Liebe per Kurier - Claudia Lütje - E-Book

Liebe per Kurier E-Book

Claudia Lütje

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Beschreibung

Um ihr Studium zur Landschaftsarchitektin zu finanzieren, jobbt Toni als Kurierfahrerin. An einem grauen Dezemberabend führt ein Auftrag sie zu einer verlassen wirkenden Villa am Rande der Stadt. Deren Bewohnerin erscheint genauso geheimnisvoll, unfreundlich und abweisend wie das riesige Haus. Doch in Tonis Gärtnerinnenherz erwacht sofort das Interesse für den großen, von Unkraut überwucherten Garten. Die wild wachsenden Sträucher rufen geradezu nach einer helfenden Hand. Zu ihrem Erstaunen wird Toni noch weitere Male zur Villa gerufen. Bei diesen Kurierfahrten entwickelt sie immer mehr Hartnäckigkeit, sich um den verwilderten Garten kümmern zu dürfen – und hat damit endlich auch Erfolg. Dabei lernt sie die kühle Bewohnerin zwar etwas näher kennen, doch sie scheint von einer dunklen Vergangenheit gefesselt, die sie sehr belastet und jegliche Beziehung unmöglich macht. Dennoch verliebt Toni sich in sie und versucht nun alles, nicht nur den Garten wieder zum Leben zu erwecken, sondern auch Fionas Wunden zu heilen und ihre Liebe zu gewinnen . . .

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Seitenzahl: 348

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Claudia Lütje

LIEBE PER KURIER

Roman

© 2022édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-358-6

Coverfoto:

1

»Toni, ich habe noch einen Auftrag für dich«, drang die Stimme der Disponentin des Kurierdienstes aus dem Handylautsprecher.

Das glaub ich jetzt nicht, seufzte Toni und sah auf ihre Armbanduhr. Wer braucht denn jetzt noch einen Kurier? Sie pustete in ihre durchgefrorenen Hände und klemmte sie schließlich unter ihre Achseln, um sie aufzuwärmen, bis die Zieladresse im Display ihres Navis angezeigt wurde.

Den ganzen Nachmittag war sie bereits kreuz und quer durch die Stadt gefahren und hatte sich gerade auf den wohlverdienten Feierabend gefreut. Doch nun zog sie seufzend den Reißverschluss ihrer Jacke hoch bis unters Kinn und versteckte ihre kleine Stupsnase unter dem Halstuch. Ihre kurzen und widerspenstigen Locken verschwanden unter ihrem Helm und sie stülpte sich die dicken Handschuhe über die kalten Finger.

Mit einem satten Brummen erwachte der Motor ihrer Honda zum Leben. Sie würde durch die halbe Stadt fahren müssen, um etwas abzuholen, und wer weiß, wo sie es dann hinbringen musste.

Eisiger Regen fiel aus den tiefhängenden Wolken und verwandelte die Straßen in eine gefährliche Rutschbahn. Toni wäre viel lieber nach Hause gefahren und hätte sich mit einem leckeren Milchkaffee auf die Couch gelegt. Doch die Rechnungen wollten bezahlt werden, und daher kam ein Ablehnen des Auftrages für sie nicht infrage.

So schnell es die schwierigen Straßenverhältnisse zuließen, fuhr sie durch den Abendverkehr. Sie musste sich so sehr konzentrieren, dass sie kein Auge für die festliche Straßenbeleuchtung hatte, die bereits an allen Ecken hing und die Stadt für die kommende Weihnachtszeit schmückte.

Endlich am Ziel angekommen, sprang sie mit dem Helm unter dem Arm die Stufen zu einem hohen Geschäftsgebäude nach oben und trat in das hell erleuchtete Foyer.

Hinter einem langen Empfangstresen saßen zwei Frauen, die ihr gelangweilt entgegensahen.

»Guten Abend, ich komme vom Kurierdienst.« Toni ließ ihre Blicke zwischen den beiden Frauen hin- und herschweifen.

Die Brünette lächelte ihr freundlich zu, doch es war die deutlich schlecht gefärbte Blondine, die ihr einen dicken Umschlag entgegenhielt. »Hier, die Adresse steht drauf. Es wird eine Antwort erwartet. Und zwar heute noch«, fügte sie etwas herablassend hinzu.

»Sagen Sie mal«, protestierte Toni, als sie den Umschlag begutachtete und die Adresse darauf sah. »Haben Sie schon mal rausgeschaut?« Auf die hochgezogenen Augenbrauen der falschen Blondine hin fuhr sie fort: »Bei dem Wetter brauch ich eine Ewigkeit, bis ich dort bin. Dann soll ich warten und wieder hierherkommen?«

»Genau so sieht Ihr Auftrag aus, ist das ein Problem für Sie?« Die Blondine griff nach dem Telefon. »Ich kann auch einen anderen Kurierdienst beauftragen, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Nein, schon gut, ich meinte ja nur.« Brummelnd steckte Toni den Umschlag in ihre Umhängetasche und wollte schon gehen, doch die unangenehme Stimme der Rezeptionistin hielt sie auf.

»Wie heißen Sie, ich muss Sie noch anmelden.« Ihre unendlich langen Fingernägel schwebten über den Tasten der Telefonanlage, während sie Toni naserümpfend musterte.

»Toni«, erwiderte sie leicht verwundert.

»Nun denn, Toni«, sagte die falsche Blondine herablassend gedehnt und griff zum Hörer.

Toni wandte sich innerlich kopfschüttelnd ab, verließ das Gebäude und setzte sich auf ihre Maschine. Sie zog noch einmal den Umschlag aus der Tasche und gab die Adresse in ihr Navi ein. Nun denn, F. Eisler, dann wollen wir mal zu dir fahren und hoffen, dass es nicht allzu lange dauert mit deiner Antwort.

Seufzend ließ sie die Honda brummen. Da würde die Couch heute noch länger auf sie warten müssen. Wenigstens kam sie mit dem Motorrad gut durch den immer stärker werdenden Verkehr und erreichte schneller als zuvor befürchtet ihr Ziel.

Toni klappte ihr Visier nach oben und blickte sich verwundert um. Die ganze Straße war hell beleuchtet. Es schien ein regelrechter Wettbewerb um die schönste und aufwendigste Festbeleuchtung zu herrschen. Einzig das Haus, vor dem sie nun stand, lag völlig im Dunkeln. Eine hohe Mauer umgab das Anwesen und schützte das dahinterliegende Gelände vor neugierigen Blicken.

Durch das Tor hindurch versuchte Toni, etwas zu erspähen, doch kein Lichtschein drang bis zu ihr an die Straße. Dann wollen wir mal sehen, ob F. Eisler mich tatsächlich erwartet. Sie drückte auf die namenlose Klingel und wartete.

