Kochen ist Politik - David Höner - E-Book

Kochen ist Politik E-Book

David Höner

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Beschreibung

Kochen ohne Grenzen. Statt Kitchen Battle setzt David Höner mit seiner Hilfsorganisation "Cuisine sans frontieres" auf gelebte Küchendiplomatie und entwickelt dabei weltweit Rezepte für den Frieden - von Tschernobyl bis zum Kongo. Seit vielen Jahren reist der Koch und Autor David Höner durch die Krisenregionen der Welt, um Menschen beim Kochen und Essen zusammenzubringen - über 800 Projekte hat er inzwischen ins Leben gerufen. So wurde er mit seiner Hilfsorganisation "Cuisine sans frontieres" zu einem kulinarischen Grenzgänger, der Verbindungen schafft. Am besten in einem einfachem Wirtshaus. Denn hier findet das Leben statt: Man verliebt, man streitet und vor allem man versöhnt sich. David Höner erzählt von friedenstiftenden Erfahrung und seiner Mission, die Welt mit einer kleinen Idee etwas besser zu machen: "Manchmal denke ich, das sind nur Tropfen auf den heißen Stein. Doch, wenn ich höre, dass seit unserer Küche in San Josecito die Kinder nicht mehr unterernährt sind, dass landlose Indigene in einem Hotel Arbeit gefunden haben und im North West Rift Valley in Kenia die verfeindeten Pokot und Turkana auf unserem Fest tanzen, bestätigt sich, dass diese selbst gestellte Aufgabe Sinn mach."

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Seitenzahl: 399

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Ebook Edition

David Höner

Kochen ist Politik

Warum ich in den Dschungel gehen musste, um Rezepte für den Frieden zu finden

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-751-1

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2019

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

1 Wo das weiße Pulver wächst
2 Die Crux mit der Gemeinnützigkeit
3 Besuch in Anderswo
4 San Josecito oder die Abwesenheit des Friedens
5 Der »Kitchen Battle«
6 Honig, Seide und Kamele
7 Afrika ist anders
8 Der Kochherd
9 Alltag im Niemandsland
10 Afrikanische Partner
11 Calabash putzt sich auf
12 Das Lied von der Schildkröte
13 Vereinsleben
14 Der Missionar vom Río Napo
15 Das Schiff
16 Flussabwärts
17 Der erste Kurs
18 Große und kleine Politik
19 Das untergehende und das erarbeitete Paradies
20 Vom Wilden und vom Zivilisierten
21 Ein Tag im Leben von Padre Goldáraz
22 Touristen und andere Volontäre
23 Die großen Pläne
24 Das Haus am Fluss
25 Entwicklung und Konsolidierung
26 Entwicklungszusammenarbeit für wen?
27 Heute und Morgen
28 Kochen ist Politik
Schlusswort

Für Iris Disse

1Wo das weiße Pulver wächst

Strumpfhosen mit Herzen … Wer den Ton angibt … Da gibt es nichts zu sehen … Leere blaue Plastikfässer … Sie wird mir wohl sterben … Da lag er dann … Gott aus den Händen gefallen.

Die Dame ist eine amerikanische Dame. Sie heißt Kristie Kenney. Klingt ein bisschen nach Hillbilly, oder? Jetzt, im Februar 2003, ist sie auf jeden Fall die Botschafterin der Vereinigten Staaten von Amerika in Ecuador. Was auch in Amerika liegt. Und weil gerade Valentinstag ist, trägt sie zum hellgrauen Deux-Pièces schwarze Strumpfhosen mit Dutzenden von daumennagelgroßen Herzchen, kleinen Valentinsherzen zur Pflege der Freundschaft. Sonst nichts Auffälliges. Schlank, mittelgroß, ein teurer Kurzhaarschnitt, blond. Dezenter Schmuck, die gepflegten Fingernägel farblich abgestimmt auf die Strumpfherzen und den Lippenstift. Hellgraue Augen, die nicht mitlächeln, wenn Kristie Kenney die Mundwinkel zum professionellen »Pleased to meet you« anhebt. Wir dürfen uns setzen. Und die Kamera aufstellen.

Wir, das sind Iris Disse und ich im Auftrag einer politischen Nachrichtensendung des Schweizer Fernsehens. Es geht um die Kokainbekämpfung in Kolumbien, die Auswirkungen des militärischen Hilfsprogrammes der USA, des »Plan Colombia«, und den Krieg gegen die Drogen, der gerade rasant Anlauf nimmt und das Übel, den Drogenhandel, an der Wurzel, dem Kokainanbau, anpackt. So sitzen wir hier im Jahre 2003 und fragen nach den im US-Auftrag agierenden Söldnern der DynCorps, die den Dschungel im kolumbianischen Putumayo und entlang der ecuadorianischen Grenze mit einem chemischen Kampfstoff namens »Agent Green« besprühen. Sie druckst herum, verharmlost und vernebelt die Informationslage. Etwa 20 Minuten dauert das Gespräch. Wir werden hinausbegleitet von großen ernsten Männern. Und stehen wieder draußen vor der schwerbewachten US-Botschaft im Herzen Quitos.

»Happy Valentine.«

Ein paar Tage später sind wir im Grenzgebiet unterwegs. Genauer: am Rio San Miguel, der die ecuadorianische Provinz Sucumbíos von dem kolumbianischen Departement Putumayo trennt. Ein brauner Dschungelfluss im Regenwald. In den Dörfern und Marktflecken scheppern morgens um elf kolumbianische Cumbias und die Corridas der mexikanischen »Tigres del norte« aus großen lauten Boxen:

»Soy el jefe de jefes señores

me respetan a todos niveles

y mi nombre y mi fotografia

nunca van a mirar en papeles

por que a mi el periodista me quiere

y si no mi amistad se la pierde.«

»Ich bin der Boss der Bosse, Gentlemen

Sie respektieren mich auf allen Ebenen

Und meinen Namen und mein Foto

werden sie nie in Zeitungen sehen

Weil der Reporter mich liebt

Und wenn nicht, ist meine Freundschaft verloren.«

Besser nicht hinhören. Die Musik der Schmuggler, der Narcos, die hier den Ton angeben. Wir werden begleitet von Soldaten der Dschungelbrigaden, die uns, die Gewehre im Anschlag, wie Hirtenhunde umkreisen. Als offizielles Reporterteam werden wir nicht aus den Augen gelassen. Man hat uns herumgefahren, wir haben mit Grenzbewohnern gesprochen, Polizisten und Soldaten interviewt, mit Bauern geredet, mit Ärzten, mit Missionaren. Wir sind auf der Suche nach jemandem, der uns auf die andere Seite des Flusses begleitet. Aber wer hier den Fluss überquert, nimmt keine Journalisten mit.

Das Putumayo war einige Monate zuvor noch fest in den Händen der FARC, der kolumbianischen Guerilla. Álvaro Uribe, ein Vertreter der kolumbianischen Oberschicht, Sohn eines Großgrundbesitzers aus der Provinz Antioquia, sitzt seit einem Jahr im Präsidentenpalast in Bogotá. Er hat der Guerilla ihr baldiges Ende angedroht. Mit Hilfe der Armee und paramilitärischer Verbände will er den Rebellen den Garaus machen. Die »Paras« der »Autodefensas Unidas de Colombia«, die mit Álvaro Uribe kooperieren, sind ihrerseits tief in den Drogenhandel verstrickt. So tanzen nun die verschiedenen Interessengruppen im Putumayo einen blutigen Reigen um den Drogenmarkt. Da steht auch die Guerilla nicht zurück, irgendwer muss ja das Geld besorgen, um Waffen, Gummi­stiefel und die tägliche Portion Reis zu kaufen, irgendwoher muss es kommen. Der Krieg gegen die Drogen, finanziert von den Steuerzahlern der USA, schwemmt zusätzliche Millionen ins Land. Sicher nicht in die Taschen der Campesinos, die das Kokain produzieren, das ihnen für wenig Geld von den Zwischenhändlern der verschiedenen Gruppen abgekauft wird.

