Die Frauen der Familie Marquardt - Nora Elias - E-Book

Die Frauen der Familie Marquardt E-Book

Nora Elias

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Beschreibung

Köln 1908: Caspar Marquardt herrscht in seinem Kaufhaus wie ein König über die Welt des Luxuskonsums. Da er keine Söhne hat, soll ein entfernter Verwandter sein Erbe werden – eine Provokation für seine älteste Tochter Louisa, die das Geschäft gerne selbst führen möchte. Doch nicht nur ihr Schicksal ist mit dem Kaufhaus verbunden. Während sich die kapriziöse Sophie in einen Konkurrenten ihres Vaters verliebt, sucht die unehelich geborene Mathilda ihren Platz in der Gesellschaft. Folgenschwere Konflikte machen die Schwestern gleichermaßen zu Verbündeten und Rivalinnen ...

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Buch

Köln 1908: Caspar Marquardt herrscht in seinem Kaufhaus wie ein König über die Welt des Luxuskonsums. Da er keine Söhne hat, soll ein entfernter Verwandter sein Erbe werden – eine Provokation für seine älteste Tochter Louisa, die das Geschäft gerne selbst führen möchte. Doch nicht nur ihr Schicksal ist mit dem Kaufhaus verbunden. Während sich die kapriziöse Sophie in einen Konkurrenten ihres Vaters verliebt, sucht die unehelich geborene Mathilda ihren Platz in der Gesellschaft. Folgenschwere Konflikte machen die Schwestern gleichermaßen zu Verbündeten und Rivalinnen …

Informationen zu Nora Elias sowie zu weiteren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Nora Elias

Die Frauen der Familie Marquardt

Roman

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Copyright © 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München Umschlagfoto: Frauen: Vintage Germany Köln: Hulton Archive/getty images Ornament: FinePic®, München Redaktion: Regine Weißbrod BH ∙ Herstellung: kw Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-20714-4V002www.goldmann-verlag.de
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Für meine Schwestern

For there is no friend like a sisterIn calm or stormy weather;To cheer one on the tedious way,To fetch one if one goes astray.

Christina Rossetti

Personen

Familie Marquardt

Caspar Marquardt, Kölner Kaufhausbesitzer

Louisa Marquardt, seine Tochter

Sophie Marquardt, seine Tochter

Mathilda Lanters, seine uneheliche Tochter

Max Dornberg, Sohn seiner Cousine

Personal des Kaufhauses

Heinrich Falk, Dekorateur

Magda Harrenheim, Vorzimmerdame

Wilhelmina Haas, Verkäuferin in der Damenabteilung

Fritz Hoffmann, Einkaufsleiter

Oskar Schmitz, Personalleiter

Carl Reinhardt, Finanzverwalter

Anette Kruse, Verkäuferin in der Damenabteilung

Johanna Sandor, Erste Verkäuferin in der Damenabteilung

Marie Schwanitz, Verkäuferin in der Damenabteilung

Hans Walther, Vorarbeiter im Lager

Paul, Kellner

Sonstige

Arjen Verhoeven, Kaufmann aus Amsterdam

Johann von Beltz, Kölner Adliger

Nina von Beltz, seine Ehefrau

Blanche Briand, Sophies beste Freundin

Dorothea Tiehl, Louisas beste Freundin

Erich, Lakai

TEIL I

»Es war ein riesiger Jahrmarkt; das Geschäft schien vor Überfülle bersten und seinen Überfluss auf die Straße ausschütten zu wollen.«

Emile Zola, Das Paradies der Damen

1

April 1908

Das Kaufhaus Marquardt hatte eben seine Pforten geöffnet, als Louisa Marquardt erfuhr, dass man sie vom Thron stieß.

»Das kann doch unmöglich dein Ernst sein!«

»Mäßige dich«, sagte ihr Vater, der neben ihr auf der Empore unter dem Kuppeldach stand und gänzlich ungerührt schien, während er den Besucherstrom beobachtete. Sie wusste jedoch angesichts des leichten Zuckens in seinem Unterkiefer, dass ihn die Sache keineswegs so kaltließ, wie es den Anschein machte. Gleichzeitig wurde seine Entschlossenheit dadurch umso deutlicher.

»Aber Papa …«

Er hob nur leicht die Hand, gebot ihr zu schweigen. Widerwillig verstummte sie, richtete ihren Blick auf das Erdgeschoss des Kaufhauses, wo Pförtner die Flügeltüren für die Kunden aufhielten und sich das Licht der Kronleuchter funkelnd auf Marmor und Glas brach. Geschwungene Treppen, auf die die ersten Kundinnen plaudernd zustrebten, führten hinauf zu den Emporen mit dem Geländer aus schmiedeeisernen Balustraden. Abrupt wandte Louisa sich ab und ging – so gemessen es ihr möglich war – in die Modeabteilung für Damen. Dort tat sie einige tiefe Atemzüge, um ihr aufgewühltes Inneres zur Ruhe kommen zu lassen. Die irritierten Blicke der Angestellten ignorierte sie geflissentlich.

»Louisa?« Mathilda, eine junge Verkäuferin und lange Zeit ein vor seinen Töchtern gehütetes Geheimnis von Caspar Marquardt, kam auf sie zu. »Ist dir nicht wohl?«

Anstelle einer Antwort schüttelte Louisa nur vage den Kopf. Sie war sich, und das war ihr Fehler gewesen, ihrer Sache zu sicher gewesen. Schon in Kürze würde jeder wissen, dass Louisa Marquardt keine Alleinerbin mehr war.

»Er hat es dir erzählt?«

Einen Moment lang war Louisa irritiert, dann flammte der so mühsam unter einem Firnis von Fassungslosigkeit und Beherrschung gezügelte Zorn in ihr auf. »Du hast davon gewusst?«

»Es war keine leichte Entscheidung, das musst du ihm glauben.«

»Ach, es war ja klar, dass du ihn in Schutz nimmst. Weiß Sophie es womöglich auch?«

»Du weißt doch, dass dergleichen sie nicht interessiert.« Mathilda berührte ihren Arm, eine flüchtige Geste, die Trost spenden sollte.

Louisa hingegen war nicht in Stimmung, getröstet zu werden. Dergleichen wäre nur nötig, wenn sie sich mit der Situation abfinden würde, was sie nicht zu tun gedachte. Sie hatte nicht all die Jahre hart gearbeitet und jede Aussicht auf eine gewinnbringende Ehe ausgeschlagen, damit sie am Ende mit leeren Händen dastand.

»Was willst du jetzt tun?«, fragte Mathilda.

»Ich weiß es nicht«, musste Louisa gestehen.

»Fräulein Lanters«, kam es von einer Verkäuferin, »wurde der nachtblaue Seidenbrokat nicht schon geliefert?«

Mathilda wandte sich um. »Ja, gestern.«

»Hier ist er aber nicht. Und die Kundin kommt in einer halben Stunde.«

»Ist gut, ich kümmere mich darum.« Mathilda lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, wir reden später, ja?«

»Ja, sicher.« Louisa verließ die Abteilung und hörte noch, wie Mathilda jemanden hinunter zur Warenannahme schickte.

Auf der Treppe ins Erdgeschoss kamen ihr Damen entgegen, plaudernd, lachend. »Guten Morgen, Fräulein Marquardt«, begrüßte man sie, und Louisa setzte sich die Maske freundlicher Gelassenheit auf, während sie zurückgrüßte. Es war an ihr, insbesondere den weiblichen Kunden zu zeigen, dass sich die Tochter von Caspar Marquardt persönlich um alle Belange kümmerte.

