Kognitive Apokalypse - Gérald Bronner - E-Book

Kognitive Apokalypse E-Book

Gérald Bronner

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Beschreibung

Wir sind reicher denn je. Zumindest gemessen an jener freien Zeit, die als Grundvoraussetzung menschlichen Fortschritts gilt und in der wir Heilmittel gegen Krebs entwickeln, Kunstwerke erschaffen und die Welt zu einem besseren Ort machen können. Doch wie Gérald Bronner in seinem hochaktuellen und Augen öffnenden Buch zeigt, laufen wir Gefahr, diesen kostbaren Schatz zu verspielen, lassen wir zu, dass die Verlockungen der digitalen Welt den Wettbewerb um unsere Aufmerksamkeit gewinnen. 3,7 Stunden verbringen wir täglich vor Bildschirmen. Wir lesen Mails, schauen Videos, springen von einer Website zur nächsten, prüfen, wie viele Likes unser neues Profilbild hat, scrollen durch soziale Netzwerke, und selbst die Suche nach einem neuen Partner verlagert sich zunehmend in die digitale Welt. Wir swipen, klicken, liken, kommentieren und merken kaum, was es bedeutet, dass wir das Gros unserer freien Zeit in einer Welt zubringen, in der Hass, krude Theorien und Fake News oft mühelos Wahrheit, Wissenschaft und gute Argumente dominieren. In seiner Pathologie der digitalen Gesellschaft erklärt der renommierte Soziologe Gérald Bronner, gestützt auf soziologische, psychologische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse, was unser Verhalten in der digitalen Welt über uns und unsere tiefsten Sehnsüchte offenbart.

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Gérald Bronner

Kognitive Apokalypse

Eine Pathologie der digitalen Gesellschaft

Aus dem Französischen

von Michael Bischoff

C.H.Beck

Inhalt

Subjektives Vorwort: Eine großartige Zeit

I: Der kostbarste aller Schätze

Die befreiten Menschen

Eine andere Geschichte der Menschheit

Der 11. Mai 1997

Der Blitzkrieg der Computer

Externalisierung

Ein Schatz von unschätzbarem Wert

Bis hierher läuft doch alles gut

Im Stehen schlafen

Während du deinen Bildschirm beobachtest, beobachtet der Bildschirm dich

II: So viele verfügbare Gehirne

Ein globaler «Cocktailparty-Effekt»

Die Brust bedecken …

Angst im Leib

Der Kampf der Zusammenstöße

Sie werden niemals erraten, wovon dieses Kapitel handelt …

Selbstmisshandlung

Offenbarung

Die Aufbereitung der Welt

Die Wahrheit setzt sich nicht von allein durch

III: Die Zukunft ist gar nicht so fern

Das Schreckenshaupt

Der Geschmack der Unsrigen

Der seiner Natur entfremdete Mensch

Der Preis, den wir zu zahlen haben

Private Lüge, öffentliche Wahrheit

Formen des Neopopulismus

Kampf der Narrative

Schluss: Der Endkampf

Der Wert der Wissenschaft

Dank

Anmerkungen

Subjektives Vorwort: Eine großartige Zeit

I. Der kostbarste aller Schätze

II. So viele verfügbare Gehirne

III. Die Zukunft ist gar nicht so fern

Schluss: Der Endkampf

Bibliografie

Für Daphnée

«Vielleicht wäre es in unserem Jahrhundert die höchste Tugend, der Unmenschlichkeit ins Gesicht zu sehen, ohne den Glauben an die Menschen zu verlieren.»

Raymond Aron

Subjektives Vorwort

Eine großartige Zeit

Im November 1989 fiel die Berliner Mauer. Obwohl ich damals noch etwas zu jung war, um die ganze Tragweite dieses Ereignisses zu erfassen, sah ich doch klar, dass es sich um etwas Erfreuliches handelte: Die Menschen jubelten und tanzten. Im selben Jahr stürzten auch die finsteren Ceauşescus. Kurz gesagt, mit dem Niedergang des sowjetischen Imperiums hielt die große Geschichte Einzug bei uns zu Hause, und wir hatten Gelegenheit, selbst Zeuge des historischen Geschehens zu werden. Zugleich gab es da eine gewisse Melancholie, denn wie manche behaupteten, würden wir so etwas nicht noch einmal erleben. Zu ihnen gehörte Francis Fukuyama, der vor kaum dreißig Jahren ein Buch veröffentlichte, das in der ganzen Welt Aufmerksamkeit erregen sollte: Das Ende der Geschichte. Dieses Buch des jungen Politikwissenschaftlers, das einen 1989 in der Zeitschrift The National Interest veröffentlichten Aufsatz weiter ausarbeitete, galt manchen als einer der wichtigsten Texte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Darin konnte man lesen, der Untergang des kommunistischen Imperiums kündige die Monopolstellung des Ideals der liberalen Demokratie an. Fukuyama wusste sehr wohl, dass Gewalt und Wirren damit durchaus nicht verschwinden würden, aber er glaubte zumindest, dass kein ideologisches System mehr mit der liberalen Demokratie konkurrieren könnte, die von nun an den einzigen möglichen Horizont des politischen Denkens bilden werde.

Irgendetwas gefiel mir nicht an der allgemeinen Befriedung, die man uns da prophezeite. War das die Laune eines verwöhnten Kindes? Sollte das Leben für uns nun wirklich einen ruhigen und langweiligen Lauf nehmen? Wer so dachte, hatte offenbar nicht die Schrecken der Geschichte erlebt, doch mit diesem Gefühl endete für mich das vergangene Jahrhundert. Ich bemerkte auch, dass die moralische Empörung, die damals schon zu einem Dauerzustand wurde, meiner Generation als Deckmantel diente, auch wenn sie nicht weniger mutig als die anderen war, aber keine Gelegenheit zu wirklichen Heldentaten fand. Ging die Geschichte tatsächlich ihrem Ende entgegen? Meine intellektuelle Bildung hätte schon sehr unvollkommen sein müssen, wenn ich an solche Märchen geglaubt hätte. Die Geschichte kommt niemals an ein Ende.

Drei Jahrzehnte später scheint die Geschichte zu galoppieren. Ihr Lauf hat solch eine Geschwindigkeit erreicht, dass es fast unmöglich ist, sie ordentlich zu denken. Es gibt zahlreiche politische Systeme, die sich als Ersatz für das Modell der liberalen Demokratien anbieten: die autoritäre Marktgesellschaft wie in China, eine Demokratur wie in der Türkei oder in Russland, der politische Islam oder auch die gesellschaftlichen Veränderungen, wie sie die verschiedenen politischen Zweige der ökologischen Bewegung vorschlagen, die sich zum Teil gegen ein weiteres Wachstum wenden, während andere sich dem Antispeziesismus verschreiben.