Wir stehen auf dem Vorplatz eines bescheidenen Hauses. Hühner laufen herum, picken an den Maiskolben, die zum Trocknen auf dem betonierten Boden unter der Veranda liegen. Verwaschene Kinderkleider hängen an einem Draht, ein Hund liegt im Schatten. Greifbare Armut. Wir sind einem Hinweis gefolgt, jemand hat uns gesagt, der Bauer habe ein Kanu und könne uns unbemerkt hinüberbringen. Seine Frau ist abweisend: Er ist nicht da. Wenn es denn sein muss, können Sie warten. Dann lässt sie uns stehen. Willkommen sind wir nicht. Wir setzen uns auf herumliegende Holzstrünke. Warten. Nach einer guten Weile kommt er, ein Mann in den Dreißigern. Santiago ist hager, hat tiefe Furchen im Gesicht. Niemand bittet uns ins Haus, wir hocken draußen auf den Strünken. Warum wir denn da hin wollten? Da gibt es nichts zu sehen. Doch die Aussicht auf ein paar Dollar hält ihn davon ab, uns einfach wegzuschicken. Ja, natürlich würde er Leute kennen, es seien schließlich Nachbarn, man würde ihnen helfen, etwas zu essen bringen manchmal. Nein, über Nacht bliebe er nicht, zu gefährlich. Aber er kenne eine Frau, die mit dem Sohn alleine den Hof führe. Der Mann sei tot, vor kurzem umgekommen. Es gehe ihr schlecht. Ob wir ihr etwas geben würden? Man könne am frühen Morgen hinfahren und vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein. Seine Frau ist nicht begeistert, will nicht, dass er mit uns geht. Die Aussicht auf ein kleines Geschäft lässt sie jedoch einwilligen. Am Ende werden wir uns einig. Morgen also, um fünf Uhr bei ihm.

In der Nacht vor diesem Ausflug denken wir nach. Schließlich haben Iris und ich einen 13jährigen Sohn zu Hause. Soll nur einer von uns beiden auf die andere Seite des Flusses? Aber wir sind ein Team, der Auftrag aus der Schweiz ist uns wichtig. Als politische Journalisten haben wir bisher nicht gearbeitet. Kriegskorrespondenten sind wir so oder so nicht, wollen es auch nicht werden. Aber diese Doku, ja: Wir wollen die Ungerechtigkeit in dieser Welt aufzeigen, wollen aufrütteln. Etwas tun. Einiges Material haben wir bereits, es fehlt die Stimme aus dem Putumayo. Die Stimme derer aus dem Anbaugebiet des Kokains.

In der Morgendämmerung erwacht der Dschungel mit Tausenden von Stimmen. Ein in die Tiefe gestaffelter Geräuschteppich, das Schreien von Affen weit weg, ganz nah das Sirren und Brummen der Insekten, melodische Vogelstimmen begrüßen den Tag. Santiago hat mit unserem Geld eingekauft. Geschenke für die Frau, Reis, Öl, Waschpulver, Salz, Gummistiefel. Auch wir tragen Gummistiefel, viel Gepäck haben wir nicht: die Kamera, etwas Trinkwasser und Schreibzeug. Das Kanu ist nur etwa vier Meter lang, schmale Balken, um sich hinzusetzen. In den morgendlich dunklen Regenwald gleiten wir auf einem kleinen Nebenfluss. Mit tuckerndem Außenbordmotor. Die Fahrrinne ist eng, man duckt sich unter gestürzten Bäumen, weicht hin und her zwischen herabhängenden Ästen. Wo sich das Wasser weitet, weitet es sich zum Sumpf. Nach einer halben Stunde habe ich keine Orientierung mehr. Niemand spricht. Iris und ich tauschen Blicke. Es ist gut, nicht allein zu sein. Es wird wärmer, die Uferböschung dampft, Sonnenstrahlen zeichnen Streifen in die von Myriaden von Insekten bevölkerte Luft. Niemand spricht. Nach geschätzten anderthalb Stunden sind wir am Ziel. Santiago befestigt das Kanu an einer Anlegestelle, die nur durch ein paar in den Lehm gehauene Stufen in der hohen Uferböschung zu erkennen ist. Er steigt aus dem schwankenden Kanu, nimmt den Sack mit den Mitbringseln und steigt die Stufen hinauf. Er will schauen, ob jemand da ist, bevor er uns ruft.

Das Haus, in dem Miriam und ihre Kinder wohnen, ist nicht klein. Aus Baumstämmen und Bambus erbaut, steht es auf hohen Pfählen am Rand eines gerodeten, unbefestigten Hofes. Unter dem Haus kratzen ein paar Hühner in Küchenabfall und vor allem im Staub, liegen leere blaue Plastikfässer und allerlei landwirtschaftliches Werkzeug, Hacken, Spaten, Rechen. Dort sind auch zwei Esel angebunden, sie stehen schläfrig im Schatten. Die Besitzerin der Finca empfängt uns auf der Veranda. Sie trägt ein wenige Monate altes Baby in einem Schultertuch. Neben ihr der älteste Sohn im verwaschenen löchrigen T-Shirt, gerade mal 16 Jahre alt, doch mit dem Gesicht eines erwachsenen Mannes: Javier. Im Hintergrund wuseln im Halbdunkel zwei scheue Mädchen herum, auch ein Mann sitzt da. »Mein Bruder«, sagt Miriam. Er ist einarmig, begrüßt uns nicht. Fremden kann man nicht trauen.

Die Hausherrin schickt uns mit dem Sohn hinaus ins Feld. Dorthin, wo vor drei Monaten Flugzeuge eine Welkschneise in den Dschungel gespritzt haben. Braune, verfaulte Pflanzen, die nur teilweise als Cocasträucher auszumachen sind, über die Länge und Breite von zwei Fußballfeldern. Gerade noch erkennbar sind auch zwei verrottete Maisfelder, tote Yucca- und Bananenstauden. Hohe entlaubte Dschungelbäume säumen das besprühte Gebiet. Es riecht muffig, nach feuchtem Moder, brackigen Pfützen. Moskitos gibt es keine. Weggesprüht.

Sie hätten nicht so viel Land, die Lebensmittel seien nur zum eigenen Gebrauch angepflanzt worden. Das Coca, er zuckt mit den Achseln, das Coca zum Verkauf. Er zeigt uns ein Treibhausbeet am Rande des zerstörten Bodens. Dort sprießen bereits wieder Schößlinge des Cocastrauchs. In diesem Boden wachse nichts mehr – außer der zähen Drogenpflanze. Ich frage mich, ob der Konsument in Europa weiß, was er sich da für ein Gift in die Nase zieht. Von Bio-Kokain keine Rede. Man habe jetzt neue Flächen im Dschungel gerodet, neue Bananen und Yucca eingepflanzt. Die Gewächse aber würden kränkeln und der Mais eingehen, bevor er wadenhoch gewachsen sei. Ob er wisse, was man da gesprüht habe, fragen wir Javier. Nein, er weiß es nicht. Ob hier nun die klebrige Mischung von Glyphosaten, die unter dem Namen »Roundup Ultra« vom Militär verwendet wird oder ob der als Biowaffe geächtete Welkpilz »Agent Green« eingesetzt wurde, ist unbekannt. »Agent Green« nachzuweisen, ist kompliziert, das geht nur in teuren Labors. Umweltaktivisten bekommen dort keinen Rabatt.

