eigenen Büchern, zumal, wenn ich weiß, dass ich allein in der Wohnung bin. Dann kann ich manchmal auch der Versuchung zur Masturbation nicht widerstehen.“

In diesen Sätzen sind wiederum einige sehr typische Verhaltensweisen angesprochen. Zwar wird der normale Coitus noch beibehalten, aber zum Teil nur deshalb, weil er zu einer Ehe nun einmal „dazugehört“, und darüber hinaus als fast mechanische Form der Ableitung, als eine Art Masturbation, bei der der Zwang, auf den Partner Rücksicht zu nehmen und sich vor ihm zusammenzunehmen, den eigenen Genuss gegenüber dem bei einer wirklichen Masturbation schmälern mag. Der Phantasie-Flagellant betreibt, wie ein Fetischist, Augenjagd, zum Teil schon unbewusst, weil die Aufmerksamkeit schon automatisch auf einschlägige Eindrücke gerichtet ist.

Albert L. wird nun gefragt: „Haben Sie jemals versucht, Ihre Ideen irgendwie zu verwirklichen*

Darauf kommt sehr prompt das „Nein!“ Aber gleich danach folgt eine sehr seltsame Erklärung. „Sehen Sie mal — diese Fotos . . . die sind doch bestimmt mit Prostituierten auf genommen worden — in Bordells verkauft worden . . . Ich habe auch mal gelesen, dass man solche und ähnliche Szenen für Bordellbesucher auf geführt hat. Ich habe manchmal gedacht, das möchte ich wohl sehen. Aber natürlich hatte ich niemals so viel Geld, — und im Ernst wäre es sowieso nicht in Frage gekommen.“

Als der Interviewer auf diesen Punkt näher eingeht, gibt L. zu, dass die Verquickung der Ideen „Hexenverfolgung, religiöses Gericht“ einerseits und „Bordell, Bordellkomödie“ andererseits den Fotos in seinen Augen einen „eigenartigen, widerspruchsvollen Reiz gibt“.

Dadurch wird nicht nur aufs neue die Verbindung Religion-Busse-Sexualität bestätigt, es wird auch der komödienhafte Charakter der durch die Bilder vermittelten Vorstellungen bestätigt. Diese Komödie bleibt aber nicht etwa ein Ersatz, sondern sie hat vor der ursprünglichen Realität sogar Vorrang. Die Übertragung in komödienhafte Formen ist geradezu ein Wesenszug des Flagellantismus. Er tritt noch deutlicher hervor, wenn es zu Aktionen kommt, so etwa in dem folgenden Fall.

Erna N., Tochter eines Kirchendieners und während ihrer Jugend eifriges Mitglied der kirchlichen Vereine, ist Haus Schneiderin geworden. Seitdem ihre Eltern tot sind, wohnt sie in der gleichen ärmlichen Gegend, in der sie auf gewachsen ist, in Untermiete und hat, außer in den Häusern, in denen sie arbeitet, wenig Verkehr. Die konventionelle kirchliche Frömmigkeit genügt ihr nicht mehr, und sie schließt sich einer Sekte an, deren Prediger und Gesänge besonderen Wert auf die Buße und die Abtötung sündiger Gedanken legen. Aber als sie den Leiter ihrer Gemeinde fragt, ob er nicht ihre Buße in die Hand nehmen will, lehnt er das ab. Erna N. entfremdet sich daraufhin der Gemeinde mehr und mehr.

Das scheue, betont unauffällig gekleidete und unschöne Mädchen hat um diese Zeit in der Familie des Inhabers einer kleinen Fabrik in ihrer Gegend zu tun. Arnold R. ist ein stattlicher Mann von ernstem Wesen und einiger Bildung. Seine Frau, die ihm viel Geld in die Ehe gebracht hat, gibt sich gern als Dame der Gesellschaft. Die R.s haben keine Kinder.

Es fällt Erna N. auf, wie wenig sich die Hausfrau und wie relativ viel sich der Hausherr um ihre Anwesenheit kümmert. Sie hat sogar den Eindruck, Arnold R. suche ihre Gesellschaft — wohl weil er von seiner mondänen Frau so viel „alleingelassen werde und bei ihr jeglichen Ernst vermisse“ Aber nicht nur die gemeinsame Neigung zum „Ernst“ ist es, die Erna zu dem Fabrikanten hinzieht. Er, der wohlhabende, für ihre Begriffe mächtige und gebildete Mann, der in ihr, der kleinen unansehnlichen Hausschneiderin „den Menschen sieht“, kommt ihr vor wie ein Führer. So schneidet sie ihre religiösen Probleme an, wird dabei ermutigt, und äußert schließlich ihre bisher enttäuschte Sehnsucht nach Buße.

Auch dafür zeigt sich Arnold R. sehr verständnisvoll. Er behauptet, für seinen Teil sei er über diese Probleme hinaus, er sühne alle früheren Sünden und noch aufkommende sündige Gedanken in seiner Arbeit, und darüber hinaus deutet er an, dass er die Sexualgemeinschaft mit seiner „weltlichen“ Frau längst auf gegeben habe. Gerade weil er eine solche innere Position erreicht habe, könne er einer „noch irrenden Schwester“ vielleicht helfen. Tatsächlich wird zwischen Arnold R. und Erna N. schließlich vereinbart, dass sie bei ihm in regelmäßigen Abständen Bußübungen unterworfen sein solle.