Wer jedoch scherte sich an diesem Tag um ihre eigene Zufriedenheit? Während sie durch die Abteilungen im Erdgeschoss ging, mal hier, mal da nach dem Rechten sah, zuckte ihr Blick immer wieder zur Treppe, und sie rang mit sich, hochzugehen und ihren Vater zur Rede zu stellen. Die Geschäftsräume lagen im dritten Obergeschoss, und ohne Zweifel saß Caspar Marquardt bereits an seinem schweren, auf Hochglanz polierten Schreibtisch aus Nussbaumholz, um sich den Angelegenheiten des Tages zu widmen. Ob er auch nur einen Gedanken daran verschwendete, was er gerade im Begriff war, seiner ältesten Tochter anzutun? Oder saß er einfach nur da, zufrieden, weil er die Lösung für ein drängendes Problem gefunden hatte, das nach Louisas Dafürhalten allein in seiner Sicht der Dinge bestanden hatte?

Aber ihm nun eine Szene zu machen, wäre unklug und nicht zielführend. Sie würde hierbleiben, wo sie gebraucht wurde, und ihm nicht durch eine vermeintliche Pflichtvergessenheit noch Munition in die Hand geben, ihn gar in seinem Entschluss bestätigen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich bis zum Abend zu gedulden, indes der Sturm, der in ihr tobte, ein stetes Summen in ihren Ohren verursachte. Heute Abend, dachte sie, heute Abend. Und dann wollen wir ja mal sehen.

»Nein, mitternachtsblau. Das hier ist der falsche.« Mathilda stand im Hinterhof vor der Warenannahme und ging die Listen durch, blätterte zur nächsten Seite und wurde fündig. »Hier!« Sie hielt dem Lagerarbeiter die Liste entgegen. »Von Herrn Walther abgezeichnet.«

»Vielleicht hat er ja die Warennummern vertauscht«, mutmaßte der Mitarbeiter, klang jedoch wenig überzeugend. Wäre Herrn Walther eine derartige Nachlässigkeit zuzutrauen, hätte er es mitnichten zum Leiter der Warenannahme gebracht.

»Also gut.« Mathilda sah sich um, als bestünde die Möglichkeit, den Seidenbrokat inmitten dieser Mengen an Kisten und Ballen zu entdecken. »Sehen Sie zu, dass er auftaucht, ich versuche, die Kundin so lange hinzuhalten.«

»Aber Fräulein Lanters, wo soll ich denn suchen?«

»Was fragen Sie mich das?« Abrupt drehte Mathilda sich um und eilte zurück ins Kaufhaus, nickte im Vorbeigehen Louisa zu, die sich bei den Kurzwaren mit dem Abteilungsleiter, dem Rayonchef, unterhielt. Diese schenkte Mathilda nur einen knappen Blick. Sie nahm ihr ganz offensichtlich übel, dass ihr Vater sie, Mathilda, in seine Pläne eingeweiht und die geschwiegen hatte. Tagsüber konnten sie sich aus dem Weg gehen, aber es würde zweifellos kein sehr erbaulicher Abend werden.

In der Damenabteilung trat Mathilda mit einem freundlichen Lächeln auf die wartende Kundin zu. »Es kam offensichtlich im Lager zu einer Verwechslung, aber ich habe einen Mitarbeiter beauftragt, den Brokat umgehend zu holen.«

Die Frau, eine Baronin von Hardtheim, nickte mit einer Miene, als habe sie in eine Zitrone gebissen. »Und wie lange werden Sie mir dafür meine Zeit stehlen?«

»Natürlich werden wir uns beeilen. Darf ich Ihnen in der Zwischenzeit einen Kaffee servieren lassen?«

»Ah, versuchen Sie, mir jetzt auf diese Weise das Geld aus der Tasche zu ziehen?«

Mathilda behielt ihr freundliches Lächeln bei. »Der Kaffee geht selbstverständlich aufs Haus.«

»Sie haben mich angerufen und mir mitgeteilt, mein Brokat sei da, obwohl Sie ihn offenkundig noch nicht gesehen haben. Und nun soll ich meine Zeit mit Kaffeetrinken verschwenden und mir derweil womöglich noch ein paar Kleider aufschwatzen lassen?«

»Der Stoff steht auf der Liste im Wareneingang, ich bedaure die Verzögerung, aber hätte ich gewusst …«

»Hätte ich gewusst, wie man hier mit gut zahlenden Kunden umgeht, wäre ich lieber zu Tietz gegangen.«

Dann geh doch. Mathilda nickte verständnisvoll. »Ich verstehe Ihren Ärger.«

»Das bezweifle ich, sonst stünden Sie nicht dort und ich hier.« Damit wandte sich die Dame ab und ließ Mathilda einigermaßen sprachlos zurück.

»Die Gnade der hohen Geburt«, spöttelte eine der umstehenden Verkäuferinnen.

»Nicht einmal das«, sagte eine zweite. »Sie hat den Baron von Hardtheim geheiratet, mehr nicht.«

»Fräulein Lanters.« Der Lagerarbeiter eilte mit einem in Papier eingeschlagenen Ballen in die Abteilung. »Wir haben ihn gefunden.«

Mit einer knappen Handbewegung deutete Mathilda auf das Nebenzimmer. »Legen Sie ihn dort ab. Danke.« Sie schluckte ihren Ärger hinunter, setzte erneut ihr freundliches Lächeln auf und ließ den Blick durch die Abteilung schweifen, um sich zu vergewissern, dass die übrigen Kundinnen zufrieden waren.

Sie wollte sich eben dem Lager zuwenden, als ihre Aufmerksamkeit von einem Mann gefesselt wurde, der neben einer der marmornen Säulen stand und die Abteilung mit unverhohlenem Interesse beobachtete. Hochgewachsen, elegant gekleidet und von jener weltmännischen Ausstrahlung, die klar sagte, in welche Kreise er gehörte. Da ihn keine Frau begleitete und sein Gebaren auch nichts von jener anrüchigen Aufmerksamkeit hatte, die Männer gelegentlich in Damenabteilungen führte, ließ seine Anwesenheit aus Mathildas Sicht nur einen Schluss zu.

Als ihre Blicke sich trafen, lächelte sie ihn an, was er mit einem Anflug überraschter Erheiterung erwiderte, dann trat sie auf ihn zu. »Ah, Sie sind schon da? Mein Vater hat Sie angekündigt.«

»Ich bin entzückt. Allerdings wüsste ich nicht, warum er das hätte tun sollen.«

Irritiert krauste Mathilda die Stirn. »Sie sind nicht …«

»Ich befürchte, nein. Arjen Verhoeven, zu Ihren Diensten, meine Dame.«

Mathilda spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg, bemühte sich jedoch, kein weiteres Zeichen der Verlegenheit zu zeigen. »Und womit können wir Ihnen helfen, Herr Verhoeven?«

»Ich lote die Konkurrenz aus.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Sie können noch das eine oder andere lernen, was den Umgang mit dieser Art schwieriger Kundin angeht, aber ansonsten war das gar nicht mal so übel.«

»Ach, tatsächlich?« Nun war die Röte, die ihr in die Wangen kroch, nicht Verlegenheit, sondern Ärger geschuldet. »Nun, da Sie Ihre Meinung kundgetan haben, darf ich Sie bitten zu gehen. Als Mann haben Sie in einer Damenabteilung mitnichten etwas zu suchen.«

»An der Höflichkeit arbeiten wir aber noch, nicht wahr? Immerhin könnte ich mich als zahlender Kunde entpuppen.«

Mathilda rang um Fassung. »Also gut. Möchten Sie etwas für Ihre Frau oder Verlobte?«

»Keines von beidem. Das war ein reizender Versuch festzustellen, ob ich gebunden bin. Nicht gerade neu, aber charmant.«

Während Mathilda noch nach einer Antwort suchte, die vernichtend genug war, ihn in die Schranken zu weisen, fuhr er fort: »Lassen Sie sich niemals von einem männlichen Kunden derart in Verlegenheit bringen, meine Liebe. Aber wie gesagt, Sie sind noch jung, Sie lernen es.« Ein Lächeln echter Belustigung spielte um seine Mundwinkel, dann neigte er grüßend den Kopf und drehte sich um.