Unter all den Eigenheiten dieser leidenschaftlichen und beunruhigenden Zeit ist mir besonders in Erinnerung geblieben, dass die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts eine massive Deregulierung des kognitiven Marktes herbeiführten, den man auch als Markt der Ideen bezeichnen könnte. Diese Deregulierung lässt sich einerseits durch die ungeheure, in der Geschichte der Menschheit beispiellose Masse verfügbarer Information und andererseits durch die Tatsache erfassen, dass jeder seine eigene Darstellung der Welt in dieses Meer einfließen lassen kann. Die neue Situation schwächte die Rolle der traditionellen Gatekeeper, die hinsichtlich dieses Marktes eine regulierende Funktion ausübten (Journalisten, akademische Experten, kurz alle, die als gesellschaftlich legitimiert galten, sich an der öffentlichen Debatte zu beteiligen). Heute kann jeder, der über einen Account in einem sozialen Netzwerk verfügt, seine Ansichten, zum Beispiel über Impfstoffe, direkt gegen die eines Medizinprofessors stellen – und sich dabei möglicherweise noch mit einem größeren Publikum brüsten.

Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Glaube und methodisches Denken in Wettstreit miteinander treten, wenngleich der Glaube dem methodischen Denken oft ganz buchstäblich verbieten konnte, seine Positionen zum Ausdruck zu bringen. In manchen Gesellschaften wurden Menschen, die sich dennoch für die aufkommende Wissenschaft und das methodische Denken einsetzten, mit dem Tode bestraft. Der Glaube vermag also dem Wissen zu verbieten, seine Argumente zur Geltung zu bringen, etwa unter Androhung des Todes auf dem Scheiterhaufen. Er bemüht sich jedoch meist um Arrangements, die es ihm erlauben, eine direkte Konfrontation mit für ihn abträglichen Argumenten zu vermeiden. Als man zum Beispiel in der Scholastik nach den Verbindungen zwischen Gott und der Natur fragte, fühlten sich die Denker der Zeit zwischen Glaube und Vernunft hin- und hergerissen. Das 13. Jahrhundert war von Krisen an den Universitäten geprägt, und so erfand man jene doppelte Wahrheit, die der Historiker Alain de Libera als «mittelalterliche Schizophrenie» bezeichnet hat.[1] Danach vermag ein und dieselbe Person als Philosoph das eine und als Christ etwas ganz anderes zu glauben. Das ist einer der Auswege, die Menschen in der Geschichte ersannen, um einer Konfrontation aus dem Wege zu gehen. Diese Lösung hielt jedoch nur eine begrenzte Zeit, und die Fortschritte der Erkenntnis traten oft in direkte Konkurrenz zu wörtlichen Auslegungen der religiösen Schriften oder zu all den anderen Aussagen aus dem Bereich des Übernatürlichen, der Magie und der Pseudowissenschaften.

Hier nur ein Beispiel von vielen. Die in der Bibel (Genesis 1,20–​30 und 2,7) dargestellte Sicht, wonach die Tiere und der Mensch von Gott erschaffen wurden, und zwar jede Art getrennt von den anderen, hat viel von ihrem Ansehen verloren. Der dort vertretenen These, unsere Erde sei in sechs Tagen erschaffen worden (Genesis 1,1–​31) und sei 6000 Jahre alt, ergeht es kaum besser angesichts der Entdeckung der Fossilien, ihrer Datierung und allgemein der wissenschaftlichen Fortschritte insbesondere des 19. Jahrhunderts. All das ist höchst unbequem für das biblische Weltbild, das jahrhundertelang die Vorherrschaft besaß, und man kann sagen, dass die von der Wissenschaft vorgeschlagenen geistigen Modelle in eine feindliche Konkurrenz zu den von der Religion behaupteten getreten sind.

Angesichts solcher Widersprüche bleiben dem Gläubigen mehrere Möglichkeiten. Er kann seinen Glauben aufgeben und einräumen, dass die Bibel, auf die er seinen Glauben stützt, aus erfundenen Geschichten bestehe; oder er kann daran festhalten, dass Darwins Theorie falsch sei. Und tatsächlich wird die zweite Option häufiger gewählt als die erste. Nur selten gibt ein Gläubiger seinen Glauben allein wegen widersprechender Fakten auf, so gut sie auch begründet sein mögen. Vielmehr wird er versuchen, deren Befürworter in Misskredit zu bringen, die Methoden, die zu diesen unliebsamen Erkenntnissen geführt haben, bis ins Unendliche zu zerlegen und Fehler in der zugrundeliegenden Argumentation ausfindig zu machen. Kurz, er wird sich nicht geschlagen geben, sondern bis zum Ende kämpfen, um die Darstellung zu bewahren, die ihn entfremdet, ohne dass er sich dessen bewusst wäre.

Genau diese Strategie wird heute zum Beispiel noch in der Türkei eingesetzt, wo der Rat für höhere Bildung 2017 beschloss, Darwins Theorie aus den Biologielehrbüchern zu entfernen, weil sie mit den Werten des Landes nicht vereinbar sei. Seither dürfen nur über Achtzehnjährige in die Erkenntnisse eingeweiht werden, die den wissenschaftlichen Zugang zum Rätsel des Lebens bilden. Die Evolutionstheorie wird dort also als jugendgefährdend eingestuft, desgleichen in Saudi-Arabien. In den Vereinigten Staaten von Amerika wird die Evolutionstheorie zwar nicht aus den Schulen verbannt, aber sie findet kein großes Publikum. Man kann sich natürlich über den Befund des Gallup Instituts freuen, wonach in diesem Land die Zustimmung zu Darwins Thesen noch nie sie groß war wie 2019, aber die Begeisterung dürfte nachlassen, wenn man erfährt, dass nur 22 Prozent der Ansicht waren, dass «die Lebewesen sich über Millionen von Jahren aus weniger fortgeschrittenen Lebensformen entwickelt haben und Gott mit diesem Phänomen nichts zu tun hat». 1983 hatte dieser Anteil nur 9 Prozent betragen. Dennoch glauben mehr als 70 Prozent der Einwohner der Weltmacht Nr. 1 auch heute noch den religiösen Thesen zur Biologie.

Und noch eine dritte Strategie bietet sich dem Gläubigen an, wenn der Fortschritt des Wissens seine Vorstellungen bedroht: die Ansicht, dass es sich um einen Scheingegensatz handele. Diese Strategie beobachten wir seit dem 19. Jahrhundert. Sie besteht darin, dem Gläubigen vorzugaukeln, er könne beides haben. Viele Katholiken interpretieren die biblischen Zeiten als Metapher für sehr lange, geologische Zeiträume. Danach beschreibt die Bibel die äußerst langsame Herausbildung des Universums und die schrittweise Entstehung der Arten ganz gemäß den späteren Entdeckungen der Wissenschaften. So geraten sie denn in Verzückung über die großartige Modernität und wissenschaftliche Voraussicht der Heiligen Schrift.[2] Die Botschaft Papst Johannes Pauls II. an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie der Wissenschaft vom 22. Oktober 1996 lässt erkennen, dass eine Lösung dieser Art den Segen des Vatikans hätte. Insbesondere erklärt der Papst dort, man habe «Anlass, in der Evolutionstheorie mehr als eine Hypothese zu sehen», und verweist in diesem Zusammenhang auf «die Fruchtbarkeit eines vertrauensvollen Dialogs zwischen Kirche und Wissenschaft».[3] Die sinnbildliche Interpretation der Texte statt der früheren wörtlichen Auslegung ist eine der häufigsten Listen des Glaubens bei dem Versuch, eine direkte Konfrontation mit den Argumenten der Wissenschaft zu vermeiden. Dadurch erhält der Glaube eine Formbarkeit, die ihn unwiderlegbar macht.