Die Zusammenkünfte finden in R.s Wohnung statt, und zwar immer dann, wenn seine Frau mit Freundinnen auswärts zusammen ist. Als Ort erscheint das Wirtschaftszimmer geeignet, in dem Erna seinerzeit die Schneiderarbeit getan hat. Sogar die, nun allerdings mit dem Holzkasten zugedeckte, Nähmaschine spielt dabei eine Rolle: Erna wird mit vornüber gebeugtem Oberkörper darüber gebunden. Als Instrument wird eine mehrschwänzige Peitsche, eine so genannte Klopfpeitsche, benutzt. Sie erhält die Strafe in einem langen altmodischen Nachthemd, das sie an diesen Tagen unter dem Kleid trägt. Die Zahl der Streiche richtet sich nach den Sünden, die sie vorher berichtet, und schwankt zwischen zehn und fünfundzwanzig. Die Hiebe werden teils auf den Rücken, teils auf das Gesäß ausgeteilt.

Ebenso wichtig wie die Flagellation sind für Erna aber Vorspiel und Nachspiel. Schon für die vorhergehende Beichte hat Erna ihr Kleid und ihre Strümpfe und Schuhe abgestreift. In dem als „Büßerhemd“ empfundenen Nachthemd kniet sie mit abgewandtem Gesicht neben einer alten Chaiselongue, auf der Arnold R. Platz genommen hat. Wie sie sagt, war „er als Person gewissermaßen gar nicht vorhanden“, und sie vergleicht seine Position mit der eines Beichtvaters, der unsichtbar, durch ein Gitter abgetrennt, als absolute Autorität das Ohr und die Stimme Gottes verkörpert.

In dieser äußerlichen und zugleich seelischen Situation also beichtet sie. Nur selten redet sie dabei von kleinen Betrügereien, die sie im Beruf oder beim Einkäufen begangen hat. Den ersten Platz nehmen immer sexuelle Gedanken ein — Sünden, die sie in Wahrheit nie zu begehen Gelegenheit hatte. Je nach der Intensität ihrer Wünsche bemisst R. die Strafe.

Nach deren Vollzug kniet Erna abermals vor ihrem „Beichtvater“ nieder, jetzt jedoch steht er vor ihr, und sie sieht ihm ins Gesicht. Er bestätigt ihr, dass ihre Sünden abgebüßt seien, legt ihr — gewissermaßen segnend — die Hände auf die Schultern und küsst sie auf die Stirn. Dann verlässt er das 'Zimmer. Sie kleidet sich an und geht, ohne ihn nochmals zu sehen.

Das Verhältnis bekommt mit der Zeit dadurch eine etwas andere Note, dass Ernas „sündige Gedanken“ sich nun auf den „Beichtvater“ richten. Sie beichtet ihm auch das, und die Strafen werden heftiger, ohne dass es etwa zu einem eigentlich „sexuellen“ Kontakt käme. Die seltsame Partnerschaft nahm dadurch ein Ende, dass Arnold R.s Frau unvermutet früh zurückkam und es entdeckte. Sie machte eine furchtbare Szene, aus der Erna entnahm, dass die Prügel für ihn vielleicht etwas anderes bedeuteten als für sie. Nur mit Mühe konnte R. seine Frau von der Inszenierung eines öffentlichen Skandals abhalten; Erna jedoch blieb fortan das Haus verschlossen. Der Verlust bewog sie, sich einem Berater anzuvertrauen.

Greifen wir zunächst einmal einen der letzten Sätze auf: dass „die Prügel für ihn vielleicht etwas anderes bedeuteten als für sie“. Nach den bisher üblichen Wertungen wäre diese Behauptung falsch; zweifellos handelte es sich für beide um eine sexuelle Ersatzaktion. Aber ebenso zweifellos sind die „Motive“ im Sinne dieser Untersuchung verschieden. Über Arnold R.s seelische Lage und seine Gründe für einen solchen „Ausweg“ haben wir allerdings nur Andeutungen erfahren. Man kann vermuten, dass er sich seiner Frau gegenüber in einem „Minderwertigkeitsgefühl“ befand, das er kompensieren musste; auch mag eine Art „Rache“ gegen ihre Kühle und Verständnislosigkeit im Spiele gewesen sein. Sein Typ in der „Welt der Flagellanten“ gehört wahrscheinlich eher in die Kategorie „Pascha und Sklave“ als in die von „Büßer und Richter“.

Immerhin mögen auch religiöse Einflüsse vorhanden gewesen sein, da er ja so gut auf Ernas Bedürfnisse eingehen konnte. Es fehlt jedenfalls ein endgültiger Beweis für den Verdacht, er habe sich ihren „Spielregeln“ bloß angepasst, weil er so ein bequemes „Opfer“ fand. Falls er nur eine Gelegenheit ergriffen haben sollte, würde das Drum und Dran, selbst die Reizlosigkeit der Partnerin, für ihn unerheblich gewesen sein; nur die Flagellation selbst hätte ihm etwas bedeutet.

