Klimakrisen - John von Düffel - E-Book

Klimakrisen E-Book

John von Düffel

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Beschreibung

Die Klimakrise ist eine Vielfachkrise. Sie zerstört nicht nur unsere Ökosysteme, sondern fordert auch unsere Wirtschaft, Politik, Werte und Psyche in gewaltigem Maße heraus. »Das historische Unterfangen der Moderne ist abgedriftet, hat Freiheitsversprechungen kultiviert, die einem ungedeckten Scheck gleichen, weil ihnen jede materielle Basis fehlt. Was als zivilisatorischer Fortschritt gefeiert wird, beginnt sich selbst zu widerlegen. Faktisch wird der Mehrung von Wohlstandssymbolen ein Vorrang gegenüber dem langfristigen Überleben der Spezies Mensch eingeräumt.« Prof. Niko Paech, Ökonom & Nachhaltigkeitsforscher »Wer jetzt schon existenzielle Sorgen hat, die den Kopf füllen, der wird sich selbst bei voller Anerkennung der Bedrohung durch die Klimakrise kaum in der Lage sehen, hier »einfach mal« das individuelle Konsumverhalten umzustellen … es [geht] bei vielen Menschen gar nicht um den Verzicht auf nicht unbedingt notwendigen Luxus …, sondern um drohende spürbare Entbehrungen: ›Im Grunde sorgen sich die einen um das Ende der Welt und die anderen um das Ende des Monats‹« Dr. Felix Peter, Psychologists für Future »Offensichtlich ist unser Verhältnis zur Zukunft derzeit trotz der Vielfachkrisen nicht pragmatisch, sondern phlegmatisch. Das, was uns fehlt oder bereits vernichtet worden ist, erscheint uns mit zunehmender Gewöhnung entbehrlich. Nach dem, was uns fehlt, ernsthaft zu suchen, wäre ein Eingeständnis von Mangel und gerade damit für die Politik riskant. Es weckt die noch komatösen Hunde.« Prof. Dr. Gert Scobel, Philosoph »In einer technisch konstruierten und naturvergessenen Zivilisation geht Naturverlust auf Kosten der Ärmsten und Schwächsten, was die gesellschaftliche Stabilität untergräbt.« Prof. Jürgen Scheffran, Klimawissenschaftler

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Veröffentlicht im Trabanten Verlag

Berlin, Oktober 2022

Copyright © 2022 by Trabanten Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Maximilian Kesslau

Druck und Verarbeitung: CPI books GmbH

ISBN: 978-3-98697-011-6

eISBN: 978-3-98697-013-0

www.trabantenverlag.de

KLIMAKRISEN

9 Perspektiven

INHALT

John von Düffel – Die toten Fische vom Landwehrkanal

Prof. Gert Scobel – Krisen im Nichtentwicklungsland

Dr. Felix Peter – Psychologische Perspektiven auf eine Gleichzeitigkeit zur Unzeit

Prof. Niko Paech – Von der Nachhaltigkeitssimulation zur Postwachstumsökonomie

Prof. Jürgen Scheffran – Die Gewalt der Natur: Klimawandel zwischen Unsicherheit und Frieden

Sevde Kolukisaoglu – Ihr Alltag, unser Albtraum

Prof. Jürgen Tautz – Honigbienen, Kipppunkte und wir Menschen

Gregor Gysi – Soziale Verantwortung und internationaler Interessenausgleich

Julian Zuber – Tagebucheintrag des 17. August 2022

John von Düffel

(Dramaturg und Schriftsteller)