Wenn aber die Fortschritte der Wissenschaft den Ausdruck des Glaubens in dieser Weise stören, müssen wir uns dann nicht über den generalisierten kognitiven Wettbewerb freuen, der zu den Grundzügen der modernen Welt gehört? Werden die objektiv rationalen Aussagen sich in diesem Wettbewerb letztlich nicht gegen die verfälschenden Hervorbringungen des Aberglaubens, der modernen Mythen und anderer Verschwörungstheorien durchsetzen?

Schon ein oberflächlicher Blick auf die gegenwärtige Lage macht solche Hoffnungen zunichte. In Wirklichkeit begünstigt der freie Wettbewerb oft die Produkte der Leichtgläubigkeit.[4] Manche Erscheinungen – die im Übrigen nicht auf das Internet warten mussten, um Eingang in die gesellschaftliche Realität zu finden – haben sich seit dem Beginn der 2000er Jahre verstärkt. Das gilt etwa für das Misstrauen gegenüber Impfungen, für Verschwörungstheorien oder auch für die gehäuften Warnungen vor Gesundheits- oder Umweltgefahren, die nicht immer in der Vernunft gründen.

Selbst die Flacherdler – die an der Theorie einer flachen Erde festhalten – finden heute ein gewisses Publikum und veranstalteten 2018 ihren ersten internationalen Kongress. Sie verweisen übrigens gerne darauf, dass sie «Mitglieder rund um die Erde» [sic] hätten. Wie lässt sich angesichts unserer zahlreichen Fotografien und all der empirischen Beweise für die Kugelgestalt der Erde die unverständliche Wiederauferstehung einer derart verrückten Theorie erklären? Wenn wir uns die Videos ansehen (und davon gibt es auf YouTube mehr als eine Million) in denen diese These vertreten wird, zum Beispiel die von Mark Sergant, einem der weltweiten Anführer dieser Gemeinschaft, werden wir feststellen, dass die Argumente zwar sämtlich widerlegbar sind, aber doch den unvorbereiteten Geist leicht verwirren können. Dennoch stellt sich auch angesichts dieses ausgesprochen marginalen Glaubens wieder die quälende Frage: Warum lässt der freie Wettbewerb auf dem kognitiven Markt solche Behauptungen nicht einfach in der Versenkung verschwinden?

Wird der Wettbewerbsvorteil mancher für leichtgläubige Menschen reizvollen Thesen von Dauer sein, oder dürfen wir erwarten, dass der Wettbewerb der Ideen auf lange Sicht jene Aussagen begünstigt, die am besten begründet sind und dem Kanon der Rationalität am nächsten kommen? Auf diese Frage lässt sich allenfalls eine spekulative Antwort geben, doch sie bietet die Gelegenheit, mit einem großen französischen Soziologen ins Gespräch zu kommen, der heute in Vergessenheit geraten ist: Raymond Boudon. Seine Leser werden sich erinnern, dass er im letzten Teil seines Werkes eine Theorie des Fortschritts der Ideen vorgelegt hat.[5] Er sah natürlich, dass kollektive Meinungen in die Irre gehen können (das war eines der Hauptthemen seines Werkes), behauptete jedoch in der Nachfolge Tocquevilles, dass sich in geschichtlicher Perspektive auf lange Sicht jene Ideen durchsetzen, die dem Gemeinwohl zuträglich sind.[6] Der Kern dieser «evolutionären» Theorie gilt sowohl für die Ideen im Kontext des Wahren und Falschen als auch für jene im Kontext des Guten und Bösen und basiert auf dem Gedanken der «transsubjektiven» Begründungen, die er so bezeichnete, weil diese Ideen die Fähigkeit besitzen, «von einer Mehrzahl von Personen gebilligt zu werden, obwohl man ihnen keine objektive Geltung zusprechen kann».[7]

Dieser Gedanke hätte gewiss eine gründlichere analytische Klärung verdient, denn er führt den Autor zu einer sehr starken These: Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen es zulassen, erlangen manche Ideen dank ihres transsubjektiven Charakters eine solche Dauerhaftigkeit und eine derart weite Verbreitung, dass die öffentliche Meinung sie nicht mehr infrage stellt, sobald sie sich einmal durchgesetzt haben. In seinen Augen – und er verteidigt seine Grundthese immer wieder – gibt es im Bereich des Deskriptiven wie auch des Normativen eine rationale «Sicherung». Als Beispiel führte er gerne die Todesstrafe an. Ist sie erst einmal abgeschafft, wird nicht mehr grundsätzlich darüber diskutiert. Raymond Boudons Vorstellung von der Selektion der Ideen war also von einem optimistischen Evolutionsgedanken geprägt, der sich vor allem im letzten Teil seines Werkes findet, in seinem Buch Le Sens des Valeurs [Der Sinn der Werte], wie auch in seinem Büchlein Déclin de la morale? Déclin des valeurs? [Niedergang der Moral? Niedergang der Werte?].

Die Transsubjektivität einer Überzeugung bemisst sich also an deren Fähigkeit, auf andere Geister überzugehen, zumindest wenn man voraussetzt, dass dies auf einem kognitiven Markt geschieht, auf dem ein reiner und vollkommener Wettbewerb zwischen den Ideen herrscht. Solche Verhältnisse lassen sich in der Realität allerdings kaum finden. Die kognitiven Märkte haben eine Geschichte, und manche Ideen besitzen eine Oligopol- oder gar Monopolstellung, und zwar nicht wegen ihres transsubjektiven Charakters, sondern weil sie von Verbreitungseffekten profitieren, die ihre Dauerhaftigkeit sicherstellen.[8] Aber kann man wirklich darauf wetten, dass ein freier Markt der Ideen die kognitiven Erzeugnisse hervortreten lässt, die aus der Perspektive der Rationalitätsnorm am besten begründet sind?

Bei der Diskussion dieser Hypothese können wir ebenjenen Transsubjektivitätsgedanken heranziehen, den Boudon bei der Konzeption seiner evolutionären Theorie verwendete. Wenn wir mit seiner Hilfe wirklich verstehen können, wie der kognitive Wettbewerb auf lange geschichtliche Sicht die individuellen Urteile von ihren subjektiven Determinanten zu befreien vermag, lässt sich damit vielleicht auch verstehen, warum es möglich ist, dass gewisse logische Irrwege auf einem deregulierten kognitiven Markt zusammenkommen und falschen oder zweifelhaften Ideen eine gewisse Glaubwürdigkeit verleihen. Die Frage ist, ob der Wettbewerb stets das beste Erzeugnis begünstigt oder lediglich das Produkt, das die größte Befriedigung verspricht. Auf vielen Märkten fallen beide zuweilen zusammen, doch auf dem kognitiven Markt markieren sie den Unterschied zwischen methodischem Denken und Leichtgläubigkeit. Und genau diese Frage stellt sich uns heute. Mit ihr macht die Geschichte kraftvoll ihre Rechte gegen all jene geltend, die meinen, sie sei an ihr Ende gelangt.