»Was wollen Sie?«, drang es blechern aus der Gegensprechanlage. Von der Stimme her konnte Toni nicht einmal sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war.

»Ich bringe ein paar Unterlagen. Man wollte mich anmelden.« Toni hob den Kopf und blickte in die Kamera, die sie am Rand der Mauer ausgemacht hatte. »Ich bin Toni«, fügte sie noch schnell hinzu.

»Kommen Sie herein.« Wie von unsichtbarer Hand gezogen, schwangen die beiden Torflügel auf.

Toni schob ihre Maschine in den Hof und parkte sie vor dem Haus. Sie pfiff leise durch die Zähne, als sie die große Villa sah, die von der Straße her nicht einmal zu erahnen gewesen war.

Über der Tür flammte ein gleißend heller Halogenstrahler auf. Schützend hielt Toni die Hand über ihre Augen. Mit dem Helm unter dem Arm lief sie die Stufen nach oben und wartete vor der Haustür. Die feuchte Kälte drang durch ihre Motorradjacke und ließ sie zitternd von einem Bein auf das andere hüpfen.

Sie überlegte schon, ob sie klopfen sollte, da wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Ein schwarzer Lederhandschuh streckte sich ihr entgegen. »Geben Sie her.«

Etwas konsterniert sah Toni auf den Handschuh. Die Hand, die darin steckte, war eindeutig die einer Frau.

»Wie lange dauert das denn?«, drang eine ungeduldige Stimme aus dem Türspalt.

»Oh, ja.« Toni besann sich, holte den Umschlag aus der Tasche und übergab ihn. Normalerweise wurde sie von ganzen Menschen begrüßt und nicht nur von einem Handschuh in einem dunklen Türspalt.

Der Umschlag verschwand im Dunkel, dann fiel die Tür mit einem satten Klick auch schon wieder ins Schloss.

Verblüfft sah Toni auf die geschlossene Tür. »Hallo?« Mit der Faust hämmerte sie dagegen. »Hallo, hören Sie?«

»Was?« Erneut nur die blecherne Stimme aus einem Lautsprecher.

Toni beugte sich dem Lautsprecher entgegen. »Ich soll auf eine Antwort warten, wurde mir aufgetragen.«

»Nun gut, dann warten Sie eben.« Ein Klick und die Gegensprechanlage war wieder stumm.

Das glaube ich jetzt nicht. Will sie mich tatsächlich hier draußen in der Kälte herumstehen lassen? Dass Kurierfahrer nicht immer mit dem nötigen Respekt behandelt wurden, war Toni ja schon gewöhnt, aber das hier ging wirklich zu weit. Sie suchte die Wand ab und fand einen versteckten Klingelknopf. Ohne zu zögern legte sie ihren Finger darauf.

Es dauerte einen Moment, dann knackte es wieder im Lautsprecher.

»Entschuldigen Sie bitte, aber es ist echt kalt und es regnet.« Toni versuchte, nicht allzu barsch zu klingen.

Wie ein im wahrsten Sinne des Wortes begossener Pudel stand sie vor der Tür und wartete. Kalte Tropfen rannen ihr den Nacken herunter und ließen sie zittern. Entweder, man würde sie jetzt reinlassen, oder sie würde nach Hause fahren. Aber sie würde ganz bestimmt nicht hier in der Kälte stehenbleiben. Auftrag hin oder her.

Nach einigen Sekunden, die Toni wie eine Ewigkeit vorkamen, wurde die Tür erneut geöffnet, und dieses Mal schwang sie weiter auf. »Kommen Sie herein.«

Toni trat über die Schwelle und sah sich nach der Person um, die sie eingelassen hatte. Ihre Augen benötigten einen Moment, um sich von dem gleißenden Licht der Außenlampe an den dämmrigen Halbschatten in der hohen Halle zu gewöhnen. Dabei hätte sie beinahe die Frau übersehen, die ganz in schwarz gekleidet neben ihr stand. Den Umschlag, den Toni ihr zuvor gegeben hatte, hielt sie wie ein Schutzschild an ihre Brust gepresst. Ihr bleiches Gesicht wurde von feinem blonden Haar umrahmt, das in weichen Wellen auf ihre Schultern fiel.

»Sie können hier in der Halle warten.« Damit warf die Frau die schwere Eingangstür hinter Toni zu, drehte sich um und verschwand in die andere Seite der Halle, ohne sich noch einmal umzusehen.

Etwas ratlos sah Toni ihr nach. Sie hatte ja schon einiges erlebt, aber dieses unhöfliche, beinahe feindselige Benehmen war doch schwer zu begreifen. Immerhin erledigte sie nur einen Auftrag und war nicht zum Spaß hier. Trotzig überlegte sie, ob sie nicht einfach nach Hause fahren sollte, doch die Aussicht auf den folgenden deftigen Rüffel von ihrem Chef ließ sie seufzend abwarten.

Sie stopfte ihre Handschuhe in den Helm und legte ihn sorgsam auf den Boden. Sie konnte nur hoffen, dass es nicht zu lange dauern würde. Hier drin war sie zwar vom Regen geschützt, aber warm war es hier beileibe nicht.

Dann sah sie sich in der Halle um. In der Mitte führte eine breite Treppe nach oben. An den hohen Wänden rechts und links hingen zahlreiche Bilder, Porträts von finster aussehenden Personen aus einer definitiv lange vergangenen Zeit. Unwillkürlich kroch eine feine Gänsehaut ihren Rücken hoch. Dieser Ort wirkte unheimlich, fast verwunschen auf sie. Oder war es doch nur die Kälte?

Um sich durch Bewegung etwas warm zu halten, begann Toni in der Halle herumzulaufen. Doch die schweren Schritte ihrer Stiefel hallten wie Donnerschläge durch die hohe Halle und waren die einzigen Geräusche in dem großen Haus.

Aus einem Impuls heraus zog Toni die hohen Stiefel aus und stellte sie neben ihren Helm. Auf nunmehr leisen Sohlen schlich sie weiter durch die Halle und wartete. Zitternd schlang sie die Arme um ihren Körper.

Doch als Tonis Zähne anfingen, lautstark zu klappern, fasste sie einen Entschluss. Auf die Gefahr hin, aufdringlich zu wirken, suchte sie die Tür, hinter der die Hausbewohnerin verschwunden war, und ging hindurch.

Der Raum war jedoch genauso kalt wie die Halle hinter ihr und stockdunkel. Sie tastete an der Wand neben der Tür entlang und fand einen Schalter. Doch als sie ihn umlegte, geschah nichts. Also zog sie ihr Handy aus der Tasche und schaltete die Taschenlampe ein.

