Komm, flieg mit mir - Claudia Lütje - E-Book

Komm, flieg mit mir E-Book

Claudia Lütje

0,0

Beschreibung

Die nebenberuflich für eine kleine Chartergesellschaft fliegende Pilotin Merle muss eines Abends die attraktive, aber arrogant erscheinende Geschäftsfrau Joanna nach Hamburg fliegen. Obwohl Joanna schroff und abweisend ist, engagiert sie Merle ein zweites Mal und bietet ihr schließlich an, für sie als Privatpilotin zu arbeiten. Doch dabei bleibt es nicht, Merle wird immer mehr in Joannas Geschäft eingebunden – sehr zum Verdruss von Vassiliki, Joannas Geschäftspartnerin. Als Merle, hoffnungslos in Joanna verliebt, eines Tages Veruntreuung vorgeworfen wird, muss sie anfangen, für ihre Gefühle zu Joanna und ihre eigene Reputation zu kämpfen, denn Vassiliki greift zu immer härteren Bandagen, um Merle loszuwerden ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 362

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Claudia Lütje

KOMM, FLIEG MIT MIR

Roman

© 2018édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-247-3

Coverfoto: © istock.com/murmakova

1

»Guten Abend, Merle, ich habe einen Auftrag für dich.«

»Hallo Piet, worum geht es?« Merle klemmte sich ihr Handy ans Ohr, während sie ein Stück von ihrer Pizza abbiss. Wenn der Chef der kleinen Chartergesellschaft anrief, bedeutete dies meistens einen Flugauftrag und damit zusätzliches Geld für sie, worüber nicht nur sie, sondern auch ihr Kontostand sich freute. Seine nächsten Worte bestätigten ihre Vermutung.

»Es geht um einen Passagiertransport. Es gibt nur ein kleines Problem dabei.« Piets sonst so sonore Stimme klang seltsam belegt.

»Und das wäre?« Neugierig rutschte Merle an den Rand ihrer Couch. Sorgsam kaute sie die zähe Pizza und wartete auf die Antwort ihres Flugdienstleiters, die nur sehr zögerlich kam. Selbst durch das Telefon konnte Merle spüren, dass ihrem Chef die Situation unangenehm war.

»Der Flug geht noch heute Abend. Um genau zu sein, sitzt dein Passagier bereits in der Maschine und wartet auf dich.«

»Was?« Verblüfft warf Merle die angebissene Pizza auf den Teller zurück und sprang auf.

»Keine Sorge, ich habe schon alle Papiere fertig, und die Maschine ist startklar«, versuchte Piet sie zu beruhigen. »Jetzt fehlst nur noch du.«

»Okay, und warum machst du das nicht? Du bist doch vor Ort.« Merle trat aufgeregt von einem Bein aufs andere, während sie auf Piets Antwort wartete.

»Ich kann heute nicht mehr weg. Also, wie sieht es aus? Erledigst du den Auftrag?«, bettelte Piet durch das Telefon.

»Ja, natürlich, ich bin schon unterwegs.« Merle schnappte sich ihren Helm und ihre Jacke und rannte aus der Wohnung. So schnell es der Verkehr erlaubte, fuhr sie mit ihrem Motorrad zum Flugplatz, wo Piet ihr schon entgegenkam.

»Lieben Dank, dass du so spontan bist. Hier sind die Papiere. Schönen Flug!«

»Danke. Wo geht es überhaupt hin?« Sie hielt ihm ihren Helm hin und blätterte durch den Flugplan.

»Nach Hamburg.« Piet drehte Merles Helm in seinen riesigen Händen und sah sie schief an.

Überrascht hob Merle den Kopf. »Nach Hamburg? Jetzt noch?«

»Ja, machst du es trotzdem?« Wieder lag dieses Betteln in seinen Worten, das Merle schon am Telefon vernommen hatte.

Merle kannte ihren Chef schon sehr lange, und sein Verhalten zeigte ihr, dass ihm dieser Auftrag sehr wichtig war. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und rechnete kurz nach. Wenn sie jetzt direkt losflöge und in Hamburg ohne Verzögerung wieder loskönnte, dann wäre sie in etwas über vier Stunden wieder zurück. Da bliebe durchaus noch genügend Zeit, um sich einen gemütlichen Abend auf der Couch zu machen und ihre Pizza fertig zu essen. »Ja klar, Piet. Ich bin ja froh, wenn du einen Auftrag für mich hast«, antwortete sie.

Piets Erleichterung war offensichtlich, als er Merle kurz an sich drückte und mit einem glücklichen Grinsen auf dem kantigen Gesicht zurück in sein Büro ging.

Nachdenklich sah Merle ihm hinterher. Ohne auf die Papiere zu sehen, ging sie zu ihrer Maschine. Schwungvoll öffnete sie die Tür und blickte in ein Paar bernsteinfarbene Augen, die ihr unter zusammengezogenen Augenbrauen angespannt entgegensahen.

»Na endlich, wo bleiben Sie denn? Ich warte schon eine Ewigkeit, und ich habe nicht den ganzen Abend Zeit.« Der leicht genervte Unterton in der ansonsten rauchigen Stimme war nicht zu überhören.

»Ihnen auch einen schönen Abend, Frau . . .« Merle warf einen Blick auf die Papiere in ihrer Hand. »Frau von Gronewald.« Sie kletterte auf ihren Sitz und betätigte ein paar Schalter. »Mein Name ist Merle Fischer, und ich werde Sie heute Abend fliegen. Leider habe ich gerade erst von dem Flug erfahren. Vielleicht könnten Sie das nächste Mal einfach früher buchen?«

»Wenn Sie nicht gleich losfliegen, dann gibt es kein nächstes Mal!« Eine kunstvoll nach oben gezogene Augenbraue sollte ihren Worten wohl noch extra Schärfe verleihen.

Trotz der harschen Worte empfand Merle ihre Mimik als durchaus erotisch, wie sie erstaunt feststellen musste, als sie in das schöne Gesicht ihrer Passagierin blickte. Verstohlen musterte sie die Frau noch einen Moment, bevor sie sich ihren Hebeln zuwandte.

»Können wir jetzt endlich los?« Die Temperatur in der kleinen Kabine sank um einige Grad, als die kühle Stimme Frau von Gronewalds erneut ertönte.

Die Dame schien es ja wirklich eilig zu haben. Merle biss sich schnell auf die Zunge, um ihre Antwort herunterzuschlucken. Wenn sie den Auftrag fliegen wollte, und der Gedanke an ihr Bankkonto und ihre Lizenz ließ da gar keine Frage offen, dann war es sicher besser ruhig zu bleiben. Sie atmete tief ein und aus. »Sind Sie schon angeschnallt?« Merle zog ihre eigenen Gurte nach unten und hakte sie ein.

»Selbstverständlich bin ich das, ich warte ja schon eine Weile auf Sie.«

Merle blickte kurz zur Seite. »Ihre Schultergurte fehlen. Darf ich Ihnen helfen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, beugte sie sich vor und zog die beiden Schultergurte nach unten.

