Königsberg. Bewegte Jahre - Nora Elias - E-Book

Königsberg. Bewegte Jahre E-Book

Nora Elias

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Beschreibung

Ostpreußen Anfang des 20. Jahrhunderts: Victoria, Tochter des Gutsbesitzers Carl von Reichenbach, genießt ein mondänes Leben, bis sie an den falschen Mann gerät und ihr Leben eine tragische Wendung erfährt. Leonhard von Schletters Tochter Helene hingegen versucht sich als Pferdezüchterin und möchte, dass ihr gelingt, was ihrem Großvater versagt geblieben ist – das Gut in moderne Zeiten führen. Was die Lage der beiden Frauen nicht einfacher macht, ist die Feindschaft, die seit langem ihre Väter entzweit und auch vor ihren Brüdern nicht Halt macht. Während die Welt am Abgrund steht, bestimmen Intrigen und Verrat das Schicksal der beiden Familien.

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Buch

Ostpreußen Anfang des 20. Jahrhunderts: Victoria, Tochter des Gutsbesitzers Carl von Reichenbach, genießt ein mondänes Leben, bis sie an den falschen Mann gerät und ihr Leben eine tragische Wendung erfährt. Leonhard von Schletters Tochter Helene hingegen versucht sich als Pferdezüchterin und möchte, dass ihr gelingt, was ihrem Großvater versagt geblieben ist – das Gut in moderne Zeiten führen. Was die Lage der beiden Frauen nicht einfacher macht, ist die Feindschaft, die seit Langem ihre Väter entzweit und auch vor ihren Brüdern nicht Halt macht. Während die Welt am Abgrund steht, bestimmen Intrigen und Verrat das Schicksal der beiden Familien.

Informationen zu Nora Elias sowie zu weiteren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Nora Elias

––––––––––––––––––––––––

KönigsbergBewegte Jahre

Roman

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Originalausgabe Juli 2019

Copyright © 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: © Arcangel / Yolande de Kort; FinePic®, München;

mauritius images / Manfred Mehlig;

Richard Jenkins Photography

Redaktion: Regine Weisbrod

BH · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24152-0V002

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Teil 1

1904–1908

I

»Wie uns mitgeteilt wurde, war der Besitzer dieses modernsten Verkehrsmittels ein Franzose, der sich mit Weib und Kind auf einer Spazierfahrt durch unser Vaterland befand.«

Meldung in der Soldauer Glocke vom 13. Juli 1901, nachdem das erste Automobil in Masuren gesichtet worden war

September 1904

Wer ist denn diese Schönheit?« Gerhard von Sabrowski lehnte sich auf seiner Rappstute vor, und Maximilian folgte seinem Blick.

»Das ist meine Cousine Victoria.« Ihm entging das aufflackernde Begehren im Blick seines Freundes nicht. »Ich dachte, du musst dir deine Braut im Hochadel suchen?«

»Man darf doch träumen.«

Die Rominter Heide, in der sich der Adel mit dem Haus Hohenzollern zur Jagd traf, war eine von sanften Hügelketten geprägte Landschaft, die durchzogen war von Laub- und Nadelwäldern, Mooren und Waldseen. Maximilian mochte die dunkle Tiefe der Wälder mit ihrem uralten Baumbestand, der jetzt im Herbst von einer wahrhaft beeindruckenden Schönheit war mit seinem Laub, das in allen Nuancen von Zartgelb über Rot bis hin zu Braun gefärbt war.

»Deine Tante trifft sich wieder mit meinem Onkel«, nahm Gerhard den Faden auf, den Blick immer noch auf Victoria gerichtet.

Mit welchen Männern sich seine Tante traf, interessierte Maximilian nicht im Geringsten. »Erhoffst du dir, dass sie dich mit Victoria bekannt macht?«

»Ja, denn ich vermute, du wirst es nicht tun.«

»Du vermutest richtig. Ihr Vater ist ziemlich streng, was Männerbekanntschaften angeht, und dass du sie nicht heiraten wirst, weiß er ebenso gut wie jeder andere.«

»Tja, das ist leider die Entscheidung meines Onkels, nicht die meine.« Gerhard war der einzige direkte Erbe des Hauses Sabrowski, dem langsam die finanziellen Mittel ausgingen. Und natürlich konnte der Erbe des Grafentitels keine Frau heiraten, die seiner Stellung nicht ebenbürtig war – sagte Paul von Sabrowski. Wenn Gerhard nicht enterbt werden wollte, musste er gehorchen. Denn ansonsten, so Paul von Sabrowski, werde er dem Sohn seines Vetters mit seiner Ehefrau aus dem Hochadel alles vermachen.

Constantin ritt an ihnen vorbei und nickte Maximilian knapp zu. Vor fünf Jahren hatten sie gemeinsam ihren Wehrdienst begonnen, und seither war es immer wieder zu Auseinandersetzungen gekommen. Was in ihrer Kindheit und Jugend nicht so offensichtlich gewesen war, trat nun vermehrt zutage – sie waren in unterschiedlichem Geist erzogen worden. Maximilian in strikter Vasallentreue zum Kaiser, Constantin als Demokrat, wenngleich er natürlich betonte, ebenfalls dem Kaiser anzuhängen. Aber man konnte nicht kaisertreu und gleichzeitig ein Sympathisant der SPD sein. Davon abgesehen munkelte man, sein angeheirateter polnischer Onkel sei Sozialist.

Noch zwei Jahre, dann hatten sie den gemeinsamen Wehrdienst überstanden, zwei Jahre, in denen Constantin weiterhin überall anecken konnte. Während Maximilian der geborene Offizier war, tat sich Constantin schwer als Befehlsempfänger. Da konnte man nur beten, dass kein Krieg ausbrach, wo sie sich und ihre Vaterlandstreue beweisen mussten. Nicht auszudenken, wenn das eigene Überleben von Männern wie ihm abhing.

»Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast«, bemerkte Gerhard.

»Constantin? Der ist nicht mein Bruder, sondern mein Cousin.«

»Er sieht aus wie dein Vater.«

»Nun, auch ein von Reichenbach kann es gut treffen.«

Gerhard lachte.

Tatsächlich war es Maximilian ein Ärgernis, dass viele dachten, Constantin sei Leonhard von Schletters Sohn, während man Maximilian, der mit seinem blonden Haar und den blauen Augen nach seiner Mutter kam, eher seiner Tante Elisa zuzuordnen schien.

Immer wieder neigte Maximilian grüßend den Kopf, plauderte mit Bekannten und Freunden. Vereinzelt war Gelächter zu hören, prahlerische Rufe, durchmischt vom Bellen der Hundemeute. Gleich würde es losgehen, und Maximilian spürte die fieberhafte Erregung, die ihn stets vor der Jagd erfasste.

Auch sein Rotfuchs – eines der wahrhaft guten Pferde aus eigener Zucht – schien von der allgemeinen Erwartung angesteckt worden zu sein. Er hatte den Kopf gehoben, die Ohren aufmerksam aufgestellt und tänzelte auf der Stelle. Maximilian sah sich um, entdeckte seinen Vater im Gespräch mit zwei Freunden. Seine Mutter, die sich für die Jagd nie so richtig hatte begeistern können, war dieses Jahr zu Hause geblieben. Allerdings war seine Tante dabei, und obwohl man ihr oft mit Herablassung begegnete, zog sie doch die Blicke auf sich, sie war immer noch eine schöne Frau.

Dann ging es los. Die Meute lief, und die Jäger trieben ihre Pferde an. Hufe trommelten auf den Boden, und Maximilian ahnte, dass nicht nur er sich wie im Rausch befand. Von der rechten Seite näherte sich vom Hügel ein einsamer Reiter, kam näher und schloss sich an, ritt im wilden Galopp an ihnen vorbei und setzte sich an die Spitze. Maximilian grinste. Seine Schwester Helene.

Neben sich hörte er, wie eine Frau entsetzt aufschnappte. »Die trägt ja Hosen!«

Nun musste er lachen.

Nachdem Helene den aufsehenerregendsten Auftritt gehabt hatte, hatte Constantin hernach einen der kapitalsten Hirschböcke geschossen – zu Maximilians ganz offensichtlichem Missfallen. Nun stand Constantin da, hielt sein Pferd am Zügel, lachte, schäkerte mit jungen Frauen und war Leonhard nicht nur in seinem Aussehen mit dem dunklen Haar und den Gesichtszügen, sondern auch in seiner Art, sich zu bewegen, so ähnlich, dass es in Carl bittersüße Erinnerungen an seine eigene Jugend weckte. Damals, als er und sein Freund noch Seite an Seite auf die Jagd geritten waren und hernach den Frauen schöne Augen gemacht hatten.