Jetzt stapfen wir über schwer begehbaren, holprigen oder sumpfigen Boden, mitten durch ein unzerstörtes Cocafeld, das bereits zum Teil abgeerntet ist. Die schlanken Stauden treiben fleißig neue Sprossen. »Davon leben wir«, meint Javier. Er weiß, was wir wissen wollen. Als er mit uns über schlammige schmale Fußwege zurück zum Haus geht, erklärt er den Ablauf: »Ich und meine Schwestern zupfen die Blätter ab und bringen sie auf den Hof. Dann legen wir sie auf Tüchern in die Sonne. Die Blätter müssen angetrocknet sein, um in unserer Werkstatt verarbeitet zu werden. Die zerhackten Cocablätter werden mit Zement vermischt und mit Schwefelsäure und Benzin verkocht. So entsteht die Paste, die ich, wie früher mein Vater, auf den fünf Stunden entfernten Markt bringe. Dort verkaufe ich es an die Ankäufer.« Er weiß natürlich, dass das alles illegal und gefährlich ist. Trotz klingt aus seiner Stimme: »Wenn ich beide Esel mit getrocknetem Mais beladen würde, den ich gar nicht habe, weil wir selbst etwas zu essen brauchen, verdienen wir kein Zehntel dessen, was uns ein Kilo Cocapaste bringt. So kann ich auf dem Esel sitzen und bin am gleichen Tag wieder zurück. Wir sind arm. Keiner will uns unsere Arbeit bezahlen.«

Wir kommen zu einer nach warmem Teer riechenden Straße voller Risse und Schlaglöcher. Als wir dort stehenbleiben und uns umsehen wollen, winkt uns Javier weiter. »An der Straße ist es gefährlich, wer weiß, wer kommt.« »Wer benutzt denn die Straße?« »Die Petroleros … und die Paras.« Jetzt sehen wir die rostbraunen dicken Rohre, die sich neben der Straße ins Endlose winden. Javier geht auf den Pfad zurück. Wir mit ihm. »Woher hast du eigentlich die Zutaten für die Paste?« »Bring ich mit den Eseln vom Markt. Es braucht nicht viel und es kostet nichts. Manchmal bringen es Leute auf den Hof. Die Ankäufer geben es mir mit.« »Wer sind denn die Ankäufer?« Er zuckt die Schultern. »Da gibt es einige, es sind nicht immer die Gleichen. Es ist nicht kompliziert, es gibt immer Ankäufer.« »Und die Polizei?« »Ich habe noch nie einen Polizisten auf dem Markt gesehen.« »Können wir dich begleiten?« »Lieber nicht, man mag dort keine Fremden.«

Wir sitzen auf der Veranda, trinken Wasser. Miriam mit dem Baby, das leise quengelt. Sie gibt ihm einen Fetzen Stoff, in Zuckerwasser getaucht, damit es daran nuckelt. »Wir haben nichts. Morgen geht der Junge wieder auf den Markt. Ich habe immer Angst um ihn, aber ich kann hier nicht weg. Schau, die Kleine«, sie hebt das winzige magere Kleinkind etwas an, »ach … sie wird mir wohl sterben. Ich habe keine Milch, wegen der Angst. Und wir haben nichts zu essen, nur die Sachen, die bei uns wachsen … Ihr habt es ja gesehen, gesund sind sie nicht, unsere Sachen, das ist doch alles vergiftet. Dann kommen sie wieder und fliegen mit ihren kleinen Spritzflugzeugen. Aber du musst nicht denken, sie kommen allein, sie kommen mit Helikoptern, weil sie Angst haben, dass die Guerilla sie abschießt. Die Helikopter kreisen immer um sie herum und feuern auf jeden, der draußen ist. Aber wir sind im Haus und verstecken uns. Wenn man mit dem Gift bespritzt wird, ist alles klebrig, und es gibt Ausschläge auf der Haut, Atembeschwerden, Fieber. Man müsste sich mit viel Wasser und guter Seife waschen. Aber wie, wenn nichts da ist. Im Fluss schwimmt das Zeug auch herum. Es treibt auf der Oberfläche.« »Wisst ihr, wann die Flugzeuge kommen?« » Manchmal kommt jemand und sagt: Morgen kommen sie, bleibt im Haus.« »Und wer ist dieser Jemand?« »Ich weiß es nicht, jemand eben … am Markt wissen sie es auch.«

Miriam spricht, ohne große Gefühle zu zeigen. Sie ist hager, doch man erkennt noch die untersetzte, kräftige Landfrauengestalt. Das Baumwollkleid mit seinen bunten Blumen ist ihr zu groß geworden. Die schwarzen langen Haare hat sie zurückgebunden. Sie will erzählen. Wir sollen alles wissen, die Welt soll es wissen, wenn die Welt es weiß, wird vielleicht jemand kommen und alles wird gut.

»Die Finca war früher sehr schön. Wir hatten sogar zwei Kühe … Milch genug … manchmal sogar ein Schwein. Die Tiere sind dann alle hier gewesen. Wir haben sie gut gefüttert. Manchmal sogar Heu gekauft. Coca haben wir erst angebaut, als man uns die Setzlinge gebracht hat. Gutes Geld hat man uns versprochen. Wahr ist es ja, das Coca zahlt sich aus. Es ist die einzige Einkommensquelle. Schule? … Wer soll denn hier unterrichten … und wo? Früher gab es sogar einen Schulbus, jetzt nicht mehr. Keiner will hier herumfahren … und ich würde die Kinder gar nicht mitgeben … Wer weiß, was passiert. Nein, seit die Guerilla weg ist, ist alles noch schlimmer geworden. Die sind auf den Hof gekommen, waren freundlich, haben bezahlt für ein gebratenes Huhn, haben gefragt, ob sie Wasser aus dem Brunnen schöpfen dürfen. Ich hatte nie Probleme mit den Guerilleros. Aber sie sind weg. Die Schwarzhemden haben sie vertrieben, so wie sie uns vertreiben wollen.« Ihr kommen Tränen. »Ich bin noch jung, noch keine vierzig, ich habe die Kinder. Ach, mein Großer!« Sie nimmt Javiers Hand, der schweigend neben ihr sitzt. »Meinen Mann haben sie mir erschossen … gleich hier auf dem Platz … Männer sind gekommen, ich weiß nicht mal, wie viele … vor zwei Wochen, am frühen Morgen. Er hörte jemanden sprechen, ging die Treppe hinunter. Ich hörte nur, wie es knallte. Ich habe keine Ahnung, wer es war. Oder warum. Da lag er dann. Wir haben ihn begraben … da hinten …« Sie zeigt mit dem Kinn zum Waldrand.

»Wieso geht ihr nicht weg?«

»Wohin denn? Hier ist mein Zuhause, hier gehört mir und den Kindern das bisschen Land. Meine Schwester wohnt nicht weit von hier. Die haben auch nichts. Ist schon lange her, seit ich sie gesehen habe. Wer weiß, wie’s ihr geht? Ich verlasse das Haus nicht, gerade gehe ich mal auf die Felder, auf das bisschen Land, was noch nicht kaputt ist. Aber wenn ich nur ein paar Schritte weg bin vom Haus, schnürt es mir die Kehle zu. Nichts ist mehr, wie es war.«

»Trefft ihr eure Nachbarn?«

»Ach Gott, nein. Ich weiß noch nicht mal, ob sie noch da sind. Jeder hat seine eigenen Sorgen. Und wem soll man heute noch vertrauen? Keiner will sein Haus allein lassen. Einigen ist es passiert, dass die Paras schon drin saßen, als sie vom Markt gekommen sind. Sie vertreiben dich von deinem eigenen Boden, werfen dich aus deinem Haus … packt eure Sachen, haut ab. Wir sind jetzt hier … Oder man kommt vom Markt und findet eine rauchende Ruine. Ich denke oft, dass man uns nicht mehr haben will. Für sie ist es besser, wenn hier kein Christenmensch mehr lebt. Dann können sie mit dem gestohlenen Land tun, was sie wollen. So viel Coca anbauen, wie sie wollen. Oder Öl fördern. Ist doch egal. Die Cocasträucher der Mörder sind nicht besprüht worden. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu.«

Santiago ist plötzlich wieder da. Wir haben ihn gar nicht mehr gesehen. Er war mit dem Kanu weggefahren. Jetzt will er sofort aufbrechen. Zum Abschied kommen die Töchter, Mädchen von zehn und dreizehn Jahren, immer noch scheu, ohne ein Wort geben sie uns artig die Hand. Javier gibt sich cool: »Wir bleiben hier, bis es wieder besser wird. Kommt wieder mal vorbei.«

Miriam umarmt uns, ich kann ihre knochigen Schultern spüren, ihre Hände um mich gelegt, sagt sie: »Gott beschütze euch, danke, dass ihr gekommen seid, denkt an uns, vergesst uns nicht.«

Sie schauen uns von der Uferböschung aus nach. Im goldenen Schein der Sonne, die sich zu neigen beginnt. Hinter ihnen der Wald und die gefährliche Einsamkeit.