»Ich kann das selbst«, erwiderte Frau von Gronewald und griff energisch nach den beiden Gurten, die Merle gerade einhaken wollte.

»Wie Sie meinen.« Achselzuckend beobachtete Merle ihre Bemühungen, die Gurte in das Schloss zu stecken. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Mundwinkel zu zucken begannen, als die elegante Dame leise vor sich hin schimpfte.

»Es würde gehen, wenn Sie alle Gurte an die richtige Position packen. Darf ich Ihnen vielleicht doch helfen, Frau von Gronewald? Dann geht es schneller, und wir können auch wirklich los.«

Resignierend lehnte Frau von Gronewald sich in ihrem Sitz zurück und blitzte Merle mit ihren großen, braunen Augen an. Einmal mehr hatte Merle das Gefühl, es würde sie eine Tigerin ansehen. Anfauchen war hier wohl der richtige Ausdruck.

Geschickt hakte sie die vier Gurte in das Schloss und zog sich den Kopfhörer über die Ohren. Mit der Hand deutete sie auf den Hörer über der Frau. »Falls Sie mit mir reden wollen, empfehle ich Ihnen, den Kopfhörer aufzusetzen. Ansonsten ist es sehr laut in der Kabine.«

Erneut wurde Merle mit der hochgezogenen Augenbraue belohnt.

Leise seufzend startete sie die Turbinen und ließ das Flugzeug losrollen. Inzwischen konnte sie sich fast denken, warum Piet ihr den Auftrag erteilt hatte und ihn nicht selbst erledigte.

Sie meldete sich beim Tower und erhielt auch direkt die Startfreigabe. Sanft schob sie die Regler nach vorn. Das kleine Flugzeug gewann an Geschwindigkeit und hob kurz darauf sacht vom Boden ab.

Merle warf einen kurzen Blick auf ihre Passagierin, die mit geschlossenen Augen neben ihr saß und ihre Hände ineinander gewoben hatte, sodass ihre Knöchel weiß hervorstachen.

Sie nutzte die Chance, die elegant gekleidete Frau ausgiebiger zu mustern. Ihr Alter schätzte Merle auf Anfang bis Mitte vierzig, also ein paar Jährchen älter als sie selbst. Da sie bei ihrer Ankunft bereits in ihrem Sitz gesessen hatte, konnte sie ihre Größe nur erahnen. Sie schätzte, dass sie beide in etwa gleich groß waren, und sie war definitiv von schlanker Statur. Ihre braunen Haare fielen ihr in weichen Wellen auf die Schultern und umrahmten ein gerades Gesicht mit hohen Wangenknochen. Dezentes Make-up ließ ihre Haut schimmern und akzentuierte zudem ihre Katzenaugen perfekt. Angestrengt hatte sie ihre Stirn in Falten gelegt. Ihre vollen Lippen bewegten sich lautlos, und Merle war kurz versucht, sie auf den Kopfhörer hinzuweisen. Doch der Gedanke an eine erneute Zurechtweisung ließ sie wieder nach vorn blicken und stattdessen den Flug genießen.

Es war ein wunderschöner Sommerabend, der ideal für einen Flug war. Merle stellte entspannt fest, dass die viersitzige Piper völlig ruhig in der Luft lag. Fröhlich summte sie ein Lied vor sich hin, als eine ruhige Stimme an ihrem Ohr sie zusammenfahren ließ.

»Wie lange fliegen Sie schon für Piet?«

Verblüfft drehte Merle den Kopf und sah auf ihre Passagierin, die nun mit aufgesetzten Kopfhörern neben ihr saß. »Entschuldigung, Frau von Gronewald, was haben Sie gefragt?«

»Ich habe gefragt, wie lange Sie schon für Piet Hinrichs kleine Fluggesellschaft fliegen?«

Merle zog nachdenklich die Stirn in Falten. »Das sind jetzt sieben Jahre, seit ich den Flugschein gemacht habe. Warum?«

»Ist das auch Ihr Hauptberuf?« Frau von Gronewald hatte den Kopf leicht schräggelegt und sah Merle neugierig an. Ihre Augen funkelten dabei.

Leise lachend schüttelte Merle den Kopf. »Schön wär es, aber nein. Dafür hat Piet nicht genügend Aufträge. Ich arbeite in einer Autowerkstatt. Die Fliegerei ist mein Hobby, und durch solche Aufträge wie heute Abend kann ich meinen Flugschein behalten.«

»Warum arbeiten Sie nicht bei einer großen Fluglinie? Wäre das keine Alternative?« Kleine Goldflecken blitzten in ihren braunen Augen auf, als das Sonnenlicht durch die Scheiben fiel.

Merle verzog das Gesicht zu einer schiefen Grimasse. »Nein, das wäre keine Alternative.«

»Und warum nicht?«

Genervt von ihren hartnäckigen Fragen umfasste Merle den Steuerknüppel so fest, dass ihre Handknöchel weiß hervortraten. »Es gab und gibt viele Gründe dafür. Gründe, die ich mit mir selbst abmachen muss.«

»Und nicht mit mir?«, gab Frau von Gronewald offensichtlich belustigt zur Antwort. Feine Fältchen umrahmten dabei ihre Katzenaugen.

»Nein.« Merle schenkte dem für ihren Geschmack zu neugierigen Fluggast einen weiteren genervten Seitenblick. »Nicht mit Ihnen.« Trotz ihrer barschen Antwort konnte sie sehen, dass Frau von Gronewald sie weiter freundlich anlächelte. Merle spürte, wie sich ihr Herzschlag etwas beschleunigte und sie feuchte Handflächen bekam. Irritiert von ihrer Reaktion auf die ihr doch unbekannte Frau schüttelte Merle den Kopf.

»Wie lange fliegen wir noch?« Die rauchige Stimme drang nur sehr leise durch den Kopfhörer.

Merle warf einen kurzen Blick auf den Bordcomputer vor ihr. »Etwa fünfundvierzig Minuten wird es noch dauern. Haben Sie schon ein Taxi bestellt?«

»Wieso?« Wieder wurde eine Augenbraue äußerst kunstvoll nach oben gezogen. »Es gibt doch mehr als genug Taxis am Flugplatz.«

»Sie gehen jetzt aber von Fuhlsbüttel aus, oder?« Merle sah ihre Passagierin an. »Da kann ich nicht landen. So wie in Egelsbach werden wir auch in Hamburg etwas außerhalb ankommen, und da ist es ratsam, wenn Sie vorab ein Taxi bestellen.«

Beinahe hektisch zog Frau von Gronewald ein Handy aus der Tasche und schaltete es ein.

»Das wird wohl nichts.« Merle konnte sich ein schiefes Lächeln nicht verkneifen. »Hier oben ein Netz zu finden, das stabil genug ist, das dürfte schwierig sein. Dafür bewegen wir uns zu schnell, sodass Sie sich nicht wirklich in ein Mobilfunknetz einwählen können. Aber keine Sorge, ich regle das gern für Sie.«

Sie schaltete an ihrem Funkgerät und meldete sich bei dem Flugplatz in Hamburg. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie ein Taxi für ihre Passagierin bestellt.