Die Objekte geistiger Betrachtung können sich nicht nur deshalb vermehren und in einen ungehemmten Wettbewerb miteinander treten, weil auf dem Informationsmarkt neue technologische Bedingungen herrschen, sondern auch weil die verfügbaren Kapazitäten unseres Gehirns gewachsen sind. Diese Objekte der Betrachtung haben keinen anderen Daseinsgrund, als unsere Aufmerksamkeit zu erringen. Ob sie nun Theorien über den Sinn der Welt, eine Sittenlehre, ein politisches Programm oder eine bloße Fiktion vortragen, sie können nur überleben, wenn wir ihnen einen Teil unserer «Gehirnzeit» widmen. Es zeigt sich – und das ist ein weiterer bedeutsamer Aspekt der Geschichte, die sich gerade entfaltet –, dass diese verfügbare «Gehirnzeit» noch niemals so groß war wie heute.

Die beispiellose Lage, die wir heute beobachten, ist also geprägt vom Zusammentreffen unseres uralten Gehirns mit dem allgegenwärtigen Wettbewerb der Objekte geistiger Betrachtung, verbunden mit einer bislang noch nie dagewesenen Freisetzung verfügbarer Gehirnzeit.

Wer wird in diesem Endkampf um die Aufmerksamkeit den Sieg davontragen? Das ist die große Herausforderung. Denn in dieser verfügbaren Gehirnzeit warten auf uns fantastische Requiems oder Krebsheilmittel ebenso wie die schlimmsten Verbrechen, die man sich nur vorstellen kann, oder höchst bedauerliche kulturelle Hervorbringungen. Wir können die Gehirnzeit nutzen, um Quantenphysik zu studieren oder um uns Katzenvideos anzuschauen. So bleibt denn eine Frage – die politischste aller Fragen, die wir stellen können, denn die Antwort darauf wird über nichts Geringeres als die Zukunft der Menschheit entscheiden:

Was werden wir mit dieser freigesetzten Gehirnzeit anfangen?

Dieser Frage soll dieses Buch nachgehen und dabei insbesondere zeigen, dass der Wettbewerb auf dem kognitiven Markt die Möglichkeit bietet, einige unserer tiefen Sehnsüchte zu enthüllen. Anders gesagt, da die Situation unsere Natur ans Licht bringt, erlaubt sie die Annäherung an eine realistische Anthropologie unserer Spezies. Gehört die Menschheit unter allen möglichen intelligenten Zivilisationen zu jenen, die ihr evolutionäres Schicksal überwinden können? Alles hängt davon ab, wie wir mit dieser freigesetzten Gehirnzeit, dem kostbarsten aller Schätze der uns bekannten Welt, umgehen werden.

Die Stunde der Konfrontation mit unserer eigenen Natur wird kommen. Wie bei jeder Initiation wird das Ergebnis dieser Konfrontation von unserer Fähigkeit abhängen, uns einzugestehen, was wir da im Spiegel sehen. In der Geschichte haben manche immer wieder die Existenz dieses Spiegelbildes zu leugnen versucht, indem sie Gesellschaftsprojekte ersannen, die auf naiven Anthropologien basierten und – wie könnte es anders sein? – stets scheiterten. Sie riefen nach einem «neuen Menschen», der allerdings niemals kam. Andere Projekte verlangen dagegen, diese Spiegelung als unabwendbares Schicksal anzunehmen, und leiten aus unseren unmittelbarsten Anschauungen (dem gesunden Menschenverstand, wie sie gern sagen) und unseren drängendsten Wünschen eine Art politischer Legitimation ab. Diese Projekte nehmen häufig die Form des Populismus und hier wiederum viele die der Demagogie an.

Es gibt indessen eine andere Möglichkeit, doch der Weg dorthin ist steinig.

I

Der kostbarste aller Schätze

Die befreiten Menschen

Jean Perrin war eine Persönlichkeit, wie es sie heute gar nicht mehr gibt. Er erhielt 1926 den Nobelpreis für Physik und betätigte sich wenig später als Staatssekretär im Bildungsministerium. Als bekannter Intellektueller seiner Zeit gehörte er zu jenen Wissenschaftlern, die sich im Gefolge der Dreyfus-Affäre in der Öffentlichkeit engagierten. Nach Ansicht dieser Wissenschaftler, zu denen auch Émile Borel, ein großer Mathematiker und Vorkämpfer der europäischen Idee, oder Paul Painlevé, Präsident der Académie des sciences, zählten, beide gleichfalls Minister zu ihrer Zeit, sollte die Wissenschaft eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Fortschritt spielen. Sie bildeten eine mächtige, gleichermaßen politische und philosophische Lobby und gründeten die Union rationaliste, aber auch den Vorläufer des CNRS (Centre national de la recherche scientifique). Damals glaubte man fest an den Fortschritt, und anthropophobe Ansichten stammten allenfalls aus der Feder religiös-konservativer Autoren und solcher Philosophen, die sich in die Gefilde der Misanthropie verirrt hatten. Eine ferne Zeit also, die uns heute recht verstaubt vorkommt. Man vergisst leicht, dass wir die Modernisierung Frankreichs und die schrittweise Befreiung aus den Fesseln des Aberglaubens zu einem Gutteil solchen Menschen verdanken.

Es war eine andere Zeit. Jean Perrin erhielt von der Regierung Herriot sogar eine Summe von 5 Millionen Francs, die vom Bau der Maginot-Linie abgezogen wurden, für die Gründung der Caisse nationale des sciences – ein aufschlussreiches Symbol und ein Beweis, dass man selbst in Zeiten großer militärischer Spannungen Mittel für die Förderung der Forschung loseisen konnte. Wie sich zeigte, war die Caisse nationale des sciences letztlich von größerem Nutzen als die Maginot-Linie, denn aus ihr ging das CNRS hervor, das heute noch zu den wichtigsten Forschungseinrichtungen Frankreichs gehört. Ihre durch einen Erlass vom 19. Oktober 1939 amtlich bestätigte Gründung wurde in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Mitbürger und die Presse damals ganz andere Sorgen hatten, denn Frankreich war gerade in den Krieg eingetreten. Überlieferungen zufolge gewann Jean Perrin die Unterstützung der Regierung bereits 1930. Zu diesem Anlass gab er eine Erklärung heraus, über die wir heute vielleicht nur lächeln könnten oder die unsere Zeitgenossen erschrecken würde:

Wenn wir heute zu diesem kleinen notwendigen Opfer bereit sind, werden die von der Wissenschaft befreiten Menschen schon bald, vielleicht in wenigen Jahrzehnten, froh und gesund leben und sich bis an die Grenzen der Möglichkeiten ihres Gehirns entwickeln … Es wird ein Paradies sein, das in der Zukunft und nicht in einer Vergangenheit liegt, die in Wirklichkeit elend war.[1]

Zu einer Zeit, da die herrschende Ideologie zuweilen misstrauisch gegenüber Wissenschaft und Technologie ist und die Idee des Fortschritts in Trümmern liegt, muss diese Erklärung zweifellos naiv erscheinen. Dennoch waren die Hoffnungen Jean Perrins nicht vollkommen abstrus, und die nachfolgende Zeit gab ihm teilweise Recht. Es ist nur zu wahr, dass Wissenschaft, Technologie und sozialer Fortschritt die Menschheit von einem Teil der Knechtschaft, die den Überlebenserfordernissen geschuldet war, befreit und ihr Los beträchtlich verbessert haben.