DIE TOTEN FISCHE VOM LANDWEHRKANAL

Das Wasser brennt. Daran werden wir uns gewöhnen müssen. Das »Feuerauge«1 im Golf von Mexiko ist nur eine der spektakulärsten Katastrophen in der Chronik des brennenden Wassers des Jahres 2021. Dort hatte ein Gasleck in einer Unterwasserpipeline vor einer Bohrinsel der Ölförderanlage Ku-Maloob-Zaap2 das Meer in Brand gesetzt. Das war Anfang Juli. Anfang Juni brannte ein mit Chemikalien beladenes Container-Schiff, die »X-Press-Pearl«3, vor Sri Lanka und versank samt 25 Tonnen hochgiftiger Chemikalien, darunter Salpetersäure, und Mikroplastikgranulate zur Herstellung von Kosmetika. An den Stränden werden seitdem unzählige tote Fische und Meeresschildkröten angespült mit Unmengen kleiner Plastikkügelchen. Das scheint nachrichtlich bereits Vergangenheit zu sein, ist es aber nicht. Das ökologische Gedächtnis mit seinen eng verbundenen Kreisläufen und Nahrungsketten vergisst nicht. Auch den kritischsten Köpfen hierzulande fehlt mitunter die Kraft, sich täglich aufs Neue mit der nächsten Katastrophe in der Reihe auseinanderzusetzen und die übrigen nicht zu vergessen: das Verbrennen des gespeicherten grünen Wassers der Wälder unter den Hitzeglocken und Feuerwalzen in British Columbia, in Russland, in Kalifornien, in Griechenland und der Türkei. Das Staccato der Extreme und das serielle Entsetzen lassen den meisten von uns im Alltag nur die Wahl zwischen Ausblenden oder Abstumpfen, eine Art innere Kapitulation vor dem medialen Daueralarm. Doch ich erinnere mich noch sehr gut an das erste Mal, als ich vom brennenden Wasser hörte und meine Schulweisheit, dass Wasser nicht brennt, auf den Kopf gestellt wurde.

Am 10. Juni 2017 erschien auf Spiegel online ein Bericht über die Umweltsituation in Indien mit dem folgenden Absatz: »Der Bellandursee ist die apokalyptische Sehenswürdigkeit von Bangalore: Das größte Gewässer der Stadt ist so verschmutzt, dass die Chemikalien und Abfälle darin immer wieder Feuer fangen. So im Februar, dann wieder im Mai. Zwölf Stunden lang loderten die Flammen, und Rauch stieg über der Stadt auf. Indiens drittgrößte Stadt, eigentlich bekannt als Silicon Valley des Landes, macht einem neuen Namen alle Ehre: Bangalore, Stadt der brennenden Seen.«4

Für mich als leidenschaftlichen Schwimmer und Wasser- Autor war das ein echter Schock. Und es beruhigte mich wenig zu erfahren, dass dieser See nur unter bestimmten Wetterbedingungen in Flammen steht. Wenn es regnet, schäumt er, und zwar nicht zu knapp.

Schaummassen drängen wie aus einer kaputten Waschmaschine über die Ufer in die Stadt und verstopfen die Straßen, so dass die wichtigsten Verkehrsadern mit Palisaden und Sperrzäunen geschützt werden müssen, um befahrbar zu bleiben. Auch das ist keine Horrorstory, es ist Alltag in Bangalore.

Aber Indien ist weit weg. Und es scheint, als könnte man sich einigermaßen guten Gewissens sagen: »Das ist bei uns nicht möglich. In Deutschland gibt es Gewässerschutz, Abwasserrecht, Schadstoffkontrollen. Unser Wasser kann nicht brennen!« Allerdings ist das nicht nur ein schwacher Trost, sondern leider auch falsch. Denn seither folgt ein Extremsommer dem anderen – und siehe da, auch hier brennen nicht nur die Wälder, sondern auch das Wasser. Es verdunstet in einem Umfang und mit einer Geschwindigkeit, dass aus dem wald- und wasserreichen Land in Mitteleuropa, das auf den meisten Karten noch als grüner Fleck erscheint, binnen kürzester Zeit ein von Dürrestreifen und Trockenrändern durchzogenes ökologisches Krisengebiet geworden ist. Vergleicht man die Luftbilder von Berlin-Brandenburg der letzten fünf Jahre, kann man von Sommer zu Sommer beobachten, wie die Wasserflächen schrumpfen und die Versteppung Brandenburgs voranschreitet. Auf den Punkt bringt es ein FAZ-Cartoon vom letzten Dürresommer, der zwei Beduinen zeigt, die sich schwitzend und mit heraushängenden Zungen durch die Wüste schleppen, wobei der eine dem anderen zuhechelt: »Noch drei Kilometer bis Potsdam!«