»Danke, das ist sehr aufmerksam von Ihnen.« Die vollen Lippen verzogen sich zu einem süßen Lächeln, und ihre schönen Katzenaugen konnten durchaus warm blicken, wie Merle mit einem leichten Ziehen in ihrer Magengegend feststellte.

Erfreut vom Lob ihrer Passagierin begann sie erneut eine fröhliche Melodie vor sich her zu summen.

Wenig später erhielt sie die Freigabe für den Landeanflug und verließ die zuvor gewählte Reisehöhe. Ein deutliches Rütteln ließ das Flugzeug vibrieren.

»Was ist das?« Verschreckt legte Frau von Gronewald ihre Hand auf Merles Arm und krallte sich an ihr fest. »Was passiert gerade?« Mit weit aufgerissenen und von Angst erfüllten Augen starrte sie Merle von der Seite an.

»Es ist alles in Ordnung, kein Grund zur Sorge«, versuchte Merle sie zu beruhigen und bemühte sich, die manikürten Finger von ihrem Arm zu lösen. Doch Frau von Gronewald hielt sie weiterhin panisch fest. Erneut ging ein heftiger Ruck durch das Flugzeug, direkt von einem spitzen Schrei begleitet, der Merles Ohren zum Klingeln brachte.

»Wir stürzen ab!«, kreischte Frau von Gronewald.

»Nein, wie kommen Sie auf so einen Blödsinn?« Irritiert versuchte Merle die Maschine ruhig in der Luft zu halten. »Lassen Sie bitte meinen Arm los, ich muss die Maschine fliegen. Und nein, wir stürzen nicht ab.«

»Aber warum wackelt es auf einmal so?« Frau von Gronewald konnte kaum noch sprechen und presste jedes einzelne Wort zwischen ihren schmalen Lippen hervor.

»Weil wir gerade diverse Luftschichten durchqueren. Da wackelt es schon einmal. Das liegt an den verschiedenen Strömungen. Es besteht absolut kein Grund zur Sorge, wirklich nicht. Bitte, Frau von Gronewald, seien Sie beruhigt. Das ist völlig normal.« Merle hoffte, dass sie mit ihren Erklärungen Frau von Gronewald beruhigen konnte, als das Flugzeug abermals kurz durchgerüttelt wurde.

Die harten Fingernägel krallten sich erneut schmerzhaft in Merles Arm und hinterließen tiefe, bereits blutende Spuren in ihrer Haut.

»Könnten Sie bitte meinen Arm loslassen?«, zischte Merle zwischen ihren Zähnen hervor. »Sie tun mir wirklich weh.«

»Entschuldigung.« Erschrocken löste Frau von Gronewald ihre Hand, nur um ihre Finger direkt in Merles Oberschenkel zu krallen, als das kleine Flugzeug ein Stück nach unten sackte.

»Wir sind gleich durch die Wolkendecke hindurch, dann wird es ruhiger bis wir am Boden sind«, versuchte Merle die nervöse Frau zu beruhigen, die kreidebleich und schweratmend neben ihr saß. Besorgt warf Merle ihr einen Blick zu.

Auf dem ebenmäßigen Gesicht tanzten hektische Flecken, und auf einmal begann sie pfeifend Luft in ihre Lungen zu ziehen.

»Frau von Gronewald, sehen Sie mich an!« Energisch legte Merle ihr eine Hand unter das Kinn und drehte ihren Kopf vorsichtig zu sich heran. »Schauen Sie mir in die Augen!«

Flatternde Augenlider waren jedoch ihre einzige Reaktion. Rasselndes Pfeifen drang aus ihren Lungen und dröhnte schmerzhaft in Merles Ohren.

»Frau von Gronewald, Sie müssen ruhiger atmen. Kommen Sie, Sie sind zu schnell. Atmen Sie ruhig ein, tiefer einatmen und halten.« Merles Hand hielt noch immer ihr zitterndes Kinn umfasst.

Es dauerte einen Moment, doch dann zeigten Merles ruhige Worte offenbar Wirkung, und ihre Passagierin öffnete ihre Augen.

»So ist es gut. Machen Sie weiter so«, ermutigte Merle ihren aufgebrachten Fluggast.

Einige Minuten später war ihre Panik verflogen, und sie sah Merle dankbar an. »Es tut mir leid.«

»Alles gut, Sie hatten eine kleine Panikattacke. Hauptsache, es geht Ihnen wieder gut.«

Frau von Gronewalds weiche Hand lag noch immer auf Merles Knie. Diese unschuldige Berührung erzeugte ein durch und durch angenehmes Gefühl, wie Merle zugeben musste.

»Wie können Sie nur so ruhig bleiben?« Die rauchige Stimme bebte leicht.

Lächelnd zog Merle ihre Schulter nach oben. »Es gibt überhaupt keinen Grund für Panik oder Angst. Das Flugzeug ist in perfektem Zustand, das Wetter ist fantastisch und die kleinen Turbulenzen, die liegen einfach an der Thermik. Alles im grünen Bereich, Frau von Gronewald.«

»Das sagen Sie so einfach.« Sie hatte die Worte nur gemurmelt, doch Merle konnte sie durch den Kopfhörer deutlich hören.

Verwundert ließ sie ihren Blick zwischen der Passagierin und ihrem malträtierten Arm schweifen, atmete tief durch und konzentrierte sich auf die bevorstehende Landung.

Wenig später erhielt sie die Freigabe und brachte das Flugzeug sicher auf den Boden. Langsam ließ sie die Maschine an die zugewiesene Position rollen und schaltete die Turbinen aus. »So, da wären wir. Ich hoffe, Sie hatten trotz allem einen angenehmen Flug und behalten mich in guter Erinnerung. Des Weiteren wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende.« Merle hängte den Kopfhörer an den Haken und drehte sich zu Frau von Gronewald, die sie mit ihren wunderschönen Katzenaugen aufmerksam ansah.

»Erst einmal bin ich froh, dass wir wieder auf dem Boden sind. Alles andere wird sich noch zeigen.«

Erstaunt von der Entschlossenheit in ihrer Stimme ließ Merle ihre Augen über die elegante Frau neben ihr gleiten. Von ihrer Panikattacke war nichts mehr zu spüren. Ganz im Gegenteil, sie schien ihre zuvor schon an den Tag gelegte Souveränität zurückerlangt zu haben, wie Merle belustigt feststellte. Sie beeilte sich auszusteigen, nahm den kleinen Rollenkoffer aus dem Gepäckraum und reichte ihn an Frau von Gronewald weiter.

»Wo ist Ihre Tasche?« Frau von Gronewald griff nach ihrem Trolley.

