Köche, hört die Signale! - David Höner - E-Book

Köche, hört die Signale! E-Book

David Höner

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Beschreibung

David Höner, Koch an vielen Herden dieser Welt, Gastgeber an Locations in Zürich, Nairobi und Quito, blickt zornig auf die Früchte der Globalisierung, die keinem schmecken. Ob es die betriebswirtschaftlich organisierte Gastronomie ist, die auf Lebensqualität und Gesund- heit spuckt, ob es sich um fatale Fehlentwicklungen in der Ausbildung von Köchen handelt, oder um die Verwilderung von Tischsitten – für David Höner ist es an der Zeit ein Zeichen zu setzen. Gemeinsam mit zehn prominenten Köchen, Weinkennern und Gastrosophen erklärt er die elementaren Sünden unserer Zeit und zeigt, warum die richtige Nahrungszubereitung unsere Basis zum Überleben und der Schlüssel zum Glück ist.

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Seitenzahl: 174

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Ebook Edition

David Höner

Köche, hört die Signale

Ein kulinarisches Manifest

Verlag und Autor bedanken sich bei Romana Echensperger, Maria Groß, Franz Keller, Sandra Knecht, Robert Mangold, Birgit Reitbauer und Eckart Witzigmann für ihre Beiträge zu diesem Buch. Die Rechte an ihren Texten liegen bei den Autorinnen und Autoren.

Der Text »Handarbeit« von Doris Dörrie ist ihrem Buch »Die Welt auf dem Teller«, erschienen beim Diogenes Verlag, entnommen. © 2020 Diogenes Verlag AG Zürich

Copyright der Fotos: S. 6: Casper Hedberg; S. 42, S. 60: Ullstein Bild; S. 66: Bachstelze, Erfurt; S. 86: Danielle Bürgin; S. 102: Regine Hendrich; S. 123: Konstantin Volkmar; S. 144: Salome Roessler; S. 172: Céline Keller.

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-8648-751-1

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2021

Umschlag und Kapiteltrenner: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Auftakt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Doris Dörrie: Handarbeit
Kapitel 4
Eckart Witzigmann
Maria Groß von der »Bachstelze« in Erfurt
Kapitel 5
Sandra Knecht – Schweizer Köchin, Künstlerin, Performerin
Kapitel 6
Birgit Reitbauer vom Wiener »Steirereck«
Kapitel 7
Romana Echensperger Sommelière und Master of Wine
Kapitel 8
Robert Mangold, Unternehmer der Gastronomie und stellvertretender Präsident des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands, Hessen
Kapitel 9
Kapitel 10
Franz Keller

Für Iris

David Höner, 1955 in der Schweiz geboren, arbeitete nach seiner Kochausbildung fünfzehn Jahre als Koch, Küchenchef und Caterer. Journalistisch ist er seit 1990 für Radio, Fernsehen und Printmedien und als Autor von Hörspielen, Radiofeatures und Theaterstücken tätig. Langjährige Auslandsaufenthalte führten ihn 1994 nach Quito, Ecuador, wo er als Mitarbeiter in Kulturprojekten (Theater, Radio), in Entwicklungsprojekten und Gastrounternehmer aktiv wurde. 2005 gründete er die Hilfsorganisation Cuisine sans frontières (CSF). Zuletzt erschien von ihm »Kochen ist Politik. Warum ich in den Dschungel gehen musste, um Rezepte für den Frieden zu finden« (Westend Verlag, 2019).

Mit Beiträgen von Doris Dörrie, Eckart Witzigmann, Maria Groß, Sandra Knecht, Birgit Reitbauer, Romana Echensperger, Robert Mangold und Franz Keller

Auftakt

Ein Gespenst geht um in der Welt. Das Gespenst der Entfremdung von uns selbst.

Wie konnte es so weit kommen, dass die elementarsten Bedürfnisse des Menschen hinter fast undurchsichtigen Schleiern verborgen sind? Der Blick auf das Wesentliche ist verstellt, überliefertes Wissen vernebelt, einfachste Fertigkeiten sind verloren. Es soll Kinder geben, die eine simple Schuhbandschleife, den Kreuzknoten, mit dem man Schuhe bindet, nicht mehr beherrschen, die noch nie eine Kartoffel gekocht haben, geschweige denn einen Kartoffelacker von einem Zwiebelfeld unterscheiden können. Der urbane Mensch erkennt einen reifen Apfel nicht mehr am Geruch, weiß kaum, dass Käse aus Milch hergestellt wird und wie viele Eier ein Huhn in einer Woche legen kann. Huhn oder Hase? Kohlrabi oder Karotte? Was ist was?