Wir waren sträflich leichtsinnig. Niemand wusste, wo wir waren. Selbst wir nicht. Santiago selbst war mit einem Vertrauensvorschuss unsererseits ausgezeichnet worden. Dabei hätte er Mitglied irgendeiner Gruppe sein und uns in die Bredouille manövrieren können. Heute würde ich mich nicht mehr auf so etwas einlassen. Die reale Gefahr, in die wir uns begaben, haben wir zwar gefühlt, aber nicht respektiert. Wir wussten theoretisch, wie grausam und unberechenbar der kolumbianische Krieg ist, aber zwischen Wissen und Erfahren liegen Welten. Ohne weiteres denkbar, dass auf der Straße ein Pick-up mit Paramilitärs, den Schwarzhemden eben, aufgetaucht wäre, wo wir als die perfekten Entführungsopfer herumspazierten. Genauso gut hätte sich zu dem Zeitpunkt eine bewaffnete Gruppe aufmachen können, um Miriam und ihre Familie vom Hof zu vertreiben. Dann wären wir Zeugen der Verbrechen geworden, die an diesen Bauernfamilien verübt werden. Mir fallen dazu zwei Szenarien ein. Entweder wir wären, dank unserer weißen Haut und dank unserer Ignoranz, ein Grund für die Bewaffneten gewesen, ihre Aktion vorerst abzublasen – oder man hätte uns im Fluss versenkt. Mit aufgeschlitzten Bäuchen, damit die Leichen versinken, nicht zu weit treiben und die Fische sie schnell auffressen.

Erst im Nachhinein ist mir klar geworden, in welcher Welt wir Miriam und ihrer Familie begegnet sind. Das Bild der verlorenen, Gott aus den Händen gefallenen Menschen im Licht der untergehenden Sonne begann mich zu verfolgen. Wir lieferten unsere Vier-Minuten-Reportage in Zürich ab. Nachdem die Bilder den Filter der Redaktion passiert hatten, war nicht viel übriggeblieben. Eine Dutzendgeschichte, die vielleicht einigen Zuschauern ein »O weh, die armen Leute« entlockt hat. Wenn überhaupt.

Iris hat eine längere Doku zusammengeschnitten. Sie wurde über verschiedene Sender in ganz Lateinamerika gezeigt. Ebenso konnte sie ein Radiofeature zum Thema in Berlin platzieren. Passiert ist nichts. Der Schweizerische Bundesrat hat deswegen nicht getagt, kein geläuterter Ölmanager hat uns benachrichtigt, dass er seinen Vorstand gebeten habe, den Anwohnern der Pipeline im Putumayo eine monatliche Apanage von 300 Dollar auszusetzen. Kein Saulus-Paulus-Paramilitär hat, aufgerüttelt durch unseren Beitrag, öffentlich erklärt, er werde in Zukunft jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Politiker und Militärs im Putumayo vor den interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof in Costa Rica bringen. Nichts dergleichen. Aber Iris und ich hatten eine Erfahrung gemacht, die uns nicht ruhen ließ.

Miriam und ihre Kinder waren Geburtshelfer der Cuisine sans frontières. Analysen der kolumbianischen Misere – samt Schuldzuweisungen – gibt es ohne Ende. Nur helfen sie nichts. Nach erlebtem Augenschein vor Ort kamen mir die Herzchen auf den Strümpfen der US-Botschafterin zynisch vor. Die ewigen platten Feststellungen von »Ich kann auch nichts dafür« bis zu »Was soll ich denn machen?« sind keine guten Ratgeber. Ich bin der Meinung, dass jede und jeder »etwas« tun kann. Wie der Beitrag zu einer besseren Welt aussehen kann, ist individuell verschieden und jedem selbst überlassen. Ich habe zwei Jahre nach dieser kolumbianischen Erfahrung die Cuisine gegründet.

2Die Crux mit der Gemeinnützigkeit

Die »Speiseanstalt« … Gute Idee, ich bin dabei … Gemeinnützigkeit. Das Hobby der Gutmenschen … Das Eigene und das Fremde in einem Topf.

2004 waren wir nach elf Jahren aus Ecuador zurückgekommen. Wir, das waren Iris, meine Frau, und Wind, unser Sohn. Ecuador durchlebte seinerzeit eine seiner instabilsten Phasen, Präsidenten wurden gestürzt, die Korruption hatte ihre Krakenarme weit ausgestreckt, es ging neoliberal bergauf, die Armen wurden immer ärmer und die Reichen immer reicher. Besserung war nicht in Sicht.

Ich hatte drei Jahre lang, für jeweils eine Sommersaison, als »Gastarbeiter« in einem Zirkus in der Schweiz gearbeitet. Als Koch. Immer wichtiger wurden dann für mich die journalistischen Arbeiten. Ich veröffentlichte sie in der Schweiz und Deutschland. Es zog mich zurück in die alte Heimat. In Biel am schönen See – Weißwein, gebackener Hecht und kleinstädtische Sozialdemokratie – mietete ich eine Wohnung. Der Junge, gerade mal 13 Jahre alt, ging in die Schule und kämpfte mit der schweizerischen Strenge, Iris, sie ist Schauspielerin und Regisseurin, inszenierte schon bald erfolgreich freies Theater und produzierte Hörspiele und Dokumentarfilme für Radio und Fernsehen. Ich arbeitete mal da, mal dort, aber so richtig kam nichts in Schwung. Bei einem Spaziergang über die von Nebel verhangenen Geleise des Güterbahnhofs Biel fiel mir ein freistehendes Haus auf. »Speiseanstalt« stand da in Zement gegossenen Buchstaben an der Fassade. Es war die Kantine der Eisenbahner, die nur tagsüber genutzt wurde. Der Name inspirierte mich. Mit dem Kantinenpächter handelte ich einen Deal aus. Ich wollte in dieser Anstalt für Speisen einen monatlichen Zyklus mit einer Gästetafel, lokalen Spezialitäten, Lesung eigener Texte mit Musik veranstalten. Gegen Geld. Schließlich suchte ich ja nach einer Möglichkeit, meinen Beitrag zum Familienbudget zu leisten.

An einem kalten Novemberabend war es soweit. Mit einer frühwinterlichen jurassischen Spezialität. Der November ist traditionelle Schweineschlachtzeit. Und die Störbrenner ziehen von Weinbauer zu Weinbauer. Die Treberwurst ist eine geräucherte Rohwurst vom Schwein. Sie wird während der Destillation von ausgepressten, nachgegorenen Weintrauben zu Tresterschnaps im Brennkessel gegart. Sehr speziell. Wir standen vor der Speiseanstalt, tranken Schnaps und schauten einander durch die dichten weißen Dampfwolken an. Es roch nach Wurst und Alkohol, man plauderte, lernte sich kennen. Es passte alles zusammen. Dazu gab es Lauchgemüse und Kartoffeln, Chasselas aus den Rebbergen über Ligerz, etwas Jazz und ein paar gelesene Geschichten. Zum Dessert irgendetwas mit Schlagsahne und Vanille. Genau weiß ich das nicht mehr.

Schon 2003 hatte ich eine kleine Sammlung von Essays rund um das Thema Essen und Trinken veröffentlicht. Darin beschrieb ich eine fiktive Organisation, die mit unkonventionellen gastronomischen und gastgeberischen Dienstleistungen dazu beiträgt, Konfliktsituationen zu entschärfen. Die gemeinsame Mahlzeit als kleinster Nenner mit friedensfördernder Wirkung. Eine dieser Geschichten stellte ich an jenem Novemberabend in Biel vor. Monique Zumbrunn, Gast dieser denk- und merkwürdigen Veranstaltung in der Speiseanstalt und alte Wohngemeinschaftsfreundin aus Zürich, kam beim Abschied zu mir: »Diese Organisation, die du da beschreibst … das finde ich eine gute Idee. Wenn du tatsächlich daran denken solltest, so etwas aufzuziehen, lass es mich wissen. Ich bin dabei.« Die Wurst und der Schnaps standen in dieser Nacht Pate zu einer Reise, die im Bieler Nebel begann. Einer Reise, die bis heute andauert.