Als sich ihre Hände berührten, fuhr ein heftiger Stromstoß durch Merle hindurch. Beinahe panisch ließ sie den Griff des kleinen Trolleys los. »Entschuldigung?« Irritiert sah Merle in die großen, braunen Augen.

»Wo Ihre Tasche ist, habe ich gefragt. Oder brauchen Sie nichts für die Übernachtung?« Wieder tanzten im Licht der tiefstehenden Sonne die kleinen Goldreflexe in Frau von Gronewalds Augen.

»Wieso? Ich fliege doch gleich wieder zurück.« Merle runzelte ein wenig ihre Stirn und fuhr sich mit der Hand durch ihre kurzen, schwarzen Haare, sodass sie in alle Richtungen standen.

»Nein, werden Sie nicht.« Zuversichtlich warf Frau von Gronewald ihren Kopf in den Nacken und sah Merle direkt ins Gesicht. »Immerhin habe ich Sie für den Hin- und auch für den Rückflug gebucht. Wann der ist, das wird sich noch zeigen, aber sicher irgendwann morgen im Laufe des Tages.«

»Aber«, stammelte Merle verblüfft, »Piet hat nichts davon gesagt. Es ging nur um einen Flug heute Abend.«

»Nun, das klären Sie dann mit Ihrem Piet. Ich habe Sie für zwei Tage gebucht und auch bereits dafür bezahlt, also kommen Sie jetzt mit.« Damit drehte sie sich auf ihren hochhackigen Schuhen um und stöckelte, ohne sich noch einmal nach Merle umzusehen, davon. Ihren kleinen Koffer zog sie dabei mühelos hinter sich her.

Seufzend zog Merle ihre Notfalltasche aus dem Gepäckraum und stapfte ihr hinterher. Da würde Piet ihr einiges zu erklären haben.

»Sie haben ja doch eine Tasche dabei.« Beinahe strafend zeigte Frau von Gronewald auf die Tasche in Merles Hand, nachdem Merle nach ihr beim Taxi ankam.

»Eine kleine Tasche für alle Fälle ist fester Bestandteil meiner Bordausrüstung. Man weiß ja nie, wo man, aus welchen Gründen auch immer, hängenbleibt.« Beinahe trotzig schob Merle ihr Kinn nach vorn und kletterte in den Wagen.

Schweigend saßen sie im Taxi nebeneinander und fuhren in Richtung Hamburg.

War Merle am Anfang noch verärgert gewesen, dass Frau von Gronewald sie so überfallen hatte und sie die Nacht nicht zu Hause sein würde, so fand sie es nun durchaus spannend, einmal wieder in Hamburg zu sein.

Sie pfiff leise durch die Zähne, als sie wenig später vor einem großen Hotel anhielten. »Entschuldigung.« Sacht legte sie ihre Hand auf den Arm von Frau von Gronewald. »Das Hotel ist etwas über meinem Budget. Ich suche mir lieber etwas anderes. Sagen Sie mir einfach, wann Sie zurückfliegen wollen, oder noch einfacher, ich gebe Ihnen meine Karte und Sie rufen mich an.«

»Ach, Unsinn!« Die braunen Augen glitten über Merles schlanke Gestalt und zurück zu ihrem Gesicht. Dieser Blick jagte Merles Puls in die Höhe. »Ich komme selbstverständlich für Ihre Unkosten auf. Alles andere wäre auch nicht angebracht.«

Verblüfft und nervös folgte Merle ihr ins Hotel, wo sie von einer freundlichen Rezeptionistin empfangen wurden. Nicht nur von außen war das Hotel äußerst beeindruckend. Als Merle die Hotellobby betrat, klappte ihr Kinn nach unten. Die Empfangshalle war riesig und sehr pompös. Der helle Marmorboden war auf Hochglanz poliert, und sehr gemütlich aussehende Sessel luden zum Verweilen ein. Das Personal war wie aus dem Ei gepellt, selbst die Hotelgäste waren allesamt ausgesprochen elegant gekleidet.

Ach du grüne Neune, wo bin ich denn da gelandet?, dachte sich Merle verunsichert.

»Frau von Gronewald, wie schön, Sie wieder bei uns begrüßen zu dürfen!« Frau von Gronewald war offensichtlich nicht zum ersten Mal in diesem Hotel.

Merle hielt sich dezent im Hintergrund und beobachtete ihre Auftraggeberin, die mit der Rezeptionistin sprach. Ihre ganze Haltung spiegelte ihre Autorität und Souveränität wider, die Merle bereits am eigenen Leib hatte erfahren dürfen. Wahrscheinlich wurde ihr selten ein Nein entgegengebracht, wie Merle erneut belustigt feststellte.

»Haben Sie Frau Niarchos bereits über meinen Besuch informiert?«

»Ja, Frau von Gronewald. Sie wird sich gleich bei Ihnen melden.«

Was Merle allerdings ein wenig überrascht hatte, war die Vielfalt an Emotionen, die Frau von Gronewald innerhalb kürzester Zeit an den Tag gelegt hatte. Streng und fordernd, genauso wie ängstlich, beinahe panisch, aber auch durchaus warm und freundlich.

»Ist mein Zimmer fertig?«

»Natürlich, Frau von Gronewald.« Der Blick der jungen Frau glitt zu Merle.

»Ich benötige bitte noch ein zweites Zimmer für meine Begleitung.« Frau von Gronewald nickte mit dem Kopf in Richtung Merle, die nur sehr zögernd nähertrat.

»Sehr gern, einen Moment bitte.« Sie tippte in ihren Computer und lächelte Merle freundlich an. »Ich bräuchte noch Ihren Ausweis für die Anmeldung.«

»Ja, natürlich.« Merle zog ihr abgenutztes Portemonnaie aus der Hosentasche und legte ihren Ausweis auf den Tresen.

»Gut. Schreiben Sie einfach alles auf Ihr Zimmer, ich übernehme die Rechnung. Das gilt auch für das Abendessen und das Frühstück.« Frau von Gronewald drehte sich um und wollte schon losgehen, als Merle sie schnell am Arm zurückhielt.

»Und bis wann soll ich morgen die Maschine startklar machen? Ich brauche auch einen Flugplan.«

Frau von Gronewald warf ihr nur einen kurzen Blick zu und zog ihre schmalen Schultern nach oben. »Wie gesagt, das zeigt sich erst noch. Halten Sie sich einfach bereit. Haben Sie eine Handynummer, unter der ich Sie erreichen kann?«

»Ja, natürlich.« Merle zog eine Visitenkarte aus der Tasche und hielt sie ihr entgegen.

Mit spitzen Fingern nahm sie die Karte entgegen und drehte sie langsam. »Ich melde mich bei Ihnen, Frau Fischer. Schönen Abend.«

Nachdenklich sah Merle ihr hinterher, als ihre Auftraggeberin zum Aufzug trat und darin verschwand.

Ein kurzes Hüsteln hinter ihr ließ sie sich umdrehen. »Ihr Ausweis und Ihre Zimmerkarte.«

»Danke.« Merle steckte ihren Ausweis wieder ein.