Wie groß Gemeinsamkeiten und Unterschiede auch immer gewesen sein mögen, das Beispiel zeigt die Problematik vieler freiwilliger Flagellanten-Partnerschaften. Sie sind selten oder fast nie „totale“ Gemeinschaften, sondern betreffen nur den einen einzigen Aspekt der gemeinsamen Sexualabweichung. Nicht einmal diese ist wirklich gemeinsam, da die Motive verschieden sind, und entsprechend auch meist die eigentlich erwünschten Formen der Aktion. Es wird ein Kompromiss geschlossen, der keinen Teil voll befriedigt; es wird ein Gleichgewicht hergestellt, das sehr labil ist. Das sind einige der Gründe, warum solche Partnerschaften selten lange dauern, auch dann nicht, wenn nicht wie im Beispiel äußere Ereignisse dazwischentreten.

Erna N.s Motive sind jedenfalls von den religiösen Einflüssen bestimmt. Man könnte kaum unterscheiden, ob ihr Hang zur Religion und Askese ein Ausfluss der Tatsache ist, dass sie erotisch so wenig anziehend war und zur Liebe deshalb keine Gelegenheit hatte, oder ob nicht vielmehr die seelische Abwehr sie an erotischer Anziehung und Erfahrung verhindert hat. Schließlich gibt es ja sehr viele „unschöne“ Frauen, die erotisch großen Erfolg haben.

Aber was sie — ob äußerlich, ob seelisch verhindert — versäumte, kehrte zunächst in ihren Gedanken, dann aber auch in dem Wunsch nach Strafe dafür wieder. Statt der Sexualität wird deren Verhinderung und Bestrafung zur Lust.

Diese Zusammenhänge brauchen nicht erst tiefenpsychologisch erschlossen zu werden, sie gehen aus den flagellantischen Aktionsformen und deren offenkundigen Motiven hervor. Motive und Formen werden mit Hilfe einer „Komödie“ auf einen Nenner gebracht. Die „Spielregeln“ dieser Komödie drücken, gewissermaßen als Symbole, sehr gut die verschiedenartigen seelischen Antriebe aus, die zu gerade dieser Aktionsform führen.

Aus einer ihr im Grunde fremden Welt nimmt Erna die Form der unpersönlichen Beichte, weil sie nur in solcher Distanz fähig war, ihre sexuellen Gefühle preiszugeben. Die Klopfpeitsche mag sie an die — ebenfalls mehrsträhnige — Geißel der historischen Flagellanten erinnert haben. Selbst der Ort der Handlung, das karge Wirtschaftszimmer, erinnert sie womöglich an eine Klosterzelle. Aber hier, und durch das „Strafrequisit“ Nähmaschine, kommen noch andere Motive hinein: sie wird dadurch sowohl an ihre „dienende“ Stellung als auch an die Situation erinnert, in der sie ihren „Erlöser“ fand. Das „Büßerhemd“, die segnende Handhaltung ihres Beichtigers nach der Aktion, schließen dann wieder an die religiösen Vorbilder an. Der Kuss auf die Stirn endlich stellt eine „entsühnte“ erotische Handlung dar, möglicherweise in Erinnerung an väterliche Liebkosungen während der Kindheit.

In der ganzen Handlung liegt ein Anteil von Phantasie oder Theater, der die realen Vorgänge fast irreal erscheinen lässt. Dies ist, wie gesagt, bei flagellantischen Handlungen sehr oft der Fall, und manchmal lässt sich kaum noch ein Unterschied zwischen Handlungen und bloßen Vorstellungen feststellen. Im Grunde ist es bei Erna N. kaum der wirkliche Arnold R., der sie züchtigt, sondern der Mensch ist nur ein Werkzeug ihrer Phantasie, eine zufällige Verkörperung ihrer Gedanken.

Dasselbe lässt sich bei vielen männlichen Masochisten sagen, die einer geeigneten Prostituierten eine Rolle einstudieren, die die Partnerin nur scheinbar zur Überlegenen macht, in Wahrheit aber überhaupt keine echte Partnerschaft auf kommen lässt, sondern nur eine Art Selbstgespräch.

So hatte Richard H., ein unverheirateter Publizist und Vortragsreisender, der unermüdlich für die „vegetarische Weltanschauung“ warb, ein ständiges Verhältnis zu Selma M., einer ehrbar gewordenen Prostituierten, die einen vegetarischen Mittagstisch betrieb. Wie das gegenseitige Erkennen vor sich ging, weiß H., wie meist in solchen Fällen, kaum zu sagen. „Plötzlich war ich jedenfalls dabei, ihr zu beichten . . .“ erklärt er.

Der wesentliche Inhalt dieser Beichte war das Geständnis, dass er nicht fähig sei, sein Leben so rein zu führen, wie er dies seinen Idealen zufolge wünsche. Natürlich kämen für ihn, den aufgeklärten Mann, die Vorstellungen und Gebräuche der Religion nicht in Frage. Er habe sich schon oft vorgestellt, wie er seine missbilligten Begierden zugleich abladen und abbüßen könne.

Selma M., durch ihren früheren wie den jetzigen Beruf im Umgang mit „Sonderlingen“ erfahren, lud ihn unter einigen Umschreibungen zu einem „Versuch“ bei ihr ein. Sie hatte einige entsprechende Vorbereitungen getroffen, die sich jedoch schon bei seinem ersten Besuch als verfehlt erwiesen. Er sagte, er wolle sich zunächst nur aussprechen, und er entwickelte dabei einen Katalog von Vorstellungen oder vielmehr Vorschriften für jede weitere Zusammenkunft.