Ein Jahr zuvor war mein Vater gestorben. Der Altpfarrer und Humanist war mir in den letzten Jahren immer mehr zum spirituellen Vorbild geworden. Nicht selten hatte ich ihn um seine Meinung, seinen Rat gebeten, bevor er in geistiger Umnachtung versank. Sein Tod kam nicht unerwartet. Doch ich spürte den Verlust. Die nicht mehr vorhandene Gegenwart des Vaters ließ mich ratlos zurück.

Eines frühen Abends, einige Tage nach der Beisetzung in einem Urnengrab, fuhr ich mit dem Motorrad zum Friedhof. Die Hagebutten leuchteten schwach aus den entblätterten Rosenbüschen, die frühe Dämmerung stahl die verbliebenen Herbstfarben aus Bäumen und Friedhofsblumen. Es war ein seltsam unromantischer Abschied, ich blieb nur ein paar Minuten vor dem Grab stehen. Beim eisernen Gartentor zwischen Friedhof und Parkplatz ging mir die Frage durch den Kopf: »Was mach ich denn jetzt?« »Das Richtige«, kam als Antwort aus dem eigenen Kopf, auf den ich, ohne stehenzubleiben, den Helm setzte.

Bei der Fahrt über die nasse Landstraße zurück nach Zürich blieben diese beiden Worte in mir hängen. Erst zu Hause kam die zweite Frage nach: »Und was soll denn jetzt das Richtige sein?«

Die Treberwurst war gegessen und Moniques Angebot stand auch zwölf Stunden nach dem »Speiseanstalt«-Abend noch im Raum. Und plötzlich beantwortete sich ganz unspektakulär die Frage nach dem »Richtigen«, die ich seit jenem Friedhofsbesuch mit mir herumtrug. Ich rief Monique in Zürich an.

»Gemeinnützigkeit ist das Hobby der Gutmenschen.«

Falsch, falsch, dreimal falsch. Dem ist nicht so. Wir können der Gemeinnützigkeit nicht ausweichen. Solange wir nicht grob gegen die Regeln der Gemeinschaft in der, von der, für die wir leben, verstoßen, ist so ziemlich alles, was wir tun, gemeinnützig. Mal mit positiven, mal mit negativen Vorzeichen. Der Bereitschaftspolizist, der dem Steinewerfer den Gummiknüppel über die schwarze Sturmhaube zieht, ist ein wahres Wunder an Gemeinnützigkeit, der Steinewerfer glaubt, auch er sei es, und beide tanzen den Gemeinnützigkeitstango auf Straßen und Plätzen und in Wäldern, an denen Atommüll vorbeigekarrt wird. Pablo Escobar, der kolumbianische Kokainkönig, hat Armenviertel renoviert und Schulen gesponsert, Meyer Lansky, der Buchhalter der amerikanischen Mobster, unterstützte mit riesigen Spenden den Aufbau Israels, Adolf Hitler hat die Autobahn gebaut, Großbanken finanzieren philanthropische Fonds. Ihr könnt mir alle gestohlen bleiben mit eurer Gemeinnützigkeit. Wer zuviel darüber nachdenkt, tut gut daran, mit Voltaires Candide den Garten zu bestellen.

Die Cuisine-sans-frontières-Idee beruht auf einer einfachen Über­legung: In Krisensituationen ist eine Gemeinschaft darauf angewiesen, miteinander zu kommunizieren und Lösungen zu erarbeiten, die der jeweiligen Situation gerecht werden. Dazu muss als Erstes ein geschützter Ort geschaffen werden, an dem solche Gespräche ohne Zeitdruck stattfinden können. So ein Ort ist in unseren mehr oder weniger friedlichen Breitengraden oft eine gastronomische Einrichtung, in der ein neutraler Wirt seine Gastfreundschaft zeigt. Er bietet Speise und Getränke an, sorgt für die Hausordnung und lebt von seiner Tätigkeit. Die Gastronomie ist der größte Arbeitgeber der Welt. Essen und Trinken ist dabei nur ein Teilbereich einer Branche, die sich mit sämtlichen Aspekten des sozialen Zusammenlebens beschäftigt. Vor allem aber sind die gastronomischen Einrichtungen Begegnungsstätten.

Das Gastgebertum begleitet uns von der Wiege bis zur Bahre. Traditionen werden gepflegt, Hochzeiten gefeiert, Verstorbene verabschiedet, Versammlungen abgehalten. Man trifft sich – mal verabredet, mal zufällig – mit Menschen, die die gleiche Luft atmen wie man selbst.

Bestimmte Ereignisse wie kriegerische Konflikte, Umweltkatastrophen, wirtschaftliche Armut können von den Betroffenen nur gemeinsam gelöst werden. Voraussetzung dafür ist der offene Austausch von Gedanken, Sorgen, Freuden, Hoffnungen und Wünschen. Nicht immer ist man einer Meinung. Aus dem gleichen Topf zu schöpfen, aus derselben Flasche zu trinken, eine Mahlzeit an einem Tisch zu teilen, schafft das Kollektiv. Die Gestaltung dieses Miteinanders liegt beim Gastgeber. In Krisengebieten gibt es die Gastgeberrolle nicht – es gibt keine Orte mehr, an denen Tischgespräche stattfinden. Da sieht die Cuisine ihre Aufgabe: als Gastgeber zu Tisch zu bitten, um Konflikte zu lösen und Gemeinschaft zu fördern.

Mittlerweile war ich akkreditierter Arbeitsloser, bekam monatlich gerade genug »Stütze« zum Überleben. Ich schrieb Dutzende von Bewerbungen – doch für einen 50jährigen Küchenchef war der Arbeitsmarkt nicht eingerichtet. Freier Journalismus ist auch ein hartes Brot. Wie’s so geht mit den Arbeitslosen: Sie werden gefördert, damit sie der Misere wieder entrinnen können. Ein Kurs wurde, gratis und franko, zum Thema Selbstständigkeit angeboten. Den besuchte ich. Der Kursleiter, dem ich das Modell unserer Hilfsorganisation vorstellte, machte mir in ein paar Minuten klar, dass das kein Weg zurück in den Arbeitsprozess war. Zum Glück fand er aber den Plan, Restaurants mit Kulturbetrieb in Krisenregionen einzurichten, interessant und zerbrach sich mit mir den Kopf, wie sich so etwas clever einrichten ließe. Ich sollte erst einmal einen Verein zu Verwirklichung der Cuisine-Idee einrichten. Statuten, Ziele, Projektpläne skizzieren, über Geld und Personal nachdenken. Dieser Verein, der, mit mir als Präsident, ohne Gewinnabsicht arbeiten sollte, müsse sich an den gesetzlichen Vorgaben orientieren, welche zu befolgen seien, um Gemeinnützigkeit bescheinigt zu bekommen. Damit sei er steuerbefreit und in der Lage, Unterstützungsgelder zu akquirieren, Mitglieder zu werben und die angedachten Hilfsprojekte zu planen. Die eingegangenen Gelder könnten von den Spendern ihrerseits von der Steuer abgesetzt werden.

Ich arbeitete mich durch die Vorschriften, las Regeln und Leitbilder ähnlicher Organisationen, entwarf Statuten, mögliche Projekte und Personalpläne. Dann legte ich dem Mann alles schriftlich vor und er setzte den Rotstift an.