»Sie sind die Assistentin von Frau von Gronewald?« Neugierig strahlte die junge Frau sie an.

Merle schüttelte kurz den Kopf. »Nein, bin ich nicht. Ich bin Pilotin und sie hat mich für einen Flug gebucht. Aber warum ich jetzt hier im Hotel bin, das weiß nur sie selbst.« Die letzten Worte sprach Merle mehr zu sich selbst als in Richtung der Rezeptionistin.

Während Merle sich vom Tresen in Richtung der Aufzüge begab, bestaunte sie nochmals die großzügige Lobby. Dieses Mal versuchte sie jedoch ihren starken Eindruck nicht ganz so offensichtlich zu zeigen. Einerseits fand sie es sehr aufregend, und sie freute sich, in solch einem feudalen Hotel zu übernachten. Andererseits fühlte sie sich unter all den gehobenen Gästen um sie herum fehl am Platz.

Sie trat in den Aufzug und drückte auf den Knopf für ihr Stockwerk, doch nichts geschah. Merle drückte noch ein weiteres Mal, mit dem gleichen Resultat. Leicht genervt streckte sie den Kopf aus dem Aufzug. Die junge Rezeptionistin trat zu ihr, nahm ihr die Karte aus der Hand und hielt sie gegen einen Kontakt an der Wand.

Ernsthaft? Jetzt bin ich sogar zu dämlich diesen Aufzug zu bedienen, ärgerte sich Merle über sich selbst.

»Jetzt geht es«, strahlte die junge Frau.

Peinlich berührt lächelte Merle ihr zu und drückte den Knopf für ihr Stockwerk. Wenn es schon so kompliziert war den Lift zu benutzen, was würde dann noch auf sie warten?

Sie trat in das Zimmer und warf ihre kleine Tasche aufs Bett. Wow, das Zimmer war beinahe so groß wie ihre Wohnung in Frankfurt! Staunend besah sie jede noch so kleine Ecke. Beinahe zu schade, um hier nur eine Nacht zu verbringen.

An der Tür hing ein Zettel mit den Hotelpreisen, bei deren Anblick Merle weiche Knie bekam. »Ach du dickes Ei!«, flüsterte sie zu sich selbst. Eine Nacht war beinahe doppelt so teuer, wie Merles Wohnung im ganzen Monat kostete.

Sie setzte sich aufs Bett und rief Piet an, der auch sofort abnahm. Aufgrund ihrer langjährigen Freundschaft konnte Merle schon allein an seiner Stimme erkennen, dass er ein schlechtes Gewissen hatte. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass es eine Tour über zwei Tage sein wird?«

»Weil ich mir nicht sicher war, ob du dann auch geflogen wärst, Merle. Und ich hatte niemand anderen, der so kurzfristig ran konnte.« Piets Stimme überschlug sich beinahe am Telefon. »Außerdem dachte ich, dass du das Geld gern verdienen wolltest. Frau von Gronewald zahlt wirklich sehr gut. Sie ist ein wahrer Glücksfall für uns, Merle. Solche Aufträge gibt es nicht so oft, wie du sicherlich weißt.«

Seufzend legte Merle sich aufs Bett und starrte an die Decke. »Das mag sein, Piet, aber du hättest es mir trotzdem sagen sollen. Ich stand ganz schön belämmert da, nachdem Frau von Gronewald mir das offenbart hatte.«

»Es tut mir leid, Merle. Du hast ja recht, aber ich hatte Angst, dass du ablehnen würdest. Ist das Hotel wenigstens angenehm?«

Merle schloss die Augen und dachte einen Moment nach. Von Piets Seite drangen Schrittgeräusche an ihr Ohr. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie ihr Freund und Mentor durch sein Büro schritt, während er auf ihre Reaktion wartete. »Das Hotel ist der absolute Hammer, Piet!« Ein sanftes Gesicht schob sich vor Merles inneres Auge und ließ ihren Puls deutlich in die Höhe schnellen. »Was genau weißt du über den Auftrag und über meine Passagierin?«

»Nicht wirklich viel«, gab Piet kleinlaut zu. »Joanna von Gronewald kam am späten Nachmittag und buchte einen Flug nach Hamburg mit Rückflug irgendwann morgen. Über das Warum und Wieso kann ich dir keine Auskünfte geben. Danach habe ich sie nicht gefragt. Bist du sauer auf mich?«

Merle lauschte in sich hinein. Die Antwort war einfach zu finden, dennoch ließ sie Piet einen Moment länger als vielleicht nötig zappeln.

»Nein, Piet, bin ich nicht. Du hast ja auch recht, ich kann das Geld wirklich gut gebrauchen und vor hatte ich heute auch nichts. Zuhause wartet nur eine kalte Pizza auf mich. Also es ist alles gut zwischen uns.«

»Dann bin ich ja beruhigt. Bis morgen und genieße deinen Aufenthalt im Hotel.«

»Joanna.« Merle sprach den Namen leise aus. Ein schöner Name, absolut passend für eine so schöne Frau. Der Gedanke ließ Merle schuldbewusst den Kopf zwischen die Schultern ziehen. Eine schöne Frau, die ganz sicher nichts für sie war.

Sie machte sich frisch und ging anschließend in das Hotelrestaurant hinunter, wo sie sich an die Bar setzte. Merles Magen knurrte bereits laut vor Hunger. Nach wie vor hatte sie Lust auf Pizza und konnte es kaum erwarten, bis sie endlich fertig war.

Gerade als der Kellner endlich ihr Essen und einen Saft servierte, betrat Joanna von Gronewald die Bar – mit einer anderen Frau im Schlepptau. Normalerweise gab Merle nichts auf Äußerlichkeiten, doch diese Frau strahlte eine Autorität aus, die Merle schwer beeindruckte. Und das lag nicht nur an ihrer Körpergröße, denn sie überragte Joanna um einen ganzen Kopf. Ihr Gesicht trug sehr ernste Züge und ihr Blick wirkte verbissen. Ihre ganze Erscheinung war durch und durch unterkühlt. Hatte Merle bei Frau von Gronewald schon das Gefühl gehabt, man brächte ihr selten ein Nein entgegen, so war es bei dieser Frau einfach undenkbar, dass sie nicht immer ihren Willen bekam. Oh nein, diese Frau verhieß nichts Gutes! Merle lief ein kalter Schauer über den Rücken.

Von der Tür aus ließ Frau von Gronewald ihre bernsteinfarbenen Augen durch das Restaurant gleiten und blieb für einen kurzen Moment an Merle haften, die ihr freundlich lächelnd zunickte.

Mit keiner Regung gab Frau von Gronewald zu erkennen, dass sie Merle erkannt hatte, und sah einfach über sie hinweg. Sie zog ihre unbekannte Begleitung mit sich in eine der hinteren Ecken, wo sie ihre Köpfe zusammensteckten und sich unterhielten.

Überrascht stellte Merle fest, dass sie die Reaktion von Frau von Gronewald verärgerte. Heimlich beobachtete sie die beiden Frauen, die durchaus miteinander vertraut zu sein schienen.