Carl erinnerte sich an jenen Moment, als er vor Leonhard gestanden hatte, ein letzter Moment, in dem sie noch Freunde gewesen waren. Du kennst diese Frau seit drei Monaten, ich bin dein Freund seit Jahren. Himmel, Carl, es gibt so viele hübsche Frauen, du brauchst doch nur zu wählen. Aber einen guten Freund findest du nicht so ohne Weiteres. Über zwanzig Jahre war das nun her. Ja, er hatte Adela geliebt, tat es wohl immer noch, aber aus dieser Liebe war das Verzehrende gewichen, sie war blass geworden, ein schwacher Abglanz der früheren Leidenschaft.

Jetzt wünschte er, er hätte seinerzeit anders entschieden, hätte Leonhard besser zugehört. Aber einen guten Freund findest du nicht so ohne Weiteres. Und damit hatte er recht gehabt. Carl hätte es auch nach der Hochzeit mit Elisa wiedergutmachen können, hätte die Hand ausstrecken und die alte Freundschaft aufleben lassen können. Aber nein, er hatte sich in dem vermeintlichen Unrecht, das ihm angetan worden war, gesuhlt, hatte leichtfertig jedes bisschen Glück, das aus dieser Verbindung erwachsen war und noch hätte erwachsen können, in den Dreck getreten. Sich auf Karolina einzulassen hatte den seinerzeit befriedigenden, längst schalen Beigeschmack gehabt, dass diese Leonhards Schwester war.

Carl dachte oft darüber nach, in welchen Momenten seines Lebens er sich einen anderen Verlauf gewünscht hätte. Leonhards Freundschaft nicht ausschlagen? Ja, ohne Zweifel. Karolina unbehelligt lassen? Auch da würde er zu gerne noch einmal anders entscheiden können. Elisa nicht einfach davonreiten lassen? Dieser Moment war einer der schlimmsten in seiner Erinnerung, und er hatte die Szene unendlich oft in seinen Gedanken durchgespielt. Wenn er jedoch an die Ursache all dieser Konflikte und falschen Entscheidungen dachte, wenn er sich vorstellte, es böte sich die Möglichkeit, Adela zu heiraten und alles anders kommen zu lassen, dann hätte er das noch vor einigen Jahren ohne lange nachzudenken gewollt. Leonhard und er wären noch Freunde, Elisa und Karolina wären womöglich glücklich verheiratet. Aber es gäbe Constantin und Victoria nicht. Nein, dachte Carl, immer wieder nein. Adela war für ihn verloren gewesen, aber es hatte eine andere Art von Glück gegeben, eines, das er nicht hatte haben wollen, das er zu spät gewürdigt hatte. Und erst das hatte seinerzeit all die zerstörerischen Prozesse in Gang gesetzt. Und nun war es zu spät, Elisa tot, die Freundschaft zu Leonhard für immer dahin.

Victoria ging zu Constantin und hakte sich bei ihm ein, was die jungen Frauen ein wenig auf Distanz gehen ließ unter dem gestrengen schwesterlichen Blick. Carl musste grinsen. Die jungen Männer schoben sich nun, da sich die Reihen an Röcken um Constantin lichteten, näher an ihn heran, und der gestrenge Blick schmolz zu Koketterie. Da Constantins so offen bekundete Kameradschaft die jungen Männer weniger abschreckte als Victorias Andeutung von schwesterlicher Stutenbissigkeit die Frauen, waren sie kurz darauf alle in eine angeregte Unterhaltung vertieft – mit Victoria als einziger junger Frau in der Runde.

Carl wandte sich ab und schlenderte ein wenig umher. Nach all der Geselligkeit des Tages war er froh um ein wenig Ruhe. Früher einmal war das hier alles eine weitläufige Wildnis gewesen, davon zeugten nur noch die Reste undurchdringlicher Wälder, uralte Baumbestände, die früher einmal eine Barriere gegen Überfälle der slawischen Nachbarn gewesen waren. Hier gab es Fichten, Starkkiefern, Eichen, Brüche und dunkle Waldseen. Die Rominte durchfloss den Wald, und an ihrem Ufer lagen verschwiegene Wiesen, auf denen das Rominter Rotwild aste. Vor drei Jahren hatte der Kaiser in der Heide das Rominter Jagdschloss erbaut, in dessen Nähe die Jagdgesellschaft sich nun versammelt hatte.

Einen Monat vor Magdalenas Hochzeit hatte Adela einen Sohn geboren, und Carl musste nicht lange rechnen, um zu wissen, dass es bezüglich der Vaterschaft für Adela Ungewissheit gegeben hätte, hätten sie sich seinerzeit hinreißen lassen. Immerhin war ihr das erspart geblieben. Und offenbar hatte Leonhard sich seine Warnung zu Herzen genommen und betrog sie seither nicht mehr.

»Gratuliere zu deinem Sohn«, sagte Hermann von Agarus, der auf einem Trakehner-Gut in der Nähe von Insterburg lebte, ein Freund von Carls Vater. »Hervorragender Schütze.«

»Ja, das ist er wohl.«

»Ich habe gehört, der junge Deluweit hat Interesse an deiner Tochter.«

»Das ist richtig, aber ich nicht an ihm.«

Hermann von Agarus nickte langsam. »Ich habe gehört, sie trifft sich mit ihm.«

Nun taxierte Carl ihn aus leicht verengten Augen. »Sagt wer?«

»Anneli Carell sagte, sie habe sie gesehen.«

Die alte Klatschbase. »Ich werde mit Victoria sprechen und sie fragen.«

»Wird sie es zugeben?«

»Sie hat mich bisher nie angelogen.«

»In der Liebe werden die Kinder findig.«

Carls Blick suchte Victoria und fand sie immer noch bei Constantin stehen. Kam ihr Gustav Deluweit näher als die anderen? Gerade neigte er den Kopf, um ihr zuzuhören, ein kleines Lächeln auf den Lippen. »Was Kerle mit seinem Leumund wollen, hat mit Liebe nicht viel zu tun.«

Was für einen immensen Unterschied doch ein Ring am Finger machte, dachte Magdalena, während sie mit ihrer jüngsten Tochter durch die Straßen Johannisburgs spazierte. Ihre Zwillinge, Jan und Daniel, waren sechs Jahre alt, das Mädchen, Clara, war gerade drei geworden. Zu ihrem Erstaunen hatte es über ein Jahr gedauert, ehe sie von Łukasz empfing. Wenn man bedachte, dass es bei Anna nur ein Mal gebraucht hatte … Weil die Schwangerschaft mit den Zwillingen so schwierig gewesen war, hatten sie zunächst aufgepasst, aber auch nachdem sie ein weiteres Kind gewollt hatten, hatte es erneut über ein Jahr gebraucht, ehe sie schwanger geworden war. Vermutlich lag das an ihrem Alter, denn bei der letzten Schwangerschaft war sie bereits Ende dreißig gewesen.

Ihre neue Freundin Gudrun, eine junge Frau aus der Nachbarschaft, hatte da ihre eigene Theorie. »Liegt vermutlich eher an ihm als an dir«, mutmaßte sie.

Magdalena war es gleich, an wem es lag. Sie hatte drei gesunde Kinder von ihm, damit war sie glücklich, und weitere Kinder wollte sie ohnehin nicht. Für Anna war es anfangs schwer gewesen, und nun zahlte es sich aus, dass Magdalena eine so enge Bindung zu dem Kind hatte, denn diese führte dazu, dass Anna nie infrage stellte, dass sie geliebt wurde, wenngleich sie anfangs, als plötzlich zwei andere Kinder im Mittelpunkt standen, Eifersucht nicht verhehlen konnte. Das hatte sich längst gelegt. Mit Łukasz sprachen alle Kinder, auch Anna, ausschließlich Polnisch, was Annas Bindung an die Geschwister und ihren Stiefvater festigte, da sie über die Sprache verbunden waren und die Kultur, die er ihnen nahebrachte.

Wenn es den Zustand des wunschlosen Glücklichseins gab, dann befand Magdalena sich darin. Der einzige dunkle Punkt in ihrem Leben war ihre Mutter, aber diese hatte sie rigoros daraus verbannt. Das Entsetzen, als sie geglaubt hatte, ihr Kind sei tot, verursachte ihr heute noch Albträume. Und Anna log sie nicht an, das wusste sie. In ihr hatte der Vorfall Angst vor Höhen ausgelöst, und das Kind, das so gerne in Bäumen gesessen hatte, traute sich seither auf keine Mauer, die höher als hüfthoch war.