So ist etwa die Lebenserwartung bei der Geburt auf allen Kontinenten geradezu schwindelerregend gestiegen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts lag sie im weltweiten Durchschnitt unter 30 Jahren. Heute liegt sie bei mehr als 70 Jahren. Man könnte auch darauf verweisen, dass die Kinderarbeit stark abgenommen hat. Nach Angaben der Weltarbeitsorganisation waren 1950 fast 30 Prozent der Weltbevölkerung davon betroffen, heute dagegen unter zehn Prozent – auch wenn immer noch weltweit 73 Millionen Kinder arbeiten müssen. Desgleichen sterben weniger Frauen im Kindbett und weniger Kinder bei der Geburt. Der Anteil der Weltbevölkerung, der unter Mangelernährung leidet, konnte um ein Drittel gesenkt werden. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser, zu Gesundheitsversorgung und zu Elektrizität hat sich überall verbessert. Malaria richtet weniger Verheerungen an, und die Zahl der in Kriegen oder bei Naturkatastrophen getöteten Menschen ist deutlich zurückgegangen – wenn man die Geschichte unserer Welt mit dem Abstand von einigen Jahrzehnten betrachtet.

Selbst auf manchen Gebieten, auf denen es nach verbreiteter Auffassung in früheren Zeiten besser war, können wir feststellen, dass diese Ansicht sich als Irrtum erweist, wenn wir uns nur die Mühe machen, die Situation anhand objektiver Daten zu prüfen. So ist die Luft, die wir heute atmen, weitaus besser als in den letzten Jahrzehnten. Zumindest in Frankreich haben der Ersatz der Kohleheizungen und strenge Vorgaben für die Industrie zu einem deutlichen Rückgang der CO2-Emissionen geführt, die für den sauren Regen verantwortlich waren, der in den 1980er Jahren für Schlagzeilen sorgte. Dasselbe gilt auch für Blei und Kadmium. Und die gesundheitlichen Grenzwerte für Feinstaub wurden 2007 in 33 Fällen überschritten, während es 2016 nur noch drei waren.

Kurz gesagt, die heute fast tot erscheinende Idee des Fortschritts hatte zu Jean Perrins Zeiten durchaus einen Sinn. Aber welchen Sinn könnte man diesem Satz des Staatssekretärs und Nobelpreisträgers für Physik geben, wonach die von der Wissenschaft befreiten Menschen «froh und gesund leben und sich bis an die Grenzen der Möglichkeiten ihres Gehirns entwickeln» würden? Man kann sich vorstellen, Perrin meinte damit, die Zwänge, die auf der Menschheit vor allem deshalb lasten, weil sie sich ernähren und ihre biologischen Bedürfnisse befriedigen muss, hinderten sie daran, ihr ganzes geistiges Potenzial zu entfalten. Die Zwänge der Arbeit gelten lange schon als eine Last, die schwer auf unserer Lebenszeit und mehr noch auf unserer Aufmerksamkeitsspanne liegt, wie es schon die Etymologie des französischen Wortes für Arbeit: travail (von tripalium, einem aus drei Pfählen bestehenden Folterwerkzeug) nahelegt, aber auch das ungute Gefühl, das viele unserer Mitmenschen am Sonntagabend vor dem Beginn einer neuen Arbeitswoche überkommt. Viele von uns sehnen sich nach etwas anderem.

Nicht dass die Lust auf Müßiggang derart verbreitet wäre, denn wie wir wissen, können Leere und Langeweile durchaus quälend sein, aber zumindest teilen wir die Hoffnung, all die Tätigkeiten, mit denen wir Geld verdienen können, weniger mühsam gestalten zu können. Mit Ausnahme derer, die das Glück haben, ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht zu haben, wären die Menschen bereit, weniger zu arbeiten, wenn ihre Einkünfte dieselben blieben. Ebenso und noch einhelliger würden sie es begrüßen, wenn ihre beruflichen Tätigkeiten von stumpfsinnigen Aufgaben entlastet würden, die ihnen das alltägliche Leben verderben. Anfang des 19. Jahrhunderts glaubten übrigens Ökonomen wie David Ricardo und Karl Marx ohne jegliche Furcht, dass Roboter die Menschen ersetzen könnten, und Marx erblickte darin sogar eine Befreiung für die Menschheit. Der Ausdruck «Roboter», aus dem russischen Wort für Arbeit: rabota, abgeleitet, verweist deutlich auf die Funktion, die man diesen Maschinen von Anfang an zuwies: an unserer Stelle zu arbeiten. Diese Hoffnung brachte auch der Schriftsteller Théophile Gautier zum Ausdruck, der 1848 erklärte:

Die Menschheit emanzipiert sich Schritt für Schritt. Bald wird auch der Arbeiter frei sein. Aber ein neuer Sklave wird ihn bei diesem harten Herren ersetzen. Ein Sklave, der Tag und Nacht im Feuer keuchen, schwitzen, stöhnen und hämmern kann, ohne dass man Mitleid mit ihm hätte. Seine eisernen Arme werden an die Stelle der schwachen menschlichen Arme treten. Die Maschinen werden nunmehr alle ermüdenden, abstumpfenden und abstoßenden Arbeiten verrichten. Der Bürger wird dank dieser Dampfheloten Zeit haben, seinen […] Geist zu bilden.[2]

Doch womit soll man sich beschäftigen? Was vermag denn nun das «bis an die Grenzen» entwickelte Gehirn zu tun, um es mit Jean Perrin zu sagen? Mit einer gewissen Beunruhigung versetzt, finden wir diese Mutmaßung bei einem anderen Nobelpreisträger, diesmal in Wirtschaftswissenschaften, dem berühmten John Maynard Keynes. Er fragt 1930 nach den «wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder»:

Denn drei Stunden am Tag reichen aus, um den alten Adam in den meisten von uns zu befrieden! […] Zum ersten Mal seit seiner Erschaffung wird der Mensch damit vor seine wirkliche, seine beständige Aufgabe gestellt sein – wie seine Freiheit von drückenden wirtschaftlichen Sorgen zu verwenden, wie seine Freizeit auszufüllen ist, die die Wissenschaft und Zinseszins für ihn gewonnen haben, damit er weise, angenehm und gut leben kann.[3]

Falls Keynes sich hier wirklich an seine Enkel wenden wollte, war er wohl ein wenig voreilig mit seiner Prophezeiung, dass sie nur noch drei Stunden am Tag arbeiten würden. Denselben Vorwurf könnte man auch Jeremy Rifkin machen, der in seinem berühmten Buch Das Ende der Arbeit behauptete, die in allen Volkswirtschaften laufende, der Logik der Profitoptimierung folgende Automatisierung werde zu Massenarbeitslosigkeit führen. Diese Voraussagen waren zwar übertrieben, doch es trifft zu, dass, über die letzten zwei Jahrhunderte besehen, eine eindrucksvolle Verringerung der auf die Arbeit verwendeten Lebenszeit zu verzeichnen ist. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde in Frankreich doppelt so viel gearbeitet wie heute. Der Rückgang hängt mit mehreren Gesetzen (1841, 1892, 1900, 1919 …) zusammen, die durch die Einführung eines bezahlten Urlaubs die wöchentliche Arbeitszeit verringerten, aber natürlich auch mit der gestiegenen Arbeitsproduktivität.[4] Ein solcher Rückgang lässt sich in allen Wirtschaftssektoren (Industrie, Baugewerbe, Dienstleistungen, Landwirtschaft …[5]) und in allen Ländern beobachten. In der gesamten industrialisierten Welt reduzierte sich die Arbeitszeit auf etwa die Hälfte. In Belgien war die Arbeit um 1870 am härtesten, denn dort betrug die durchschnittliche Wochenarbeitszeit 72 Stunden, während man in Frankreich 66 und in Australien nur 56 Stunden arbeitete. Heute wird in den USA, Kanada und Großbritannien am längsten gearbeitet, nämlich etwa 40 Stunden in der Woche, während die wöchentliche Arbeitszeit in den Niederlanden nicht einmal 34 Stunden beträgt.[6]

In Frankreich nimmt die Arbeitszeit gegenwärtig 11 Prozent der gesamten wachen Lebenszeit in Anspruch, um 1800 waren es 48 Prozent.