Einen Moment lang sah Mathilda ihm nach, wie er in nonchalanter Gelassenheit die Treppe hinaufschritt, dann wandte sie sich abrupt ab. Und nun erst kamen ihr all die schlagfertigen Antworten in den Sinn, die sie ihm auf seine Unverschämtheit hätte geben können.

In einem Bureau mit hohen Panoramafenstern herrschte Caspar Marquardt über seine persönliche Welt des Luxuskonsums. Als Junge hatte er mit einem Bauchladen begonnen und später ein Geschäft für Kolonialwaren eröffnet. Das lief so gut, dass er zunächst das Warensortiment vergrößerte, dann in großzügigere Räumlichkeiten zog und schließlich alles auf eine Karte setzte und ein Warenhaus in der Schildergasse eröffnete, das sich einer starken Konkurrenz stellen musste. Man hatte ihm nahegelegt, es mit einem anderen Standort zu versuchen, aber wo gab es mehr Kunden aller Schichten als hier, im leicht verführbaren Herzen der Stadt?

Caspar hatte reich geheiratet – ja, dieser Aspekt überwog die Liebe durchaus, daraus machte er keinen Hehl –, und seine Frau hatte ihm zwei reizende Töchter geboren: Louisa und Sophie. Und dann war da noch Mathilda, das Kind seiner wahrhaft großen Liebe. Sie hatte vor vier Jahren im Alter von fünfzehn in seinem Warenhaus als Verkäuferin angefangen, und als ihre Mutter ein Jahr darauf gestorben war, hatte Caspar die Vaterschaft öffentlich anerkannt, und Mathilda war in die prachtvolle Marquardt-Villa am Sachsenring gezogen – zum Unmut seiner Ehefrau, die diesen Umstand jedoch nur um ein Jahr überlebte. Caspar hätte gerne gesagt, dass er ihr Dahinscheiden bedauerte, aber das Einzige, was Bedauern in ihm auslöste, war, dass dies nicht schon zu Lebzeiten von Mathildas Mutter geschehen war und ihnen ein ehrbares Zusammenleben ermöglicht hatte. Seinen beiden älteren Töchtern zuliebe war jedoch kein schlechtes Wort bezüglich ihrer Mutter über seine Lippen gekommen, dabei hatte sie ihm wahrlich Anlass genug geboten.

Mit Louisa verstand Mathilda sich hervorragend, beide waren »vom selben Holz«, wie man so sagte. Sophie war zurückhaltender und hatte ein wenig Zeit gebraucht, ihre dünkelhafte Distanz abzulegen und Mathilda wie ihresgleichen zu behandeln. Im Grunde genommen konnte Caspar sich als glücklichen Mann bezeichnen. Wäre da nicht, ja, wäre da nicht die Tatsache, dass er keinen Erben hatte.

Louisa mochte sich in dieser Rolle sehen – und nichts lag ihm ferner, als sie zu enterben, sie würde ihren Teil bekommen –, aber als Haupterbin seines stetig wachsenden Konsumimperiums sah er sie nun wahrhaftig nicht. Sobald sie heiratete, würde der gesamte Besitz an ihren Mann fallen, und mochte Caspar noch so auf der Hut sein – Mitgiftjäger stand den Männern mitnichten auf die Stirn geschrieben, und allein die Vorstellung, irgendein Habenichts könne sich mit Caspars Arbeit schmücken, trieb diesen nun, mit fortschreitendem Alter, zu raschem Handeln. Mochte Louisa toben – und Caspar kannte sie gut genug, um das gemeinsame Abendessen jetzt schon zu fürchten –, seine Entscheidung war gefallen.

Ein Rest Unbehagen blieb, aber den konnte Caspar ignorieren, und so wandte er sich wieder seinen Unterlagen zu. Es war ihm jedoch nicht vergönnt, sich diesen länger als eine halbe Stunde zu widmen, denn Olga Wittgenstein, die vor einiger Zeit beschlossen hatte, neben seinen Töchtern die vierte Frau in seinem Leben zu werden, trat in sein Bureau und flötete ein »Guten Morgen«. Dass sie sich mittlerweile nicht mehr von seiner Sekretärin anmelden ließ, fand Caspar beunruhigend, dass sie nun nicht einmal anklopfte, sondern einfach eintrat, alarmierend. Offenbar war ihre Beziehung aus ihrer Sicht bereits weiter gediehen als aus seiner. Allerdings mochte er sie irgendwie, und so ließ er sie – vorerst – gewähren.

»Ich dachte mir, wir nehmen ein spätes Frühstück ein«, sagte sie.

»Eigentlich habe ich zu tun.«

»Du hast immer zu tun«, tat sie seinen Einwand ab. »Ich habe vor, ein Vermögen in deiner Damenabteilung zu lassen. Man sagte mir, es seien neue Dessous eingetroffen«, fügte sie hinzu, als sei dieses Vorhaben ein Anreiz, sofort aufzustehen und mit ihr frühstücken zu gehen. Offenbar hatte sie das Anliegen, ihm den gewünschten Erben auf herkömmlichem Weg zu beschaffen, noch nicht aufgegeben. Und es amüsierte ihn, dass sie glaubte, mit der Aussicht auf hübsche Wäsche ein Lockmittel dafür zu schaffen, als sei er ein grüner Bengel. Dabei war es nicht so, dass sie ihn nicht ansprach, sie war eine hübsche Frau in den besten Jahren, stilvoll und elegant. Nicht zu alt für Kinder – und gerade das schreckte ihn ab, denn er wollte damit nicht wieder von vorne anfangen –, aber auch nicht mehr so jung, dass er sich neben ihr wie ein alter Gockel vorkam.

»Also gut.« Er erhob sich, obwohl ihm klar war, dass sie den Erfolg auf die Anspielung mit den Dessous schieben würde.

An der Tür ließ er ihr höflich den Vortritt. »Frau Harrenheim«, sagte er an seine Sekretärin gewandt, »ich bin für gut eine Stunde im Café.«

»Ist gut, Herr Marquardt.«

Das Café befand sich im zweiten Obergeschoss des galerieartig angelegten Kaufhauses.

Ein Kellner näherte sich beflissen. »Guten Morgen, Herr Marquardt.«

»Guten Morgen, Paul.«

»Ihr Lieblingsplatz ist besetzt. Soll ich den Herrn an einen anderen Tisch bitten?«

»Einen zahlenden Kunden? Gott bewahre. Wir setzen uns dort ans Fenster.«

»Sehr wohl, Herr Marquardt.« Der Kellner begleitete sie, rückte Olga den Stuhl zurecht und zog sich zurück.

Caspar warf einen Blick auf seinen Lieblingsplatz, den schönsten Platz im Raum, halb verborgen von der marmornen Säule und hohem Farn, der eine Illusion von Privatheit vermittelte. Wenn er wusste, dass er hierherkam, ließ er den Tisch reservieren. Der Mann, der dort saß, blickte auf, lächelte und neigte den Kopf, wirkte gar, als müssten sie sich kennen. Caspar erwiderte den stummen Gruß, bemerkte einen Anflug von Erheiterung auf dem Gesicht des jungen Mannes, als habe jemand einen Witz gemacht, den außer ihm niemand verstand. Seltsamer Geselle. Caspar wandte sich wieder Olga zu, die die Karte studiert und sich rasch entschieden hatte. Vermutlich ein Kaffee, wie immer. Aber es war eine Art Ritual, dass sie jedes Mal vorher in die Karte sah.

»Ich erwarte heute Besuch«, erzählte er ihr in Plauderstimmung.

»Ah ja? Wen?« Sie neigte den Kopf und gab dem Kellner damit zu verstehen, dass er sich nähern durfte.

»Meinen Erben.«

Da Paul in eben diesem Moment an den Tisch trat, musste sie die Contenance wahren, und es war schon beinahe zum Lachen, wie mühsam sie sich beherrschte, das Lächeln nicht vom Gesicht rutschen zu lassen.

Kaum hatte der Kellner sich umgedreht, gab sie auch schon jede Verstellung auf. »Du scherzt, hoffe ich.«

Natürlich konnte sie nichts anderes denken, als dass eine andere Frau erfolgreich gewesen war, wo sie versagt hatte.