Immer wieder legte die fremde Frau ihre Hand auf den Arm von Frau von Gronewald und strich sachte darüber.

Für einen kurzen Moment hatte Merle gehofft, dass Frau von Gronewald sie mit an ihren Tisch bitten würde, doch das war ein absolut unsinniger Wunsch, wie sie sich eingestehen musste.

Reiß dich zusammen Merle! schalt sie sich innerlich. Die Frau spielt in einer ganz anderen Liga als du und wird sich auch niemals für dich interessieren. Schlag dir das aus dem Kopf!

Merle ließ sich Zeit mit ihrer Pizza und warf ab und an einen Blick in jene Ecke, wo Joanna von Gronewald mit der anderen Frau saß. Schrilles Gelächter drang immer wieder an ihr Ohr und verstärkte dieses unangenehme Nagen in ihrer Magengrube. Ein Gefühl, das sie einmal mehr verunsicherte, denn sie hatte schon lange nicht mehr so auf eine Frau reagiert. Und nun ausgerechnet auf eine, die nicht nur unerreichbar schien, sondern die offensichtlich auch noch mehr Geld zur Verfügung hatte, als Merle erahnen konnte. Sie wusste nur zu gut, was Piet für den Flug an sich berechnete. Die Maschine und auch sie selbst gleich für zwei Tage zu buchen, das ging direkt in eine horrende Preisklasse.

Beinahe trotzig trank Merle ihren Saft aus und sah erneut zu den beiden Frauen hinüber. Beim Anblick dieser verspürte sie wieder dieses ungute Gefühl in sich aufkommen. Sie hatte sich noch nie besonders für die Welt der Reichen interessiert. Für sie waren dies ganz normale Menschen wie sie selbst auch. Mit Problemen und Wünschen, die vielleicht von ihren eigenen abwichen, doch am Ende des Tages mussten sie alle essen, trinken und schlafen. Dennoch war da etwas an Joanna von Gronewald, das Merle durchaus faszinierte. Auch wenn sie für den Moment nicht sagen konnte, was es war. Ihr Geld war es auf jeden Fall nicht.

»Möchten Sie noch einen Saft?« Wie aus dem Nichts tauchte der Kellner vor ihr auf und sah Merle fragend an.

»Nein, danke. Die Rechnung bitte.«

Er räumte ab und legte ihr ein ledernes Mäppchen vor, in dem die Rechnung für ihre Pizza und das Getränk war.

Entsetzt zog Merle die Luft ein, als sie den Betrag sah. Sind die des Wahnsinns! Ich wollte nur eine Pizza und nicht die ganze Pizzeria kaufen. Merle schrieb ihre Zimmernummer auf den Zettel und stand auf. Ich hoffe, Joanna hält Wort und kommt auch für das Essen auf, sonst geht der ganze schöne Lohn für die zwei Tage direkt für diese horrende Rechnung drauf. Merle sah angespannt dem kommenden Tag entgegen.

2

Nach einer unruhigen Nacht in dem für ihre Verhältnisse viel zu harten Bett stand Merle mit Rückenschmerzen auf. Eine lange und äußerst heiße Dusche ließ ihre Lebensgeister zum Glück wieder erwachen. In all der Aufregung des Vortages hatte sie sogar ihren drangsalierten Arm vergessen. Das heiße Wasser erinnerte sie wieder daran, denn es brannte in den offenen Wunden. Merle betrachtete die blutigen Kratzer und musste trotz des pochenden Schmerzes lächeln, da sie dabei an ihre Auftraggeberin denken musste. Das gibt’s doch nicht, jetzt denke ich schon wieder an diese Frau!, wunderte Merle sich über sich selbst.

In ihrer Notfalltasche befanden sich nur eine ausgebeulte Jeans und ein zerknittertes T-Shirt. Merle betrachtete sich im Spiegel und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Der Gedanke an die vornehme Kleidung der anderen Hotelgäste beschämte sie. Doch ihr Hunger war größer als ihr Schamgefühl. Sie zuckte mit den Schultern, richtete sich auf und machte sich auf den Weg nach unten.

Im Frühstücksraum angekommen setzte sie sich an einen kleinen Tisch am Fenster mit einem wunderschönen Ausblick in den begrünten Innenhof des Hotels.

»Möchten Sie die Karte oder nehmen Sie das Buffet?«

Unsicher sah Merle auf den Kellner, als eine feste Stimme an ihrer Seite sie regelrecht aufspringen ließ.

»Wir nehmen das Buffet und bringen Sie uns bitte eine Kanne Kaffee.«

»Guten Morgen, Frau von Gronewald.«

Joanna von Gronewald nickte Merle freundlich zu. »Guten Morgen, Frau Fischer. Darf ich mich zu Ihnen setzen, oder möchten Sie lieber allein frühstücken?«

»Bitte.« Merle deutete auf den Platz ihr gegenüber. Neugierig musterte sie Joanna von Gronewald, die sie gut gelaunt anlächelte. Gestern Abend Ignoranz, heute wieder die Freundlichkeit in Person, das muss mal einer verstehen. Fasziniert stellte Merle fest, dass das Lächeln ihr Gesicht regelrecht zum Strahlen brachte und durchaus ansteckend war.

Mit einem leicht erhöhten Puls ging sie zum Buffet und suchte sich etwas zum Essen. Das Frühstücksbuffet war gigantisch. Merle war von dem reichhaltigen Angebot regelrecht erschlagen und hatte Mühe, sich zu entscheiden. Sie irrte einige Minuten planlos umher, bis sie sich schließlich der Einfachheit halber eine Schüssel Müsli schnappte.

»Haben Sie gut geschlafen?«, fragte Joanna von Gronewald, während sie, ebenfalls mit einer Schüssel Müsli, an den Tisch zurückkam.

»Ich bin das fremde Bett nicht gewohnt.« Merle zuckte kurz mit den Schultern und rang sich ein dünnes Lächeln ab.

»Ja, Hotelbetten haben ihren eigenen Charme, da stimme ich Ihnen zu.« Frau von Gronewalds Blick glitt über Merle und blieb an ihrem Arm hängen. »Sie haben da ganz schöne Kratzer auf Ihrem Arm.« In einer sanften Geste strich sie über Merles Arm und ließ ihre feinen Härchen nach oben steigen.

»Ja, Sie haben ziemlich harte Fingernägel.« Merle konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen.

»Oh, das war ich?« Erneut fuhren die weichen Finger über Merles Haut.

Die zarte Berührung jagte Merle einen heißen Schauer über den Rücken, und sie spürte ihr Herz bis in den Hals schlagen. Während sie versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen, spielte die attraktive Frau auf der anderen Seite des Tisches nervös mit ihren Fingern.

»Das tut mir sehr leid.«

»Nicht so schlimm.« Merle versuchte die eindeutig unangenehme Situation herunterzuspielen.