Verwundert sah sich Toni in dem Raum um. Rauchgeschwärzte, leere Wände und dicke Planen, die in der Mitte des Raumes etwas vor ihren Blicken verbargen. Erneut schlich ein eisiger Schauer über ihren Rücken. Warum wohnt man in solch einem riesigen Haus, wenn man die ganzen Räume gar nicht nutzt? Kopfschüttelnd dachte sie an ihre kleine, aber absolut gemütliche Einzimmerwohnung, in der sie jetzt bedeutend lieber wäre.

Zügig durchquerte sie den Raum und blieb vor einer geschlossenen Tür auf der anderen Seite stehen. Ohne es benennen zu können, war sie sicher, dass die Frau sich hinter dieser Tür befand.

Toni schob das Handy wieder in ihre Tasche zurück. Zögernd hob sie eine Hand und verharrte einen Moment. Sollte sie wirklich? Was kann schon passieren? Im schlimmsten Fall schmeißt sie dich raus. Und dann kannst du wenigstens nach Hause fahren.

Mit dem Fingerknöchel klopfte sie gegen die schwere Holztür und wartete auf eine Antwort, die nicht kam. Leichter Zweifel begann, an ihr zu nagen. Das zweite Mal klopfte sie bedeutend lauter und dieses Mal erklang tatsächlich ein dünnes »Herein.«

Toni schob die Tür auf und steckte ihren Kopf in das Zimmer.

Die Frau saß hinter einem großen Schreibtisch, der von einer altertümlichen Lampe beleuchtet wurde, und drehte ihr den Kopf entgegen. »Was gibt es denn noch?« Der eisige Tonfall in ihrer Stimme machte nur allzu deutlich, was sie von der Störung hielt.

Toni spürte, wie ihr Geduldsfaden langsam zu zerreißen drohte und atmete zweimal tief durch. Sie trat in den Raum und schob die Tür hinter sich zu.

Die Frau lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, sodass ihr Gesicht nun im Dunkel lag und Toni ihre Gesichtszüge nicht erkennen konnte. Ihre behandschuhte Hand schwebte direkt über einem altmodischen Telefonhörer.

Wollte sie damit etwa um Hilfe rufen oder Toni das altertümliche Teil an den Kopf werfen? Toni atmete noch einmal durch und versuchte, so höflich und ruhig wie möglich zu fragen: »Wie lange dauert es noch?« Mit dem Rücken lehnte sie sich gegen die Tür. »Ihre Halle ist zwar trocken, aber auch nicht wärmer als draußen. Dürfte ich –«

Doch bevor Toni die Frage zu Ende stellen konnte, erwiderte die Hausherrin scharf: »Es dauert, bis ich fertig bin.«

Für einen Moment schien es, als wollte sie sich wieder ihrer Arbeit widmen und Toni einfach ignorieren, doch dann beugte sie sich nach vorn, schob eine viel zu große Brille nach oben in ihre Haare und ließ ihre Blicke über Toni gleiten. Ihre eben noch gerunzelte Stirn glättete sich, als sie bei Tonis Happy Socks ankam. Überhaupt wurden ihre Gesichtszüge etwas weicher.

Toni vergaß die Frage, ob sie hier im warmen Zimmer warten durfte, blieb weiter an die Tür gelehnt stehen und musterte ihrerseits die Frau vor ihr. Deren blonde Haare, und hier war sich Toni sicher, dass die Farbe echt war, umschmeichelten ein feines, längliches Gesicht. Hohe Wangenknochen und eine gerade Nase prägten ihre Züge.

Doch als sie nun Toni das erste Mal direkt ins Gesicht sah, blieb Toni regelrecht die Spucke weg, denn ihre grünen Augen schimmerten in einer Intensität, die sie an die unendlichen Tiefen der Bergseen erinnerte, die sie aus ihrer Jugend kannte.

Sie schluckte trocken, unfähig, sich von dem hypnotischen Blick zu lösen.

»War Ihr Auftrag nicht deutlich genug?« Ohne zu blinzeln sah die Frau Toni weiter an, die unter dem furchteinflößenden Blick immer mehr zusammenschrumpfte.

»Der Auftrag lautet, Ihnen Unterlagen zu bringen und auf eine Antwort zu warten. Das heißt aber nicht, dass ich im Regen und in der Kälte stehenbleiben muss. Dafür werde ich nicht bezahlt.« Der Frust ließ Toni jetzt doch ihre Höflichkeit vergessen. »Und überhaupt werde ich nur für die Fahrten bezahlt, nicht für die Warterei.«

Jetzt hätte sie es nicht gewundert, wenn F. Eisler sie nun aus dem Haus geschmissen hätte.

Doch zu ihrer Verwunderung neigte die den Kopf und nickte ihr zu. »Sie haben recht, die Halle ist wirklich kühl. Kommen Sie herein und wärmen Sie sich auf, ich benötige noch einen Augenblick.« Mit ihrer behandschuhten Hand deutete sie in das Zimmer hinein. »Und ich werde Sie natürlich auch für die Warterei entlohnen«, fügte sie leise hinzu.

Dankbar trat Toni in das Zimmer und stellte sich mit dem Rücken an die Heizung. Sie ließ ihre Blicke durch das aufgeräumte Zimmer gleiten.

Hinter der Frau befand sich ein in die Wand eingelassener Kamin, der jedoch nicht in Betrieb war. Schade, dachte Toni. Das würde dem Raum eine ganz andere Wärme geben als die trockene Heizungsluft und ihn auch bedeutend wohnlicher gestalten.

Nachdem sie einige Minuten an der Heizung gelehnt hatte, ließ das Zittern ihrer Glieder merklich nach. Sie zog ihre dicke Jacke aus und legte sie sorgsam auf die breite Couch, die neben der Heizung stand.

Unauffällig sah sie sich weiter um. Die seitliche Wand wurde von einem Bücherregal dominiert, das bis auf den letzten Platz mit dicken Büchern vollgestellt war. Ob sie die alle gelesen hat?

Durch hohe Panoramafenster konnte sie in den dunklen Garten hinaussehen, der nur durch die Lichtspiele der Nachbarn etwas beleuchtet wurde.

Nachdem sie den ganzen Raum in sich aufgenommen hatte, blieben ihre Blicke wieder an der Frau haften, die am Schreibtisch angestrengt die Papiere vor sich studierte.

Was für eine seltsame Erscheinung, ging es Toni durch den Kopf. So ganz in Schwarz gekleidet und mit der dicken, altmodischen Brille, die nun wieder auf ihrer Nase thronte, und den schwarzen Lederhandschuhen, die sie die ganze Zeit über trug.