Im kommenden Monat würde Anna ihren zwanzigsten Geburtstag feiern. Ab dem nächsten Schuljahr würde sie in einer Volksschule Kinder unterrichten. Obwohl sie den Makel der unehelichen Geburt trug, gab es einige annehmbare Bewerber um sie, aber sie wollte noch nicht heiraten und lehnte jeden Antrag ab. Justus’ ältere Töchter, die schon verlobt waren, zogen sie gelegentlich damit auf, dass sie vor lauter Gelehrsamkeit am Ende überhaupt niemanden mehr abbekommen würde, aber darüber lachte Anna nur.

Dass sie sich überhaupt mit den beiden Mädchen anfreundete, hatte Magdalena erstaunt, auch wenn Alma nach wie vor ihre beste Freundin blieb. Aber je älter die Mädchen geworden waren, umso unwichtiger schienen jene Dinge zu sein, um die sie sich als Kinder so heftig gestritten hatten. Der schlimmste Streitpunkt – Justus’ vermeintliche Vaterschaft – hatte sich als nichtig herausgestellt, und Anna hatte nun einen Stiefvater. Es war so, als sehe man endlich den Menschen in ihr, der sie wirklich war.

Was Magdalena ein wenig bedauerte, war, dass Carl nicht mehr so oft kam. Früher war er mindestens einmal im Jahr mit den Kindern hier gewesen. Sie hatten dann auf dem Gut gewohnt, und Anna verbrachte dort viel Zeit mit Constantin und Victoria. Sie wünschte, Carl fände auch endlich wieder eine Frau, aber er schien gar nicht auf der Suche zu sein. Magdalena konnte sich das vorstellen. Mal hier eine Liebschaft, mal da eine, die Sinne befriedigen, ohne das Herz zu verwirren. Carl schien einer jener Menschen zu sein, die nur ein Mal liebten, aber dann ganz und gar.

»Otto Belack«, hatte er bei seinem letzten Besuch im Frühjahr nach Claras Geburt gesagt, als sie auf der Veranda des Guts gesessen und den jungen Leuten beim Federball im Garten zugesehen hatten.

Magdalena war bei seinen Worten wie erstarrt gewesen, hatte den Blick auf ihr Eis gesenkt, das langsam in der Schale schmolz.

»Natürlich. Die Augen, die Gesichtszüge. Man sieht es nicht sofort, aber ich habe mich schon bei meinen letzten Besuchen gefragt, an wen sie mich erinnert.«

Magdalena hatte ihn angesehen. »Und was fängst du mit diesem Wissen nun an?«

»Er hat schon vor Jahren aufgehört für uns zu arbeiten und ist nach Danzig gegangen. Sein Vater ist gestorben, wusstest du das?«

Nein, woher auch. Seit jenem Gespräch, als sie ihm ihre Schwangerschaft gebeichtet hatte, hatte sie ihn nicht wiedergesehen.

Sie hatte Carl taxiert, auf eine Reaktion gewartet. Aber ihm schien es zu reichen, das Geheimnis gelüftet zu haben, und so hatte er sich auf ein – ziemlich selbstgefälliges – Lächeln beschränkt.

»Ein Reitbursche«, sagte er schließlich nach einer längeren Pause. »Ich hatte geahnt, dass er gesellschaftlich völlig untragbar sein würde, aber ein Reitbursche?«

Magdalena hatte nichts dazu gesagt, und da die Kinder – sie würden wohl immer die Kinder bleiben – zum Haus zurückkehrten, hatten sie das Thema gewechselt.

Während sie nun mit ihrer Jüngsten spazieren ging, fand Magdalena, dass ihr Leben schon fast bürgerlich-spießig geworden war. Die Ehefrau des Arztes, die ihm die Bücher führte und das Haus in Ordnung hielt. Seit seine Assistentin Frau Schompeter vor einem Jahr in den Ruhestand getreten war, hatte Magdalena ihre Aufgaben übernommen. Sie konnte Clara mit in die Praxis nehmen, aber in der Regel langweilte sie sich dort, so dass Magdalena neben ihren Aufgaben auch noch das Kind beschäftigen musste.

Nun hatte es sich glücklicherweise ergeben, dass eine von Łukasz’ Patientinnen sich erboten hatte, auf Clara aufzupassen. Sie hatte keine Enkelkinder, da ihre Söhne kinderlos verstorben waren, und fühlte sich recht einsam. Im Gegenzug dafür, dass sie sich um Clara kümmerte, versorgte Łukasz sie medizinisch, ohne sich dafür bezahlen zu lassen. Clara ging gerne zu ihr und sprach sie bereits mit »Großchen« an, das Kosewort für Großmutter. Da Magdalena mit ihrer Mutter gebrochen hatte, war sie froh darüber, dass es »Großchen Erna« gab.

Meta Lamberg, Justus’ Frau, kam ihnen entgegen, und Magdalena öffnete bereits den Mund für einen höflichen Gruß, als diese vor Clara ausspuckte und »Polackenbalg« zischte. Magdalena blieb stehen, suchte nach einer passenden Entgegnung, während Clara die Frau nur mit großen Augen ansah. Als befürchte sie, nun zur Rechenschaft gezogen zu werden, beschleunigte Meta Lamberg ihren Schritt und war an ihnen vorbei, ehe Magdalena, die nur selten sprachlos war, wusste, was sie sagen sollte.

»Was hat die Frau gesagt?«, fragte Clara.

»Nichts. Sie hat einfach keine Erziehung genossen«, antwortete Magdalena laut in der Hoffnung, Justus’ Frau würde sie hören. Die zeigte keine Reaktion. Einen Moment lang sah Magdalena ihr nach, kämpfte gegen den Impuls, ihr hinterherzulaufen und die Hände in ihr sorgsam aufgestecktes Haar zu krallen.

»Komm, Mäuschen«, sagte sie und nahm die Hand des Kindes. Mit wild klopfendem Herzen gingen sie die letzten Schritte bis zum Haus von Erna Baran. Dass Justus’ Frau und sein Vater ihr nicht viel Freundlichkeit, ja, nicht einmal ein Mindestmaß an Höflichkeit entgegenbrachten, war sie gewöhnt. Sein Vater, ein Mann, der stets einen grimmigen Ernst ausstrahlte, beachtete sie nicht einmal, wenn er ihr auf der Straße begegnete, und auch seine Frau erwiderte einen Gruß, wenn überhaupt, nur kaum hörbar. Aber das war wirklich der Gipfel. Warum dieser Groll? Dachte Meta Lamberg immer noch, sie würde mit Justus schlafen? Oder habe es getan?

Als ihr Atem wieder ruhiger ging, betätigte sie den Türgong und bemerkte, dass ihr die Hand zitterte. Aber sei’s drum, sie musste Clara abgeben und in die Praxis. Dann erst würde sie überlegen, ob sie Łukasz oder gar Justus davon erzählte.

»Warum nennt man es eigentlich Altweibersommer?«, fragte Elisabeth, während sie auf dem Rücken im Gras lag und das schräge Licht der Sonne goldene Strahlen auf ihr tanzen ließ.

Maximilian lag neben ihr, auf einen Ellbogen gestützt, und kitzelte sie mit einem Grashalm unter der Nase. »Der milde Wind weht die Fäden kleiner Spinnen durch die Gegend. Wenn dann der Tau darauf glänzt, sehen die Fäden aus wie das feine, silbergraue Haar von alten Frauen.« Er neigte den Kopf und küsste sie. »Manche sagen«, er küsste sie erneut, zurückhaltend und spielerisch, »dass der Name daher kommt, weil die Spinnen weiben, so nannte man früher einmal das Weben von Netzen. Ein alter Volksglaube sagt, dass es eine baldige Hochzeit voraussagt, wenn sich die Spinnenfäden in den Haaren junger Mädchen verfangen.«

Elisabeth schlang ihm die Arme um den Hals und zog ihn zu sich, um den nächsten Kuss länger auszukosten. Er schob sein Knie zwischen ihre Beine, und sie schlang die Schenkel darum, während ihre Küsse immer atemloser wurden. Es kostete Maximilian große Willenskraft, von ihr abzulassen, nicht mehr zu tun, als die obersten Knöpfe ihres Kleides zu öffnen, die Hand hineingleiten zu lassen. Mit geschlossenen Augen wand sich Elisabeth unter seinen Liebkosungen.

»Tust du es eigentlich mit anderen Frauen?«, fragte sie später, als sie an seine Brust geschmiegt lag, die Finger spielerisch durch die Öffnungen zwischen seinen Hemdknöpfen geschoben.