»Nun . . .« Nachdenklich rieb sich Joanna von Gronewald mit ihren Fingern über die Stirn. Für einen Moment sah es so aus, als wollte sie noch etwas sagen, doch dann schluckte sie nur und senkte offensichtlich beschämt ihren Kopf.

Ihre Reaktion überraschte Merle sehr. Anscheinend war es ihr peinlich oder unangenehm, über die Panikattacke zu sprechen. »Wissen Sie schon, wann Sie zurückfliegen möchten?« Freundlich versuchte Merle das Thema zu wechseln und stocherte in ihrem Müsli herum.

»Haben Sie es eilig, wieder nach Frankfurt zu kommen?« Joanna von Gronewalds Züge verrieten noch immer die starke Anspannung in ihr und doch schenkte sie Merle ein süßes Lächeln.

»Nicht wirklich. Zumindest habe ich keine Pläne.« Während sie sprach, konnte Merle sehen, dass sie sich wieder entspannte.

»Gut, denn ich habe noch keinen konkreten Zeitplan.«

»Es wäre nur gut, wenn Sie mir rechtzeitig Bescheid geben könnten. Ich muss den Flugplan einreichen und das dauert ein wenig.«

Joanna von Gronewald trank einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse auf den Tisch. »Woher kommt eigentlich Ihr Name? Merle habe ich noch nie zuvor gehört.«

»Es ist ein englischer Name, aus dem Lateinischen abgewandelt.«

»Ist das so?« Ein amüsiertes Lächeln umspielte Frau von Gronewalds Lippen. »Und wissen Sie auch, was der Name bedeutet?«

»Amsel, wurde mir einmal gesagt.«

»Oh, wie passend.« Sie lachte leise auf und strahlte Merle an. »Eine Amsel muss fliegen, oder etwa nicht?«

Ihr Lachen war derart ansteckend, dass Merle nicht anders konnte und ebenso fröhlich lachte.

»Wie lange fliegen Sie schon für Piet, haben Sie gesagt?«

Merle hob den Kopf und sah die reizvolle Frau ihr gegenüber intensiv an, die sie ihrerseits über den Rand der Kaffeetasse hinweg musterte. »Seit sieben Jahren.«

»Ist es Ihre eigene Maschine oder gehört die Piet?« Die interessierten Augen ruhten weiter aufmerksam auf Merle.

»Sie gehört Piet. Wie eigentlich alle der Chartermaschinen, aber ich fliege meistens die Piper.«

»Und wie viel bekommen Sie von dem Geld, das ich an ihn zahle?«

»Nur einen kleinen Teil – aber das ist okay«, beeilte Merle sich hinzuzufügen. »Dafür trägt er ja die ganzen administrativen Kosten und kommt auch für die Wartung der Flugzeuge auf.« Merle legte ihren Kopf leicht schräg. »Viel wichtiger für mich ist, dass ich auf diese Art meine Lizenz behalten kann.«

»Fliegen Sie auch noch für andere Chartergesellschaften?« Joanna von Gronewald nahm noch einen Schluck ihres Kaffees und stellte die Tasse vor sich auf den Tisch.

»Nein.« Merle fuhr sich mit der Hand durch ihre kurzen Haare. »Dafür fehlt mir die Zeit. Durch die Arbeit bin ich froh, wenn ich ab und an meinem Hobby nachgehen kann. Und das geht dann eben nur abends oder am Wochenende.«

»Haben Sie schon einmal überlegt, Ihr Hobby zum Beruf zu machen?« Joanna von Gronewalds Finger strich einmal mehr über Merles Arm und ließ sie den Kopf heben. Dabei traf ihr Blick auf die braunen Katzenaugen, die sie freundlich musterten.

Langsam nahm Merle einen Schluck des inzwischen kalten Kaffees. »Für eine große Fluglinie zu arbeiten, wäre verlockend gewesen, doch die Ausbildung konnte ich mir nicht erlauben. Ohne Rücklagen oder Eltern, die für mich bürgen konnten, bekam ich auch keinen Kredit über den nötigen Betrag. Die Fluglinie hätte mir das Geld zur Verfügung gestellt, aber damit hätte ich mich auf viele Jahre fest an sie binden müssen. Das wollte ich nicht. Dass ich überhaupt den Flugschein machen konnte, das verdanke ich einzig und allein Piet, der mich gefördert hat.« Merle ließ ihre Augen durch den Frühstücksraum gleiten und blieb kurz darauf wieder an jenen braunen Augen hängen, die sie weiter wach beobachteten.

»Und warum bewerben Sie sich jetzt nicht? Sie haben doch einen Flugschein, da müsste es doch leichter sein, oder etwa nicht?«

»Nein, die Flugscheine sind nicht miteinander vergleichbar, und ich hätte immer noch das Problem, ein halbes Leben lang einen Kredit abstottern zu müssen. Das ist mir einfach zu risikoreich. Nein, ich bleibe bei meinem Hobby und erfreue mich an jedem Auftrag.« Merle spürte, wie ihr unter dem aufmerksamen Blick warm wurde und ihre Wangen erröteten.

In diesem Moment klingelte ein Handy, und Joanna von Gronewald griff in ihre Tasche. Sie nickte Merle kurz zu und verließ den Frühstücksraum.

Mit klopfendem Herzen sah Merle ihr nach. Noch immer spürte sie die sanften Finger auf ihrem Arm. Die Berührung hatte sie weitaus mehr aufgewühlt, als sie es für möglich gehalten hätte.

Kurz darauf kam ihre Auftraggeberin in den Raum zurück. »Wie schnell können wir nach Frankfurt losfliegen?«

Merle schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Ich muss nur den Flugplan einreichen und genehmigen lassen.«

»Wie lange dauert das?« Die rauchige Stimme vibrierte aufgeregt.

»Ich ruf sofort am Flugplatz an. Bis wir hier ausgecheckt haben und am Flugplatz angelangt sind, bis dahin ist der Plan fertig.«

»Gut.« Joanna von Gronewald nickte ihr ernst zu. »Erledigen Sie das bitte und packen Sie ihre Tasche. Ich würde gern so schnell es geht zurück.«

Merle war neugierig, was so wichtig sein könnte, dass sie umgehend aufbrechen mussten. Jedoch wollte sie keinesfalls aufdringlich erscheinen und verkniff sich weitere Fragen zu stellen. Sie beeilte sich und trat kurz darauf mit ihrem spärlichen Gepäck in die Lobby. Sie legte die Zimmerkarte auf den Tresen, als Joanna von Gronewalds sanfte Stimme hinter ihr erklang.

»Die Rechnung ist bereits beglichen, wir können los.« Diese Nachricht lies Merle aufatmen. Sie war erleichtert, dass ihre Auftraggeberin sich an die Abmachung gehalten und sämtliche Unkosten übernommen hatte. »Danke, Frau von Gronewald. Es tut mir leid. Wenn ich geahnt hätte, dass die Pizza so teuer ist, dann hätte ich etwas anderes bestellt.«

Joanna von Gronewalds Augen weiteten sich erstaunt. Ein süßes Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie Merle beobachtete, die unruhig von einem Bein auf das andere trat. »Hat Ihnen die Pizza denn geschmeckt?«, fragte sie amüsiert.