Am Ende waren es keine zehn Seiten, aber mit ihnen konnte man loslegen. Jetzt kam der springende Punkt: Ich sollte nun auch ein Unternehmen gründen. Eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit anonymen Gesellschaftern. Diese flotte kleine GmbH sollte die ganz normale, unternehmerisch geführte Cash Cow für mein persönliches Einkommen werden. Damit ich dort juristisch nicht in Erscheinung treten müsse, könne ich einen guten Freund, meine Frau, einen Treuhänder oder sonstwen als Geschäftsführer einsetzen. Weil dann nämlich diese GmbH die Arbeiten ausführte, die sie vom gemeinnützigen Verein bekäme. Weil der Verein nicht operativ tätig sei. Er vergebe Aufträge, für die ganz normal Rechnungen gestellt würden. Einfach, nicht wahr? Und völlig legal.

So saßen wir schließlich in Moniques Küche. Im Ofen schmurgelte die Lammkeule und wir tranken auf das Netzwerk, in dem wir uns und unsere guten Taten fangen wollten. Wir waren zu dritt, das genügt für eine Vereinsgründung. Monique, mein Freund Charles und ich. Geschäftig breitete ich die erarbeiten Unterlagen auf dem Küchentisch aus. Doch ich hatte nicht mit Moniques Rechtschaffenheit gerechnet. Mein Plan sei ein betrügerischer Versuch, die erbettelten Spendengelder in die eigene Tasche zu wirtschaften, ob legal oder illegal, sei ihr scheißegal, bei sowas würde sie nicht mitmachen. Punkt. Auch Charles, eher vertraut mit den Gepflogenheiten des Kapitalismus, stellte den Kopf schräg. Etwas lusch sei es schon. Sie hatten gut reden. Beide hatten sie ganz normale, gutbezahlte Jobs – ich war der Einzige ohne Einkommen. Zudem war mir nur zu bewusst, dass die zu erwartende Aufgabe nicht »nebenbei« zu erledigen war. Mein Kind sei es, das sie hier mit auf die Welt bringen würden, meinten die Freunde, aber dass ich damit auch irgendwie meinen Lebensunterhalt verdienen wolle, stand nicht im Plan. Selbstlos und edel sollte sie sein, die Gemeinnützigkeit. Ich gab klein bei. Keine GmbH, nur der Verein sollte werden. Damit war wieder gut Wetter am Küchentisch.

Heute weiß ich, dass das GmbH-Modell und ähnliche Konstrukte oft und bedenkenlos im Entwicklungsdienst eingesetzt werden. Haben wir uns in diesem Küchentischmoment selbst ein Bein gestellt? Ich glaube nicht. Was entstand, war ein kleines, unabhängiges, idealistisch geprägtes Piratenunternehmen, das frei war von allen Einschränkungen. Die moralische Korruption in vielen Hilfswerken ist unübersehbar. Entweder wird ein ideologisches oder ein wirtschaftliches Paket verkauft. Lobbyarbeit ist Pflicht, Arroganz der Macht Gewohnheit. Wer zahlt, befiehlt. Trotz geschliffener Rechtfertigungsrhetorik dienen die überteuerten Programme der Entwicklungszusammenarbeit meist politischen und wirtschaftlichen Zielen. Das Geschwafel vom Einbezug der lokalen Bevölkerung kann ich nicht mehr hören. Ob Bildungsindustrie oder Gesundheitsreform, die »Betroffenen« sollen das tun, was wir wollen. Die Löhne unserer Experten in den großen staatlichen Diensten sind hoch und begleitet von allerlei Privilegien. Riesige Summen werden eingesetzt und meist gewinnträchtig angelegt. Es bedanken sich Banken. Eingesetzte Steuergelder werden umgehend zurück in die Taschen privater Unternehmen jongliert. Selbst die großen Nothilfeaktionen bei Erdbeben oder Überschwemmungen sind letztendlich Einkommensquellen des Westens. Die Helfer drängeln sich in logobedruckten Schutzwesten in den Ruinen, um ihren Wert zu erhöhen. Eine Handvoll Lawinenhunde und Hundeführer in Fukushima kosteten ein paar Millionen Schweizerfranken und haben außer Spesen nichts gebracht. Aber die Boulevardpresse lobte die fabelhafte Leistung von Barri und Rex über den grünen Klee. Korruption in den sogenannten Entwicklungsländern wird geradezu systematisch gefördert. Mit à fonds perdu vergebenen Zuschüssen an Ministerien und Politiker. So kann man einen Staudamm verkaufen.

Ein Mitarbeiter der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, der staatlichen deutschen GIZ, sagte mir, ohne mit der Wimper zu zucken: »Wir fördern keine Projekte, die nicht auf ökonomi­schen Gewinn ausgerichtet sind.« Eine Vorgabe, nämlich 0,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der industrialisierten Länder der Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen, wurde von den Vereinten Nation bereits 1972 definiert. Das wäre sehr viel Geld – das aber nicht zur Verfügung steht. Die meisten Geberländer erreichen noch nicht mal die 0,5-Prozent-Grenze. Werden die 0,7 Prozent ausnahmsweise von einem der Krösusstaaten ausgegeben, trommelt er sich in allen Medien auf die Brust. Übrigens werden auch die Milliarden, die wir dafür einsetzen, Flüchtlingen den Weg zu versperren oder sie umgehend mit dem nächsten Flieger wieder in die Wüste zu schicken, als Entwicklungszusammenarbeit abgerechnet. Sind ja eh alles Wirtschaftsflüchtlinge, sollen doch gefälligst für zwei Dollar am Tag zu Hause im Kongo in den Seltenen Erden kratzen. Versuche von philanthropischen, meist privaten Hilfswerken werden nicht gerne gesehen. Schließlich ist das Geschäft mit der Hilfe in festen Händen. Darum werden den Schiffen, die Ertrinkende aus dem Mittelmeer zu retten versuchen – was ja auch von der Marine übernommen werden könnte –, laufend Steine in den Weg gelegt, Prozesse gemacht, schützende Häfen verweigert, und man beschimpft die Helfer hämisch als Gutmenschen, die offenbar nicht kapiert haben, dass Humanität ein schlechter Ratgeber ist.

0,7 Prozent! Von wegen!

Diese Tirade zur eigenen Psychohygiene könnte ich seitenlang weiterführen. Aber es gibt auch das Gegengewicht. Es gibt Hunderttausende von Einzelpersonen und Tausende von kleinen und mittleren und auch ein paar wenigen großen Nichtregierungsorganisationen, NGOs, die uneigennützig anstrengende Dinge tun, um ihrer Verantwortung für das Ganze gerecht zu werden.

Da ist der Schreiner, der auf eigene Kosten seine alte, aber intakte Bandsäge einem Betrieb in Tunesien zukommen lässt. Der in seinen Ferien hinfährt, das Teil einrichtet und den Arbeitern zeigt, wie man es bedient. Die Laborantin, die fünf Patenkinder in Tansania hat, der Arzt, der drei Monate im Jahr im bolivianischen Potosí eine ambulante kostenlose Zahnarztpraxis führt. Tony el Suizo, der aus ausgedientem Eisenschrott Hunderte Brücken in abgelegenen Gebieten gebaut hat. Bruno Manser, der seinen Einsatz für die Ureinwohner in Malaysia mit dem Leben bezahlt hat. Die tapferen jungen Leute von der PBI, der Peace Brigades International, die in den gefährlichsten Gebieten der Welt Aktivisten persönlich begleiten, um zu verhindern, dass sie ermordet werden. Missionare der Befreiungstheologie, die unablässig für soziale Gerechtigkeit streiten. Der Fußballtrainer, der im Slum von Nairobi einen Fußballklub aufbaut. Der Ex-Soldat, der Minen sucht, findet und entschärft, der Elektriker, der Solarstrompaneele aufbaut, wo es keinen Strom gibt, die Dübendorfer Dame, die in afrikanischen Slums Brauchwasserspülungen in öffentlichen Klos installiert. Und so weiter und sofort.