»Nein, natürlich nicht, das habe ich dir doch versprochen.«

»Ich habe gehört, ihr jungen Offiziere stoßt euch bei den leichten Frauen in Königsberg und Berlin die Hörner ab.«

Das taten sie, und nicht nur die Offiziere. Maximilian hätte mehr als ein Mal die Gelegenheit gehabt, und es fiel ihm schwer, aber er hatte Elisabeth versprochen, dass es nur sie geben würde, und sie wartete auf ihn wie er auf sie. Er würde gerne mit ihr schlafen, doch dafür war ihm die Sache zu ernst. Wenn er sie schwängerte, würde es aussehen, als sei er gezwungen worden, sie an den Altar zu führen, und sie würde den Weg in Schande niedergedrückt gehen, anstatt mit stolz erhobenem Haupt. Und so beließen sie es bei Küssen und zurückhaltenden Zärtlichkeiten.

»Beatrix sagt, Constantin habe bei ihr seine Unschuld verloren.«

»Kann sein, über so etwas sprechen wir nicht.« Der stille, ernsthafte Constantin, der auf Frauen gerade wegen dieser Distanziertheit eine so ungeheure Anziehungskraft ausübte. Maximilian zweifelte nicht daran, dass er seine Erfahrungen gemacht hatte, und derer wohl nicht gerade wenig. Er selbst redete zwar nicht darüber, aber dafür die übrigen Offiziere und gemeinsame Freunde. Dass Beatrix die Erste für ihn gewesen war, war durchaus vorstellbar, sie war hübsch und leicht zu haben, und Constantin war nach allem, was man erzählte, kein Kostverächter.

Elisabeth setzte sich auf und zupfte Grashalme und Gänseblümchen aus, die sie wie einen kleinen Strauß zusammenlegte. »Musst du heute Abend wieder fort?«

»Ja, leider.«

Sie band den Strauß mit einem langen Grashalm zusammen und steckte ihn in das Knopfloch von Maximilians Gehrock. »Ich liebe dich so«, sagte sie und küsste ihn erneut.

»Ich dich auch.« Er zog sie so eng an sich, dass er vermeinte, ihren raschen Herzschlag zu spüren, der im Gleichtakt mit dem seinen erklang.

Als er sie losließ, erhob sie sich. »Ich muss los, Mutter kontrolliert in letzter Zeit genau, wann ich heimkomme.«

»Denkst du, sie weiß, dass du bei mir bist?«

»Wer ahnt schon, was sie so alles weiß. Unsere ganze Kindheit über hat sie sich kaum für uns interessiert, und auf einmal wacht sie über mich und meine Heimkehr. Ich glaube einfach, sie hat Angst, ich könnte so geraten wie Beatrix.«

»Die Gefahr besteht gewiss nicht.«

Sie schenkte ihm ein Lächeln, dann drehte sie sich um und lief davon. So waren ihre Abschiede stets, da Elisabeth es nicht mochte, sich zu verabschieden. Sie drehte sich abrupt um und war fort. Wie eine Waldelfe. Maximilian ging lächelnd zu seinem Pferd zurück und saß auf.

Im Hof erwartete ihn sein Vater. Als Maximilian absaß, zuckte Leonhard von Schletters Blick kurz zu dem kleinen Gänseblumenstrauß an Maximilians Gehrock. »Du triffst dich immer noch mit der Moors-Tochter.«

Maximilian fiel es nicht ein, das Offensichtliche zu bestätigen, und so schwieg er.

»Ich spiele nur ungern den Haustyrannen.«

»Dann tu es einfach nicht.«

»Ist sie deine Geliebte?«

»Nein.« Maximilian ahnte, dass seinem Vater ein Ja lieber gewesen wäre. Eine Geliebte, das war nichts Ernstes. Gefährlich wurden die Frauen, die man traf, um nicht mit ihnen zu schlafen.

»Du weißt, was ich von Emil Moors und seiner Familie halte.«

Maximilian nickte nur knapp.

»Man munkelt, Beatrix habe sich die französische Krankheit eingefangen.«

»Tatsächlich? Na, das dürfte ja ein böses Erwachen für Constantin geben.«

Sein Vater runzelte die Stirn. »Constantin und Beatrix?«

»Der Beginn der amourösen Laufbahn meines Vetters. Vermutlich hat er aber noch einmal Glück gehabt, man sagt ja, er habe früh angefangen.«

»Wie dem auch sei, du hältst dich fern von diesen Leuten.«

Erneut nickte Maximilian nur unbestimmt. Sollte sein Vater hineindeuten, was er wollte. Dann führte er seinen Wallach über den Hof zum Stall.

»Und er hat wirklich gesagt, ich gefalle ihm?« Victoria hatte Gerhard von Sabrowski auf der Jagd gesehen, und er hatte durchaus Eindruck auf sie gemacht.

»Nicht nur seinem Onkel gegenüber«, sagte ihre Tante Karolina, mit der sie durch Königsberg spazierte, »sondern auch vor Maximilian.«

»Das ist so aufregend.« Victoria wusste, dass ihre Großmutter es nicht gerne sah, wenn sie mit ihrer Tante ausging, aber da ihr Vater stets seine schützende Hand über sie hielt, wurde ihr nahezu jede Freiheit gewährt, nach der es sie verlangte – und nach dieser hungerte Victoria geradezu. Sie wollte ihr Leben in vollen Zügen auskosten und fand in ihrer Tante Karolina eine Gleichgesinnte.

Durch ihre Tante lernte sie interessante Männer kennen, was viel spannender war als das Beisammensein bei Veranstaltungen, wo man sich ständig den Blicken aller Umstehenden ausgesetzt wusste. Außerdem unternahmen sie oft Ausflüge nach Königsberg, und diese liebte Victoria. Sie wollte in die Stadt, wollte feiern, am liebsten wäre sie nach Berlin gegangen oder nach München, jene West-Metropolen, wo das moderne Leben pulsierte. Vielleicht würde Gerhard mit ihr solche Reisen unternehmen, und bei dem Gedanken daran begann ihr Herz heftig zu pochen.

»Ich dachte, du triffst den jungen Deluweit«, sagte Karolina.

»Schon längst nicht mehr, er ist ein eitler Geck.«

Victoria schlenderte mit ihrer Tante am Pregelhafen entlang, von wo aus sich ein wunderbarer Blick auf den Münchenhof bot. Es war immer viel los an Hafen und Anlegestellen. Stauer verrichteten ihre Arbeit, Schiffe wurden be- und entladen, Fracht wurde angekarrt, Waren umgeschlagen. Auch auf dem Pregel herrschte ein lebhafter Verkehr durch Fracht- und Dampfschiffe. Wenn hohe Seeschiffe und hochmastige Segler passierten, mussten die Brücken hochgezogen werden, was den Straßenverkehr zum Innehalten zwang. Schon als Kind hatte Victoria Häfen faszinierend gefunden und davon geträumt, wohin all die Schiffe wohl reisten. Es hatte das Flair der weiten Welt gehabt, und ihr Vater hatte sie einmal sogar mit an den Pillauer Hafen genommen. Größere Schiffe konnten von der Ostsee über Pillau nach Königsberg gelangen. Victoria war mit ihrem Vater oft am Pregel entlangspaziert, hatte sich die Turmspeicher am Hafenbecken angesehen, die Fachwerkspeicher auf der Lastardie, wo die Königsberger Kaufleute das Getreide lagerten, die alten Speicher und den Fischmarkt, von dem aus man den Schlossturm sehen konnte.

Karolinas Abstecher zum Hafen waren allerdings immer nur von kurzer Dauer, sie war nicht gerne dort, mochte den Geruch nach Teer und Fisch nicht. Sie spazierte lieber über den Kaiser-Wilhelm-Platz, wo sich die von Efeu umrankte Altstädtische Kirche befand. Ab und zu nahm sie Victoria mit in das »Blutgericht«, ein Lokal im mächtigen Kellergewölbe des Schlosses, das ausgestattet war mit Prunkfässern. Hübsch war auch der Markttag auf dem Altstädtischen Marktplatz, wo neben allerlei Obst und Gemüse prachtvolle Blumen verkauft wurden, doch auch daran fand Karolina nur wenig Gefallen, es war ihr zu voll. Sie ging lieber in eines der Cafés, wo es jenes Marzipan gab, für das Königsberg berühmt war.