Die Natur erscheint dem vermeintlich auf der Höhe des Zeitgeistes fliegenden Hipster als dreidimensionales Schaubild, das er bespaziert. Bewundernswert und faszinierend. Doch die reale Funktionalität dieser planetaren Schöpfung, das Bewusstsein, dass wir dafür eine Verantwortung tragen, ist kaum vorhanden. Unrealistische Bilder geistern durch das digitale Weltbild der verlorenen Seelen, die, ohne es zu merken, in einem wirren Zickzack durch das Labyrinth von falschen und wahren Informationen stolpern. Sie streben Zielen zu, die längst nicht mehr eigenem Denken entsprungen sind, sondern von überaus geschickten Verführern, einfacher noch: von raffinierten Verkäufern entworfen werden. Nicht das Wohl des Bauches, nicht die Zufriedenheit des Gemütes und nicht die Freude an der Gemeinschaft stehen im Vordergrund der kommerziellen Offerten. Immer schneller verwirbeln sich die Angebote, Notwendiges und Nutzloses sind nicht mehr zu unterscheiden. Was gestern neu und faszinierend in den Konsumtempeln auftauchte, verliert schon bald seinen Glanz. Das ständige Verlangen nach mehr produziert die Gier, die eine unheilvolle Allianz mit künstlichen Wünschen, synthetischem Verlangen und unerfüllten Sehnsüchten eingeht. Sämtliche Medien stimmen ein in den lärmigen Chor, der noch mehr Katzengold auf Kauderwelsch anpreist. Es ist schwierig, fast unmöglich geworden, die Spreu vom Weizen zu trennen. Im Kokon einer Scheinwelt, die sich uns als eigentliches Habitat unseres Selbst präsentiert, verliert sich der Mensch. Er transformiert zum Homo consumens, der Galaxien bewohnt, die nicht bewohnbar sind und schon gar nicht real existieren. Ernten, ohne zu säen, ist hier die Regel.

Dieses Ungleichgewicht zwischen Produktion und Konsum setzt eine Klassengesellschaft voraus. Hinter klangvollen Namen verbergen sich Produzenten, die sich dem Konsumenten nicht als Personen, sondern großflächig als Firma, als Konzern präsentieren. Während der Prolet sein Industriebrot im Supermarktregal, einplastifiziert und lange haltbar, erwirbt, schlendert der Hedonist durch die Holzofenbäckereien der Fußgängerzonen. Eine Biodinkelbrezel, ein organisches, naturbelassenes Roggenbrot, ein Apfelstrudel mit garantiert ungespritzten Früchten: alles da. Es war schon immer etwas teurer, einen exklusiven Geschmack zu haben. Doch wie in einem Bienenvolk die Drohnen im Herbst von den fleißigen Arbeiterinnen hinaus in den Tod gejagt werden, so besteht ständig die Gefahr, dass sich die urbanen menschlichen Drohnen eines Tages als überflüssig erweisen und ihre Existenzberechtigung verspielt haben. Was soll es für Gründe geben für die Bauern, Arbeiter und Angestellten, den mit Luxus gestopften Lebensstil der selbsternannten Eliten weiter zu ermöglichen, wenn es dereinst zum Drohnendonnerwetter kommt? Der ungebremste Egoismus der westlichen Zivilisation ist nur aufrechtzuerhalten, indem man den indischen oder afrikanischen Bauern den Zugang zu ähnlichem Tun nachhaltig verwehrt. Dabei wird die »westliche Werteskala« immer unkenntlicher. Während Abertausende Hektar gesunder Landschaften, Weiden, Wälder, Gewässer dank einer »überlegenen« Technologie geradezu selbstmörderisch zugrunde gewirtschaftet werden, regt sich der Widerstand gegen diese Machenschaften. Nicht nur bei den zahlreichen ausgebeuteten Völkern, wo ein klares Bewusstsein für die eigene Situation spürbar wächst, es gibt auch in den Reihen der modernen Zivilgesellschaften Stimmen, die das bedrohliche Menetekel erkannt haben. Zwar ist es nicht einfach, die falschen von den richtigen Mahnern zu unterscheiden, doch dass etwas getan werden muss, um dem andauernden Wachstum Zügel anzulegen, ist heute lebensnotwendig geworden. Hoffnung auf eine bessere Welt, in der sich das Gesetz der ständigen Gewinnmaximierung als der Popanz, der er ist, entlarvt, ist durchaus vorhanden. Auch ist der technologische Fortschritt im Informationszeitalter nicht einfach des Teufels. Wissen ist ein Völker verbindendes Element, das allen zugänglich ist. Und vereint sind wir stark.