Parallel zu dieser Verringerung der Arbeitszeit hat auch die für häusliche Arbeit aufgewendete Zeit stark abgenommen. Die Zubereitung der Mahlzeiten, die Wäsche oder auch Heimwerkerarbeiten kosten uns heute weniger Zeit, nicht zuletzt, da uns bei zahlreichen Tätigkeiten, die früher von Hand verrichtet werden mussten, auch hier die moderne Technik zu Hilfe kommt. Waschmaschinen, elektrische Haushaltsgeräte, elektrische Rasenmäher, Bohrmaschinen, Staubsauger oder auch Geschirrspüler sind gleichsam Prothesen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts in ganz erheblichem Maße aufkamen. Allein zwischen 1986 und 2010 verringerte sich die für häusliche Arbeiten verwendete Zeit um fast 15 Prozent.[7]

Auf nahezu allen Gebieten werden wir, ohne es zu bemerken, in unserem alltäglichen Leben oder durch Konsumgüter aus Industrie und Landwirtschaft von einem ganzen Heer «energetischer Sklaven» unterstützt, wie Jean-Marc Jancovici sie nennt. Was meint er damit? Nach Ansicht dieses Ingenieurs kann man eine Parallele zwischen unserem Energieverbrauch und der Zahl der Sklaven ziehen, die wir für Fortbewegung, Heizung, Ernährung usw. bräuchten – wenn es keine Maschinen gäbe. Ein Toaster mit einer Leistungsaufnahme von 700 Watt entspräche in energetischer Hinsicht dem Besitz eines ständig in Ihrem Haus lebenden Ochsen. Jeder Franzose könnte danach auf das energetische Äquivalent von fast 400 energetischen Sklaven zurückgreifen, während weltweit jedem Menschen im Durchschnitt das Äquivalent von 200 solcher Sklaven zu Diensten wären.

All das hat mit der Zeit zu einem spektakulären Fortschritt in der Verfügbarkeit unserer geistigen Fähigkeiten geführt. Die Menschheit hat sich nach und nach von den Zwängen befreit, die ihr nur wenig Zeit ließen, ihre höheren kognitiven Funktionen zu nutzen. Die Geschichte der freigesetzten Gehirnzeit macht es möglich, unsere gemeinsame Geschichte ganz anders zu denken. Unsere Vorfahren träumten häufig von diesem Augenblick, den wir heute erleben. Aber sahen sie auch voraus, dass aus diesem Traum ein Albtraum werden kann?

Eine andere Geschichte der Menschheit

Wenn wir diese andere Geschichte in groben Umrissen skizzieren wollen, müssen wir uns klarmachen, dass die Menschen und ihre Vorfahren lange Zeit von den gewaltigen Erfordernissen des Überlebens erdrückt wurden. Die normalen Lebensbedingungen unserer Ahnen waren von ständiger Ungewissheit und Unsicherheit geprägt. Die Zeit, die wir brauchten, um uns aus diesen Lebensbedingungen zu befreien, ist nur ein Wassertropfen im Vergleich zur gesamten Geschichte des Lebens, betrug aber dennoch mehrere hunderttausend Jahre. Erst im Altpaläolithikum erlangten die Vorfahren des Menschen eine vorherrschende Stellung: Homo habilis, Homo ergaster, Homo erectus, Homo heidelbergensis … Das Ganze dauerte also Jahrtausende. Diese Sammler und Jäger wurden oft noch die Beute großer Raubtiere. Nach und nach stellten sie Werkzeuge her, mit deren Hilfe sie das von ihnen gejagte Niederwild zerlegen konnten. Bald schon halfen ihnen diese Werkzeuge, darunter Speere mit einer Länge von mehr als zwei Metern, auch größere Beutetiere anzugreifen. Der vermehrte Fleischkonsum förderte die Entwicklung ihres Gehirns. Sie entwickelten außerdem ihre sozialen Fähigkeiten und sorgten für eine effizientere Koordinierung ihrer Jagd- und Sammelaktivitäten. Die Stärkung ihrer unteren Extremitäten ermöglichte es ihnen, auf der Suche nach Beute große Strecken zurückzulegen. Schon 400.000 Jahre v. Chr. hatten sie einen beträchtlichen Teil der Erde besiedelt.

Nach neueren Studien[8] erschien Homo sapiens, also der Mensch, wie wir ihn heute kennen, vor etwa 300.000 Jahren. In unserer Spezies entwickelten sich dann Elemente, die teilweise auch unsere Vorfahren bereits besessen hatten, wenngleich nur als Anlagen. Der aufrechte Gang wird zu einem ständigen Merkmal, und ein Gehirn, das größer ist als das des Homo habilis, bietet unserer Spezies die Möglichkeit, vor allem dank der immer komplexeren Sprache, vielfältigere soziale Interaktionen zu pflegen. Was im kognitiven Bereich erworben wurde, konnte nun durch Lehren und Lernen weitergegeben werden. Durch perfekte Beherrschung des Feuers, eine beispiellose Spezialisierung der Werkzeuge, die Herstellung von Kleidung und sogar die Schaffung geistiger Systeme, die es ermöglichten, sich ein mentales Bild von der Welt zu machen, verringerte Homo sapiens nach und nach die der lebendigen Welt innewohnende Unsicherheit. Er war zwar immer noch von dem Glück oder Unglück abhängig, das ihm die Natur zuwies, doch es gelang ihm langsam immer besser, sein Schicksal zu steuern.

Vor etwa 40.000 Jahren begann die Population des Homo sapiens beträchtlich zu wachsen.[9] Die fortschreitende Beherrschung hatte massive Auswirkungen auf unsere kollektive Geschichte: Homo sapiens vermochte den Erfordernissen des Überlebens, die seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, ein wenig für andere Dinge verfügbare Zeit abzutrotzen. Das galt insbesondere für die Zeit kurz nach 10.000 v. Chr., als die Menschheit in die Phase eintrat, die von Fachleuten als neolithische Revolution bezeichnet wird.[10] In dieser Zeit vergrößerte sich dank neuer klimatischer Bedingungen vor allem im Nahen Osten das Nahrungsangebot in Gestalt von Süßgräsern. Dieses natürliche Füllhorn veranlasste unsere Vorfahren, sesshaft zu werden. Aus dieser Zeit stammen die ersten Häuseransammlungen, die man als Dörfer bezeichnen kann. Spuren davon aus der Zeit um 9000 v. Chr. finden sich in Jericho oder auch in Mureybet (am linken Ufer des Euphrat im heutigen Syrien).