Wofür das F wohl steht? Vielleicht Franziska. Unbewusst schüttelte Toni den Kopf. Nein, der Name passte nicht zu dieser Frau. Was könnte es sonst heißen? Friederike vielleicht, oder eher Fabienne. Es musste etwas Exotisches sein, dessen war sie sich sicher.

In diesem Moment hob F. Eisler den Kopf und ihre Blicke trafen aufeinander. Toni spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss, fast wie damals, als ihre Lehrerin ihre schmachtenden Blicke auf sich bemerkt hatte . . . Moment, schmachtend? Das ist jetzt ein wenig übertrieben, oder?

Toni wandte sich ab, trat an das hohe Bücherregal und besah sich die einzelnen Titel. »Darf ich mir das ansehen?« Ihre Finger schwebten über dem ausgewählten Buchrücken, während sie über die Schulter hinweg zu Frau Eisler sah und auf ihre Antwort wartete.

Ohne sie eines Blickes zu würdigen, winkte sie Toni gnädig mit der Hand zu.

Königlich winken kann sie auf jeden Fall, stellte Toni beinahe amüsiert fest.

Mit dem Buch in der Hand trat Toni zur Couch und setzte sich auf die vorderste Kante. Sie begann zu lesen, doch schon nach wenigen Seiten wurden ihr die Augen schwer und drohten zuzufallen. Mühsam versuchte sie, dagegen anzukämpfen, doch der überhitzte Raum und die Tatsache, dass sie den ganzen Tag unterwegs gewesen war, ließen sie den Kampf verlieren.

Ein leises Poltern riss sie aus ihren Träumen und sie rieb müde ihre brennenden Augen.

»Haben Sie etwas gesagt?« Frau Eisler hatte den Kopf gehoben und sah irritiert von ihrem Schreibtisch aus zu ihr herüber.

Toni brauchte einen Augenblick, bis sie sich orientieren konnte. Verlegen hob sie das Buch vom Boden auf und legte es vor sich auf den Tisch. »Es tut mir leid, es war ein langer Tag und ich bin wohl eingenickt. Dauert es noch sehr lange?« Sie erhob sich von der Couch und schüttelte ihre Beine aus.

»Wie bereits gesagt, so lange, bis ich fertig bin.« Eine steile Falte erschien zwischen den feingeschwungenen Augenbrauen. Doch als sie Toni ansah, die sich seufzend die Haare raufte, fuhr sie etwas versöhnlicher fort: »Sie müssen sich leider noch etwas gedulden.«

»Kann ich die Unterlagen nicht morgen früh abholen? In dem Büro ist doch jetzt sicher auch niemand mehr.« Toni trat an das große Panoramafenster und hoffte auf eine erlösende Antwort.

Zu ihrem Leidwesen schüttelte die Frau den Kopf. Das Licht der Schreibtischlampe spiegelte sich dabei im dicken Rahmen der Brille. »Nein, das muss heute noch raus. Und Sie täuschen sich. Die Unterlagen werden erwartet.«

Ergeben zog Toni ihren Kopf zwischen die Schultern. Sie stopfte ihre Hände in die Hosentaschen und sah in den dunklen Garten hinaus. Rechts und links vom Grundstück warfen die Dekorationen der Nachbarhäuser bizarre Lichtspiele in den Nachthimmel.

Wieder spürte sie diese tiefe Müdigkeit, die ihr durch den Körper kroch. Ihr Blick ging zu der bequemen Couch und einen Moment war sie versucht, sich wieder darauf niederzulassen. Doch sie wusste, dass die Müdigkeit sie sofort wieder übermannen würde, und das wollte sie nicht. Es war ihr schon unangenehm genug, dass sie so einfach auf der fremden Couch eingeschlafen war. Aber das Stehen wurde von Minute zu Minute anstrengender. Wie sie die Fahrt zurück in diesem Wetter, das viel Konzentration verlangte, überstehen sollte, wusste sie nicht.

Toni ging nun doch zurück zur Couch und setzte sich vorsichtig nur auf die Kante. Bloß nicht zu bequem machen, sonst könnte sie nicht dafür garantieren, dass sie nicht doch wieder einschlafen würde. Doch egal wie sehr sie sich dagegen wehrte, ihre Augenlider waren schwer wie Blei und fielen unausweichlich zu.

»Wachen Sie auf.«

Ein kurzer Ruck an ihrer Schulter riss sie aus ihren Träumen und ließ sie erschrocken hochfahren. Im selben Moment spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter, die sie sanft drückte. Dieses Gefühl ging ihr durch und durch, währte jedoch nur eine kurze Sekunde. Denn die Hand wurde sofort zurückgezogen, als Toni erwachte und eine Entschuldigung murmelte.

»Schon gut. Es hat heute doch länger gedauert, aber ich bin fertig und Sie wollen sicher nach Hause, oder?«

»Ja, natürlich.« Toni hievte sich etwas wacklig von der Couch hoch. Dann folgte sie ihrer merkwürdigen Auftraggeberin in die Eingangshalle, wo sie Stiefel und Jacke anzog.

Schweigend reichte sie Toni die Mappe mit den Unterlagen, ließ jedoch nicht los, als Toni danach griff. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.« Ihre grünen Augen funkelten Toni an. »Man hatte mir einen Toni angekündigt. Sie können sich vielleicht meine Verwunderung vorstellen, als Sie dann vor meiner Tür standen.« Lange behandschuhte Finger strichen eine Strähne der weich fallenden blonden Haare hinters Ohr.

Toni erlaubte sich ein schiefes Grinsen. Das hatte ganz sicher die falsche Blondine zu verantworten. »Ich hatte keine Ahnung, dass mein Name für solch eine Verwirrung sorgen könnte.«

»Nun, wofür steht Ihr Name, wenn Sie mir die Frage erlauben?« Mit durchdringendem Blick musterte sie Tonis Gesicht.

Toni schluckte trocken. »Die Kurzform von Antonia, aber behalten Sie es bitte für sich.« Es sollte irgendwie lustig klingen, aber diese Bemerkung schien völlig fehl am Platz, denn ihr Gegenüber zeigte darauf keine Reaktion.

Sie wollte gehen, falsch, sie sollte gehen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Wie gebannt sah sie in diese grünen, beinahe hypnotisch wirkenden Augen.

»Es ist ein schöner Name, Antonia. Sie sollten ihn nicht abkürzen.« Sie nickte Toni kurz zu und ihre Finger lösten sich von der Mappe.

Auf einmal empfand Toni ein Gefühl der Leere in sich, fast so, als wäre eine tiefgreifende Verbindung zwischen ihnen gekappt worden. »Mir gefällt Toni aber besser«, gab sie beinahe trotzig zurück. Aus einem Impuls heraus fügte sie noch hinzu: »Sie haben nun einen Vorteil mir gegenüber.«

»Und der wäre?« Die Frau sah sie stirnrunzelnd an.