Dafür oder dagegen zu sein, ist das Eine, Falsches vom Echten zu unterscheiden, das Andere. Um dies zu leisten, braucht es einen Blickwinkel, der, einfach und verständlich, eine gemeinsame Ausdrucksweise, ein gemeinsames Verständnis fördert. Der kleinste gemeinsame Nenner ist dem Frieden zuträglich. Die Entwicklung guten Lebens darf nicht über sich ständig erweiterndes Wachstum definiert werden. Eine bedingt wissenschaftliche, dafür an unseren wirklichen Bedürfnissen orientierte evolutionäre, metaphysische und spirituelle Betrachtung kann Türen öffnen.

Man hört immer wieder, dass eine Entscheidung aus dem Bauch heraus getroffen wurde. Soll heißen: auf den Bauch gehört wurde! Nicht bloß Fakten, das Gefühl, die Intuition sollen mitbestimmen. Wenn auch Bauchentscheidungen als wenig seriös gelten, so sind sie es doch, die bei zahlreichen, ja sogar bei den meisten Entscheidungsfindungen eine zentrale Rolle spielen und unserem Denken und Handeln die Richtung weisen. So kommen wir zur Gastronomie. Das Wort Gastronomie, so ein heutiges Lexikon, lässt sich auf die eigentliche Bedeutung »Magenkunde« (altgriechisch: gastronomía) zurückführen. »Gastronomía« wiederum setzt sich zusammen aus »gastor, gastrós« (deutsch: »Bauch, Magen«) und der Wortendung – »nomia« (»Fachgebiet«). Ursprünglich wurde es entlehnt aus »Gastrología« (der Lehre von der Pflege des Bauches).

Es geht also um die Lehre von der Pflege des Bauches! Damit eng verknüpft ist die Kulinarik, die Kochkunst. Einfacher gesagt: Es geht um Essen und Trinken.

Wie gehen wir heute – ganz real – mit unserem Bauch um? Darauf richtet sich der Blickwinkel des kulinarischen Manifests. Der Blick auf die wahrscheinlich elementarste Tätigkeit jedes Erdenbewohners. Ein Blick auf den Status quo.

Ich bin selbst Koch von Beruf. Ich habe mich ausführlich mit der Zubereitung von Essen beschäftigt. Doch das heißt nicht, dass ich ein irgendwie geartetes Monopol habe. Kochen ist eine Tätigkeit, die von jedermann und jederfrau ausgeübt wird, und gehört zum Alltag. Wirklich? Gibt es hinter Küchenschränken und Kochtöpfen vielleicht mehr zu entdecken? Ich bin nicht der Einzige, der davon überzeugt ist. Den Faden einmal aufzunehmen und ihm ohne Scheuklappen zu folgen, führt durch geradezu unendliche, längst erforschte und doch wieder vergessene Gebiete. Von den Höhen der Berge über weite Ebenen zu Meeren, durch Wüsten und Küchen. Die kulinarischen Fertigkeiten sind der Spiegel der Gesellschaft. Ob öffentlich oder in den Familien. Ob karg oder üppig. Von der mit Steinen umgebenen Feuerstelle hin zur Mikrowelle. Kochen ist Handwerk, Identität, Erinnerung und Sinnlichkeit.