Für die Politik bedeutet das ein fundamentales Umdenken. Seit Jahrtausenden, von den ersten Urbarmachungen über Theodor Storms »Schimmelreiter« bis zum Städtewachstum von heute, wird in Hochwasser- und Überflutungsszenarien gedacht. Das Zurückdrängen des Wassers, seine Beherrschung und Domestizierung sind Teil der gedanklichen DNA dieses Landes. Entwässerung und Trockenlegung gehören zur landwirtschaftlichen und städteplanerischen Praxis seit unzähligen Generationen. Die Leitungs- und Kanalsysteme sind auf hohen Wasserverbrauch und Durchfluss ausgelegt. Bis vor wenigen Jahren hat niemand ernsthaft über Strategien des Haltens und Haushaltens mit Wasser nachgedacht. Die dringend erforderliche Wasserwende trifft die meisten Länder und Kommunen völlig unvorbereitet. Doch ihre Zukunft wird genau davon abhängen. Wir haben nicht nur ein CO2-Problem, wir haben ein mindestens ebenso großes H2O-Problem.

Der Wasserbrand ist anders als viele andere Kennziffern des Klimawandels keine abstrakte, rein wissenschaftlich messbare Größe. Er findet konkret statt, hier und heute vor unseren Augen. Und er beeinflusst unser Leben unmittelbar. Immer häufiger muss die Binnenschifffahrt wegen Niedrigpegelständen aussetzen5, muss die Entnahme von Oberflächenwasser zum Rasensprengen oder Bewässern von Feldern verboten werden (nicht zuletzt zwecks Vorhaltung von Löschwasser). Die Kinder im Planschbecken und der Familienvater beim Autowaschen – diese idyllischen deutschen Sonntagsbeschäftigungen gehören der Vergangenheit an. Indirekte und direkte Wasserrationierungen sind nicht nur eine Frage der Zeit, sondern in manchen Gegenden schon Realität.

Während die Seen in Brandenburg Sommer für Sommer weiter austrocknen und verlanden, nimmt der Stress für das immer weniger werdende Wasser zu. Jede Kippe in der Havel, jeder E-Roller in der Spree ist ein weiterer gedankenloser Schritt auf dem Weg der Wasservernichtung (Aus dem Rhein wurden kürzlich 500 dieser rollenden Batterien gezogen6 – die versenkten Fahrräder aus der Zeit vor der sogenannten Verkehrswende waren umweltfreundlicher). Die zunehmende Wasserknappheit ist weder in unserem Konsumverhalten noch im gesetzlichen Regelwerk eingepreist. Die Grenzwerte für Abwasser und landwirtschaftliche Nitrat- und Phosphat-Einträge sind für Wassermengen und Kreisläufe dimensioniert, die so kaum noch gegeben sind. Die Konzentration im Restwasser steigt, ebenso wie die Wassertemperatur. Ein Teufelskreis: Denn je wärmer das Wasser, desto geringer sein Sauerstoffgehalt. Somit ist die Erderwärmung auch eine Wassererwärmung und Sauerstoffreduktion, die das Leben und den Artenreichtum im Wasser bedroht.

Davon merkt auch der Hauptstädter etwas, wenn er im Sommer die Badehose einpackt und an den See fährt. Das Wasser ist zwar »schön warm«, aber auch ziemlich tot. Und bevor er den Ölfilm aus Sonnenmilch am Badestrand durchschwimmt, sollte er sich vergewissern, dass in der nährstoffübersättigten, warmen Brühe nicht schon die Blaualgen blühen.7 Auch der gelegentliche Starkregen macht die Sache nicht besser, im Gegenteil. Die massiven Niederschläge können vom Boden nicht aufgenommen werden und schwemmen nur noch mehr Nährstoffe in die Flüsse und Seen, nebst Zigarettenkippen, Exkrementen und Müll, was die Verschmutzung und Verlandung weiter beschleunigt. Der Regen – in der extremen Form, die er in den letzten Jahren angenommen hat – ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

Das zeigt nicht zuletzt die sogenannte Jahrhundertflut in NRW und Rheinland-Pfalz, die nur die Kehrseite der Dürre ist und das andere Extrem, das unser Leben in Zukunft mitbestimmen wird. Diese Flutkatastrophe ist nicht nur eine gigantische Zerstörung durch Wasser, sondern auch eine gigantische Zerstörung von Wasser.8 Die Verseuchungen und Kontaminierungen durch ausgelaufenen Treibstoff, Chemikalien, Plastik und Müll erreichen die Dimensionen der Wasservernichtung durch die »X-Press-Pearl« vor Sri Lanka. Davon ist medial wenig die Rede. Dabei sollten wir uns angesichts der Fixierung auf das Ziel der CO2-Neutralität allenthalben langsam fragen: Was nützen sämtliche Klimamaßnahmen, wenn wir der nächsten Generation verbranntes Wasser hinterlassen?