Die M. sollte sich dafür so „nuttenhaft“ wie nur möglich kleiden und zurechtmachen und dann alles tun, um ihn zu „verführen11. Sehr wahrscheinlich, so sagte er, werde er dieser Versuchung nicht allzu lange standhalten können. Dann aber müsse sie sich in eine (wörtlich:) Rachegöttin verwandeln, die ihn nur auf die Probe gestellt habe und ihn nun für sein Versagen betrafen werde.

Die Strafe solle immer mit einer Reitpeitsche, und stets auf die Unterhosen erfolgen, beides, um die „Erniedrigung“ zu betonen. Die Hiebe sollten solange fortgesetzt werden, bis er sich weder wehre, noch protestiere, noch auch laut jammere, sondern sich mit „Demut“ und „Dank“ in die Strafe gefunden habe. Tatsächlich steigerte er so das Ausmaß der Strafe von Mal zu Mal. Die Prozedur hinterließ regelmäßig Striemen, gelegentlich auch Platzwunden.

Eine sehr wichtige Rolle bei dem Zeremoniell spielten für H. die begleitenden Worte. So stellte er eine Liste von Schimpfworten auf, mit denen Selma ihn belegen sollte, darunter: Wüstling, geiler Hengst, Lustmolch, Weiberschänder; während allgemeinere Bezeichnungen wie Schuft, Lump usw. ihm nichts besagten. Auch liebte er es, wenn von „Züchtigung“, „Buße“, „Reinigung“ die Rede war statt von „Strafe“.

Es war verpönt, von „Verhauen“ oder „Schlagen“ zu reden, das Wort «prügeln“ war nur in dem Zusammenhang „. . . die Lüste (Sünden) herausprügeln . . .“ angängig.

Mit der Zeit fand die M. heraus, dass er das durch seine „Ergebung“ markierte Ende der Züchtigung nach dem Zeitpunkt bestimmte, in dem er zur Ejakulation gekommen war. So hat er bei ihr die Sexualität wirklich nicht nur abgebüßt, sondern auch abgeladen.

dass die Flagellation, wie Richard H. sie sich wünscht, nicht nur ein Sexualakt, sondern auch eine Sexualbuße war, geht nicht nur aus der ausdrücklichen Begründung hervor, sondern ebenso aus den Begleitumständen, die er vorschreibt. Diese Formen beweisen geradezu, dass die Begründung nicht irgendein Vorwand, sondern tatsächlich bestimmend war. Eine solche Relation zwischen Begründung und Form ist so häufig, um nicht zu sagen, so regelmäßig, dass man in Fällen, in denen ein Motiv nicht angegeben, vielleicht einmal bewusst bekannt ist, aus den Formen auf dieses Motiv wird schließen können.

Die Sexualbuße scheint in diesem Fall nicht, wie in den vorangegangenen, „religiös“ bestimmt zu sein. Aber dies ist ein trügerischer Schein. Welche Vernunftgründe man auch immer für einen Vegetarismus anführen mag, für Menschen wie Richard H. sind solche Anschauungen eine Ersatzreligion. Sie haben, wie die wirklichen Religionen, ein bestimmtes System von Dogmen zur Folge, die dem Menschen helfen, auch geistig-seelisch aufrecht zu halten, wie dies körperlich ein Korsett bewirken würde. Fast regelmäßig wird im Rahmen weltlicher Ersatzreligionen auch das Zeremoniell religiöser Gemeinschaften übernommen — so, wie aus einer Konfirmation eine Jugendweihe wird. Dies gilt für Richard H. mindestens insoweit, dass sich seine Vorstellungen von einer Buße kaum von denen der Sektiererin Erna N. unterscheidet.

In einem Punkt allerdings erscheint seine Fixierung beinahe entgegengesetzt. Während dort längst vorher und nur in Gedanken begangene Sünden gebeichtet werden, steht hier am Anfang die planmäßige Versuchung. Während dort der Beichtvater als ein Mensch höherer Art angesehen wird, ist hier der Partner eine Art Teufelin, auch in ihrer Funktion als „Rachegöttin“. Dieser Unterschied beruht aber nicht auf dem zwischen Jenseits- und Diesseits-„Religion“, sondern geht auf den Unterschied der Charaktere und Lebenssituationen zurück. Das wird schon daraus klar, dass in beiden Fällen die Partner ja nur ausführen, was sich das „Opfer“ ausgedacht hat. Die Partner-Aktion ist eine nach außen verlagerte Auseinandersetzung mit sich selbst.

Aber auch wenn ein Flagellant nicht selbst leiden, sondern den anderen leiden machen will, setzt er sich dabei mit sich selbst auseinander; er lässt oft genug diesen anderen statt seiner und für seine eigenen „Vergehen“ leiden. Dies zeigt nun ein Fall, der mit dem vorhergegangenen den Charakter der Prostituierten-Komödie gemein hat.

Walter U., 45 Jahre alt, hat eine führende Position in einem großen kaufmännischen Unternehmen. Unter anderem untersteht ihm das Büropersonal, also auch der Schreibmaschinensaal mit etwa 15 Stenotypistinnen. Während sich unter den „Sekretärinnen“, die bestimmten Herren ein für alle mal zugeteilt sind, auch ältere und oft äußerlich unscheinbare Frauen befinden, handelt es sich bei den Damen im Saal fast ausschließlich um junge Mädchen bis 25, und U. sorgt im allgemeinen dafür, dass nur hübsche Mädchen eingestellt werden.