Der Satz »Essen und Trinken ist nicht alles, aber ohne Essen und Trinken ist alles nichts«, lehnt sich an Willy Brandts berühmtes Bonmot an: »Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.« Traurig ist, dass dieser wuchtige Satz in den Köpfen derjenigen, die uns und unser Leben dirigieren, in den Köpfen der Politiker, der Gewerkschaftler, der Philosophen, der Lehrer und Professoren sowie der staatlichen Verwaltung nur eine untergeordnete Rolle spielt. Was dazu führt, dass eine Tatsache kaum je umfassend bedacht wird: dass nämlich die Gastronomie der größte Arbeitgeber der Welt ist. Trotz täglicher, ja fast stündlicher Kontakte mit den Dingen, die uns mit Bezug auf die Gastronomie begegnen, nehmen wir nur einen schwachen Abklatsch dessen wahr, was uns buchstäblich am Leben erhält. Mit Ignoranz verzichten wir darauf zu begreifen, was uns bei Fahrten über Land oder auf dem Arbeitsweg durch die Stadt ständig begleitet. Seien es die Bauernhöfe mit ihren Tieren, die Obstplantagen, Weinberge, die Getreide- und Gemüsefelder – unsere Sinne sind mit anderen Dingen beschäftigt. In der Stadt sind uns die kleinen und großen Geschäfte, vom Supermarkt bis zum Tante-Emma-Laden, die Restaurants, die Bäckereien, Metzgereien, Molkereien, Weinhandlungen höchstens ein paar banale Gedanken wert. Täglich nehmen wir unsere Mahlzeiten ein, allerdings ohne dem Vorgang allzu viel Beachtung zu schenken. In einer Welt, in der das Sprichwort »Zeit ist Geld« die Zwangsjacke beschreibt, in der wir stecken, sind die zivilisatorischen Werte, von denen jeder gerne spricht, nicht in den Äckern, Ställen oder Kochtöpfen zu Hause. Zeit ist zu kostbar geworden, um sie mit Kauen und Schlucken zu vertrödeln, schon gar nicht mit langwierigen Arbeiten auf dem Feld oder in der Küche. Handwerkliche Berufe wie Koch, Kellner, Bauer, Metzger, Fischer, Bäcker, Käser und Müller genießen in den gesellschaftlichen Rangordnungen kein besonders hohes Ansehen.

Lebensmitteltechnologen, Ernährungswissenschaftler, Agraringenieure sind sich allerdings nicht zu schade, ihre theoretischen Kenntnisse ungefragt und von praktischem Tun unbeleckt in allerlei Foren und mittels großmäuliger Publikationen unters Volk zu bringen. Ihre größte Bedeutung haben sie in gefährlicher Weise in der industriellen Nahrungsmittelproduktion erlangt. Einer, der noch nie ein Huhn gerupft hat, kann mit Massenprodukten, die den Geschmack und das Handwerk beleidigen, zum dauerhaften und gut geölten Wirtschaftswachstum beitragen. »Kentucky Fried Chicken« ist so ein multinationales Unglück.

Dennoch gehören auch diese Funktionäre, die sich weltweit mit der Entwicklung von Massenware zur Ernährung beschäftigen, zu der unendlichen Heerschar von Menschen, die sich mit Essen und Trinken, mit Gastronomie also, ihren Lebensunterhalt verdienen. Es gibt daher eine direkte Verbindung zwischen der bäuerlichen Großmutter, die für den Wintervorrat Zwetschgen einweckt, und dem jungdynamischen Wissenschaftler im weißen Kittel, der aus minderwertigen und natürlich billigen Zutaten einen Schokoriegel elaboriert. Eine »süße Versuchung«, die in der Herstellung wenig kostet, aber mit dem richtigen Marketing allerhand einbringt. Auch der Designer, der die Verpackung kurzweilig gestaltet, und der Texter, der den packenden Slogan: »Mars bringt verbrauchte Energie sofort zurück!«, erfunden hat, gehören zur Liga der Gastronomen. Weil sie sich mit einem Nahrungsmittel und dessen Verkauf beschäftigen. Und davon leben.

Den Vorwurf, ich würde hier den Rahmen viel zu weit spannen, anerkenne ich nicht – denn auch ein Lokomotivführer kann insofern als gastronomischer Mitarbeiter gelten, weil er die Zuckerrüben güterwagenweise in die Raffinerie bringt. Tatsächlich ist im weitesten Sinn jeder ein Gastronom ab dem Moment, in dem er oder sie in irgendeiner Form etwas mit Nahrung zu tun hat. Ergo sind wir alle, egal was wir sonst tun, Gastronomen!