Die Anfänge der Landwirtschaft wären danach nur eine unerwartete Folge dieses Himmelsgeschenks. Denn die Menschen (zumindest jene, die wir als Vorfahren unserer westlichen Zivilisation kennen) fanden nun dank der Bindung an diese Nahrungsreserven nach und nach die nötige Zeit, um eine Tatsache zu verifizieren, die sie sicher schon länger kannten, aber noch nicht erprobt hatten: Wenn man ein Samenkorn einpflanzt, kann man mit einer Ernte rechnen. Diese Entdeckung hatte gewaltige Folgen, denn sie legte die Grundlagen für die Sesshaftwerdung unserer Vorfahren und veranlasste sie, ihre Hütten aus Tierhäuten gegen Bauten aus Lehm und Stein einzutauschen, die dem Wetter besser standzuhalten vermochten. Sie machte es auch möglich, Vorräte anzulegen und auf diese Weise überschüssige Nahrung zu horten, deren Verwendung rationalisiert werden musste. Der relative Reichtum, der mit einem Umzug der Menschen in Dörfer einherging, ermöglichte das rasche Wachstum der Bevölkerung.

Wie der britische Anthropologe Robin Dunbar gezeigt hat, sind wir aufgrund der Fähigkeiten unseres Gehirns nicht in der Lage, enge wechselseitige Beziehungen zu weit mehr als 150 Personen zu unterhalten. Andere Studien zur Zahl der Freunde, mit denen wir in sozialen Netzwerken (trotz Tausender von Kontakten) tatsächlich Beziehungen pflegen, haben bestätigt, dass es sich hier um eine anthropologische Konstante handelt.[11] Jenseits dieser Zahl sind Formen von Hierarchie und damit Autorität erforderlich, um den sozialen Zusammenhang zu sichern. So wurde Homo sapiens mit dem Phänomen der sozialen Teilung der Arbeit und Zuständigkeiten konfrontiert und wurde, vor nahezu 12.000 Jahren, Zeuge der Entstehung des Politischen. Hinzu kamen zahlreiche Innovationen, unter denen die Entwicklung der Handwerke des Feuers die Töpferei, Keramik und bald auch die Metallverarbeitung ermöglichten.

All diese Elemente, die nebeneinander bestanden und den Beginn der Rationalisierung der Welt markierten, hatten die nicht beabsichtigte, aber grundlegende Folge, dass sie Gehirnzeit freisetzten. Die freigesetzte Zeit bildete eine Art Kriegsschatz auf dem Gebiet der Aufmerksamkeit, aus dem die Menschheit in ihrer gesamten Geschichte ihre Ressourcen, ihre Innovationen, ihre Kunst und ganz allgemein ihre Erforschung der möglichen Welten schöpfte. Der Kulturschock, den das Neolithikum darstellte, ließ nach Ansicht des Prähistorikers Jacques Cauvin den Homo sapiens aus seiner Rolle als Jäger, der in seiner Subsistenz von den Zufällen der Welt abhing, heraustreten und ermöglichte es ihm, die für das Überleben nötigen Prozesse besser zu beherrschen. Man könnte sagen, er erhöhte die Produktivität seiner dem Überleben gewidmeten Zeit und erarbeitete einen Überschuss, der in freigesetzter Zeit bestand.

Trotz der teilweisen Befreiung von der Unsicherheit des Nomadenlebens und trotz der opportunistischen Ernährung hatte die Menschheit noch einen langen Weg vor sich, bis sie verhindern konnte, dass die Natur sie länger wie Ronsards Rose behandelte: wie eine Rabenmutter.

Es gab bekanntlich eine Zeit, da war die Welt von Zauberwesen, Geistern, Feen, Göttern und dergleichen erfüllt. Diese Fantasiegestalten ermöglichten es unseren Vorfahren, die beängstigende Welt, in der sie lebten, mit Sinn zu erfüllen. Sie boten ihnen sogar noch etwas mehr als das, nämlich die Möglichkeit, mit ihrer Umwelt zu verhandeln. Wenn alle Elemente der Natur, in deren Abhängigkeit die Menschen standen: das Meer, der Boden, Wind, Sturm usw., denkende Wesen waren, dann konnten sie deren Wohlwollen erlangen und zugleich die Katastrophen abwenden, die sie auszulösen vermochten. Dieses Verhandeln ähnelte natürlich meist einem Flehen. Es galt, die Gunst dieser psychischen Entitäten zu gewinnen, indem man ihnen Nahrung, das Leben und sogar die Willensfreiheit opferte, insofern ihre Gebote uns die Regeln vorgaben, nach denen wir unsere Ernährung, unser Familienleben und zuweilen noch die intimsten Details unseres Daseins gestalteten. Es ist vielleicht eine kränkende Banalität, aber die meisten magischen oder religiösen Rituale, von den grobschlächtigsten bis hin zu den elaboriertesten, bestehen in nichts anderem als einer weitreichenden Verhandlung, in der wir versuchen, das Wenige, das wir anzubieten haben, gegen die Wohltaten der Vorsehung einzutauschen.

Das erste Muster, das sich in unserem Verhältnis zur Welt durchsetzte, war also die Unterwerfung unter eine Vielzahl von Entitäten. Jede Geschichte des menschlichen Denkens ließe sich zurückführen auf eine Geschichte der ontologischen Entleerung der Welt. Nach und nach lernten wir, dass in diesem Stein, dieser Wolke oder diesem Fluss kein denkendes Wesen steckte und dass es keinen Sinn hatte, ihnen irgendetwas anzubieten, um etwas dafür zu erhalten.

Thales von Milet war einer der Ersten, der dieses Gebäude des animistischen Weltverständnisses erschütterte und damit einen langen Prozess einleitete, der durch die Entpersönlichung der im Aufbau der Welt wirkenden Kräfte gekennzeichnet ist. Aristoteles bezeichnete Thales als den «Urheber solcher Philosophie» (einer Philosophie der «Physiker» oder «Physiologen»).[12] Diese Denker waren der Auffassung, man müsse nach natürlichen Ursachen suchen statt – auf dem Umweg über die Mythen – nach übernatürlichen Erklärungen. Jean Brun schrieb dazu:

Thales hat wahrscheinlich das Verdienst […], nicht zu fragen, was vor dem war, was ist, sondern danach zu suchen, woraus die Welt besteht.[13]

In dieser Bemerkung zeigt sich der wachsende Vorrang des Wie gegenüber dem Warum. Der Prozess wird mehrere Tausend Jahre in Anspruch nehmen, doch nach dem Übergang vom Animismus zum Polytheismus, vom Polytheismus zum Monotheismus und schließlich zu Religionen, in denen die Gestalt Gottes immer abstrakter wurde und in weitere Ferne rückte, kam es, wie Max Weber dies ausdrückte, zu einer «Entzauberung der Welt».