»Sie kennen meinen Vornamen, ich Ihren aber nicht, Frau Eisler.«

»Und den würden Sie gern wissen?« Eine schmale Furche erschien zwischen ihren Augenbrauen, als sie ihre Augen zweifelnd zusammenkniff.

Toni nickte stumm.

Doch die Frau drehte sich nur um und ging durch die Halle zurück.

Als Toni schon nicht mehr daran glaubte, blieb sie stehen und sah sie über die Schulter hinweg noch einmal an. »Fiona.« Dann verschwand sie hinter der Tür zum Kaminzimmer.

Toni zog die schwere Haustür hinter sich zu und schob ihr Motorrad auf die Straße. Bevor sie sich den Helm auf ihre widerspenstigen Locken setzte, drehte sie sich noch einmal zu dem dunklen Haus um.

Wusste ich es doch, dass sie einen außergewöhnlichen Namen hat. Fiona, ein schöner Name für eine . . . ja, interessante, merkwürdige, hypnotisierende, wunderschöne Frau? Sie ist von allem etwas.

2

»Du siehst aus wie das blühende Leben, Toni. Wer war es diesmal?« Feine Lachfältchen umspielten Gerdas Augen.

»Hör bloß auf«, winkte Toni gähnend ab. »Der letzte Auftrag gestern hat mich bis halb zwei aufgehalten.«

»Der letzte Auftrag?« Ungläubig blätterte Gerda in ihren Unterlagen. Mit dem Zeigefinger fuhr sie die einzelnen Stellen ab, bis sie an einer Zeile verharrte. »Tatsächlich, hier steht es. Eisler Consulting, die Bezahlung ist für eine Fahrt mit Retoure. Und . . .«, verwundert sah sie von ihrem Blatt zu Toni und zurück, »und es wurde heute Morgen noch ein extra Bonus angewiesen, für den Fahrer. Das habe ich ja noch nie erlebt. Was hast du gemacht, oder sollte ich besser fragen: Was hast du angestellt?«

Toni strich sich leicht über die verwuschelten Haare. »Angestellt habe ich nichts, Gerda, was denkst du denn von mir?« Der skeptische Blick ihrer Freundin ließ sie sofort weiterreden. »Ich habe ihr nur klargemacht, dass ich nur für die Kurierfahrten bezahlt werde und nicht für stundenlanges Warten. Da hat sie gesagt, dass sie mich auch dafür entlohnen würde, da ich ja nun recht lange auf die Antwort warten musste. Aber ich habe ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass sie das auch tatsächlich tun würde.«

»So, so, und wer ist diese ominöse Sie?« Gerda verzog schmunzelnd die Lippen, während sie Toni den ersten Auftrag auf ihr Navi spielte und es ihr entgegenhielt.

»F. Eisler, von Eisler Consulting.« Toni schnappte sich das Navi und war auch schon zur Tür hinaus.

»Toniiii . . .«, schallte es empört hinter ihr her.

Einen Moment war Toni versucht gewesen, mit Gerda über Fiona zu sprechen. Doch dann hatte sie sich dagegen entschieden. Eigentlich gab es da ja auch nichts Interessantes zu erzählen, oder?

Am nächsten Tag fuhr Toni ins Büro und wollte gerade ihre Umhängetasche an den Haken hängen, als Gerda grinsend ihren Stuhl zu ihr herumdrehte.

»Was grinst du so?« Toni spürte ein merkwürdiges Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern, während sie auf die Antwort ihrer Freundin wartete.

»Wie lange kennen wir uns schon?« Gerda schob sich einen Kugelschreiber zwischen die vollen Lippen und kaute darauf herum.

Warum hatte Toni das Gefühl, dass sie damit nur ihr breites Grinsen unterdrücken wollte? »Ist das eine rhetorische Frage oder erwartest du wirklich eine Antwort?« Da Gerda sie weiter nur stumm ansah, seufzte Toni leise auf. »Drei oder vier Jahre dürften es schon sein, oder?«

»Vier sind es«, bestätigte Gerda mit einem heftigen Kopfnicken. »Und die ganze Zeit hast du mir eines verschwiegen.« Erneut legte sie eine bedeutungsschwangere Pause ein.

»Und das wäre?« So langsam verlor Toni die Geduld.

Gerda stand auf und trat an den Tresen, hinter dem Toni lehnte, und stützte sich mit ihren Armen darauf. »Du hast mir nie gesagt, wie du wirklich heißt, Antonia.«

Toni verdrehte die Augen. »Woher hast du das denn?«, fragte sie verdutzt.

»Es stimmt also?« Gerda legte einen Zettel vor Toni auf den Tresen. »Es kam gerade eben noch ein Auftrag rein und es wurde explizit nach dir gefragt, Antonia.« Diesmal sprach sie den Namen genüsslich gedehnt aus.

Toni musste nicht auf den Zettel sehen, um zu wissen, von wem der Auftrag kam. Es gab nur eine Person, die ihren vollen Namen kannte. Sie steckte den Zettel unbesehen in ihre Tasche und wandte sich zur Tür, als Gerdas leise Stimme sie zurückhielt.

»Läuft da was zwischen euch, Toni?«

»Wie kommst du denn auf die Idee?« Toni fuhr empört herum. »Ich kenne sie doch überhaupt nicht!«

Gerda hob beschwichtigend die Hände. »Ist ja schon gut. Mir ist nur aufgefallen, dass sie nach einer Kurierfahrt gleich deinen Namen kennt aber ich nach vier Jahren noch nicht.«

Toni, die bereits an der Tür stand, kam an den Tresen zurück und sah ihr fest in die Augen. »Ich nenne mich Toni, seit ich vier Jahre alt bin. Ich habe sogar schon beim Standesamt nachgefragt, um meinen Namen offiziell ändern zu lassen, doch der Aufwand ist viel zu groß, von den Kosten ganz zu schweigen. Bisher hat auch noch keiner Toni infrage gestellt.«

»Das erklärt aber nicht, warum sie deinen richtigen Namen kennt.«

»Sie hat mich danach gefragt, so einfach ist das.« Toni zog ihre Schultern nach oben. »Ich habe ihr zwar gesagt, dass ich Toni bevorzuge, aber sie fand Antonia wohl schöner.« Um Gerda zu signalisieren, dass sie definitiv nicht weiter über diese Sache reden wollte, ging sie demonstrativ zur Tür.

»Dieses Gespräch ist noch nicht zu Ende!«, rief Gerda gespielt streng hinter ihr her.