Aber das scheint nur mit einem „ästhetischen Sinn“ zu tun zu haben, denn Walter U. hat niemals einer Angestellten erotische Anträge gemacht, würde nie mit den Mädchen auch nur „schäkern“ und behandelt sie alle gleichmäßig mit nüchterner, mühsam freundlicher und gelegentlich strenger Art.

Dies beteuert er jedenfalls selbst in glaubhafter Weise. Doch gibt er auch zu, dass seine Gefühle oft ganz anderer Natur sind. „Wie oft hat mich beim bloßen Durchgehen zwischen den Tischen ein prall gefüllter Pullover, aus einem ärmellosen Kleid herausschauende Härchen, ein neben den Stuhl gestelltes Bein bei hoch gerutschtem Rock, ein über den Sitz ausladender Popo, eine sehr gepflegte tippende Hand plötzlich erregt!“ gesteht er. „Aber ich hätte mir niemals erlaubt, das irgendwie anmerken zu lassen. Oft dachte ich, ich müsse rot geworden sein, oder besonders verwirrt und etwas geistesabwesend — und manchmal fürchtete ich sogar argwöhnische Seitenblicke auf meine Hose . . . Dann riss ich mich zusammen, machte wohl auch eine besonders scharfe Bemerkung über Arbeitstempo oder so, und verschwand schnell wieder aus dem Saal.“

Doch damit begann seine Beschämung erst eigentlich. „Für mich allein hielt ich mir immer vor, was ich doch für ein elender Kerl sei, mich durch so etwas von meiner Arbeit und all meiner Sachlichkeit ablenken zu lassen. Ich erinnerte mich dann auch, dass ich ja diese hübschen Mädchen selbst engagiert hatte, und zwar doch durchaus mit dem Unter Gedanken, mich von ihrem Anblick verführen zu lassen. Warum hatte ich nicht aus der immer gleichen Erfahrung längst die Konsequenzen gezogen, indem ich irgendwelche unansehnlichen Weiber engagierte, bei denen mir das nicht passieren könnte?“

Die Selbsterkenntnis hindert ihn jedoch nicht, schließlich den Frauen selbst die Schuld zu geben. „Sehen Sie, andere Chefs können sich ja nicht so gut im Zaum halten wie ich. Andere Tippmädchen erreichen ja durchaus, dass sich ihr Chef mit ihnen erotisch abgibt und bekommen ihn so unter die Fuchtel — nicht selten soweit, dass er ihretwegen die Gattin betrügt, sich scheiden lässt, die Sekretärin heiratet. Die Männer sind schwach, gewiss— aber die Frauen beuten die Schwäche aus. Auch die prallen Pullover und so, die mich erregten, waren doch eigentlich dazu da, Männer zu erregen .“

Nun liegt die Folgerung nicht mehr weit, dass die Frauen für diese Versuchung (die Walter U. in Wahrheit selbst provoziert) bestraft werden müssten. Angedeutet ist dies schon durch die „besonders scharfen Bemerkungen über Arbeitstempo und so“, zu denen er sich nach der eigenen erotischen Erregung veranlasst fühlt. Soweit dürfte dieser Fall ein sehr häufiges Muster für erotisch ansprechbare, zugleich aber arbeitsbesessene Männer in ähnlichen Berufsstellungen sein. Bei Walter U. indessen wächst aus dieser Situation flagellantische Aberration: Er hat eine „kultivierte“ Luxusdirne von noch sehr jugendlichem Aussehen ausfindig gemacht, die ihren Beruf in der eigenen, wohl ausgestatteten Wohnung ausübt. Sie entspricht nach seinen eigenen Worten sehr genau dem Mädchentyp, den er am liebsten auch anstellt: sehr schlank, hellblond, von zurückhaltendem, selbstbewusstem und stolzem Wesen, geistig beweglich, doch ohne „Intellekt“.

Durch hohes Entgelt und bestimmte Zusicherungen, ihr nicht „wirklich“ wehzutun, veranlasste Walter U. diese Prostituierte zu einer minutiös fixierten Komödie. Sie darf sich nicht besonders elegant kleiden, keinesfalls teuer anziehen, „wie ein Mädchen mit kleinem Gehalt, das sich auch für den Arbeitstag gern ein bisschen schick macht, aber nicht mehr“. Dann hat sie sich vor einen „Arbeitstisch“ an eine Schreibmaschine zu setzen, als wenn sie tippe; beide Requisiten hat U. eigens für diesen Zweck zur Verfügung gestellt.

Er kommt dann aus einem Nebenraum zu ihr herein und trifft sie untätig. Er macht ihr, durchaus in der Rolle eines Chefs, Vorwürfe, die sie durch Flirt und Herausstellen ihrer weiblichen Reize abzubiegen versuchen soll. Da packt ihn dann — sozusagen programmmäßig — die Wut, und er züchtigt sie für ihre „Unverschämtheit“ mit einem mitgeführten Lineal auf das Gesäß, wobei sie sich über den Stuhl legen muss.