Victoria hatte Helene und Maximilian oftmals darum beneidet, dass sie Adela als Mutter hatten, daher fand sie es wunderbar, dass Karolina ihr inzwischen so nahe war. Vor einigen Jahren hatte sie Gerüchte darüber gehört, dass Karolina und ihr Vater schuld am Tod ihrer Mutter gewesen seien, aber Karolina hatte ihr gesagt, sie solle nicht alles glauben, was man sich erzählte. Sie wäre mit Carl von Reichenbach seinerzeit wegen eines Missverständnisses aneinandergeraten, und hernach hätte er sich mit Elisa gestritten, daraufhin sei diese fortgeritten und gestürzt. Ihr Vater hatte ihr dies bestätigt und hinzugefügt, dass sie niemandem zuhören solle, der das Andenken an ihre Mutter schmähe.

Sie nahmen in einem Café Platz und bestellten Kaffee und Konfekt. Das Konfekt war mit Fondant gefüllt und gratiniert, so dass das Innere weich, die Oberfläche aber gelblich braun geröstet war, typisch für Königsberger Marzipan. Victoria nahm ein rundes Stück, das in der Mitte mit kandierten Früchten belegt war, und biss hinein. Genießerisch schloss sie die Augen. Das war einfach himmlisch.

»Was für eine erfreuliche Überraschung«, hörte sie eine Männerstimme sagen und öffnete die Augen. Vor ihr stand Gerhard von Sabrowski, unglaublich gutaussehend mit seinem dunklen Haar und den grünen Augen. Victoria wollte antworten, hatte aber noch den Mund voll und kaute schneller. Gerhard wirkte belustigt, was ihr das Blut ins Gesicht trieb.

»Es freut mich ebenfalls«, sagte sie schließlich und hoffte, ihr klebten keine kandierten Früchte an den Zähnen. Als er sich an Karolina wandte, um sie zu begrüßen, fuhr Victoria rasch mit der Zunge über die Schneidezähne, um Gerhard ein strahlendes Lächeln zu schenken, als er sich wieder ihr zuwandte.

»Setzen Sie sich doch«, sagte Karolina und deutete auf einen der beiden freien Stühle an ihrem Tischchen.

»Wenn ich die Damen nicht störe?«

»Aber keinesfalls«, entgegnete Karolina, und so nahm er zwischen ihnen Platz, und kurz berührten sich ihre Knie, was in Victorias Bauch einen wilden Hummeltanz auslöste.

Sie teilte ihr Konfekt mit ihm, und er bestellte sich eine Tasse Kaffee dazu, während er von seinem Studium in Berlin erzählte.

»Kennen Sie meinen Vetter daher?« Maximilian fuhr ab und zu nach Berlin, um dann für einige Tage in das trubelige Leben dort einzutauchen.

»Ja, er ist mit einem Kommilitonen von mir befreundet, und darüber haben wir uns kennengelernt.«

»Sind Sie dort aufgewachsen?«

»Ursprünglich in Masuren, dann ist mein Vater gestorben, und meine Mutter ist mit mir nach Berlin zu ihrer Familie gegangen. Na ja, und jetzt hat Onkel Paul mich auf sein Gut beordert, weil ich sein Haupterbe bin.«

Karolina bestellte eine weitere Kanne Kaffee, und Gerhard plauderte charmant über Berlin, über den kaiserlichen Hof – womit er Victoria tief beeindruckte – und über das Leben als Student, erzählte Anekdoten, bei denen sogar Karolina herzhaft lachen musste. Als er sich schließlich nach einem Blick auf die Uhr wieder erhob und sagte, er habe noch eine Verabredung, Victoria dabei in die Augen sah und der Hoffnung Ausdruck verlieh, sie würden sich bald wiedersehen, schlug ihr das Herz so schnell, dass sie es im Hals pochen spürte.

»Du bist verliebt«, stellte Karolina fest, als er gegangen war. »Er wird eine Frau aus dem Hochadel heiraten müssen, das solltest du wissen.«

Aber Victorias Höhenflug setzte das keine Grenze. Sie sah ihm nach, wie er am Fenster vorbeiging, wo er noch einmal kurz innehielt und ihr zuwinkte. Er wäre nicht der Erste, der sich einer solche Forderung widersetzte. Und als Haupterbe konnte er ja gewiss frei wählen, wem zugunsten sollte man ihn denn enterben? Mochte Karolina sagen, was sie wollte, Victoria war sich gewiss, dass er sich in sie verliebt hatte wie sie sich in ihn.

Dezember 1904

Der Stall ist eine Männerdomäne!«

Leonhard war es leid, diese Angelegenheit wieder und wieder zu diskutieren, aber sein Vater wollte nicht einsehen, dass Helene lieber im Stall zwischen Pferden war als in Salons. Sie konnte stundenlang allein ausreiten und vermisste nichts. Darüber hinaus – und das schien außer Leonhard niemand zu bemerken – hatte sie ein überragendes Gespür für Pferde. »Wenn ich ihr nicht verbiete, sich im Pferdestall aufzuhalten, dann wirst auch du das nicht tun.«

»Sieh dir Victoria an! Die wird sich keine Gedanken machen müssen um einen passenden Bewerber.«

Dieser ständigen Vergleiche war Leonhard ebenso überdrüssig. Er wusste, dass Helene als Mauerblümchen galt, als unscheinbar. Aber das konnte nur sagen, wer sie nicht kannte, denn hinter ihrer Stille verbargen sich ein starker Wille und ein kluger Kopf, das hatte sie in der Schule bewiesen, und sie bewies es auch ihrer Familie täglich aufs Neue. Wenn sie Ideen äußerte, waren diese ausgereift und durchdacht. »Warum freust du dich nicht, dass sie, ebenso wie du, die Pferdezucht zum Laufen bringen möchte?«

»Weil das deine Aufgabe wäre, nicht ihre.«

»Ich setze weiterhin auf die Viehzucht, sie ist derzeit das, was uns Ertrag bringt. Wir haben nicht ausreichend Mittel, um auf die Pferdezucht zu setzen.«

»Du könntest deinen Schwiegervater …«

»Nein, könnte ich nicht, ich stehe nicht als Bittsteller vor diesem Mann. Du würdest doch auch deinen Schwiegersohn nicht um Geld bitten.«

»Carl ist nicht mehr mein Schwiegersohn.«

»Solange er keine andere Frau heiratet, ist er es schon noch.«

Wilhelm von Schletter winkte ab. »Niemals. Eher lasse ich das ganze Gut zugrunde gehen.«

Nun, das würde nicht mehr lange dauern. Ein Wunder, dass ihnen das Schloss noch nicht über dem Kopf zusammengebrochen war, wobei es mehr und mehr darauf hinzuarbeiten schien. Seit letztem Frühjahr war das Dach im wenig genutzten Westflügel undicht, und es regnete durch. Dort befanden sich die Gästezimmer – oder, besser gesagt, das, was davon übrig war. Das Wasser war zu spät bemerkt worden, und so waren die Teppiche und mit ihnen die darunter liegenden Holzdielen still und heimlich vor sich hin gerottet.

Leonhard wusste, wie verärgert sein Vater darüber war, dass es ihn nicht in die Politik zog. Wofür auch, im Grunde genommen bedeutete das nur, dass er ab und zu nach Königsberg musste, um über irgendwelche Beschlüsse zu diskutieren, die dann doch andere trafen. Es brachte ein gewisses Ansehen mit sich, allerdings sah Leonhard nicht ein, warum er seine Zeit, die hier dringender benötigt wurde, der Politik opfern sollte. Aber sein Vater hatte sich vorgestellt, dass Leonhard später noch näher an politischen Größen agierte. Wie sollte das denn gehen, wenn er gleichzeitig das Gut irgendwie retten wollte?

Er hätte gerne auf den Getreideanbau gesetzt. Seit gut fünf Jahren wurden auch in Ostpreußen moderne Agrartechniken angewandt, und es gab ein durchdachtes Drainagesystem mit Pumpen und Kanälen, um der Moorlandschaft das Wasser zu entziehen und somit weite Flächen als Agrarland nutzen zu können. Mittlerweile wurde Ostpreußen als Kornkammer des Deutschen Reiches bezeichnet. Das versprach Gewinn. Leonhard war oft an der neuen Börse gewesen, die den Mittelpunkt des Königsberger Getreide- und Produkthandels darstellte und wo sich täglich viele Kaufleute trafen. Aber für seinen Vater war allein der Börsensaal interessant, wo die Maskenbälle stattfanden und sich die Königsberger trafen, die Rang und Namen hatten.