Es sind sehr traurige und wütend machende Zeiten für all jene, die das Wasser lieben. Trotzdem kann ich es auf meinem mehr oder weniger täglichen Weg am Berliner Einsteinufer entlang nicht lassen, mit Anglerblick nach den Fischen im Landwehrkanal Ausschau zu halten. Es gibt sie – das ist die gute Nachricht und keine Selbstverständlichkeit für einen von der Spree gespeisten Abwasserkanal, der mitten durch die Hauptstadt fließt.

Nun liegen die Jahre, in denen ich mit einer Angel in der Hand die Ufer meiner Heimatflüsse auf und ab gestiefelt bin, lange zurück. Doch noch immer habe ich den Ehrgeiz herauszufinden, wo die Fische stehen. Nie werde ich vergessen, wie es früher war, abends am Wasser in der blauen Stunde, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, wenn die Fliegen und Mücken auf der Wasseroberfläche tanzten und alles Leben im Fluss sich plötzlich erhob. Es war der Moment, in dem ich immer die Angel beiseitegelegt habe, um den Forellen beim Steigen zuzusehen, ihren schmetternden Flossenschlägen und den Wasserringen, die sie hinterließen beim Wiedereintauchen in den Strom. Es sind – aus Gründen, die ich selber nicht verstehe – die schönsten Erinnerungen meiner Kindheit. Zu meiner großen Überraschung höre ich an einem Montagmorgen im Juli dasselbe peitschende Geräusch am Landwehrkanal in Berlin: Schon beim Einbiegen auf den Uferweg erkenne ich das Schnalzen der Flossenschläge über dem Fluss. Das kann eigentlich nicht sein. Um diese Zeit, in diesem Wasser springen keine Fische, erst recht nicht so viele – es sind mindestens drei oder vier, die über die Oberfläche flippern, zwei kleinere Barsche und ein größerer. Vielleicht ist sogar ein Hecht dabei. Dann im Näherkommen sehe ich, dass etwas ganz und gar nicht stimmt: Es sind nicht die ersten Fische, die steigen, sondern die letzten. In der gemächlichen Strömung des Landwehrkanals treiben lauter tote Karpfen und Brassen, stattliche Tiere, die meisten konvulsivisch verkrümmt und gewunden mit abgespreizten Flossen, einige wenige in friedlicher Resignation erschlafft, die weißen Bäuche nach oben. Bleich und gedunsen treiben sie zwischen Blätterschatten und Wolkenspiegelungen dahin.

Ich laufe ein paarmal das Ufer auf und ab, entdecke einen Mann vom Grünflächenamt und spreche ihn an. Er zuckt berlinerisch die Achseln und erklärt mir, dass er für den Rasen zuständig ist, nicht fürs Wasser. Eine Joggerin bleibt kurz stehen, starrt eine Weile, läuft weiter. Eine Studentin tritt ganz nah ans Ufer und macht Fotos mit ihrem Handy. Ich warte, bis sie fertig ist, dann tue ich es ihr gleich. Es treiben immer mehr Fischleichen heran, Rotfedern und ein unterarmgroßer Hecht, tatsächlich. Einige verfangen sich in den Ästen und Zweigen, die ins Wasser ragen. Es ist ein schöner, sonniger Montagmorgen. Vor kaum einer Woche ist hier an dieser Stelle noch jemand durch die Stadt geschwommen.