Manchmal geht dieser Strafe voraus, dass er ihr die Bluse über dem „ungehörig aufreizenden Busen“ aufreißt. Nach der Strafe hat sie beschämt — und gegebenenfalls provisorisch wieder verhüllt — scheinbar an die Arbeit zu gehen; er geht zufrieden von dannen. Über das Lineal als Straf Instrument sagt er, dass ihm das „ungeschmeidige Ding eigentlich nicht besonders gefällt“, aber ein Lineal sei nun einmal das einzige Instrument, das auch in der wirklichen Arbeitsumgehung „vernünftigerweise“ zur Verfügung stehen würde.

Dieses Detail zeigt besonders deutlich, dass er in der Komödie abreagiert, was er in der Wirklichkeit nur wünschen darf. Es mag nun besonders abwegig erscheinen, dass jemand eine solche Komödie nicht nur inszeniert, sondern sie trotz besseren Wissens gewissermaßen auch „glaubt“, aber die Sexualabweichung liegt doch bereits im Wunsch und nicht erst in der halbillusionären Verwirklichung.

In seinen Wunschvorstellungen schon, und in ihnen viel eindeutiger als in der Prostituierten-Komödie, handelt es sich um eine Art von Sexualität, die Behinderung und Bestrafung der Sexualversuchung ist. Walter U. will die Versuchung, der er immer wieder zu erliegen droht, die er ja — insofern ein Masochist — heraufbeschwört, freilich nicht an sich selbst bestrafen, sondern misst Schuld und Strafe der Frau, der „Hexe“ zu. Er projiziert seinen eigenen „inneren Schweinehund“ in den eigentlich unschuldigen anderen und straft die eigene Sexual-„Schuld“ in ihm.

Der Unterschied dieses Falles zu den bisher erörterten scheint darin zu liegen, dass hier nun nicht mehr von irgendwelchen religiösen oder weltanschaulichen „Heils-“ und „Sünde“-Vorstellungen die Rede sein könne. Aber es handelt sich nicht um etwas völlig Anderes, sondern nur um eine graduelle Verschiebung. An Stelle von missionarischen Ideen ist die Arbeit getreten; sie gibt das moralische Maß für sexuelle Verbote, die sie ungestört lassen sollen. Nicht irgendeine Art Priester, kein von außen herangetretenes Dogma, sondern der eigene Ehrgeiz gerät in Widerspruch zu den Sexualwünschen.

Aber genau wie bei religiösen Sexualverboten wird auch hier die Sexualverhinderung zu einer neuen, pervertierten Sexualität. An der Form, die Walter U. für die Verwirklichung seiner „Strafideen“ wählt, fällt auf, dass er die Komödie seiner Arbeitswelt möglichst genau anpasst — so, wie in den eigentlich religiös bestimmten Fällen Requisiten und Ritualien aus der religiösen Welt verwendet werden. Der Zwang zu einer solchen Angleichung geht soweit, dass auch eigentlich „unbefriedigende“ Requisiten, die echt erscheinen, angenehmeren, aber unechten vorgezogen werden.

Die Angleichung der gekauften „Partnerin“ an die Mädchen, wie sie Walter U. „auch sonst“ vorzieht, führt allerdings noch etwas tiefer. Denn warum wählt er im Büro gerade solche Mädchen, warum erregen gerade sie ihn? Es gibt doch so viele durchaus andersartige Frauentypen, die erotisch nicht weniger interessant sein könnten! Könnte man erfahren, unter welchen Umständen und wann Walter U. dieses „Idol“ angenommen hat, würde man vielleicht auch mehr darüber wissen, wie er in sein Dilemma zwischen Arbeitsehrgeiz, Sexualversuchung und Sexualbestrafung geraten ist. Aber in diesem Fall ist nicht bekannt, wie lange er schon gerade diesen Ideen nachhängt, oder ob sie sich vielleicht gar relativ spät, nämlich erst in diesem Stadium seiner beruflichen Laufbahn entwickelt haben.

Deutlich wird die Entwicklung einer lebenslänglichen Perversion bei einem Manne, der mit 40 Jahren, kurz nach seiner endlichen Heirat, Selbstmord verübt hat. Er hinterließ einen umfangreichen erklärenden Abschiedsbrief. Darin heißt es unter anderem: „Die Ehe, von der ich mir eine endliche Rettung aus meinem Elend erhofft hatte, hat mich nur noch tiefer in mein Unglück gestoßen. Jetzt weiß ich endgültig, dass es eine Erlösung für mich nur auf diesem Weg gibt. Du, die Du unwissend Dein Bestes getan hast, wirst diesen Abschied nicht begreifen, denn bis jetzt weißt Du nicht das Entscheidende von mir. Es gehört zu meiner unseligen Bürde, dass ich Dir niemals etwas darüber sagen konnte. Erst jetzt, da ich weiß, dass ich alles, was ich sage, mich nicht mehr wird belasten können, kann ich darüber sprechen, und ich habe das Gefühl, dass ich Dir wenigstens eine Erklärung schulde, damit Du weißt, dass Du Dir jedenfalls keine Vorwürfe zu machen brauchst. Du hast keine Schuld, und ich —? Nein, auch bei mir liegt sie nicht, vielleicht hat niemand Schuld, es ist alles Schicksal.. " Dieser etwas pathetische Ton, dieses Gefühl, eine Schicksalsbürde zu tragen, dieses Abschieben der Verantwortung auf die Umstände, diese Offenbarung erst zu einer Zeit, als niemand ihn mehr belasten kann, das vorhergegangene lebenslange Schweigen und Abkapseln sind bereits typische Merkmale für diesen Mann. Aber seine Erklärung ist doch nicht nur ein Vertuschen eigener Schuld, sondern leuchtet tatsächlich tiefer, als es in anderen Fällen möglich war, in die Ursachen einer — hier lebenszerstörenden — Perversion hinein.