Königsberg war eine Handelsmetropole geworden, und wenn es nach Leonhard ginge, hätten sie die Pferde verkauft und nur wenige behalten, die sie für den Eigenbedarf nutzten. Vielleicht zwei Stuten mit guten Anlagen, von denen sie Fohlen ziehen konnten, aber mehr brauchte es nach Leonhards Dafürhalten nicht. Er würde gänzlich auf Vieh und Getreide setzen. Es fehlten einfach die Möglichkeiten, sowohl die Rinder- als auch die Pferdezucht gleichermaßen auf hohem Niveau zu betreiben, und so war es in der Tat das Beste, wenn sie sich auf eines von beidem konzentrierten. Darüber wollte Leonhard sprechen, darüber Dispute führen. Stattdessen stand er hier und diskutierte mit seinem Vater darüber, ob Helene sich im Stall aufhalten durfte oder nicht.

Ob Wilhelm von Schletter mit sich haderte, weil jene Maßnahme Bismarcks, die Russen auszuweisen, indirekt ein Erstarken der Sozialdemokraten gefördert hatte? Königsberg war der erste Welthandelsplatz für Hülsenfrüchte, der größte Handelsplatz des deutschen Reiches für Holz und der größte deutsche Getreidehafen. Allerdings hatte der Handel erst wieder zugenommen, als 1894 ein Handelsvertrag zwischen Deutschland und Russland zustande kam, der den Russen am Königsberger Hafen die gleichen tariflichen Bedingungen bot wie Petersburg. Damit sollte der Schaden gutgemacht werden, den die Ausweisung der russischen Staatsbürger angerichtet hatte. Dabei hatte diese in erster Linie den Polen russischer Abstammung gegolten und war somit eine weitere Restriktion der polnischen Bevölkerung Ostpreußens gewesen.

Der Getreidehandel hatte in den Händen russischer Kommissionäre gelegen wie auch dem zu Russland gehörenden Zentralpolen. Der Handel mit Russland ging daraufhin stark zurück, was die Stadt schwer traf. Der Provinzialverband des Bundes der Landwirte hingegen sah sich nun ohne Konkurrenz aus Russland und konnte die Preise anheben. Dadurch trat das ein, was die Konservativen um jeden Preis hatten vermeiden wollen – die Sozialdemokraten nutzten das Thema für den Wahlkampf und gewannen an Stimmen. Und diese Entwicklung ließ sich offensichtlich nicht rückgängig machen.

Leonhards Erziehung war vom Konservativismus geprägt, aber natürlich konnte er die Augen nicht davor verschließen, dass die Welt sich im Wandel befand. Und vermutlich sah das auch sein Vater, und daher war sein Ärger über Helenes wenig standesgemäßes Verhalten dem Umstand geschuldet, dass er zusehen musste, wie die vertrauten Gefüge langsam bröckelten.

Karolina mochte die neue Mode, die Frauen nicht mehr in Korsetts zwang und bei der die Röcke weniger ausladend waren. Glücklicherweise hatte es vor einigen Jahren Reformer gegeben, die diesem Kleidungsstück den Kampf angesagt und ihn als »gesundheitsbedrohenden Frauenpanzer, der Brust und Leib umschnürt und Lunge, Leber und Herz in Mitleidenschaft zieht« bezeichnet hatten. Das Korsett ersetzte ein Schnürmieder, das zwar die Taille betonte, aber nicht stetig das Atmen erschwerte. Allein das Reiten war nun viel angenehmer, denn in einem Reitkostüm, das mehr Bewegungsfreiheit bot, saß man sicherer auf dem Pferd und konnte lange Ritte machen, ohne außer Atem zu geraten.

Seit Paul von Sabrowskis Frau gestorben war, traf er sich wieder mit Karolina, ab und zu schliefen sie auch miteinander. Pauls Frau hatte aus erster Ehe zwei Kinder gehabt, eine Witwe, die reich geerbt und einen großen Namen getragen hatte – sowohl von ihrer Familie als auch von ihrem Ehemann her. In all den Jahren mit Paul war sie allerdings nicht schwanger geworden, hatte ihm nicht den gewünschten Erben für den Titel geschenkt. Und da sie bereits Kinder hatte – die nun bei den Großeltern lebten –, war klar, dass das Versagen nicht ihr anzulasten war. Paul hatte keinen Bastard, was einem glücklichen Umstand geschuldet sein mochte oder aber dem Umstand zugrunde lag, der sich in seiner Ehe zu beweisen schien. Wenn er mit Karolina schlief, passte er nicht immer auf, und auch Karolina empfing nicht von ihm. Inzwischen war ihr das nur recht, auf keinen Fall wollte sie in ihrem Alter ein Kind, und eine Abtreibung war auch keine Erfahrung, die man zwei Mal machen wollte.

Nun hatte er seinen Neffen Gerhard aus Berlin geholt und setzte ihn als Erben ein. Da Gerhard nur Schwestern hatte und der einzige Erbe seines Namens war, wurde viel Wert auf die Wahl seiner Braut gelegt, und Paul machte kein Geheimnis daraus, dass er ausschließlich unter den großen Adelshäusern wählen durfte. Das hielt ihn jedoch offenkundig nicht davon ab, mit Victoria anzubändeln, und diese ging darauf ein. Nun, Karolina hatte ihre Pflicht erfüllt und ihr gesagt, dass Gerhard sie sicher nicht würde heiraten dürfen, und wenn sie sich nun doch mit ihm einließ, war das ihre Sache. Ebenso, wenn sie als seine Geliebte ins Gerede kam. Carl würde vermutlich außer sich sein, und Karolina war schon gespannt darauf zu sehen, wie ihm das schmeckte, wenn seine Tochter jede Möglichkeit auf eine Ehe verlor, so, wie er Karolinas seinerzeit zunichtegemacht hatte.

Sie trat in ihr Zimmer vor den Spiegel und musterte sich kritisch. Einundvierzig Jahre war sie nun alt, fand jedoch, sie wirkte jünger. In ihrem dunklen Haar waren vereinzelt graue Fäden zu sehen, noch waren es so wenige, dass sie sie auszupfen konnte. Das war ein Erbe ihrer Mutter. Während ihr Vater früh grau geworden war – was bei seinem blonden Haar jedoch kaum auffiel –, war ihre Mutter nur langsam und spät ergraut. Bei Leonhard war es ähnlich wie bei Karolina, wenngleich sich bei ihm schon mehr zeigte. Carl sah man seine achtundvierzig Jahre da schon eher an, wenngleich er immer noch gut aussah, da kam er nach seinem Vater, mit seiner Mutter ging die Zeit weniger gnädig um. Blieb für Magdalena nur zu hoffen, dass sie dieses Erbe nicht trug.

Nachdem sie sich umgezogen hatte, verließ sie das Zimmer und trat hinaus in die frostige Wintersonne. Leonhard stand mit einigen Inspektoren vor den Viehställen und unterhielt sich mit ihnen. Von Friedrich hatte sie schon länger nichts mehr gehört. Im Oktober hatte er ihr geschrieben, hatte die Epistel aber sehr allgemein gehalten und nur dann und wann mit einigen Anekdoten gewürzt. Seit ihr Vater es sich zum Ziel gesetzt hatte, ihn zu verheiraten, machte er sich rar. Karolina beneidete ihn um sein ungebundenes Leben und die Freiheit, einfach Nein sagen zu können.

Nach langem Ringen mit sich selbst hatte Magdalena Justus von dem Verhalten seiner Frau erzählt. Wäre es nur um sie gegangen, hätte sie vermutlich geschwiegen, aber es ging um ihre Tochter. Erwartungsgemäß war Justus außer sich geraten, und nach allem, was ihr später von Anna, die es von seinen Töchtern gehört hatte, zugetragen wurde, war es zu einem heftigen Streit gekommen.

Es war derzeit ohnehin nicht einfach für die Polen, da musste man es nicht noch schlimmer machen, indem man dazu überging, Kinder auf offener Straße zu schmähen. Clara hatte überhaupt nicht verstanden, warum die fremde Frau so böse auf sie gewesen war. Glücklicherweise war es zu keinem ähnlich gearteten Vorfall mehr gekommen.

Magdalena saß in der gemütlichen Küche ihres Gutshauses, denn für die Tage um Weihnachten hatten sie sich hierher zurückgezogen. Der gekachelte Ofen bollerte gemütlich vor sich hin und verströmte eine anheimelnde Wärme, und der Raum war erfüllt von Geplauder und Gelächter der Kinder. Auch Anna hatte sich eingefunden, denn das jährliche Backen war eine Tradition, die sie unbedingt beibehalten wollte. Hanne stand am Tisch und vermengte Mehl mit Zucker, Butterschmalz, Honig und Eiern, fügte Nelken hinzu, Piment, Zimt und Kardamom, ein wenig Zitronensaft und eine Prise Salz. Währenddessen schälten Jan und Daniel Mandeln. Mit rundlichen Fingern drückte Carla Backformen in den weichen Honigkuchenteig, und Magdalena half ihr, die ausgedrückten Figuren auf dem Backblech anzuordnen.