Ratlos laufe ich weiter hin und her und nehme zum ersten Mal bewusst eine Schrifttafel wahr, an der ich seit Jahr und Tag achtlos vorbeigelaufen bin. Auf ihr steht: »Nach der EG-Wasserrahmenrichtlinie soll im nächsten Jahrzehnt ein guter ökologischer Zustand der Gewässer erreicht werden.« Da es »EG« und nicht »EU« heißt, handelt es sich offenbar um eine ältere Tafel, das besagte Jahrzehnt müsste schon länger vorbei sein. Schwarz auf weiß wird dann sehr korrekt beschrieben, dass es bei starkem Regen und hohen Temperaturen durch den Eintrag von Nähr- und Schadstoffen zu vermehrtem Algen- und Wasserpflanzenwachstum kommt. »Durch den angekurbelten Stoffwechsel kann der Sauerstoff im Wasser vorübergehend knapp werden«, heißt es weiter in wissenschaftlicher Gemütsruhe. Mit anderen Worten: Die Fische ersticken im Wasser. Sie springen nicht, um nach Mücken oder Fliegen zu schnappen, sondern weil sie in ihrem Element keinen Sauerstoff mehr bekommen. Auch das ist eine Art, wie das Wasser brennt: Wasser ohne Sauerstoff, Wasser wie Asche.

Ich lese den Text ein paarmal, unkonzentriert angesichts des Fischsterbens, das keine drei Meter entfernt im Wasser stattfindet, und weil ich mich frage, welche Schautafeln wir demnächst noch aufstellen werden: dass es bei Wäldern aufgrund der Trockenheit zu Bränden kommen kann, bei denen die dort heimischen Tiere vorübergehend mit verbrennen; oder dass die Felder, auf denen mal etwas gewachsen ist, vorübergehend erodieren? Aber ich will dieser Tafel nicht unrecht tun, schließlich hat sie das Sterben nicht verursacht, sie versucht nur, es zu erklären.

Sie endet übrigens mit dem Satz: »Der Klimawandel und die geringe Wassermenge in der Spree sind ein Problem für die nächsten Jahrzehnte.« Das ist eine sehr richtige Feststellung, in der Tat. Denn mit einem Mal wird mir klar, was hier eigentlich schiefläuft. Die toten Fische im Landwehrkanal haben einen verheerenden Fehler gemacht: Sie haben nicht lange genug auf die Politik gewartet.

Prof. Gert Scobel

(Philosoph)

KRISEN IM NICHTENTWICKLUNGSLAND

I. Normalität und Schock

Was wir normal nennen, ist lediglich die Abwesenheit von Schock. Alarmiert sind wir, wenn wir schockiert sind. Ansonsten herrscht mehr oder minder entspanntes, automatisiertes Handeln vor, dessen ideale Form es ist, gar nichts zu tun und nicht handeln zu müssen. Komatöser Leerlauf ist das, was den meisten von uns am ehesten entspricht. Wer jedoch einen Schock erlebt hat, fühlt sich zumindest für eine gewisse Zeit, manchmal sogar für das gesamte weitere Leben aufgerüttelt und im Extremfall wie durch eine gläserne, aber undurchdringliche Mauer getrennt vom vorausgehenden Leben. Das Leben wird zu etwas, das um einen herum passiert, ohne dass man beteiligt wäre. Auch das ist eine Form von Leerlauf. Es scheint, als könne das eigene Handeln nichts mehr bewirken. Wer unter Schock steht, fühlt sich vom »normalen«, problemlosen Alltag, aber auch vom »normalen« Leben der Anderen wie abgetrennt. Die Lehre, die man aus dieser Beobachtung ziehen kann, ist, dass Normalität im Grunde nur sehr oberflächlich betrachtet eine Frage des statistischen Mittels ist. In Wahrheit ist das »Normale«, das jeder für sich gerne auf seine eigene Weise beschwört und das wir alle als kollektiven Zustand einer Gesellschaft hochhalten, weder die Normalverteilung aller Zustände noch ein abstrakter Durchschnittswert, der sich messen ließe. Was solche Berechnungen abbilden, ist nur die Verteilung von etwas, das vor dem Schock war, der sich selbst aber schwer messen lässt. Denn ein Schock greift das gesamte Gefüge der Wirklichkeit und deren Konstitution an. Normal ist daher das noch verschont gebliebene Leben: das Ausbleiben des Schocks, das Fehlen der Katastrophe oder ihres drohenden Nahens. Wir akzeptieren und mögen das Normale, weil es uns verschont und nicht schockiert. Damit wir in der Normalität nicht ins komatöse Vor-uns-hin-leben abgleiten, gönnen wir uns hin und wieder kleine und gut dosierbare Thrills, kleine Abweichungen und Ausbrüche aus unserem schockfreien Leben. Das Produktmarketing wirbt mit dieser Freiheit und Wildheit, die keine ist. Kleine Fluchten wirken angenehm befreiend, denn wir können wieder zurückkehren in die schockfreie Zone im Wissen darum, wie schön es ist, ohne die permanente Qual eines Schocks und seiner Verarbeitung leben zu können. Sport, Kultur oder für manche auch der tägliche Kampf mit dem SUV gegen die RadfahrerInnen in der Stadt genügen. Es sind die wohldosierten Ausbrüche, mit denen ganze Industriezweige und nicht zuletzt die Autoindustrie am besten verdienen. Denn das wahre Versprechen ist nicht die Freiheit, sondern die Sicherheit, die Versicherung, gegen den Schock immun sein zu können.