Natürlich gibt es Abstufungen. Die gastronomische Performance des Lokomotivführers ist vergleichsweise unbedeutend, wenn man sein Tun mit dem Wirken eines professionellen Gastgebers vergleicht. Dass Gastgeber auch zu den Gastronomen gezählt werden, ergibt sich allein aus der Tatsache, dass die Gastgeberei immer, wenn auch nicht ausschließlich, mit Essen und Trinken verbunden ist.

Jetzt Obacht! Hier liegen deutliche Unterschiede vor. Stellen wir uns den CEO eines multinationalen Unternehmens, zum Beispiel der Marriott-Hotelkette, vor. Ein Gastgeber von Format, ein Großhirsch unter den Gastgebern. In seinem Jahresbericht weist er mit Sicherheit darauf hin, wie viele Gäste in seinen Betten genächtigt, in seinen Restaurants gegessen haben. Tausende! Auch werden die Franchise-Nehmer von McDonald’s stolz darauf verweisen, wie viele Burger über ihre Theke gewandert sind. Der Storchenwirt weiß genau, wie viele Portionen Gulasch mit Spätzle im Jahr an den Tischen seiner Gaststube serviert wurden.

Neben den Zahlen, der Quantität dieser Gastgeberei muss natürlich die Qualität dessen bewertet werden, was Gastgebertum eigentlich erst ausmacht. Dabei geht es um sämtliche Handlungen beim Empfangen und Betreuen eines Einzelnen oder mehrerer Personen. Mit oder ohne pekuniäre Gewinnabsicht. Der Gastgeber ist nur dann Gastgeber, wenn er diese Handlungen ausführt. Es braucht dazu also mindestens zwei Menschen. Man kann nicht sein eigener Gastgeber sein. So ist die Einladung zum Gulaschessen im Storchen für Tante Hildegard zu ihrem 67. Geburtstag, ausgesprochen von ihrem Neffen Balduin, ein balduinscher gastgeberischer Akt, der sich mit dem professionellen Gastgebertum des Storchenwirtes verbindet, um der genannten Tante eine Freude zu bereiten. Solche Doppelungen gastgeberischer Intention sind weitverbreitet. Diese Sicht auf die vielfältigen Erscheinungsformen des Gastgebertums zeigt uns, dass alle Menschen, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, Gastgeber sind. Nicht immerzu, aber immer wieder.

Nach dem eben Gesagten stellt sich jetzt logischerweise die Frage, welche Pflichten und Aufgaben auf jeden Einzelnen von uns zukommen. Ist es nicht geradezu schwindelerregend, dass wir hier tatsächlich alle gemeint sind? Was hindert uns daran, nach dieser Erkenntnis zu handeln? Ist eine gastronomische Welt, in der wir uns wechselseitig als Gast und Gastgeber, als Produzent und Konsument bewegen, nicht eine bessere Welt? Besser und wichtiger als jede globale Streitkultur, die uns mit hausgemachten Problemen in ständige Konflikte treibt, die in Wahrheit so überflüssig sind wie ein Kropf.

Und dazu eine Geschichte:

Ich bin auf dem Land aufgewachsen. In einem damals noch bäuer­lichen Dorf mit knapp 3000 Einwohnern. Mein Vater war evangelischer Pfarrer, meine Mutter Hausfrau. Wir sind drei Kinder. Ich bin der Nachzügler, meine Geschwister sind mir einige Jahre voraus. Unsere nächsten Nachbarn waren der selbstständige Schreiner Laukemann und der große landwirtschaftliche Betrieb von Bauer Kunz. Obst- und Ackerbau, Kühe, Schweine, Hühner und Kaninchen. Vom Bäcker Baumann holte man das Brot und sonntags auch mal Kuchen. Fleisch und Wurst kamen vom Metzger Bleibler, der einmal in der Woche schlachtete. Das Schlachthäuschen; fünf Minuten zu Fuß von unserem Haus entfernt. Die Tiere kamen von den Höfen der Umgebung. Da gingen wir Buben hin, um zu schauen, wie es geht mit dem Metzgen. In der Molkerei wurde aus Milch Käse, Butter, Joghurt und Quark. Bei der Einkaufsgenossenschaft VOLG gab es Reis, Schnaps, Wein, Kaffee, Teigwaren, Bohnerwachs und alles andere, vom Besen bis zum Kohleanzünder. Das wichtigste Gasthaus hieß Hirschen, Gartenwirtschaft und Festsaal.