»Nein.« Diesen kleinen Anflug perfiden Vergnügens angesichts ihres nur schlecht verborgenen Entsetzens konnte er sich nicht versagen.

»Und«, er bemerkte die Schluckbewegung ihrer Kehle, »und wo hat er vorher gelebt?«

»In Frankfurt.«

Sie nickte, langsam schien sie sich wieder zu fassen. »Wie reizend für dich. Wie alt ist er?«

»Er dürfte an die dreißig sein, ich habe vergessen zu fragen.«

Jetzt wirkte sie regelrecht entgeistert. »Du hast ihn gerade erst ausfindig gemacht?«

»Nein. Er ist der Sohn einer Cousine meines Vaters. Entfernt verwandt sozusagen, der nächste männliche Abkomme.«

Ihre Brust hob und senkte sich in einem tiefen Atemzug. »Ich verstehe.« Die Erleichterung war unübersehbar, aber es hatte sich dennoch eine leise Vorsicht in ihren Blick geschlichen. »Und was ist mit Louisa?«

Da war er wieder, dieser Stich des Unbehagens. »Louisa hat in dieser Angelegenheit nichts zu sagen.«

»Aber sie ist deine älteste Tochter.«

»Eine Tochter, ganz recht.«

»Und du willst sie einfach übergehen?«

»Hier wird niemand übergangen, meine Liebe. Aber du kennst die Regeln.«

Olga nickte nur. Der Kaffee wurde serviert, und sie nahm die Tasse, nippte geziert daran und stellte sie mit einem leisen Klirren zurück auf die Untertasse. »Wie hat sie reagiert?«

»Sie hatte noch nicht die Gelegenheit zu reagieren. Der Sturm wird wohl heute Abend entfesselt.«

»Dann bekommt dein junger Erbe ja gleich den richtigen Eindruck von eurem Familienleben.«

Er schenkte ihr ein angedeutetes Lächeln. »Ich bin nicht so verrückt, ihn heute Abend an unseren Tisch zu setzen. Er wird zunächst in einem Hotel wohnen.«

»Aber vorher kommt er hierher?«

»Ja, um sich vorzustellen. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, war er noch ein kleiner Junge.«

»Und da willst du ihm das alles hier überlassen?«

»Wenn ich ihn für tauglich befinde, ja.«

»Was, wenn er Louisa zuerst begegnet?«

»Da sie ihn nicht kennt, habe ich da keinerlei Bedenken. Und überhaupt – was soll sie schon machen?«

Louisa ging langsam durch das Kaufhaus, betrachtete es, als sähe sie es zum ersten Mal, um abzuschätzen, wie es auf jemand Fremden wirken mochte. Versuchte, sich den Eindruck vorzustellen, während in ihrem Hinterkopf die Worte lauerten: All das wird dein. Vehement schob sie den Gedanken von sich. Niemals, dachte sie, niemals wird all das dein, wer auch immer du sein magst.

Über dem Erdgeschoss wölbte sich hoch oben eine Kuppel, ein Kunstwerk aus buntem Glas und Stahl. Eine breite Treppe in der Mitte des Raumes führte auf eine Plattform und teilte sich dann in zwei Treppen, die rechts und links zu den Emporen im ersten und zweiten Obergeschoss führten, von fein ziselierten Balustraden eingefasste Galerien.

Louisa kannte jede der fünfzig Abteilungen auf den mehr als elftausend Quadratmetern Verkaufsfläche, wusste, wer von den knapp sechshundert Angestellten wo arbeitete, und kannte die wichtigsten persönlich mitsamt Familien. Kurzum, all das konnte sich dieser Emporkömmling wohl mitnichten einfach so über Nacht aneignen.

Es war schwer, den ganzen Tag die Contenance zu wahren, freundlich zu bleiben, so zu tun, als sei alles wie immer. Da sie sich von Mathilda verraten fühlte – immerhin hätte diese wenigstens eine Andeutung machen können – ging sie erst nach der Mittagszeit essen, um sicher zu sein, ihrer Halbschwester nicht über den Weg zu laufen. Nachmittags kam Sophie – zwei Jahre jünger als Louisa und ein Jahr älter als Mathilda – ins Warenhaus, um ihrer liebsten Beschäftigung nachzugehen: das Geld ihres Vaters auf Umwegen zurück in seine Taschen fließen zu lassen.

Sophie indes ließ sich nicht so leicht täuschen wie die Kunden und bemerkte den Zorn unter der dünnen Tünche von Gelassenheit. »Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«

Offenbar wusste sie tatsächlich nichts. »Ach, frag nicht.«

Und Sophie wäre nicht Sophie, würde sie dergleichen Angelegenheiten länger als einen Augenblick ihrer Zeit schenken. Ihr Wesen erlaubte ihr kein Verharren bei den Sorgen anderer, und so glomm zwar Neugierde in ihren Augen auf, aber da kein sensationelles Geheimnis zu erwarten war, insistierte sie nicht. »Ich …« Sie stockte, sah an Louisa vorbei, und ihr Blick nahm jenen Ausdruck beifälliger Anerkennung an, die besagte, dass ein ansehnliches Exemplar männlicher Gattung in heiratsfähigem Alter in der Nähe war. »Er wirkt ein wenig verloren, nicht wahr?«, sagte sie in einem Ton, als sei sie nur zu bestrebt, dem Abhilfe zu schaffen.

Obwohl es sie nicht interessierte, drehte Louisa sich ebenfalls um. »Ja, nicht schlecht«, urteilte sie. Und er wirkte tatsächlich, als wolle er sich erst einmal orientieren, sah hoch zum Kuppeldach, ließ den Blick über die Emporen und hernach langsam über das Erdgeschoss gleiten, bis er an den Schwestern hängen blieb. Ja, dachte Louisa, er sah nicht übel aus. Dunkles Haar, dunkle Augen, weltgewandtes, elegantes Auftreten. Jetzt umspielte ein kleines Lächeln die Mundwinkel des Mannes, aber noch ehe er etwas sagen konnte, ging Sophie bereits auf ihn zu. »Können wir Ihnen helfen?«

»Sie arbeiten hier?«, fragte er erstaunt.

»Nein, wir gehören sozusagen zum Inventar. Sophie Marquardt.« Sie reichte ihm die Hand, die er ein wenig überrumpelt ergriff.

»Das trifft sich ja gut. Ich möchte zu Caspar Marquardt. Ihr Vater, nehme ich an?«

Jetzt hatte er Louisas Aufmerksamkeit. Konnte das wahr sein? »Ja, ganz recht.« Sie trat nun ebenfalls hinzu. »Louisa Marquardt. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Max Dornberg.«

Louisa schenkte ihm ein entzückendes Lächeln. »Es tut mir leid, aber Sie haben ihn verpasst, er musste leider schon früher gehen.« Sie spürte Sophies erstaunten Blick, ging jedoch nicht darauf ein.

»Tatsächlich?« Der Mann sah in Richtung des Lifts, schien unschlüssig. Er würde doch wohl nicht so dreist sein … Dann jedoch wandte er sich wieder ihr zu und hob in einer Geste des Bedauerns die Schultern. »Nun gut. Richten Sie ihm bitte aus, dass ich morgen früh bei ihm vorspreche?«

»Aber natürlich«, antwortete Sophie strahlend, ehe Louisa etwas sagen konnte.

Er neigte lächelnd den Kopf. »Dann einen schönen Tag noch, die Damen. Wir werden uns ja in Kürze wiedersehen.«

»Ich freue mich darauf«, kam es von Sophie, während Louisa ihm mit einem freundlichen Lächeln zunickte.