»Ja, lecker war sie. Aber nach einem Blick auf die Rechnung hatte ich das Gefühl, ich hätte die ganze Pizzeria aufgekauft.« Merle blickte verlegen auf ihre Füße.

Frau von Gronewald warf ihren Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus. »Sie sind mir eine Marke, Frau Fischer. Kommen Sie, lassen Sie uns zurückfliegen.«

3

Kurze Zeit später saßen sie wieder nebeneinander im Flugzeug.

»Denken Sie, dass es wieder turbulent wird?«

Merle warf einen Blick auf ihre Passagierin, die dieses Mal den Kopfhörer direkt aufgesetzt hatte. Sie schien etwas bleich um die Nase. Lächelnd zog Merle ihre Schultern nach oben. »Der Flugplan verspricht einen ruhigen Flug, aber so ganz genau kann man das nie vorhersagen.«

Frau von Gronewalds Blick hing auf der Armatur vor ihr. »Warum habe ich auch einen Steuerknüppel? Das wollte ich gestern schon fragen, habe es aber durch die Aufregung und die Turbulenzen vergessen.«

»Sie könnten das Flugzeug genauso steuern wie ich auch. Möchten Sie es mal versuchen?«

»Wie bitte?« Großes Entsetzen schwang in ihrer Stimme mit. »Sie machen Scherze, oder?«

»Aber nein.« Merle lachte sie fröhlich an. »Es ist wirklich so. Beide Seiten sind voll funktionsfähig.«

»Aber das geht doch nicht. Ich meine, haben Sie keine Angst, dass ich in Panik in das Steuer eingreifen und das Flugzeug so zum Absturz bringen könnte?«

Merle warf ihren Kopf nach hinten und lachte laut auf. »Keine Sorge, Frau von Gronewald. Solange ich neben Ihnen sitze, bleibt Ihre Seite abgeschaltet. Außer . . .« Sie warf ihr einen schelmischen Blick zu. »Außer Sie möchten einmal selbst fliegen, dann können wir das gern einrichten.«

»Gott bewahre. Nein. Alles, nur das nicht.« Frau von Gronewalds Blick war noch immer schreckerfüllt. Vehement schüttelte sie ihren Kopf und ließ dabei ihre langen Haare fliegen.

Merle musste sich zwingen, den Blick von ihr abzuwenden. Sie war ohne Zweifel eine wunderschöne Frau, die Merles Puls regelmäßig und öfter, als ihr lieb war, in die Höhe trieb. Sie schluckte trocken und sah nach vorn. Frau von Gronewalds rauchige Stimme drang überraschend aus dem Kopfhörer.

»Haben Sie schon einmal eine gefährliche Situation erlebt?«

Merle dachte einen Augenblick nach. »Meinen Sie jetzt nur im Hinblick auf das Fliegen oder allgemein?«

»Ich dachte eher an das Fliegen.«

»Nein.« Merle schüttelte ihren Kopf. »Während des Fliegens habe ich noch nie etwas erlebt, das mir gefährlich vorkam.«

»Und sonst?«

Das Lächeln dieser eindrucksvollen Frau ging Merle wieder einmal durch und durch. »Das Leben an sich hält immer wieder gefährliche Aspekte bereit, oder nicht?«

»Das ist wohl wahr.« Frau von Gronewald nickte zustimmend und zog ein paar Papiere aus ihrer Tasche, die sie langsam durchblätterte. Während sie las, strich sie sich immer wieder mit ihren langen Fingern durch die Haare.

Merle, die sie heimlich von der Seite beobachtete, wünschte sich, dass diese Finger ihre eigenen Haare hinter das Ohr streichen würden. Innerlich seufzend sah sie wieder nach vorn. Du bist eine Närrin, Merle. Als ob Joanna sich für dich interessieren könnte. Denk nur an die Frau von gestern Abend. Das ist dann wohl eher ihre Klasse, und nicht so eine kleine Hobbypilotin, wie du es bist. Also hör auf zu träumen und genieße den Flug.

Auch wenn Merle versuchte, sich diese Worte zu verinnerlichen, ihr Blick glitt immer wieder zu der schönen Frau, die neben ihr saß.

In diesem Moment wurde das Flugzeug von einer heftigen Turbulenz durchgeschüttelt, und Merle konzentrierte sich ganz darauf, das kleine Flugzeug unter Kontrolle zu halten. Als sie die unruhigen Schichten passiert hatten, warf sie einen Blick auf Frau von Gronewald, die mit geschlossenen Augen neben ihr saß. Alle Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen und ließ ihre Haut wächsern erscheinen. Doch im Gegensatz zum Tag zuvor hatte sie sich besser unter Kontrolle.

Sanft legte Merle ihr die Hand auf den Arm und schreckte sie so aus ihrer Starre auf. »Es ist alles in Ordnung, Frau von Gronewald. Wir sind schon wieder im Sinkflug und werden gleich landen.«

»Ich hasse es zu fliegen. Ich kann mich einfach nicht an diese Wackeleien gewöhnen. Aber mir scheint, dass es mit so einer kleinen Maschine noch bedeutend schlimmer ist als mit einem großen Flugzeug.« Mit eiskalten Fingern griff Joanna von Gronewald nach Merles Hand und drückte sie fest.

Merle lächelte ihr beruhigend zu. »Ja, das stimmt. Je größer das Flugzeug, umso träger liegt es in der Luft. Da macht so ein wenig Wind, wie wir ihn gerade haben, wenig aus. Da wir kleiner und auch um einiges langsamer sind als ein großes Flugzeug, sind wir anfälliger. Trotzdem besteht kein Grund zur Sorge. Ich fliege schon so schnell es geht. Durch die Geschwindigkeit kann ich einiges ausgleichen. Sie werden sehen, es hört gleich auf zu wackeln.«

»Wenn Sie das sagen«, presste Joanna von Gronewald hervor, löste ihre kalten Finger von Merles Hand und blickte weiter starr nach vorn.

»Wenn Sie das so empfinden, warum fliegen Sie dann nicht mit den großen Maschinen, Frau von Gronewald?«

Diese drehte den Kopf und zog in gewohnter Manier kunstvoll ihre Braue nach oben. Ein süßes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Dafür habe ich meine Gründe, und ich werde sie Ihnen nur mitteilen, wenn Sie mir meine Frage von heute Morgen ehrlich beantworten.«

Merle warf ihr von der Seite her einen Blick zu und grinste frech. »Touché, Frau von Gronewald. Dann behalten wir eben beide unsere kleinen Geheimnisse.« Merle landete das Flugzeug sicher auf dem Flugplatz von Egelsbach und ließ es an den zugewiesenen Platz rollen. Kaum dass sie die Turbinen ausgeschaltet hatte, kam Piet über den Rasen gelaufen.