Irgendwann stimmte Anna mit ihrer schönen Singstimme Weihnachtslieder an, und kurz darauf fielen sie alle mit ein. Das hier hatten sie gemein, die Gutshäuser, die Schlösser, die einfachen Bauernhäuser – in den Küchen wurde gebacken, Kinder standen um große Tische herum, halfen beim Ausstechen, während in der Luft der herrliche Duft von frischem Gebäck lag.

Hier in Masuren gab es Traditionen, die Magdalena von zu Hause nicht gekannt hatte, und eine ihrer liebsten war die Jutrznia, der Morgenstern, eine polnischsprachige Tradition, die in der Nacht von Heiligabend bis zum ersten Weihnachtstag begangen wurde. Noch ließ diese sich nicht vom germanischen Vormarsch ausmerzen und eindeutschen. Magdalenas drei Jüngste kannten sie von Geburt an, und für sie läutete dies die Vorfreude auf Weihnachten ein. Die Schulkinder erschienen weiß gekleidet in der Schule, hatten je ein buntes Band um die Taille. Die Jungen trugen hohe Kronen, die Mädchen Blumenkränze, und sie sagten während der Feier in der Kirche jene Verse auf, die der Lehrer mit ihnen geübt hatte. Mehrere Stunden dauerte die Aufführung und endete mit einem alten masurischen Weihnachtslied. Jan und Daniel freuten sich darauf, seit sie zur Schule gingen, und sprachen schon Wochen vorher von nichts anderem.

»Was für ein herrlicher Duft«, bemerkte Łukasz, der in just diesem Moment die Küche betrat.

»Papa!«, schrie Clara und rannte auf ihn zu. Er fing sie auf und wirbelte sie herum. »Na, du Wildfang«, begrüßte er sie auf Polnisch. »Robicie wystarczająco dużo ciasta?«

»Mama mówi że nic nie dostaniesz, bo wszystko byś zjadł.«

»Tatsächlich? Sagt sie das?« Łukasz sah Magdalena an.

Die stand auf und gab ihm einen Kuss. »Die Mama weiß eben, dass du deine Finger bei Verlockungen nicht bei dir behalten kannst.«

Die Kinder kicherten, und Jan schob die Schüssel mit den fertigen Plätzchen demonstrativ hinter sich. In Łukasz’ Blick flackerte jedoch ein gänzlich anders geartetes Begehren auf, eines, das auch nach Jahren der Ehe nicht weniger geworden war.

Hanne, die draußen gewesen war, um mehr Holz für den Ofen zu holen, kam mit vor Kälte gerötetem Gesicht wieder in die Küche. »Ah, der gnädige Herr ist zurück.«

»Ach, Hannchen«, entgegnete er seufzend. »Wie oft denn noch.«

»Für mich bleiben Sie der gnädige Herr oder der Herr Doktor. Ich bin so erzogen, dass ich weiß, was sich gehört«, antwortete Hanne störrisch, und in dem mittlerweile gängigen Ritual zwischen ihnen verdrehte Łukasz daraufhin die Augen.

»Gut, dann sei doch so lieb und koch mir eine Tasse Tee«, sagte er.

Magdalena drehte sich um und drückte ihm eine Rührschüssel in die Hand. »Während du wartest, kannst du schon einmal den Teig für das Buttergebäck vorbereiten.«

»Warum nicht für die Nussplätzchen?«

»Weil dann vom Teig nicht genug übrig bleibt, um ihn zu verbacken.«

Die Kinder kicherten, und Łukasz setzte sich mit einem übertrieben tiefen Seufzer an den Tisch. Einen Moment lang hielt Magdalena inne, betrachtete die Szene. Hanne stand am Herd und brühte Wasser auf, Anna schob ein Backblech in den Ofen, Jan und Daniel schälten Mandeln, wobei sie sich verstohlen immer mal eine in den Mund schoben, und Clara war auf Łukasz’ Schoß geklettert, um ihm beim Teig zu helfen. Und dann dachte sie an ihre Mutter, die auf einem Gestüt lebte, obwohl sie keine Pferde mochte, und deren Glück ganz und gar davon abhing, dass ihre Kinder und Enkelkinder die Person heirateten, die ihr genehm war. Arme Frau, dachte Magdalena.

»Warum versucht ihr nicht wenigstens, euch zu vertragen?«, fragte Carl, nachdem Constantin wieder eine Woche Strafdienst hatte ableisten müssen und mehrere Nächte zur Wache eingeteilt worden war. Dieser hatte gehofft, zumindest zu Hause von dem Thema verschont zu bleiben, aber weit gefehlt.

»Er hat vor allen meine Kaisertreue in Frage gestellt. Sollte ich das auf mir sitzen lassen?«

»Sich zu prügeln ist keine adäquate Antwort.«

»Anders hat er ja nicht mit sich reden lassen.« Constantin ging zum Kamin. Ihm war immer noch lausig kalt, als stecke ihm der Winter bereits tief in den Knochen. Die ganze Reise über war ihm nicht warm geworden.

»Ich möchte, dass sich das ändert, euer gesamter Umgang miteinander.«

»Erzähl das ihm.«

Glücklicherweise wurde er einer weiteren Diskussion enthoben, da sein Vater in den Stall gerufen wurde und Victoria den Salon betrat.

»Du bist ja schon da!« Sie flog ihm um den Hals. Dann schob sie ihn auf Armeslänge von sich und betrachtete ihn prüfend. »Ich habe gehört, du hast mal wieder ein Herz gebrochen.«

»Und ich habe den Eindruck, du bist verliebt«, sagte er, und daran, dass sie rot wurde, erkannte er, dass er recht hatte. »Los, sag schon, wer ist der Halunke?«

»Lenk nicht vom Thema ab. Was hast du mit der armen Fanny Allenstein gemacht?«

»Sie leider nicht so lieben können, wie sie es sich gewünscht hat.«

»Und sonst nichts?«

»Ich würde mich hüten.« Er zupfte spielerisch an einer ihrer Locken. »Und nun erzähl. Wer ist es?«

»Ihr werdet es schon noch erfahren«, antwortete sie.

»Hält er dich zu Heimlichkeiten an?«

»Natürlich nicht!«

»Dann kannst du es doch auch erzählen.«

»Es ist … hm … kompliziert.«

Das war alarmierend, denn Männer, die junge Frauen damit zum Schweigen anhielten, weil es kompliziert war, waren meist nur auf eines aus, und das war in der Regel nichts Gutes. »Warum ist es das?«

»Weil er eigentlich in seinen Eheplänen von der Familie festgelegt wurde.«

Er hatte es geahnt. »In dem Fall wäre es wohl besser, dich von ihm fernzuhalten.«

Ihre Stirn krauste sich kaum merklich, und Constantin wusste, dass jedes mahnende Wort vergeblich wäre. Wenn man verliebt war, war man keiner Vernunft zugänglich. »Triffst du dich allein mit ihm?«

»Nein, immer nur mit Tante Karolina.«

Er entspannte sich. »Versprich mir aber, dass du ihn in die Schranken weist, wenn er versucht, Spielchen mit dir zu treiben.«

»Du kennst mich doch. Darauf würde ich mich nie einlassen. Außerdem kenne ich die Männer.«

Das bezweifelte Constantin, aber er widersprach ihr nicht.

»Wir sind heute übrigens bei Großvater Wilhelm zum Kaffee eingeladen.«

Constantin seufzte tief. »Ach, bitte …« Sah er seinen lästigen Vetter nicht während der übrigen Zeit oft genug? Musste er ihm nun auch noch die freien Tage verderben?

»Papa sagt, du sollst dich benehmen, wenn wir dort sind.«

»Ich springe gewiss nicht über den Tisch und prügle mich.«

Sie wirkte, als sei sie sich dessen noch nicht gewiss, nickte aber, während sie ihn mit einem mütterlich-nachsichtigen Blick betrachtete, als sei sie die Ältere von ihnen.

Dass Frau Rebuschat – Schatchen – sein Lieblingsessen gekocht hatte, versöhnte ihn ein wenig mit dem Umstand, den Nachmittag auf Schloss Lilienau verbringen zu müssen, wo es zu dieser Jahreszeit immer elend kalt war. Aber es führte kein Weg daran vorbei, und so ritt er nach dem Essen zusammen mit seiner Schwester los.

»Du sitzt noch nicht am Kaffeetisch, Floh?«

Helene schnitt Constantin, der gerade sein Pferd in den Stall führte, eine Grimasse. Hinter ihm betrat Victoria mit ihrer Apfelschimmelstute die Stallgasse. Sie trug eine dunkelgraue Fellkappe, die mit ihrem Mantel und dem Schal harmonierte. Ihre Wangen waren gerötet von der Kälte.