Sie sahen ihm nach, wie er auf den Ausgang zuging, dann wandte Sophie sich an Louisa. »Wo ist Papa denn?«

»In seinem Bureau.«

Sophie krauste die Stirn. »Aber du hast doch gesagt …«

»Ja, ich weiß. Du hast wirklich keine Ahnung, nicht wahr? Er hat es in der Tat nur Mathilda erzählt.«

»Wer hat Mathilda was erzählt?«

Louisa sah sich um, vergewisserte sich, dass kein Lauscher in der Nähe war. »Er wird Papas Erbe.« Louisa ließ die Worte schicksalsschwer in den Raum fallen.

Ihre Schwester jedoch wirkte unangemessen begeistert. »Ach was? Heißt das, dieser hübsche Kerl wohnt dann bei uns?«

»Sophie!«

Da kam dieser offenbar ein ganz anderer Gedanke. »Plant Papa, dich mit ihm zu verheiraten?«

Hitze stieg Louisa in die Wangen. »Rede keinen Unsinn!« So weit hatte sie noch gar nicht gedacht. Ihr Vater würde doch wohl nicht … Nein, würde er nicht, beschied sie sich im Stillen.

»Und was erhoffst du dir davon, ihn wegzuschicken? Spätestens morgen wird er wieder hier erscheinen.«

»Ach, ich weiß auch nicht. Es war ein spontaner Einfall.«

Sophie war anzusehen, was sie davon hielt, aber Louisa erwartete auch gar nicht, dass sie es verstand.

»Papa wird auf ihn warten«, sagte Sophie.

»Das ist anzunehmen.«

»Und was gewinnst du dadurch?«

Einen Aufschub? Einen kleinen Anflug von Genugtuung? Louisa zuckte mit den Schultern. Vermutlich wollte sie ihren Vater auch einfach nur provozieren.

Sophie seufzte. »Ach, Louisa, du bist immer so vernünftig, und dann dieser kindische Impuls.«

»Ich arbeite hart, und ich bin die Älteste. Ich lasse mich nicht verdrängen.«

Wieder dieses nachsichtige Seufzen. »Dann«, sagte Sophie sanft, »heirate ihn. Oder sieh zu, dass du ihn auf geschicktere Weise loswirst als gerade eben.«

Wenngleich Mathilda nicht in Armut aufgewachsen war – ihr Vater hätte das niemals zugelassen –, fiel es ihr schwer, den Wohlstand, in dem sie nun lebte, mit jener souveränen Selbstverständlichkeit anzunehmen, wie ihre Schwestern das taten. Die elegante Villa am Sachsenring mit ihren Giebeln, Erkern, dem kleinen Türmchen, dem säulenbestandenen Eingang und den Balkonen war seit drei Jahren ihr Zuhause, und doch dachte sie bei dem Wort »Zuhause« immer noch an das Häuschen in Deutz, das sie mit ihrer Mutter bewohnt hatte, mit einem lauschigen Garten, der in den der Marquardt’schen Villa vermutlich zehnmal gepasst hätte. Sie hatten eine Zugehfrau gehabt, ansonsten hatte ihre Mutter den Haushalt allein geführt.

An Personal, das allein dazu da war, einem jeden Wunsch zu erfüllen, hatte Mathilda sich erst einmal gewöhnen müssen. Ebenso daran, dass die Hausangestellten es als Affront betrachteten, wenn man die Dinge selbst in die Hand nahm.

»Möchte Fräulein Mathilda damit sagen, mein Pudding schmecke ihr nicht?«, hatte die Köchin in bebender Entrüstung gefragt, nachdem Mathilda in der Küche erschienen war, um sich welchen zu kochen. Ihr Vater hatte die Wogen geglättet und der Köchin versichert, es handle sich um ein Missverständnis. Mathilda erklärte er später, gute Köche seien schwer zu finden, und man müsse stets auf der Hut sein, dass sie einem nicht abgeworben wurden. »Daher«, so erklärte er, »sollte man sich tunlichst hüten, ihren Zorn zu erregen, indem man sich selbst in die Küche stellt und kocht.«

In dem weiblich dominierten Haushalt waren Zornausbrüche von Frauen für Caspar Marquardt ein Minenfeld, das er stets sorgsam zu umgehen suchte. An diesem Abend jedoch war jeder behutsame Vorstoß vergebens.

»Ich kann deinen Unmut verstehen«, sagte er, nachdem das Essen aufgetragen worden war. »Wahrhaftig. Aber …«

»Unmut?«, fiel Louisa ihm ins Wort. »Unmut?«

»Ich meinte …«

»Und dass du es verstehst«, rief Louisa, »möchte ich doch bezweifeln.«

»Unterbrich mich nicht ständig!«

Louisa biss sich auf die Unterlippe, die Wangen gerötet vor Wut, die Hände auf dem Tisch geballt.

»Aber«, fuhr ihr Vater fort, »du weißt, wie die Situation aussieht. Du bist eine Frau.«

Mathilda seufzte. So stellte ihr Vater sich die Entschärfung der Situation vor? Sie tauschte einen kurzen Blick mit Sophie, die nur die Augen verdrehte.

»Das war Marie Curie auch«, antwortete Louisa mit sichtlich erzwungener Ruhe.

Jetzt blitzte Belustigung in den Augen ihres Vaters auf. »Wenn du es als Professorin an die Sorbonne geschafft hast, können wir uns gerne noch einmal darüber unterhalten.«

Louisa öffnete eben den Mund zu einer Erwiderung, aber Sophie war schneller, und offensichtlich hatte sie vor, ein wenig Öl ins Feuer zu gießen. »Wo wird er eigentlich sitzen?«

Caspar Marquardt sah sie an. »Wie bitte?«

»Er wird doch sicher irgendwann auch hier wohnen. Ich meine, als dein Erbe? Und dann wird er mit uns zusammen essen. Also, wo wird er sitzen? Auf Louisas jetzigem Platz am anderen Ende des Tisches?«

»Niemals!«, kam es von Louisa, die nach dem Tod ihrer Mutter den Platz der Hausherrin eingenommen hatte.

»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht«, antwortete ihr Vater.

»Heißt das, du ziehst es in Erwägung, mich selbst in unserem Haus von ihm ersetzen zu lassen?«

»Kein Mensch ersetzt dich. Und nun schweig.«

»Warum? Damit du dich besser fühlst?«

Als Caspar Marquardt mit der Hand auf den Tisch schlug, fuhren alle drei auf. »Verdammt noch mal! Schweig!«

»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«

»Momentan ja. Du änderst nichts an meiner Entscheidung, gleich, wie du dich hier gebärdest. Also lass es jetzt gut sein.«

Louisa biss sich auf die Lippen, und einen Augenblick lang wirkte es, als sei sie den Tränen nahe.

»Warum hast du ihn eigentlich nicht mitgebracht?«, fragte Sophie rasch, als wolle sie einer Antwort Louisas zuvorkommen. »Vielleicht möchten wir ihn ja gerne kennenlernen, so als Ziehbruder.«

Ihr Vater sah sie an, schien auszuloten, ob sie ihn provozieren wollte oder es ernst meinte, und entschied sich dann für Letzteres. »Er wurde offenbar aufgehalten. Außerdem möchte ich erst einmal mit ihm sprechen und ihn mir ansehen, ehe ich die Sache offiziell mache. Danach lernt ihr ihn natürlich kennen.«

Von Louisa kam dieses Mal kein Widerspruch. Vielleicht sah sie ein, dass sie in dieser Angelegenheit so nicht weiterkam. Möglicherweise wurde ihr auch bewusst, dass es besser war, seinen Gegner zu kennen. Bei dem Thema fiel Mathilda etwas anderes ein. »Papa, kennst du einen Arjen Verhoeven?«

Ihr Vater schien erleichtert über den Themenwechsel. »Nein. Wer soll das sein?«

»Er war heute im Kaufhaus und sagte etwas davon, er wolle die Konkurrenz beobachten oder so.«

Ihr Vater wirkte skeptisch. »Ah ja? Und damit kam er zu dir? In die Damenabteilung?« Offenbar dachte er, der Mann habe eher auf eine etwas bizarre – und anrüchige – Art mit ihr anbändeln wollen.