Ich habe viele solcher Helfer getroffen. Sie reisen in der Holzklasse, schlafen in Absteigen und Hängematten, essen mit den Armen in den Armenküchen und tun, was ein Mensch tun muss. Hingehen statt hinsehen. Man trifft sie dort, wo man die mit Diplom und Schutzbrief ausgestatteten Entwicklungshelfer nicht antrifft. Die haben Angst, entführt zu werden, Angst, als Repräsentanten der Unterdrücker erkannt zu werden. Selbstlose Helfer, die kein Trara machen und kein Logo auf der Schutzweste tragen, sind tatsächlich für anderes als für sich selbst unterwegs. Sie haben keine Versicherung und keine Altersvorsorge – und sie tragen ihre Betroffenheit nicht offen zur Schau. Weil es ihnen wichtiger ist, Verantwortung wahrzunehmen. Unabhängig von Politik und Wirtschaft. Etwas ist ihnen allen gemeinsam: dass sie selten oder nie mit öffentlichen Geldern funktionieren. Sie beuten sich selbst aus.

Gute Menschen.

Die Wahrheit liegt natürlich in der Mitte. Es ist nichts dagegen zu sagen, wenn jemand für seine Arbeit einen adäquaten Lohn bekommt. In einem kapitalistisch-neoliberalen System ist es auch wichtig, gewinnorientierte Aufbauarbeit zu leisten. Nur ist hier, wie auf vielen anderen Ebenen der sozialen Standards, eine ungesunde Schräglage entstanden. Entwicklungszusammenarbeit ist eingebunden in den globalen Handel und handelt dementsprechend. Die einzelnen Dienste stehen in Konkurrenz zueinander. Koordinationsfehler richten zum Teil verheerenden Schaden an. Tatsächlich weiß man oft nicht, wohin mit dem Geld. Auflagen ideologischer und politischer Art verstellen den Blick auf die Situationen vor Ort. Es sind die ganz einfachen Dinge, die schlussendlich im lokalen Zusammenhang etwas erreichen. Der berühmte Spruch von Konfuzius: »Gib einem Mann einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du ernährst ihn für sein Leben«, ist zwar nett gesagt, stimmt aber nicht. Der Mann, der da fischen lernen soll, lebt bereits an einem Gewässer und braucht keine Sprücheklopfer, die ihm was vom Fisch erzählen. Was er braucht, ist, dass man ihm seinen Fisch nicht vor der Nase wegfischt und zu Fischstäbchen verarbeitet, die man dann in Europa im Supermarkt verkauft. Oder einfach wegschmeißt.

Zurzeit ist nicht nur der sechsbeinige Torfklopfer vom Untergang bedroht. Ganze Kulturen sind am Abserbeln. Traditionelles Wissen geht unwiederbringlich verloren. Wissen, auf das zu verzichten wir uns nicht leisten können. Stämme verschwinden, die seit Hunderten von Generationen im Einklang mit der Natur nach ihrer eigenen Kosmovision leben, ohne ihren Boden, von dem sie leben, ständiger Gewinnoptimierung zu opfern. Dieser verrückte Glauben, dass die westliche Wertegesellschaft die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte und nur wir wüssten, wo es langzugehen hat, ist Blödsinn. Es ist geradezu schaurig wichtig geworden, jetzt genau hinzuhören. Global denken. Lernen anstatt lehren. Sich kennenlernen, ohne künstliche Bedürfnisse zu schaffen. Wenn am Schluss das Eigene und das Fremde in einen Topf geworfen werden, kann etwas Neues entstehen. Dazu eignen sich Kartoffelsuppenrezepte aus aller Welt.

Schlussendlich haben wir den Verein gegründet. Und uns wurde Gemeinnützigkeit zugesprochen. Monique nahm mir die administrative Arbeit tatsächlich ab. Sie, Charles und ich bildeten den Vorstand. Ich ging Klinken putzen, um Verwandte, Freunde und Bekannte mit ins Boot zu holen. Das Anliegen der Cuisine war und ist bis heute auf den ersten Blick einfach. Gemeinsames Essen und Trinken schaffen eine Vertrauensbasis, aus der sich ein Miteinander ergibt. Dieses Miteinander ist wiederum die Basis, um Konflikte und Meinungsverschiedenheiten anzupacken. Lösungen werden sichtbar und können konkret in Angriff genommen werden. Da ich von unserem Anliegen überzeugt war, es immer noch bin, fiel es mir leicht, Gesprächspartner für die Cuisine-Idee zu gewinnen. Neben Freunden und Verwandten gab es nicht wenige Gastronomen, denen das Konzept einleuchtete. Wir organisierten Aktionswochen in Restaurants, Bars, druckten Flugblätter und stellten neben Kantinenkassen kleine rosa Sparschweinchen mit Kochmützen auf. Wir trafen auf Leute, die bereit waren zu helfen, gewannen Mitglieder für den Verein. Geld kam in die Kasse. Es fanden sich Mitstreiter, die ohne Bezahlung Zeit investierten. Los gehts! Aber das erste gastronomische Projekt am Grenzfluss zwischen Ecuador und Kolumbien, am Río San Miguel, kam über die Planungsphase nicht hinaus. Schnell stellte sich heraus, dass ich mir viel zu blauäugig ein schwieriges Kriegsgebiet ausgesucht hatte. Es war einfach zu gefährlich.

3Besuch in Anderswo

Das ist dein Kind … Dann fahr halt mal hin … Süßer Tee aus dem Samowar … Nach dem Störfall … London, Paris, Berlin … Ein Mahnmal des Untergangs.

Und dann kam die Reise nach Tschernobyl.

Die Cuisine existierte als Verein seit knapp einem Jahr. Ein erstes Projekt in Kolumbien war schneller gescheitert, als es anfangen konnte. Doch wir hatten einige Aktionen unternommen, um Geld zu sammeln. In der Kasse lagen ein paar tausend Franken. Wir mussten jetzt irgendwo beweisen, dass unser Konzept funktionierte. Die großen Hilfswerke, mit denen wir gerne kooperiert hätten, nahmen uns nicht ernst. Ich erinnere mich an das Gespräch mit einer Vertreterin von »Brot für die Welt« in Luzern. Als ich die Frage: »… und gibt es denn bereits ein einziges solches Restaurant, das von euch gebaut wurde?« verneinen musste, klappte sie ihren Notizblock zu.

Alle fanden unsere Idee hübsch. Aber so richtig wagemutige Unterstützer, vor allem auch finanziell, hatten wir nicht. So waren wir weitgehend auf uns selbst gestellt. Zwar hätte ich, wenn mir jeder mit seinem guten Ratschlag einen Franken schenkte, genügend Geld gehabt, um etwas damit anzufangen. Aber eben hätte, würde, könnte … der Konjunktiv hatte Konjunktur. Niemand hatte wirklich Zeit oder war bereit, sich in unsichere Abenteuer zu stürzen. »Das ist dein Kind«, hörte ich oft, »du musst es selber großziehen.« Schlussendlich war es ein Werbefachmann, der mir riet, einen gegebenen Anlass zu nutzen. Tschernobyl sei gerade mal wieder in aller Munde. 20 Jahre, nicht gerade ein Jubiläum, aber zumindest gut versenkt im Gedächtnis der Menschen. Noch sei im radioaktiven Katastrophengebiet nichts in Ordnung. Falls ich dort etwas erreichen würde, könne man weitersehen.

Auch 20 Jahre nach der Katastrophe gab es in der Schweiz immer noch umfangreiche Hilfsaktionen zugunsten der damals geschädigten Familien. Und der Verein »Tschernobylkinder« ermöglicht heute noch Kindern und Jugendlichen aus den verstrahlten Gebieten einen Besuch in der Schweiz. Sommerliche Ferienlager. Mit diesem Verein und seinen ehrenamtlichen Helfern nahm ich Kontakt auf und trug ihnen die Idee der Cuisine vor. »Warum nicht«, meinten sie und gaben mir die Adresse eines Arztes in der Bauerngemeinde Lipniki. Dort sollte ich mich umsehen. Sie würden mich ankündigen. Ich begann meine Reise zu planen, suchte via Schweizer Botschaft einen Dolmetscher, packte den Wintermantel ein und flog nach Kiew.