Toni warf ihr nur noch einen vielsagenden Blick zu, dann verließ sie das Büro.

So einfach war das, hatte sie Gerda gesagt, aber sie wusste genau, dass das so nicht stimmte. Fiona war nicht die erste Frau gewesen, die nach ihrem richtigen Namen gefragt hatte. Aber sie war die erste, der Toni ihn tatsächlich genannt hatte. Zu ihrer eigenen großen Überraschung, denn bisher hatte sie ihren verhassten Namen immer unter Verschluss gehalten.

Doch Fionas hypnotischem Blick hatte sie nicht widerstehen können.

»Ich muss schon sagen, ich bin etwas überrascht.«

Die Blondine hielt Toni die Mappe entgegen und musterte sie mit ihren schwarzgeschminkten Augen.

»Und warum sind Sie überrascht?« Toni packte die Mappe in ihre Tasche und warf sie sich schwungvoll über die Schulter.

Die kühle Sekretärin lehnte sich mit den Armen auf der Theke auf und bedeutete Toni mit dem Zeigefinger, näher zu kommen. »Sie sind die erste Kurierfahrerin, die namentlich von Frau Eisler für einen weiteren Auftrag angefragt wurde. Da frage ich mich natürlich, wie Sie das angestellt haben, Antonia.«

Die Art, wie die Blondine ihren Namen aussprach, ließ Toni innerlich zusammenzucken. Doch äußerlich blieb sie völlig gelassen, denn diese Genugtuung wollte sie der falschen Blonden nicht gönnen.

Aus dem Augenwinkel heraus konnte Toni sehen, dass sich auch die Brünette neugierig zu ihnen herüberlehnte, als Toni sich über die Theke beugte und leise, aber noch laut genug flüsterte, dass beide Frauen sie verstehen konnten: »Was auch immer es war, ich werde es Ihnen nicht verraten. Und im Übrigen bevorzuge ich Toni.«

Damit drehte sie sich um und verließ das Gebäude.

Auf der Fahrt durch die Stadt gingen Toni die Worte der Empfangsdame durch den Kopf. Hatte sie wirklich so einen besonderen Eindruck bei Fiona hinterlassen? Offensichtlich, wenn sie keinen Kurierfahrer vor ihr namentlich angefordert hat.

Überhaupt, Fiona. Sie war . . . ja, was war sie? Geheimnisvoll auf alle Fälle. Attraktiv, auf ihre eigene Art. Ihre grünen Augen, wenn sie sie nicht hinter ihrer altmodischen, geradezu riesigen Brille versteckte, hatten eine solch leuchtende, intensive Farbe, dass allein beim Gedanken daran Tonis Herz einen Zahn zulegte.

Wie berauscht hatte sie sich gefühlt, als Fiona sie von Kopf bis Fuß gemustert hatte. Die Intensität dieser Blicke hatte etwas in Toni ausgelöst, das sie so noch nie zuvor gespürt hatte, und das sie seither auch nicht mehr losgelassen hatte. Und genauso intensiv und beinahe ein wenig verstörend war das Gefühl der Wärme gewesen, das die kurze Berührung Fionas in ihr ausgelöst hatte. Ganz zu schweigen von der dunklen Leere, als sie die Verbindung mit ihr wieder gelöst hatte.

Jetzt, am frühen Nachmittag, konnte Toni die Villa und den großen Garten im Tageslicht genauer betrachten, als sie ihr Motorrad abgestellt und sich den Helm vom Kopf gezogen hatte.

Das herrschaftliche Haus hatte seine besten Zeiten hinter sich, überall bröckelte sichtbar der Putz von den Wänden. Und der Garten . . . Toni seufzte leise auf. Als ›naturbelassen‹ konnte man den traurigen Wildwuchs vielleicht bezeichnen, der selbst jetzt, im grauen Winter, nicht zu übersehen war.

Toni betrat gerade die Stufen zum Eingang, als sich die schwere Haustür öffnete. Fiona empfing sie kühl und distanziert, aber nicht so abweisend wie beim ersten Mal.

In der Eingangshalle entledigte Toni sich wieder ihrer schweren Stiefel und legte Helm und Jacke direkt daneben. Stumm folgte sie Fiona, die vor ihr in ihr Arbeitszimmer ging.

»Nehmen Sie Platz, Antonia.«

Toni verzog ihr Gesicht, als Fiona ihren gehassten Namen aussprach. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, mir wäre Toni wirklich lieber.«

Fiona runzelte kurz die Stirn, ging aber nicht weiter darauf ein. »Ich habe Tee gekocht.« Es war eine Feststellung und nicht etwa eine Frage, ob Toni vielleicht einen Tee mittrinken würde.

Dennoch hätte Toni nach der Erfahrung ihres ersten Besuches nicht mit einer solch gastfreundlichen Geste gerechnet. »Gern trinke ich einen Tee«, erwiderte sie daher ohne Umschweife.

Fiona nickte. »Machen Sie es sich doch bitte bequem«, sagte sie, dann verließ sie das Zimmer.

Toni vergrub die Hände in ihren Hosentaschen und sah sich um. Selbst bei Tageslicht hatte dieser Raum etwas Finsteres, Bedrückendes an sich.

Das Bücherregal mit den hauptsächlich dunklen Einbänden, der große, wuchtige Schreibtisch, auf dem außer Bildschirm, Tastatur und Telefon nichts stand.

Nirgendwo gab es etwas Persönliches, keine Fotos, keine Dekoration. Nüchtern und kalt wirkte dieses Büro. Wie Fiona selbst.

Die jetzt mit einem silbernen Tablett, auf dem feines Porzellangeschirr stand, zurückkam. Sie stellte es auf den niedrigen Tisch vor der Couch. »Bitte, setzen Sie sich doch«, forderte sie Toni auf, die immer noch mit den Händen in den Hosentaschen etwas verloren herumstand.

Toni setzte sich auf die Couch, diesmal ohne befürchten zu müssen, gleich wieder darauf einzuschlafen.

Mit eleganten Bewegungen schenkte Fiona den Tee ein, überreichte Toni eine Tasse und setzte sich mit ihrer Tasse an den Schreibtisch.

Vorsichtig nippte Toni daran und stellte fest, dass der Tee überraschend gut schmeckte. Sie wollte etwas Lobendes sagen, doch Fiona hatte sich bereits in die Papiere vertieft. Da wollte Toni sie dann doch nicht stören.

Eine Weile saß sie schweigend auf der Couch und nippte immer wieder an ihrem Tee, dann wurde sie langsam unruhig. Vielleicht könnte sie sich wieder ein Buch nehmen und lesen, dachte sie. Sie stand auf und ging zum Bücherregal. Dabei fiel ihr Blick auf den ungenutzten Kamin. »Sie benutzen den Kamin gar nicht?«, fragte sie spontan.