Technik und Wissenschaft entleerten die Natur von jeglicher ontologischen Substanz und sorgten für eine Mechanisierung des Verhältnisses zwischen dem Menschen und der äußeren Welt. Die Menschen versuchten, die Welt zu beherrschen und das Gewünschte von ihr zu erlangen, indem sie die geheimen, Ursache und Wirkung miteinander verknüpfenden Gesetze entdeckten und die Ursachen herbeiführten, um die betreffenden Wirkungen zu erhalten oder zu vermeiden. Dadurch gewannen sie an materieller Sicherheit, was sie an kognitiver Sicherheit verloren, denn die Welt wurde nun nur noch (wie unvollkommen auch immer) durch das Wie und nicht mehr durch das Warum erklärt.

In seiner Verhandlung mit dieser Natur ging der Mensch ganz langsam von einem Verhältnis der Selbstunterwerfung zu einem der Beherrschung über. Statt zu bitten, zwangen sie nun die Welt, die von ihnen gewollten Wirkungen hervorzubringen. Paradoxerweise haben Magie, Astrologie und zahlreiche andere Pseudowissenschaften an dieser Rationalisierung mitgewirkt, denn sie trugen zur Durchsetzung des Gedankens bei, dass die Welt von Mechanismen bestimmt wird, die sich zähmen lassen. Man bat die Natur nun nicht mehr, doch freundlicherweise unsere Wünsche zu erfüllen, sondern befahl ihr, sie zu verwirklichen, indem man Methoden einsetzte, von denen man annahm, dass sie geheimnisvolle Mechanismen in Gang setzten.

Über die Magie hat der Anthropologe James George Frazer alles Wesentliche gesagt. In seinem berühmten Buch Der golden Zweig betont er, dass die magischen Praktiken letztlich nur auf zwei Prinzipien beruhen. Auf einem Gesetz der Ähnlichkeit, wonach Gleiches stets Gleiches hervorruft, das heißt, dass Wirkung und Ursache einander ähnlich sind. Und auf einem «Gesetz der Berührung», wonach zwei Dinge, die miteinander in Berührung gekommen sind, auch dann noch aufeinander einwirken, wenn diese Berührung längst Vergangenheit ist.[14] Ein Beispiel vermag diese beiden Merkmale der Magie zusammenzuführen: die Voodoopuppe. Die Puppe muss ein Abbild des Opfers sein (Gesetz der Ähnlichkeit), und ihre Wirksamkeit ist besonders groß, wenn sie mit etwas vom Opfer Stammenden – Haare, Nägel, Haut – verziert ist (Gesetz der Berührung). Die vom Magier imaginierten Kausalbeziehungen mögen zwar Scheingesetzlichkeiten sein, sie nehmen jedoch in gewisser Weise den für Ingenieure typischen Umgang mit der Natur vorweg, nämlich den Willen, auf Reales einzuwirken, ohne den Weg über vermittelnde Wesen zu gehen, mit denen man verhandeln müsste.

Was nun die Astrologie betrifft, so markieren die berühmten «Prophezeiungen» des Nostradamus, wie sie in den Centurien vorliegen, einen ähnlich emblematischen Augenblick in der Revolution der Vorstellungen. Denn mit seinen Prophezeiungen behauptet der Astrologe, dass die Geschichte der Menschen nicht durch den Willen eines oder mehrerer Götter bestimmt wird, sondern durch stellare Wirkmechanismen, deren Resultate man im Voraus berechnen könne. Das Schicksal des Menschen ist zwar immer noch heteronom, aber nun nicht mehr von Gründen, sondern von Ursachen abhängig. Wer diese Ursachen antizipiert und beherrscht, ist Herr seines Schicksals. Dasselbe könnte man auch von der Alchemie sagen, die bei ihrer Suche nach dem Stein der Weisen und der Transzendenz auf eine Technik zurückgreift und nicht auf die Religion.

Diese Vorstellungen von technischer Beherrschung – die man prometheisch nennen könnte – vermochten im Westen ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert nur deshalb zu erreichen, weil man all diese magischen Kausalbeziehungen über Bord warf, mit denen man letztlich nur wie ein Blinder nach dem Realen fischte. Eine wesentliche Rolle spielte dabei Galilei, denn er suchte für die Beschreibung der Natur nach einer Sprache, die mathematisch sein musste, wie er 1623 in seiner Abhandlung über die Kometen erklärte. Dennoch stellten die Magie und all diese pseudotechnologischen Herangehensweisen wichtige Etappen in dem Prozess dar, den der Soziologie Max Weber als «Rationalisierung der Welt» bezeichnete. In seinen Augen führte dieser lange Prozess letztlich zur Entzauberung der Welt. Das erklärte er folgendermaßen:

Wer von uns auf der Straßenbahn fährt, hat – wenn er nicht Fachphysiker ist – keine Ahnung, wie sie das macht, sich in Bewegung zu setzen. Er braucht auch nichts davon zu wissen. Es genügt ihm, dass er auf das Verhalten des Straßenbahnwagens «rechnen» kann, er orientiert sein Verhalten daran; aber wie man eine Trambahn so herstellt, dass sie sich bewegt, davon weiß er nichts. Der Wilde weiß das von seinen Werkzeugen ungleich besser. […] Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.[15]

Im Verlaufe der letzten drei Jahrhunderte legte die Menschheit alle Etappen zurück, die sie vom Schema der Selbstunterwerfung zu dem der Beherrschung führten. Es handelte sich gewissermaßen um Saturnalien auf historischer Ebene: Aus den Sklaven von einst wurden Herren.

Die Hoffnung, die Umwelt beherrschen zu können, wird heute oft als Problem oder gar als Verbrechen an der Natur empfunden. Man fragt sich, ob solche Herrschaft nicht durch ein vorsichtiges Verhalten ersetzt werden sollte,[16] und fordert uns dazu auf, vor den ungewollten Folgen noch der geringsten Aktivitäten auf der Hut zu sein. Es bleibt jedoch eine Tatsache, dass dieser Rationalisierungsprozess stattgefunden und uns dank unserer Beherrschung bestimmter wesentlicher Unsicherheiten zur Befreiung unserer Aufmerksamkeit von den zwingenden Erfordernissen des Überlebens befreit hat, sodass wir nun offener für die Betrachtung geistiger Objekte sind. Außerdem ist dieser Prozess noch nicht beendet. Die nächste Etappe, die bereits begonnen hat, ist die der Externalisierung vieler unserer geistigen Routinen durch künstliche Intelligenz. So erschreckend sie erscheinen mag, führt sie doch unausweichlich zu einer wachsenden Befreiung unserer Gehirnzeit.

Der 11. Mai 1997

Die ontologische Entleerung der Welt – also die Ersetzung der denkenden Entitäten durch einfache Mechanismen in der Erklärung der Phänomene – war ein langsamer, aber für die Menschheit ausgesprochen traumatischer Prozess. Zweifellos gab es eine gewisse Begeisterung darüber, dass die Natur uns blind gehorchte, sofern wir die in ihr herrschenden Gesetze erkannt hatten, doch nach und nach zeichneten sich auch die Umrisse einer kalten und sinnentleerten Welt ab. Wenn man eine Handlung oder einen Gedanken durch einen Mechanismus simulieren kann, drängt sich dann nicht unausweichlich die Erkenntnis auf, dass alles nur ein trostloses Räderwerk und ein Prozess ohne jedes Fleisch und Blut sei?