»Na ja … Er war ein wenig dreist.«

»Inwiefern?«

»Er glaubte, er könne mir Ratschläge geben, wie ich mit Kunden umgehen sollte.«

Caspar Marquardt nickte, dann schien ihm ein Gedanke zu kommen. »Wie sah er aus?«

»Blond, hochgewachsen, schlank. Sehr elegant gekleidet.«

Einen Moment lang runzelte ihr Vater die Stirn. »Ich glaube, er ist mir heute im Café auch aufgefallen. Er hat mich auf eine seltsame Art angesehen, so, als kenne er mich und amüsiere sich darüber, dass ich ihn nicht zuordnen konnte. Dreist, wie du schon sagtest. Wenn er noch einmal in die Damenabteilung kommt, alarmiere den Sicherheitsdienst.«

Sophie nippte an ihrem Glas. »Warum hast du mir eigentlich als Einziger nichts erzählt?«

»Das war keine Absicht, Liebes, sondern hat sich so ergeben.«

»Wer wusste es als Erste?«

Caspar Marquardt, der den nächsten Streit auf sich zukommen sah, schloss für einen Moment die Augen. »Mathilda.«

»Warum?«

»Weil es das Kaufhaus betrifft, und damit hast du ja ohnehin direkt nichts zu tun. Ich hatte auch nie den Eindruck, dass dich die Belange interessieren.«

Sophie spießte ein Stück kalten Braten auf, kaute eine Weile schweigend, nippte erneut an ihrem Glas und nickte. »Also gut. Ich werde es nicht persönlich nehmen.«

»Dazu besteht auch kein Anlass«, entgegnete ihr Vater.

»Und immerhin bin ja nicht ich diejenige, die hier enterbt wird.«

»Hier wird niemand enterbt.«

»Ach nein?«, kam es angriffslustig von Louisa.

»Sieht er gut aus?«, fragte Sophie, ehe ihr Vater etwas sagen konnte.

Den irritierte diese Frage nun sichtlich. »Das weiß ich nicht. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er ein Kind.«

»Ich hoffe, er sieht gut aus«, entgegnete Sophie.

»Warum?«

Ein Lächeln spielte um ihren Mund. »Na, wenn er doch hier wohnt.«

Caspar Marquardt verengte die Augen, taxierte sie und schien dann doch nicht so recht zu wissen, was er sagen sollte. Offenbar ging ihm jetzt erst auf, dass zu der Problematik, den Familienzuzug Louisa schmackhaft zu machen, eine gänzlich anders geartete hinzukam – eine, die womöglich noch sehr viel gefährlicher war als ein kleiner Riss im Hausfrieden.

Mathilda fragte sich, ob das einfach nur Taktik war oder ob sie wirklich die Fühler ausstreckte, bei Sophie wusste man das nie so recht.

»Wie geht es Olga?«, fragte sie. Das zumindest war ein Zankapfel, den sich die drei Schwestern einvernehmlich teilten. »Ich habe sie heute recht früh im Kaufhaus gesehen.«

»Wir waren frühstücken«, antwortete ihr Vater. »Es geht ihr gut.«

»Na, da sind wir ja alle glücklich«, ätzte Louisa.

»Hast du ihr von dem neuen Erben erzählt?«, wollte Sophie wissen.

»Ja, heute Morgen.«

»Hmhm.« Sophie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann hast du es sogar Olga noch vor mir erzählt?«

Für einen Moment schloss Caspar Marquardt erneut resigniert die Augen. »Es ergab sich einfach so.«

»Ich verstehe.«

Ihr Vater winkte den Lakaien herbei. »Erich, du kannst abräumen.«

»Sehr wohl, gnädiger Herr.«

Louisa erhob sich, und ihre Schwestern taten es ihr gleich. »Gute Nacht, Papa.« Mit einem knappen Nicken in seine Richtung verließ sie den Raum.

Sophies »gute Nacht« fiel etwas gnädiger aus, aber ganz offenkundig war sie nicht versöhnt damit, dass ihr Vater selbst Olga vor ihr in seine Pläne eingeweiht hatte.

»Gute Nacht, Liebes«, antwortete er.

Mathilda zögerte. Er tat ihr leid, wie er da einen Moment lang allein am Tisch saß und sich schließlich erhob, um den Abend, wie stets, in der Bibliothek mit einer Zigarre und einem Buch ausklingen zu lassen. »Gute Nacht, Papa«, sagte sie sanft.

Er lächelte sie an. »Wenigstens du bist mir nicht böse?«

»Nein, warum sollte ich? Was aber nicht heißt, dass ich Louisa nicht verstehen kann, aber das habe ich dir gestern ja bereits gesagt.«

»Ja, das hast du. Aber du kennst meine Gründe.«

»Das heißt nicht, dass ich sie gutheiße.« Für Mathilda änderte sich nichts, sie würde auch unter Max Dornberg im Kaufhaus arbeiten, bis sie irgendwann heiratete. Und als verheiratete Frau wäre ihr das Arbeiten ohnehin verwehrt, der Neuzugang nahm ihr nichts weg.

Sie verließ das Esszimmer und holte Sophie auf der Treppe ein. »Findest du es nicht auch seltsam, dass unser neuer Familienzuwachs Papa einfach so versetzt hat?«

Sophie sah sich rasch um. »Hat er nicht«, antwortete sie. »Er ist nur zuerst Louisa begegnet.«

*

Max Dornberg empfand es als etwas befremdlich, dass ihm weder abgesagt noch ein neuer Termin vereinbart worden war. Das sprach entweder für eine gewisse Überheblichkeit des reichen Herrn, für Nachlässigkeit oder schlicht eine schlechte Kinderstube. Nach allem, was Max von seiner Mutter über den Mann gehört hatte, tendierte er zu Ersterem. Er hatte den Abend in seinem Hotelzimmer verbracht – wenigstens das zu reservieren hatte Caspar Marquardt nicht versäumt – und erwartet, wenn schon nicht am selben Abend, dann zumindest am kommenden Morgen eine Nachricht vorzufinden, die das Versäumnis erklärte. Entsprechend übel gelaunt war er, als er nach dem Frühstück aufbrach, um Caspar Marquardt einen erneuten Besuch abzustatten.

Mit forschem Schritt trat er durch die geöffneten Türen in das Kaufhaus, hatte an diesem Morgen jedoch keinen Blick für jene verschwenderische Pracht, die ihn am Tag zuvor so beeindruckt hatte. Er wandte sich an einen der beiden Pförtner. »Wo finde ich Herrn Marquardt?«

»Sein Bureau ist im dritten Obergeschoss. Zum Aufzug geht es geradeaus durch, gnädiger Herr. Einmal durch den Verkaufsraum, dann laufen Sie direkt darauf zu. Oder aber Sie nehmen die Treppen.«

Max dankte knapp und ging zum Aufzug. Wenn der alte Mann dachte, er könne mit ihm umspringen wie mit einem bedürftigen Verwandten, war er bei ihm an den Falschen geraten. Es war ja nicht so, als habe er sich darum gerissen hierherzukommen. Tatsächlich war er sich derzeit nicht einmal sicher, ob er überhaupt bleiben sollte.

Eine junge Frau in weinroter Uniform stand im Lift und fragte ihn, in welche Etage er wolle.

»Drittes Obergeschoss.«

»Sehr wohl, der Herr.« Unter anderen Umständen hätte Max ihr keckes Lächeln entzückend gefunden.

Mit einem leisen »Pling« öffneten sich die Türen schließlich wieder, und Max trat in einen mit einem orientalisch anmutenden Läufer belegten langen Korridor entlang der Balustrade. »Wie komme ich zu Herrn Marquardts Bureau?«

»Geradeaus durch und dann rechts, dort sitzt seine Vorzimmerdame. An der müssen Sie erst vorbei.« Wieder dieses Lächeln, dann schlossen sich die Türen.