Eine Reise ins Unbekannte. Niemand holte mich vom Flugplatz ab. Mit den Schultern zuckte der Vertreter der DEZA, der schweizerischen staatlichen Hilfsorganisation. »Dann fahr halt mal hin.« DEZA, Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, ein fast sowjetisch klingender Name. Man befasste sich in jenen Tagen vor allem mit Gefängnisreformen in der Ukraine. Immerhin nahm man sich eine halbe Stunde Zeit für mich. Ich habe die Leute nie wiedergesehen. Mit den Schultern zuckte auch Maksim, der ernste, bleiche junge Mann. Mein Dolmetscher. Ich traf ihn nachmittags in einem schicken Kaffeehaus der Kiewer Innenstadt. Als ich ihm erklärte, was ich vorhatte, reagierte er verhalten. »Fahren wir hin.« Der Doktor hatte sich telefonisch bereit erklärt, mich für ein paar Tage aufzunehmen. Nein, mitbringen müsse ich nichts. Kartoffeln hätten sie immer.

Maksim und ich gingen zum Bahnhof, einem großen Gebäude mit Hallen, Übergängen, Verkaufsständen und Zeitungskiosken, wo ich alleine verlorengegangen wäre. Maksim war kein begabter Redner. Aber er lotste mich durch all die winterfest gekleideten Menschen, stand am richtigen Schalter an und besorgte die Fahrkarten für den nächsten Tag. Am Abend brachte er mich in ein günstiges Hotel, das riesengroß war – aber offenbar kein Restaurant hatte. Mein Zimmer war ein sechs Quadratmeter großes so­zia­listisches, verwohntes Elend mit ehemals roten, jetzt rosa vergilbten Vorhängen, staubig und überheizt. Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Am späteren Abend klingelte das Telefon und eine Frauenstimme fragte, ob ich »ficki – ficki« bräuchte. Bloß nicht. Ich las, Lesen hilft. Dann schlief ich ein.

Maksim holt mich noch im Morgendunkel ab. Die U-Bahn zum Bahnhof ist überfüllt, sodass ich ständig jemandem im Weg stehe. Maksim führt mich vorsichtig am Arm. Offenbar folgen die dichten Menschenströme in der U-Bahn und auf den Rolltreppen in schlecht beleuchteten unterirdischen Gängen geheimen Regeln. Ganz Kiew ist unterwegs. Mir fallen die vielen jungen, gutaussehenden Frauen auf, dicke gesteppte Jacken, Pelzmützen, gekonntes Make-up, die Beine stecken in Wollstrümpfen und die Füße in kniehohen Stiefeln. Doch keine lächelt. Apropos Pelzmützen. Ich scheine der einzige Barhäuptige hier zu sein. Arbeiter in festen Jacken mit breiten Schultern, Kappen und – natürlich – Pelzmützen. Im U-Bahnabteil stehen alle sardinendicht, die Luft zum Schneiden. Mein kleiner Koffer verkeilt sich zwischen Menschenbeinen. Am Bahnhof kauft Maksim für mich eine Pelzmütze, grau, flauschig, künstlich. »Für die Ohren.« Sie stehe mir gut, grinst er. Dann Treppen hoch, bevor wir die Halle durchqueren, die voll ist wie zuvor die U-Bahn. An nicht erkletterbaren Wänden Gemälde und Reliefs aus großen vergangenen Zeiten.

Maksims Fürsorge rührt mich, ich fühle mich in guten Händen. Rechtzeitig kommen wir auf dem Bahnsteig an, wo der lange Zug graubraun ruht. Nein, nicht einfach einsteigen, sitzen und abfahren. Es gibt reservierte Plätze. Und nur dort wird gesessen. Die müssen wir jetzt suchen. Nach dem Einsteigen klettern wir über in den Gängen gelagertes Reisegut. Am Platz dann ist es warm, eng und gemütlich. Die Jacke, die Mütze, die Handschuhe, der Pullover, alles wird ausgezogen und neben den Taschen, Koffern und Rucksäcken rundum gestaut. Es beginnt bereits zu ruckeln, zu quietschen und Eisen bollert gegen Eisen, als sich der Zug aus dem Bahnhof schiebt und die Fenster hell werden. Eine beleibte Frau in Uniform streckt den Kopf ins Abteil, in dem wir uns zu sechst eingenistet haben. Sie spricht, Maksim nickt und ein paar Minuten später erhalten wir sehr dunklen, sehr süßen Tee aus dem Samowar. Der Zug schwankt hin und her, rattert, schleift, klappert und draußen liegt Schnee. Es ist angenehm, Tee zu schlürfen, während die Mitbewohner des Eisenbahnabteils plaudern, ein Nickerchen halten oder die Zeitung lesen. Es ist trotz der hellen Fensterscheiben ein wenig zwielichtig, draußen ist nichts, Staub und Schmutz bremsen den Blick in eine große helle Weite.

Die Bahnstation liegt mitten im Nirgendwo und es ist so kalt, wie ich es mir gedacht habe. Um die 30 Minusgrade. Die Härchen in der Nase gefrieren beim Einatmen, ich brauche den Schutz der Handflächen. Wir werden abgeholt vom Arzt von Lipniki, der uns hier erwartet. Mit einem alten roten Lada. Über die Straßen fegt ein eisiger Wind, der Schnee pulvert alles zu, kaum erkennt man Straßenmitte oder Straßenrand. Zudem dämmert es, es wird grau und grauer. Man sieht nur eine schwarzweiße Landschaft, sonst nichts. »Wir werden eine Panne haben und erfrieren«, denke ich, »wir werden still im Auto sitzen und den Eisblumen zuschauen, die über die Fenster wachsen und am Ende über unsere Augen.« Das Auto fährt, heizt, so gut es kann und schlingert manchmal, aber Michail, der Landarzt, hat seinen Lada im Griff. »Wir werden also doch nicht erfrieren.« Ich bin beruhigt, stecke die Hände in meine Wintermanteltaschen, lasse die immer dunkler werdende Landschaft wie auf einer Kinoleinwand für eine Stunde an mir vorbeigleiten. Bis wir ankommen.

Rostige Zäune, Gebäude mit gesprungenen Fenstern. Lipniki liegt 60 Kilometer weit weg vom Reaktor. Eigentlich waren alle Menschen damals nach dem Störfall evakuiert worden. Doch wurde Lipniki zumindest nicht untergepflügt wie andere nahegelegene Dörfer. Michail hat sie mir gezeigt, eine dieser Grabstätten, wo nur noch die große Linde steht, der damalige Dorfmittelpunkt. Der Rest ist flach, keine Grundmauer ist übriggeblieben. Hohe braune Grashalme wiegen sich im Wind über der gefrorenen Schneedecke. Wildschweinspuren. Lipniki besitzt noch immer großangelegte Landwirtschaftsflächen, die in kleinstem Maßstab wieder bebaut werden. Mit Hopfen zum Beispiel. Den könne man verkaufen. Kartoffeln, Rote Beete und Roggen zur Selbstversorgung. Sicher sei das alles verstrahlt. Aber wer messe das schon. Das ursprünglich blühende Kolchosedorf mit 3 000 Arbeitern ist bis auf wenige 100 Einwohner verlassen. Und die geben sich alle Mühe. Die Kolchoseverwaltung ist tipptopp gepflegt, auch wenn die Büros mit den Schreibmaschinen und den Bakelittelefonen unbesetzt sind. Das Theater mit 200 Plätzen mit sowjetroten Vorhängen, Sitzbezügen und Garderobenhaken ist leer und intakt, fast hört man den Kolchosechor fröhliche Bauernlieder singen. Allerdings weit weg, im Rauschen vergangener Zeiten. Das ehemalige Gästehaus des landwirtschaftlichen Großbetriebs steht leer, in den Zimmern, im unbenutzten Restaurant, in der Großküche und im Festsaal hängen Eiszapfen von den geborstenen Decken. Auch die Lagerräume sind leer, die Kühlschränke abgeschaltet. Doch der kleine, geheizte Laden nebenan funktioniert. Batterien, Wodka, Kohl und Kartoffeln, warme Stiefel und Schaufeln, eingelegte Gurken, Brot, Sardinen und Wurst, Spielsachen aus Plastik, Einmachgläser und Wolle zum Stricken werden angeboten. Und osteuropäische Mittelfreundlichkeit.