Das Schwierige und wirklich Fatale an unserer gegenwärtigen Situation ist, dass wir uns in einer Vielfachkrise befinden – und zwar wir alle, ohne Ausnahme. Dabei verharren wir aber in dem Glauben, all diese Krisen seien nur ein kleiner, mehr oder minder kurzer, vielleicht sogar auf zynische Art kurzweiliger kollektiver Ausflug ins gefährlichere Leben. Denn haben wir nicht in Wahrheit unser Leben im Griff? Erst im Nachhinein fällt auf, dass der Abbau demokratischer Strukturen in vielen Ländern parallel mit dem Auftauchen kollektiver Schocksituationen wie 9/11 aufgetreten ist und, digital verstärkt, mit einer einfachen Botschaft verbunden wurde: dass das Leben durch hartes Durchgreifen, zur Not durch Gewalt, Unterdrückung, Terror und Überwachung geregelt und wieder normalisiert werden könne. In den ruhigeren europäischen Gefilden gründete sich der Glaube, es gebe hier keine Krisen, vor allem auf das kollektiv vorherrschende Gefühl des Ausbleibens des Getroffen- und Geschocktseins. Der Schock würde jedoch in dem Moment einsetzen, in dem wir die Abgründigkeit der Wirklichkeit, die es immer gab und die sich jetzt in der neuen Gestalt der Vielfachkrisen des Anthropozäns zeigt, plötzlich wahrnehmen und die Realität sehen, wie sie ist: ohne die Schutzbrille der Gewohnheit und Lethargie.

Warnungen gibt es seit Jahrzehnten mehr als genug. Es gibt sie in Form von Fakten wie in Fiktionen, nicht zuletzt als verblüffend realitätsnahe Dramen über Pandemien wie den Film Contagion. Es gibt sogar weitsichtige wissenschaftliche Prognosen wie etwa die staubtrockene, am 3. Januar 2013 veröffentlichte Bundestagsdrucksache 17/12051 über Modi-SARS, die es in die Schubladen der Bürokratie schaffte. Unsere Administrationen entschieden jedoch, dass es Wichtigeres gebe. Denn das, was ist, gilt ja nur deshalb weiterhin als normal und einigermaßen geglückt, weil es uns (scheinbar) gelingt, unser Leben durch eine gläserne Wand vor einer Wirklichkeit geschützt zu haben oder geschützt zu wähnen, die noch keine Risse hat und in die noch kein Schock eingedrungen ist. Doch dieser Schild schützt nicht, sondern verzerrt in Wahrheit unsere Wahrnehmung und schwächt, pandemisch gesprochen, die Fähigkeit zur Resilienz in dem Moment, in dem es darauf ankommt, klug und das bedeutet immer realitätsnah zu agieren. Von dem Philosophen Ludwig Wittgenstein stammt der wahre Satz, dass die Welt des Unglücklichen eine andere ist als die des Glücklichen. Der Schock besteht nicht nur darin zu sehen, wie viele in der Welt der Unglücklichen leben. Er besteht auch in der Erkenntnis, dass wir selbst in einer unsicheren, komplexen und schockanfälligen Wirklichkeit leben, trotz oder gerade wegen all der Techniken, die wir zu unserem Schutz aufbieten, auch wenn dieser Schutz, etwa des Getreides durch Pestizide auf den Äckern am Ende das, was er schützen soll, vernichtet: uns selbst. Der erste Schock besteht für viele darin, zum ersten Mal wirklich aufzuwachen und die Augen öffnen zu müssen, weil sich etwas inzwischen unabweislich Gewordenes ankündigt. Von diesem Moment an können wir, wie Heine es in Nachtgedanken formulierte, die Augen nicht mehr schließen. Meist schützt uns noch eine für unsere eigenen Bedürfnisse günstig geformte, uns selbst kaum bewusste Verzerrung davor, die Augen ganz öffnen zu müssen und zu erwachen. Die meisten von uns leiden, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen, an dieser hartnäckigen Fehlsichtigkeit und all den Fehlstellungen und Verzerrungen, die ihrerseits, einmal chronisch geworden, zu höchst unterschiedlichen Symptomen im privaten wie im gesellschaftlichen Bereich führen. Reiche leiden anders daran als Arme, Bewohner des einen Kontinents anders als die eines anderen. Weil wir aber alle an Illusionen verhaftet sind und damit zuweilen mehr im Fiktiven als in der Realität leben, fällt uns rechtzeitiges, kollektives und vor allem nicht-egoistisches Handeln schwer, zumal wir immer befürchten, dabei selbst benachteiligt zu werden. Folglich sehen wir keinen Grund, uns aus der Komfortzone herauszubewegen, obwohl, längst wörtlich und nicht mehr metaphorisch, der Wald um uns herum in Flammen steht.