Der dicke Läufer dämpfte Max’ Schritte. Er ging an Türen aus dunklem Holz vorbei, neben denen kleine, bronzene Namensschilder angebracht waren. Personalleiter, Finanzverwalter, Einkaufsleiter. Den Vorraum zu Caspar Marquardts Bureau betrat man durch einen offenen Türbogen und fand sich direkt vor dem Schreibtisch einer Frau mittleren Alters wieder, die kurz den Blick hob, »einen Moment« sagte und an einem Text weiterschrieb, der offenbar wichtiger war, als es jeder Besuch um diese Tageszeit sein konnte.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Max, der nicht gewillt war zu warten. »Ich bin …«

»Max Dornberg?« Die Frau blickte erneut auf, und es war ganz offensichtlich, dass ihr Urteil nicht zu seinen Gunsten ausfiel.

»Ganz recht.«

»Sie sind einen Tag zu spät, da macht es gewiss nichts aus, noch einen Moment zu warten. Herr Marquardt möchte den Brief in zehn Minuten zum Abzeichnen auf seinem Tisch haben.«

In Max brodelte es. Er deutete mit dem Kinn auf die einzige Tür. »Ist er dort drin?«

»Ja, wo denn sonst? Oder denken Sie, ich verstecke ihn im Aktenschrank?«

Max ging an dem Schreibtisch vorbei zur Tür, und mit einer Schnelligkeit, die er der Frau nicht zugetraut hätte, war sie auf den Beinen und an ihm vorbei. »Sie können da nicht einfach rein.«

»Dann melden Sie mich an, unverzüglich.«

Die Frau maß ihn, schien auszuloten, wie ernst es ihm war, und öffnete schließlich die Tür. »Max Dornberg«, sagte sie, und im nächsten Moment war dieser bereits an ihr vorbei.

»Danke«, sagte der Mann hinter dem Schreibtisch. »Sie können gehen.« Er maß Max mit einem Blick, der sich nicht von dem der Frau unterschied. »Wie erfreulich, dass du heute den Weg zu mir findest«, sagte Caspar Marquardt, »nachdem du es gestern offenbar nicht einmal für nötig hieltest, dein Fernbleiben zu entschuldigen. Hattest du einen Unfall? Das wäre die einzige Begründung, die ich in dem Fall gelten lassen würde.«

»Wie bitte?«

Caspar Marquardt verengte die Augen. »Nicht nur unzuverlässig, sondern auch begriffsstutzig?«

Er würde nicht bleiben, so viel war klar. Aber eine Antwort würde dieser überhebliche Wichtigtuer trotzdem erhalten. »Ich komme extra aus Frankfurt hierher«, sagte Max und trat an den Schreibtisch, so dass der Mann zu ihm aufblicken musste. »Dann muss ich mir hier sagen lassen, dass du nicht da bist, und anstatt, dass du dich dafür entschuldigst, was das Mindeste wäre, hast du die Nerven, mir Vorwürfe zu machen?«

»Was meinst du damit, ich sei nicht hier gewesen? Ich war morgens im Café zum Frühstück, das hätte meine Vorzimmerdame dir gesagt, wenn du bei ihr erschienen wärst. Den restlichen Tag war ich im Bureau und habe auf dich gewartet. Also erzähl mir keine Märchen.«

Max runzelte die Stirn.

»Und jetzt setz dich. Dieses Gehabe kenne und beherrsche ich schon ein paar Jährchen länger als du. Solange du wie ein Bittsteller vor mir stehst, ist es gleich, ob ich zu dir aufsehen muss. Überlegen ist der, der hinter dem Schreibtisch sitzt.«

Ein wenig perplex ließ Max sich auf einem der Besucherstühle nieder.

»So, und nun hör auf mit dem Geflunker und sag mir, warum du nicht gekommen bist.«

»Ich war hier, und deine Tochter hat mir gesagt, du seist nicht da.«

»Meine Tochter?«

»Ich bin den beiden begegnet, als ich das Kaufhaus betreten habe. Sie dachten offenbar, ich sei ein Kunde, und haben nach meinen Wünschen gefragt.«

»Verstehe.« Caspar Marquardt lehnte sich in seinem wuchtigen Schreibtischstuhl zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Darf ich raten, welche dich weggeschickt hat? Die Dunklere der beiden.«

»Ganz recht.«

»Na, da hat Louisa dich schön zum Narren gehalten.« Ein spöttisches Lächeln erschien auf Caspar Marquardts Lippen. »Ich hoffe, du hast daraus gelernt, bei einem Geschäftstermin grundsätzlich und immer persönlich vorzusprechen. Wenn ich nicht da bin, weiß meine Vorzimmerdame in der Regel Bescheid.«

Da Max nicht recht wusste, wie er sich da herausreden sollte, nickte er nur. Im Grunde genommen stimmte das natürlich, aber die junge Frau war sehr überzeugend gewesen, und warum hätte er Caspar Marquardts Tochter misstrauen sollen? »Aus welchem Grund hat sie das getan?«, fragte er schließlich.

»Sie hielt sich bisher für die Haupterbin.«

»Du hast deine Tochter zu meinen Gunsten enterbt?«

»Nein, sie bekommt ihr Erbe. Aber nicht in der Form, wie sie sich das vorgestellt hat.«

Nun, dass das für einen gewissen Unmut sorgte, konnte Max durchaus verstehen. Allerdings hatte sie ihn dastehen lassen wie einen Trottel.

»Aber gut«, sagte Caspar Marquardt, »reiten wir nicht länger als nötig auf der ganzen Angelegenheit herum.« Er erhob sich. »Komm, ich mache dich jetzt offiziell mit meinen Töchtern und den wichtigsten Angestellten bekannt. Danach unterhalten wir uns in Ruhe bei einer Tasse Kaffee.«

Max nickte und stand ebenfalls auf. Er ließ Caspar Marquardt den Vortritt und folgte ihm hinaus auf den Korridor.

»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Caspar Marquardt im Plauderton.

»Gut. Sie lässt schön grüßen.«

»Wir haben uns lange nicht gesehen. Irgendwie läuft man sich nur noch bei Hochzeiten und Beerdigungen über den Weg. Bedauerlich.«

Anstatt zum Aufzug schlug Caspar Marquardt den Weg zur Treppe ein. »Im zweiten Obergeschoss befinden sich unter anderem ein Café, ein Restaurant und ein Feinkostgeschäft. Außerdem betreibe ich hier weiterhin eine Abteilung mit Kolonialwaren, eine persönliche Liebhaberei, um nie zu vergessen, wie ich angefangen habe.«

Max kannte die Geschichte natürlich, immerhin war Caspar Marquardt der Einzige in der Familie, der es wirklich zu etwas gebracht hatte. Das brachte ihm Bewunderung, aber auch viel Neid ein, und der eine oder andere eingeheiratete männliche Verwandte nannte ihn schlicht den »Geldsack«. Im Grunde genommen hatte Max ein gänzlich anderes Bild von ihm gehabt. Er wusste nicht recht, was er erwartet hatte, aber diesen distinguiert wirkenden Herrn in seinem gut sitzenden Maßanzug sicher nicht. Außerdem war er deutlich jünger als erwartet.

Sie nahmen die nächste Treppe. »Hier befindet sich die Damenabteilung«, erklärte Caspar Marquardt. »Du wirst das alles noch detailliert kennenlernen, aber ich möchte dich nun meiner jüngsten Tochter vorstellen, die hier die Verkaufsleiterin ist.«

Dass Caspar Marquardts drittes Kind nicht von seiner Ehefrau stammte, war in der Familie bekannt, ein Fehltritt, über den sich die Frauen weitaus mehr aufregten als die Männer. Diese schienen Caspar seine Untreue eher nachzusehen als die Tatsache, dass er es zu Reichtum gebracht hatte.

»Mathilda, das ist Max Dornberg, Greta Dornbergs Sohn. Du erinnerst dich an sie von Tante Hannelores Beerdigung?«

Zwischen dieser Frau und den beiden vom Vortag bestand nicht die geringste geschwisterliche Ähnlichkeit. Sie war blond, hatte blaue Augen und war auf eine recht gefällige Art hübsch, die auf Max eher reizlos wirkte. Dafür hatte sie eine warmherzige Ausstrahlung, die es wiederum schwermachte, sie nicht zu mögen.