Zu Hause kochte meine Mutter jeden Tag. Hausmannskost. Der experimentierfreudigere Koch war mein Vater, der an wenigen Sonntagen im Jahr in der Küche fuhrwerkte. Fernsehen gab es bei uns nicht, damals in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Man hörte Radio. Nachrichten und im Nähzimmer meiner Mutter manchmal auch die Kochsendung, in der Gugelhopfrezepte und Tipps zum Essiggurken-Einlegen eine Rolle spielten. Sie kochte nicht leidenschaftlich, aber gut und preisbewusst. Fleisch gab es nicht täglich. Viel kam aus dem eigenen Gemüsegarten, in dem auch ich ab und zu jäten oder Gläser mit Bier aufstellen musste. Dort krochen die Schnecken hinein und ersoffen. Diese Schneckengräber mussten später eingesammelt werden und waren eklig. Salate, Karotten, Kohlrabi, Erdbeeren, Rhabarber, Lauch, Tomaten und Stangenbohnen, ab Mai bis weit in den Herbst gab es immer etwas zu ernten. Im Garten stand ein Apfelbaum mit »Berner Rosen«, am Spalierbäumchen an der sonnenseitigen Hauswand wuchsen ein paar Pfirsiche. Ein riesiger Mostbirnenbaum schüttelte zur Reifezeit winzige saure Birnen ab. Brombeeren gab es ohne Ende. Im Herbst kauften wir bei den Bauern Äpfel, Gemüse und Kartoffeln, die unten im Keller in hölzernen Hurden gelagert werden konnten. Auch Hasel- und Baumnüsse. Im Keller stand auch der Kohleofen. Damit heizte Vater das Haus. Am Sonntag wurde manchmal ein Zopf gebacken, Butter, Eier, weißes Mehl. Ein Genuss.

Der Gewürzschrank war nicht sehr ergiebig. Salz, Pfefferkörner, Kümmel, Wacholder, Paprika und ein paar getrocknete Kräuter. Ansonsten gab es Kräuter aus dem Garten, Oregano, Thymian, Liebstöckel, Rosmarin, Basilikum, Schnittlauch und Petersilie. Olivenöl gab es nicht, Avocados waren unbekannt. Die einzigen Früchte, die nicht aus der Umgebung stammten, waren die Zitronen. Wenn die Kirschenzeit anbrach, zogen wir Kinder um die Felder, klauten Kirschen und aßen sie, bis wir blaue Lippen hatten. Aprikosen, Zwetschgen, Pflaumen, Mirabellen waren saisonal. Kurz vor Weihnachten dann die exotischen Orangen, Bananen und kernreiche Mandarinen. Bäcker Baumann buk Lebkuchen und Christstollen. Zum Trinken gab es Apfelsaft, die »Großen« tranken Wein.

Der Hirschenwirt und seine Familie arbeiteten hart und waren wohlgeachtete Leute. Sie sang im Kirchenchor, er war in der Feuerwehr und gemeindepolitisch aktiv. Im Hirschen wurden die gängigen Feste gefeiert. Am eindrücklichsten erinnere ich mich an die »Metzgete« im November, wobei fette Schweine hofgeschlachtet wurden – und es hub an ein großes Blut- und Leberwurstessen mit Kartoffeln, »Öpfelschnitz«, Dörrbohnen, Sauerkraut, Speck und Schweinereien aller Art. Vorwinterliche Völlerei.

In der Schule erhielten wir Kinder ein sogenanntes »Pausenbrötchen«. Vollkornmehl, Rosinen und Nüsse waren eingebacken. Dazu ein Glas mit Beerensaft gesüßte Molke.

Heile Welt, nicht wahr? Bio gab es nicht. Auch wenn nicht alle Lebensmittel aus der Umgebung kamen, wusste man mehr oder weniger, was von welchem Acker, aus welchem Stall stammte. Die Schweine hatten Auslauf im Sommer, im Winter blieben sie, wenn nicht geschlachtet, im Stroh im warmen Stall. So auch die Milchkühe und die Rinder. Auf jedem Hof stand ein Misthaufen als Düngervorrat für die Felder. Die Obstbäume wurden mit Brennnesseljauche gespritzt.