Doch von welchen Schocks ist die Rede? Zweifellos gibt es eine Vielzahl von Formen des persönlichen Schocks wie den Verlust eines geliebten Menschen, die eigene bedrohte Gesundheit, die ruinierte wirtschaftliche Existenz oder das Nahen des Todes. So schockierend all das für uns auch ist, diese »privaten« Schocks sind Einschnitte und Brüche. Sie entfernen uns von unserem »normalen« Leben, nach dem wir uns sehnen, weil es eine Zeit ohne Schock, ohne Risiko und Bedrohung zu sein schien, solange wir den Kreis unserer Betrachtung geschlossen hielten und immun schienen. Nur im Idealfall gelingt es uns, sofern wir resilient genug sind, uns von den Folgen des persönlichen Schocks zu befreien und wieder mit der Erinnerung an den Schock »wie schockfrei« zu leben, in einem »neuen« Normal. Es gibt aber auch das Eintreten kollektiver Schocks, die das Bewusstsein aller erfassen. 9/11, Erdbeben oder katastrophale Ereignisse wie Wirbelstürme oder die Überschwemmungen in Bangladesch oder im Ahrtal zum Beispiel sind dafür ebenso Beispiele wie Kriege, staatliche Folter oder systematische Vergewaltigungen. Letzteres ist eindeutig von Menschen und nicht von »der« Natur verschuldet. Das Besondere der Vielfachkrisen der Gegenwart besteht darin, dass zunehmend unklarer geworden ist, was von all dem ohne und was mit menschlicher Einwirkung geschieht. Kollektive Schocks wie Tschernobyl oder Fukushima sind zweifellos selbst verursacht. Sie haben langanhaltende kollektive und zudem physische Auswirkungen, vor allem aber Effekte, die in der Natur sichtbar sind und bleiben. Kollektive Schockereignisse wie die Pandemie spielen sich im Sichtbaren ab. Sie bohren sich aber auch in die weniger zugänglichen Bereiche der Psychen und des sozialen Gefüges, denn die Verbreitung von SARS-CoV-2 ist keineswegs nur ein »natürlich-biologisches« Ereignis, sondern systemisch mit unseren eigenen sozialen, politischen oder kulturellen Handlungsweisen verbunden. Im Inneren pflanzt sich der Virus-Schock daher weiter fort und wird oft mit Verzögerung wieder sichtbar in Form der nachweislich steigenden Zahl von Angststörungen oder Depressionen. So bleibt zwar niemand unberührt von einem persönlichen Schock – aber ebenso wenig von den kollektiven Schocks einer Pandemie oder der Klimakatastrophe. Die Reaktionen darauf mögen sowohl individuell wie kollektiv ebenso unterschiedlich sein wie die Fähigkeit, Resilienz zu entwickeln und schnellstmöglich wieder »normal« zu leben. Aber gibt es ein richtiges Leben im Dauerschock?

II. Futur Zwei: Leben im Phlegma