„Ich habe Dir von meiner Herkunft und meiner Entwicklung, bevor wir uns kennen lernten, stets nur soviel erzählt, dass Du nicht argwöhnisch werden konntest“, fährt der Selbstmörder fort. „Ich habe Dir immer gesagt, dass ich in ordentlichen Verhältnissen auf gewachsen bin, und das ist auch richtig. Du weißt, dass mein Vater Kaufmann, Kirchenvorsteher und ein strenger Mann war. Du kennst auch meine Mutter aus meinen Schilderungen als eine vorbildliche Frau. Aber was Du nicht weißt, und was ich Dir schwer hätte erklären können, ohne mich unzähligen Einwänden auszusetzen, auf die ich kaum etwas zu erwidern gewusst hätte: mein Vater war ein zu strenger, meine Mutter eine zu vorbildliche Frau.“

Mit der Furcht vor den Einwänden und der Unfähigkeit auf sie einzugehen, gesteht der Verfasser des Abschiedsbriefes abermals seine Unfähigkeit zum Kontakt und zur zweiseitigen Auseinandersetzung ein. Auch in seiner ersten und zugleich letzten Offenbarung spricht er ja im Grunde nur mit sich selbst.

„Meine Eltern haben vor den Augen einer kleinen, argwöhnischen Gemeinde stets ein in allen Punkten sauberes Leben geführt. Wenn ich später so oft bemerkt habe, dass Geschäftsleute zu ihrem Vorteil gern ein wenig schwindeln. und ihnen dies auch kaum jemand wirklich übel nimmt, dann habe ich mich im Nachhinein manches Mal gefragt, wie meine Eltern dergleichen vermieden haben, obwohl doch ihr Ladengeschäft so gut florierte. Aber niemals habe ich mich an irgendeine zweifelhafte Handlung meiner Eltern in ihrem Geschäftsgebaren erinnern können. Niemals wurde natürlich irgendeine Andeutung über geschlechtliche Dinge gemacht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie meine Eltern es über sich gebracht haben sollen, den Geschlechtsakt zu vollziehen, aus dem ich doch entstanden sein muss. In späteren Jahren, als ich über die Entstehung des Lebens Bescheid wusste, hatte ich sogar manchmal das Gefühl, dass meine Eltern mich ansahen, wie man den Beweis einer Sünde ansieht. Ich habe keine Geschwister, und ich bin überzeugt, dass meine Eltern nach meiner Geburt eine Art Josefehe geführt haben.“

Die religiöse Vorstellung, dass Geschlechtlichkeit — und demzufolge auch das eigene Leben Sünde, „Erbsünde“, sei, ist hier also von der Erziehung her besonders stark ausgeprägt. Aber man darf diesen Faktor doch nicht einseitig als Umwelt-Bedingung an- sehen; es liegt vielmehr nahe, dass die Eltern dem Sohn einiges von den Eigenschaften, die sie zu ihrer eigenen Lebensform trieben, vererbt haben. Wie wichtig das eine oder das andere ist, wird sich weder in diesem Einzelfall noch allgemein jemals entscheiden lassen. Die Idee, alles mit einem der beiden Faktoren erklären zu können, ist jedenfalls falsch.

„Die einzige Form, in der ich vom Geschlechtsleben erfuhr, war die von Verurteilungen anderer, die ,Fehltritte' begangen hatten. Aber auch dann wurde von Einzelheiten nie geredet, sondern nur ein summarisches Verdammungsurteil gefällt, nicht ohne den Hinweis, dass die Sünder entweder ihre Strafe schon erhalten hatten oder sie über lang und kurz noch erhalten würden. Mitleid mit dem Unglück unehelicher Mütter wurde als Vorschubleistung für Verfehlungen schroff abgelehnt.

Zwischen meinem zehnten und fünfzehnten Jahr habe ich mich nun so hingebungsvoll bemüht, dem Leben und den Lehren meiner Eltern und ihrer wenigen, ebenso vorzüglichen Freunde nachzueifern. Ich habe mich so sehr wie sie von allen Menschen zurück gehalten, deren Lebenswandel nach Meinung meiner Eltern abgelehnt werden musste. Aber damit vereinsamte ich immer mehr, denn die Kinder selbst der ehrbaren Leute liebten die Strenge und Bravheit doch durchaus nicht und taten alles, um heimlich etwas ,auszufressen'. Meine Alterskameraden heuchelten ihre Bravheit nur und warfen mir vor, ich sei gar zu muster- und streberhaft.“

Wieder fällt der Zug zur Isolierung auf. Sie ist, abgesehen von der eigenen Veranlagung, die bisher noch nicht völlig deutlich geworden ist, bedingt durch die Ablehnung der Außenwelt nicht nur, sondern auch durch die strenge Kühle des Elternhauses. Die Wärme und Liebe, die der Mensch braucht, kann nun nirgends woanders mehr herkommen als aus dem eigenen Ich, es sei denn, der Betroffene wäre fähig, aus dem Käfig zu fliehen, in den ihn seine Erziehung verbannt hat. Schon in der Entscheidung, ob ein Mensch das Leben nach dem Elternvorbild oder im bewussten Protest dazu gestaltet, ist ein Moment, das sich nicht durch einseitige Milieu-Theorien erklären lässt.