Fiona blickte auf. »Nein, die Heizung reicht mir vollkommen aus.«

»Aber ein Kaminfeuer würde diesen Raum viel behaglicher machen«, widersprach Toni. Sie selbst liebte Kamine und bedauerte es, dass sie in ihrer kleinen Wohnung keinen haben konnte.

»Nein!«, entfuhr es Fiona barsch.

Toni zuckte überrascht zusammen.

»Ich will kein Feuer in meinem Haus«, fügte Fiona etwas weniger barsch hinzu.

Toni verstand Fionas Ablehnung zwar nicht – denn wozu gab es hier dann überhaupt Kamine? –, beließ es jedoch dabei. Sie nahm das Buch aus dem Regal, das sie bereits angefangen hatte zu lesen, und begab sich damit wieder auf die Couch.

Nach einer Weile raschelte es auf dem Schreibtisch. Toni blickte auf und sah, dass Fiona die Papiere zusammenlegte und sorgfältig in die Mappe schob.

Sie stand auf, stellte das Buch ins Regal zurück und blickte durch das Panoramafenster nach draußen. Die untergehende Sonne tauchte den verwilderten Garten in ein beinah gespenstisches Licht.

»Sie haben sicher viele Vögel hier, oder?«, entfuhr es ihr gedankenverloren.

Fiona warf ihr nur einen kurzen Blick über den Rand ihrer Brille hinweg zu. »Wir sind mitten in der Stadt.«

»Haben Sie kein Futterhaus aufgestellt? Gerade im Winter ist es wichtig, die Vögel zu unterstützen. Sie werden überrascht sein, wie viele Arten es auch hier in der Stadt gibt.« In Toni war eine Begeisterung entfacht, die sie alle Zurückhaltung vergessen ließ. »Und in einem Garten wie dem Ihren, der deutlich naturbelassen geblieben ist, da muss es doch geradezu wimmeln. Ich könnte mir vorstellen, dass es sogar ein paar Eichhörnchen in den alten Bäumen gibt.«

Doch Fiona teilte ihre Begeisterung nicht. »Vielleicht«, murmelte sie nur und verschloss die Mappe.

Mutig geworden wagte Toni einen weiteren Vorstoß. »Wer kümmert sich denn um Ihren Garten? Ich meine . . .« Kurz hielt sie inne, wartete auf eine Reaktion von Fiona, die jedoch ausblieb. »Oder machen Sie das selbst?«, fuhr sie schließlich fort. Vielleicht lag in Fionas Desinteresse die Erklärung für den ziemlich traurigen Anblick des Gartens.

»Warum interessieren Sie sich für meinen Garten?« Fiona sah sie stirnrunzelnd an.

Toni strich sich über das Kinn. »So ein naturbelassener Garten in der Stadt ist der Traum eines jeden Landschaftsarchitekten.«

Fiona stand auf und nahm die Mappe vom Tisch. »Wollen Sie mir jetzt etwa jemanden empfehlen?«, fragte sie missbilligend.

Toni wusste nicht, wie sie jetzt darauf reagieren sollte. Fiona schien wirklich überhaupt kein Interesse zu haben, irgendetwas an dem traurigen Zustand ihres Gartens etwas ändern zu wollen. Sie ließ den Kopf sinken. »Es ist halt nur so, dass Sie so viele ungenutzte Möglichkeiten hier haben, im Haus und auf dem Grundstück. Das ist einfach ein Jammer.«

»Das empfinden Sie vielleicht so.« Fiona trat zu ihr und hielt ihr die Mappe entgegen. »Für mich ist alles gut, so wie es ist.« Bestimmt drehte sie sich um und ging vor Toni zur Haustür.

Langsam folgte Toni ihr. Ein süßlicher Duft stieg ihr in die Nase und ließ ihre Nasenflügel vibrieren. Vanille und ein Hauch von etwas anderem. Auf jeden Fall angenehm und bei Weitem nicht so aufdringlich wie bei so vielen anderen Frauen.

Diesen wundervollen Duft bekam sie den Rest des Tages nicht mehr aus ihrer Nase. Nicht dass ihr das unangenehm war, ganz im Gegenteil. Trotz der schroffen Art erinnerte sie sich nur zu gern an die zarte Frau.

3

Am folgenden Nachmittag hielt Toni wieder vor dem verschlossenen Tor und legte einen Finger auf die Klingel. Es dauerte eine ganze Weile und sie befürchtete schon, dass Fiona vielleicht nicht zu Hause sein würde, da knackte es in dem Lautsprecher.

»Warum sind Sie hier? Ich habe keinen Auftrag erteilt.«

»Ich weiß.« Toni nickte bekräftigend. »Darf ich Sie trotzdem kurz sprechen?« Bittend sah sie in die Kamera, die über dem Tor hing.

Wieder dauerte es und Toni dachte schon, dass Fiona sie nicht einlassen würde, doch dann schwangen die Flügel mit einem leisen Klicken auf und Toni schob ihre Maschine vor das Haus. Sie nahm zwei Pakete aus den Satteltaschen und balancierte sie die Treppe hinauf.

Fiona stand in der halbgeöffneten Tür. Auf ihren weichen Zügen lag tatsächlich so etwas wie Neugierde, gemischt mit deutlicher Ablehnung, wie Toni mit feuchten Handflächen feststellte.

Vielleicht war das doch keine gute Idee gewesen. Sie hatte auch lange hin und her überlegt, ob ihr Vorhaben nicht zu forsch und aufdringlich wäre. Aber dieser wunderbare Garten zog sie einfach magisch an. Nun, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, nicht nur der Garten. Sie wollte Fiona so schnell wie möglich wiedersehen, und wer weiß, ob und wann sie wieder eine Kurierfahrt für sie machen könnte.

Doch jetzt schluckte sie ihre Sorge herunter. Immerhin stand sie bereits vor Fiona, das war doch schon mal was. »Nach unserem Gespräch gestern habe ich Ihnen etwas mitgebracht. Zudem wollte ich mich noch bei Ihnen für den Bonus bedanken.« Mit ihrem charmantesten Lächeln hielt sie Fiona die Pakete entgegen und Fiona gab nach kurzem Zögern tatsächlich die Tür frei.

Auf dem kleinen Tisch in der Eingangshalle stellte Toni die Pakete ab. Über ihre Schulter hinweg sah sie zu Fiona, die mit vor der Brust verschränkten Armen hinter ihr stand und sie skeptisch musterte. Toni öffnete die Pakete und baute die Einzelteile geschickt zusammen.

»Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt.« Mit gerunzelter Stirn schaute Fiona auf das Vogelhaus, das Toni ihr voller Stolz präsentierte.

»Ja, haben Sie«, stimmte Toni zu. »Aber ich dachte, vielleicht könnte ich Sie doch umstimmen.« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Das Vogelhaus stört ja gar nicht, aber vielleicht könnten Sie ja doch Gefallen daran finden, den kleinen Kerlen zuzusehen. Und wenn ein besonders hübscher Vogel vorbei-«

»Und wie stellen Sie sich das weiter vor?«, unterbrach Fiona sie unwirsch. »Das Ding muss doch sicher gereinigt und auch dauernd aufgefüllt werden, oder nicht?«

»Oh, darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, das könnte ich doch überneh. . .« Sie brach mitten im Satz ab, als sie sah, dass sich Fionas Miene immer mehr verdüsterte. Das war wohl jetzt doch zu viel.

Fiona blickte von Toni auf das Vogelhaus und zu Toni zurück. Immerhin schien sie darüber nachzudenken. Schließlich strich sie sich mit ihren langen, behandschuhten Fingern durch die Haare. »Also gut. Sie geben sonst ja wohl keine Ruhe. Allerdings«, ihre grünen Augen bohrten sich geradezu in Tonis, »erwarten Sie bloß nicht, dass ich mich darum kümmern werde. Das erledigen Sie allein. Also nehmen Sie das Ding und stellen es auf.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging mit schnellen Schritten zu ihrem Arbeitszimmer.

»Deal.« Beschwingt folgte Toni ihr und öffnete die Terrassentür, um in den Garten hinauszugehen.

Geschickt stellte sie das Vogelhaus auf, füllte es mit den Körnern und Meisenknödeln und war kaum wieder im Arbeitszimmer zurück, als auch schon der erste Vogel angeflogen kam.

»Sehen Sie.« Strahlend bedeutete sie Fiona, aus dem Fenster zu sehen. »Die Meisen sind immer die ersten, die sich an neue Futterstellen trauen. Die Spatzen brauchen da deutlich länger.«

Fiona stand tatsächlich auf und trat neben sie ans Fenster. Der nächste Vogel kam angeflogen und schnappte sich ein Körnchen. Der Anblick ließ Fiona ihre Lippen zu einem scheuen Lächeln verziehen und Toni hatte das Gefühl, als würde schlagartig die Sonne an diesem bisher eher trüben Wintertag aufgehen. Die Veränderung in Fionas Gesicht konnte man fast schon als dramatisch bezeichnen. Bisher waren ihre Züge eher verschlossen gewesen. Und nun, nun waren sie auf einmal voller Leben.

Was so ein Lächeln ausmachen kann, dachte Toni und merkte, wie sie selbst am Strahlen war. Sie räusperte sich kurz. »Ich wollte Sie aber auch nicht stören, Frau Eisler, und werde Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten.«

Sie war bereits an der Tür, als Fionas weiche Stimme sie aufhielt. »Ich habe Tee gekocht. Trinken Sie eine Tasse mit mir, Antonia, falls Sie keine anderen Pläne haben.«

Freudig lächelnd und mit deutlich klopfendem Herzen drückte Toni die Tür wieder ins Schloss. »Sehr gern, und nein, ich habe heute keine Pläne.« Und selbst wenn ich ein Date mit einer Prinzessin hätte, würde ich es jetzt absagen.

Hatte Toni sich anfangs noch gefragt, warum Fiona im Haus die schwarzen Handschuhe trug, so waren sie ihr inzwischen so vertraut, dass sie sie kaum mehr wahrnahm. Erst als sie Fiona eine Tasse aus der Hand nahm und ihre Fingerspitzen sich berührten, war es keine samtige Haut, die sie spürte, sondern weiches, kühles Leder.

Neugierig musterte sie die stille Frau, doch auch wenn ihr die Frage auf den Nägeln brannte, so spürte sie tief in ihrem Inneren, dass der Moment noch nicht der richtige dafür war. Allerdings war sie sich auch nicht sicher, ob es den richtigen Moment für diese Frage je geben würde.

So saßen sie still nebeneinander auf der weichen Couch, von der aus sie das neue Vogelhaus gut beobachten konnten.

»Warum arbeiten Sie als Kurierfahrerin?« Fionas Frage ließ Toni den Kopf drehen und in die grünen Augen sehen, die sie aufmerksam beobachteten.

Sie nahm einen weiteren Schluck des heißen Tees. Warum hatte sie immer, wenn sie in Fionas Augen sah, eine regelrecht ausgedörrte, staubtrockene Kehle? »Ich verdiene ganz gut und die meisten Stellen, die so angeboten werden, lassen sich zeitlich nur schlecht mit meinem Studium vereinbaren. Und Kellnern liegt mir so gar nicht«, fügte sie mit einem leichten Schmunzeln hinzu.

»Und was studieren Sie?«

Toni räusperte sich. »Landschaftsarchitektur. Das ist meine Leidenschaft.«

»Und deshalb sind Sie so brennend an meinem Garten interessiert«, stellte Fiona trocken fest.

Toni nickte scheu. »Aus diesem Garten könnte man so vieles machen. Er ist so anders als die Gärten Ihrer Nachbarn, und damit meine ich nicht nur den Wildwuchs«, fügte sie schmunzelnd hinzu. »Wenn Sie mögen, dann bringe ich morgen ein paar Lichterketten und dekoriere ein wenig.« Mit Sorge sah sie allerdings, wie sich Fionas Züge verdunkelten. Schnell sprach sie weiter. »Ich würde bestimmt nicht so übertreiben, wie es Ihre Nachbarn tun. Aber so ein paar freundliche Lichter, das würde doch hervorragend zur Weihnachtszeit passen.«

Fiona schüttelte leicht den Kopf. »Nein, das ist nicht nötig. Ich brauche diese Beleuchtung nicht und wie ich Ihnen schon einmal sagte, Weihnachten ist für mich uninteressant.«

»Das ist aber schade, wo es doch so ein schönes Fest ist. Wo sich Familien und Freunde zusammensetzen, gemeinsam Zeit verbringen, lachen und fröhlich sind.« Toni fühlte einen kleinen Stich in ihrem Herzen, als sie an die Festtage mit ihren Eltern zurückdachte.

Fiona ging auf ihre Worte jedoch nicht ein, stattdessen füllte sie die Tassen erneut mit dem dampfenden Tee.

Schweigend saßen sie wieder nebeneinander, doch erstaunlicherweise war die Stille zwischen ihnen weder erdrückend noch unangenehm. Im Gegenteil, Toni empfand eine tiefe Ruhe in sich, wie sie es sonst nicht kannte.