»Ist die Box frei?«, fragte Constantin.

»Ja, und Victoria, du kannst Kantara drei Boxen weiter einstellen.« Helene hielt sich die Hände an den Mund und blies hinein. Als sie das Haus verlassen hatte, hatte sie Handschuhe getragen, aber nun wusste sie nicht mehr, wo sie diese abgelegt hatte. Sie schob sich die Hände in die Manteltaschen und wartete darauf, dass ihre Cousine und ihr Cousin die Pferde untergebracht hatten, dann gingen sie gemeinsam ins Haus.

»Ich muss dich vorwarnen«, sagte sie. »Papa hat bereits herausgefunden, wer Max das blaue Auge verpasst hat.«

»Da offiziell Meldung gemacht worden ist, war das wohl zu erwarten.«

»Max hat nichts dazu gesagt.«

»Nun, ich hatte auch nicht erwartet, dass er gleich zu eurem Vater rennt.«

Die Eingangshalle war kalt, da man den großen Kamin dort nicht heizte. Frierend übergaben die drei ihre Mäntel, Mützen und Schals dem Hausdiener Markus. Victoria schien gar einen Moment lang zögern zu wollen, legte dann aber doch alles ab und streifte sich die Lederhandschuhe von den Händen. Rasch eilten sie in das Speisezimmer, wo eine Kaffeetafel aufgebaut war.

»Mama und ich haben gebacken«, erklärte Helene. »Die Honigkuchenmännchen sind von mir.«

Sie waren die Ersten im Raum, und Constantin ging zum Kamin, stellte sich davor, Victoria tat es ihm gleich, und nun folgte auch Helene. Langsam kehrte Gefühl in ihre Finger zurück, und die Wärme kribbelte schmerzhaft darin. Kurz darauf traten ihre Eltern ein, gefolgt von ihrem Großvater und Max, der beim Anblick seines Vetters nur mäßig begeistert wirkte.

»Guten Tag, Victoria«, sagte er und nickte Constantin lediglich knapp zu.

Die Begrüßung durch Helenes Eltern und ihren Großvater war da wesentlich herzlicher, und auch Kaspar, der nun in das Speisezimmer trat, freute sich, die beiden zu sehen. Aus Gründen, die niemandem so ganz klar waren, hatte er gerade an Constantin einen Narren gefressen, vermutlich, weil dieser ihn meist ignorierte und Kaspar dies als jüngstes Familienmitglied nicht gewöhnt war.

Die Familie ging zu Tisch. Helene zog ihren Stuhl zurück und setzte sich darauf. Als das Stubenmädchen erschien, um ihnen Kaffee einzuschenken, fuhr Helene mit einem Mal vom Stuhl hoch und stieß dabei den Arm der jungen Frau an, so dass der Kaffee auf das weiße Tischtuch verschüttet wurde.

»Igitt«, sagte Helene und fühlte nach ihrem Rock, der am Gesäß durchnässt war.

»Helene hat sich eingenässt«, krähte Kaspar, und Helene spürte, wie sie rot anlief.

Sie hob ein nasses Tuch auf und hielt es hoch. »Hast du das auf meinen Platz gelegt?«

»Ja, aber da war es noch trocken«, antwortete Kaspar prustend.

Maximilian, der neben ihm saß, verpasste ihm einen Klaps gegen den Hinterkopf. »Lass den Unsinn!«

Helenes Wangen brannten.

»Kaspar!«, sagte ihr Vater nun. »Geh auf dein Zimmer.«

»Aber der Honigkuchen.«

»Sofort!«

Murrend erhob das Kind sich. »Hier versteht niemand Spaß.«

»Möchtest du dich umkleiden, Helene?«, fragte ihre Mutter, nachdem sie Kaspar einen weiteren strafenden Blick zugeworfen hatte. Das kam eben davon, wenn man ein Kind über die Maßen verwöhnte, aber ihr war dies gewiss nicht anzulasten, das wusste Helene.

»Nein, so schlimm ist es nicht.« Dabei war es durchaus unangenehm. Es hatte einen Moment gedauert, bis die Nässe durch Kleid, Unterkleid und Unterröcke gedrungen war, nun jedoch klebte ihr der Stoff an den Beinen, was sie nicht ausstehen konnte. Aber keinesfalls würde sie vor der ganzen Tischgesellschaft mit einem feuchten Fleck auf dem Gesäß den Raum verlassen.

Sie ließ sich Kaffee einschenken, rührte Sahne hinein und nahm sich einen Honigkuchentaler. Mit halbem Ohr lauschte sie dem Tischgespräch, das sich um Maximilians Wunsch, Ingenieur zu werden, drehte.

»Und wer soll dann das Gut weiterführen?«, fragte ihr Großvater.

»Kaspar«, antwortete Maximilian. »Außerdem kann ich ja auch hier als Ingenieur tätig sein.«

»So ein Mumpitz!«, schimpfte Wilhelm von Schletter.

»Warum denn nicht?«, sprang Constantin seinem Cousin überraschend bei. »Vielleicht kann er hier ein Heizsystem einbauen, dann schafft man es womöglich ohne Frostbeulen von der Halle bis in den Salon.«

»Ist es dir hier nicht gut genug, oder was?«, fragte Maximilian nun.

»Das ist deine Auslegung.«

»Hört auf zu streiten«, mahnte Leonhard von Schletter.

Beide schwiegen verstimmt. Um das Thema zu wechseln, fragte er nach ihrem Wehrdienst. Erst ging das gut, aber dann kam Maximilian beiläufig auf Constantins mangelnde Vasallentreue zu sprechen, und dieser fuhr prompt auf.

»Reicht dir ein blaues Auge nicht?«

»Constantin!«, donnerte Wilhelm von Schletter.

»Na, offenbar nicht«, ätzte Maximilian. »Versuch’s doch. Nächstes Mal bin ich nicht so zurückhaltend.«

»Zurückhaltend.« Erstaunlich, wie viel Verachtung man in ein Wort legen konnte, dachte Helene. »Wer sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit hinter seiner Kaisertreue versteckt, braucht einfach keine Schlagkraft.«

»Nennst du mich einen Feigling?«

»Aber nein«, antwortete Constantin seidenweich.

Maximilian sprang auf. »Wir können es gleich zu Ende bringen.«

»Schluss jetzt!«, brüllte Wilhelm von Schletter gleichzeitig mit Helenes Vater.

»Max, setz dich hin!«, befahl Leonhard.

Widerwillig ließ Maximilian sich auf seinem Stuhl nieder. Dafür stand Constantin nun auf.

»Das gilt auch für dich«, sagte ihr Großvater.

»Ich bin kein Kind mehr, das sich nicht unerlaubt vom Tisch entfernen darf.«

»Solange es dir gefällt, dich wie eines zu benehmen, werde ich dich auch wie eines behandeln. Und nun setz dich hin, ehe ich dir wegen deiner Respektlosigkeit eine Backpfeife verpasse«, drohte Wilhelm von Schletter.

Immerhin sprach es für Constantin, sich zu setzen und nicht spöttisch zu lächeln, denn jeder hier wusste wohl, dass dies eine leere Drohung war.

»So, und nun reicht euch die Hand und vertragt euch«, sagte Leonhard von Schletter.

Beide saßen da und verschränkten demonstrativ die Arme vor der Brust.

»Soll das der Großmut eines Erben des Titels Freiherr von Schletter sein?«, fragte Helenes Vater.

Zähneknirschend streckte Maximilian die Hand aus. Leonhard von Schletter sah Constantin an.

»Ich brauche keinen Großmut, mir vererbt niemand den Titel eines Freiherrn.«

Das reichte nun auch Helenes Vater, und es war zu bemerken, wie mühsam er an sich hielt. »Hat dein Vater dich zu einer solchen Respektlosigkeit erzogen?«

Auf seinen Vater wiederum, das wusste Helene, ließ Constantin nichts kommen, und so streckte er die Hand aus, und beide versöhnten sich mit stoischer Miene.

»Vielleicht könnte das hier jetzt zugehen, wie es sich bei einer vorweihnachtlichen Kaffeetafel gehört«, sagte Adela von Schletter nun. »Maximilian, Constantin, ihr habt nun ausreichend die Muskeln spielen lassen. Ich denke, ab jetzt solltet ihr schweigen und uns Frauen das Wort überlassen. Max, über dein Ingenieursstudium reden wir ein andermal.« Sie wandte sich an Victoria. »Meine Liebe, wie ist es dir in den letzten Tagen ergangen?«