Aber die Versuchungen, denen der Heranwachsende ferngehalten werden soll und auch selbst ausweichen will, kommen nun von Innen, und auf sie ist er nicht vorbereitet. „Eines Morgens entdeckte ich in meinem Bettzeug seltsame Flecken“, heißt es darüber, „und dann entsann ich mich auch wilder, wollüstiger Träume. Irgendwelche Bilder, die ich in der Zeitung, auf Plakaten, in Kinoschaukästen, in Schaufenstern gesehen haben musste, erschienen mir nun öfter, ins Albtraumhafte verzerrt, zu Orgien, die ich nie erfassen konnte, gesteigert, im Schlaf. Und nicht nur im Schlaf, sondern auch, ich einschlafen konnte, oder nachts, wenn ich auf wachte . . . Dann hing ich diesen Bildern weiter nach, versuchte, sie deutlicher zu gestalten, verknüpfte mit ihnen bestimmte Personen, die ich wirklich kannte, vor allem Frauen und Mädchen. Ich wehrte mich, so gut ich konnte gegen das, was auf mich einstürmte, erlag aber zugleich der Versuchung, die gefürchteten Bilder eigens zu beschwören. Das war eine doppelte Qual, und in der Qual eine doppelte Lust.

Ich bin ganz von selbst darauf verfallen, zu onanieren, und auch dies war nicht nur eine Verteidigung gegen meinen Körper, der auf begehrte, nicht nur eine Entladung der Lustvorstellungen, sondern auch wiederum eine neue Qual, eine Selbstbestrafung durch den Ekel, den ich danach durch die körperliche Beschmutzung und das Gefühl meiner Sünde empfand.“

Schon die Onanie ist hier, ganz unabhängig von den Vorstellungen, die sie begleiten, eine Lustqual, ein autistischer Masochismus. Keine noch so strenge, noch so isolierte Erziehung kann das Aufschießen der Sexualkräfte während der Pubertät verhindern. Die Sexualentladung ist naturnotwendig, und nur durch hervorragende geistige Kräfte im Zusammenhang mit bewusster, erkennender Kontrolle kann sie ausnahmsweise durch Sublimierungen ersetzt werden. Hier aber konnten solche geistigen Kräfte noch gar nicht entwickelt sein, und es fehlte vor allem die Erkenntnis dessen, was da vorging. Falls Erzieher glauben, das Kind vor Versuchungen schützen zu müssen, so sollten sie auf diese Versuchungen rechtzeitig hinweisen und den jungen Menschen dagegen zu stählen versuchen. Wenn sie das Kind aber, wie in diesem Fall, in völliger Unkenntnis über das lassen, was ihm während der Pubertät und später bevorsteht, dann kann dies kaum anders ausgehen als in einem Verfallen an gerade das, was ausgeschaltet werden sollte.

Aus dem zuletzt zitierten Briefabsatz geht auch einmal besonders deutlich hervor, dass keine Isolierung vor den Versuchungen der Außenwelt völlig zu schützen vermag. Man kann die Bücherschränke im Hause, das Gespräch am Familientisch, den näheren Umgang kontrollieren und abriegeln — aber man kann nicht die Straßen, die Plakate, die Schaufenster verhängen. Es ist ein großer Irrtum der Moralisten, wenn nicht eine Irreführung, die Schuld an unglücklicher Sexualentwicklung immer wieder bei speziell „erotischen“ Büchern, Filmen, Zeitschriften, Bildern oder gar bei sexualwissenschaftlicher Literatur oder Pornographien zu suchen ist. Sexualwissenschaftliche Literatur und Pornographien kommen meist erst in die Hand derjenigen, die schon bewusst suchen, die also schon verwirrt sind — oder die Verwirrung überstanden haben. Das gleiche gilt im gewissen Umfange auch für die so genannte erotische Literatur. Aber erotische Themen und Motive in der Tagespresse, in der harmlosen Literatur, im Straßenbild sind nicht zu umgehen, und sie können in der vergrößernden Phantasie des sexuell künstlich ausgehungerten, sexuell unwissenden jungen Menschen erst recht Verheerungen anrichten. Dies geht auch aus dem weiteren Verlauf der Beichte klar genug hervor.

„Ich verachtete mich für meine Sünden, die der Gedanken und Träume, wie die der heimlichen Taten. Ich fragte mich, oh andere, bessere Menschen auch unter solchen Versuchungen zu leiden hätten, und wie sie wohl dagegen angekämpft haben mögen. Ich begann die Geschichte der Heiligen zu studieren, und sicher freuten sich meine Eltern, dass ich mich nun diesen Büchern so eifrig zuwandte. Ich erfuhr, dass viele dieser heiligen Männer und Frauen den Teufel abgewehrt haben durch Wachen, Hungern und Selbstgeißelung. Ich beschloss, ihnen nachzueifern.“