Wenn ich heute die Köche von »saisonal« und »regional« reden höre, bin ich nicht wenig erstaunt darüber, dass diese Konzepte als ach so besonders verstanden werden sollen. So bin ich aufgewachsen, so kenne ich es und es erscheint mir normal. Allerdings erschrecke ich schon, dass alles in den letzten Jahren eine geradezu umgekehrte Richtung genommen hat. So ist das Regionale und Saisonale nun plötzlich der Ausnahmefall. Aber der Bauernhof von Kunz wird immer noch bewirtschaftet. Der Hirschen heißt immer noch Hirschen, großzügig renoviert mit Garten und dem Festsaal, der hölzern museal wirkt. Auch wenn Bäcker Baumann, Metzger Bleibler, der VOLG und die Molkerei verschwunden sind, einige landwirtschaftliche Betriebe sind noch da. Eine Kartoffel ist immer noch eine Kartoffel und eine Zwetschge eine Zwetschge. So ist es und so wird es auch bleiben. Auch wenn sie jetzt im Supermarkt verkauft werden.

Wer sich auf einen ungemütlichen Rundgang durch arme ländliche Gebiete, urbane Elendsviertel und Flüchtlingslager dieser Welt begibt, erlebt Erschreckendes. Die Menschen, die unter solchen Umständen leben, haben sich dieses Schicksal nicht ausgesucht. Die Gründe, warum es zu solchen verelendeten Ballungszentren kommt, sind meist bekannt: Umweltkatastrophen wie extreme Trockenzeiten oder Überschwemmungen, die Hungersnöte zur Folge haben, kriegerische Auseinandersetzungen, der Zusammenbruch einer von Gier und Korruption geprägten Ökonomie, ethnische Säuberungen, religiöse Zwistigkeiten, kapitalistische Raubzüge, denen Grund und Boden, Wälder und Felder zum Opfer fallen. Dennoch gäbe und gibt es Lösungen – sie werden von Hilfsorganisationen ausgearbeitet. Die UNO versucht gegenzusteuern, Hilfswerke sammeln große Summen Geld, aber scheitern oft bei der Umsetzung. Der politische Wille fehlt, die Opfer haben keine Stimme.

Es fehlt an allem. Sanitäre Anlagen sind selten, Trinkwasser muss irgendwo geholt werden und ist kaum trinkbar. Abwassersysteme sind, so es denn welche gibt, mit Abfall vollgemüllt. Es fehlt an medizinischer Versorgung. Infektionskrankheiten verbreiten sich ungehindert. Verdienstmöglichkeiten sind oft nur im illegalen Graubereich zu finden. In miserablen Quartieren leben auf wenigen Quadratmetern große Gruppen von Menschen. Kinder, Frauen, Männer, Alte und Kranke. Es fehlen Kindertagesstätten, betreute Plätze für Senioren und Kranke, Beratungsstellen für traumatisierte Menschen, die alles verloren oder nie etwas gehabt haben. Von geschützten Ruheplätzen oder gar Freizeitangeboten ist nicht zu reden. Einkaufsmöglichkeiten oder wenigstens Orte, wo Notwendiges für den alltäglichen Gebrauch günstig oder unentgeltlich erhältlich wäre, sind rar. Kleidung oder Schuhe sind Luxus. Anstelle von Straßen gibt es nur staubige oder schlammige Pfade. Öffentliche Verkehrsmittel sind, falls überhaupt vorhanden, unzureichend und teuer. Die Häuser sind mehr oder weniger Ruinen, zurechtgezimmert aus billigsten Materialien, Plastikplanen, Dachlatten, Lehmziegeln. Sie bieten kaum Schutz vor bitterer Kälte, Regen, Schnee oder stechender Sonne.

Eine Privatsphäre gibt es nicht, das Eigene, das Selbst existiert nicht mehr.

»Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht und man siehet die im Lichte die im Dunkeln sieht man nicht.«

Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper

In Zeiten, in denen niemand mehr behaupten kann, er hätte von nichts gewusst, könnte man annehmen, dass sich diese Missstände (zumindest die allergrößten) verändern lassen. Doch wie?