Sie lächelte ihn an und gab ihm die Hand. »Es freut mich sehr.« Ihr Händedruck war erstaunlich fest.

»Ganz meinerseits.«

»War es eine angenehme Reise?«

»Durchaus, ja.« Max sah sich in der Abteilung um, die das Flair mondäner Eleganz versprühte. Kleider waren um Puppen drapiert, zarte, pastellfarbene Nachmittagskleider, aufsehenerregende Abendroben, schlichtere Kleider für den Alltag. Ehe er jedoch dazu kam, alles genauer in Augenschein zu nehmen, setzte Caspar Marquardt seine Führung fort.

»Wir sehen uns beim Mittagessen«, verabschiedete er sich von seiner Tochter. An Max gewandt sagte er, als sie außer Hörweite waren: »Was meine, hm, besonderen familiären Umstände angeht, ist der Tratsch vermutlich zu dir durchgedrungen?«

»Falls du von Mathilda sprichst, ja.«

»Leider war ich gebunden, als ich ihre Mutter kennenlernte, und eine Scheidung kam schlechterdings nicht infrage.«

Natürlich nicht. Max kannte die Regeln.

»Nun gut, dann muss ich ja nichts mehr weiter erklären.« Sie gingen die Treppen hinunter ins Erdgeschoss. »Louisa leitet keine der Abteilungen, sondern ist sozusagen Ansprechpartnerin für alle Belange. Meist ist sie hier unten.«

Max entdeckte sie noch vor Caspar Marquardt. Sie stand im Gespräch mit einem Kunden, blickte auf, bemerkte die beiden und schenkte ihnen ein Lächeln, das nichts war als Spott und Hohn. Ihr musste bewusst sein, dass ihr gestriges Manöver durchschaut war, und offenbar gefiel ihr die Vorstellung, ihn zum Narren gemacht zu haben. Ja, dachte er, genieß den Triumph, meine Schöne, das war vorerst dein letzter. Er erwiderte das Lächeln freundlich und ging an Caspar Marquardts Seite auf die junge Frau zu. Die wechselte noch kurz ein Wort mit dem Kunden und kam ihnen entgegen.

»Guten Morgen, Papa«, sagte sie und wandte sich dann an Max. »Herr Dornberg, wir hatten ja bereits das Vergnügen.«

»Darüber sprechen wir noch«, sagte ihr Vater. »Abgesehen davon besteht zu so viel Distanz kein Anlass, immerhin ist Max ein Verwandter.«

Sie jedoch behielt ihr Lächeln bei. »Aber natürlich.« Ihr Blick wanderte zu Max. »Hattest du gestern noch einen netten Tag?«

Max neigte den Kopf. »Durchaus, ja.«

»Das ist erfreulich.«

Diese junge Frau musste nach ihrer Mutter kommen, denn Max konnte nicht viel von ihrem Vater in ihr entdecken. Dunkles Haar, graublaue Augen und eine aufregende Ausstrahlung. Unter anderen Umständen verspräche das ein vortreffliches Vergnügen.

»Du bist amüsiert?«, fragte sie.

»Nein, nur erfreut, deine Bekanntschaft zu machen.« Er nickte ihr zu. »Wir bekommen sicher noch die Gelegenheit zu ausgiebigeren Gesprächen.«

»Na, ich kann es kaum erwarten.«

Caspar Marquardt räusperte sich. »Nun gut. Ist Sophie heute hier?«

»Das weiß ich nicht, aber ich vermute, es kann nicht lange dauern.«

»Wenn du sie siehst, schick sie zu mir, wir sind in der nächsten Stunde im Café.«

Louisa neigte den Kopf. »Wie du wünschst, Papa.« Damit wandte sie sich ab und ging.

»Charakterlich eine Marquardt durch und durch«, sagte ihr Vater. »Bedauerlich, dass sie kein Mann ist.«

»Ist er schon da?«

Louisa legte die neuen Knöpfe zurück in die Auslage und sah ihre Schwester an. Sie tat erstaunt. »Zwei Tage hintereinander hier? Das ist ja selbst für dich ungewöhnlich.«

»Ach, nun komm, sag schon.«

»Ja, er ist da. Papa sagt, sie sind im Café. Die nächste halbe Stunde zumindest noch.«

»Hat Papa etwas gesagt wegen gestern?«

»Nein, das kommt sicher noch.«

»Und war unser Familienzuwachs beleidigt?«

»Nein, zumindest wirkte es nicht so. Kann aber sein, dass er nur das Gesicht wahren wollte.« Louisa musterte sie. »Du hast dich ganz schön in Schale geworfen.«

Ihre Schwester drehte sich mit einer verspielten Bewegung einmal um die eigene Achse. »Ich wollte es eigentlich gar nicht kaufen, aber das Muster ist famos.«

Es war in der Tat ein hübsches Kleid, blass geblümte, pastellgrüne Seide, eine Farbe, die hervorragend mit Sophies Teint harmonierte und ihre honigfarbenen Augen und Haare zur Geltung brachte. »Dann hoffe ich, unser lieber Anverwandter weiß deine Mühen um seine Gunst zu schätzen.«

»Also ich plane natürlich nicht, ihn zu heiraten, keine Sorge.«

Louisa hob die Brauen. »Umso besser. Wenn er dein kleiner Zeitvertreib wird, wird Papa zusehen, dass er ihn schnell wieder loswird.«

»Die Sache ist ein zweischneidiges Schwert. Wenn er bleibt, sind wir vielleicht Olga los. Geht er, wird sie weiterhin versuchen, Papa zu umgarnen und ihm einen Erben unterzuschieben.«

»Ach, ein Säugling, Sophie. Bis der alt genug ist, um etwas zu sagen zu haben, fließt viel Wasser den Rhein runter. Falls es überhaupt ein Junge wird und kein weiteres Mädchen.«

Sophie zuckte die Schultern. »Wie auch immer. Ich gehe jetzt zu Papa und schaue mir den hübschen Kerl aus der Nähe an.« Sie warf Louisa eine Kusshand zu und ging zur Treppe.

Zerstreut wandte sich Louisa wieder der Auslage der Knöpfe zu, fuhr mit den Fingern darüber und seufzte. Im Grunde genommen gab sie sich kämpferischer, als ihr zumute war. Die Wut, die am Vortag so jäh in ihr aufgeflammt war, zerfiel langsam und wich einer irritierenden Ratlosigkeit. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr arbeitete Louisa im Kaufhaus ihres Vaters, stets in dem Bewusstsein, sich beweisen zu müssen. Natürlich wusste sie, dass sie ihren Platz als Haupterbin würde aufgeben müssen, wenn ihr Vater einen Sohn bekäme, aber mit zunehmendem Alter war diese Sorge immer geringer geworden, denn Caspar Marquardt hatte des Öfteren betont, kein weiteres Kind mehr aufziehen zu wollen. Damit, dass er praktisch einen Fremden – Familie oder nicht – ihr vorzog, hatte sie niemals gerechnet.

Ein kleiner Hoffnungsfunke hatte noch in ihr gekeimt, dass Max Dornberg eine Enttäuschung für ihren Vater sein würde, aber der Frankfurter Kaufmann schien ganz nach dessen Geschmack. Auch über seine geschäftlichen Fähigkeiten hatte Caspar Marquardt sich vermutlich vorher ausgiebig informiert, sonst hätte er ihn nicht eingeladen. Hinzu kam ein weltmännisch elegantes Auftreten, das – Louisa konnte es bei allem Groll nicht leugnen – nur zu gut in dieses Kaufhaus passte. Sie musste nur an Max Dornbergs überlegenes Lächeln denken, damit der Zorn erneut in ihr aufflammte. Er wusste ebenso gut wie sie, dass sie im Grunde genommen chancenlos war.

Einer Frau standen nicht viele Möglichkeiten offen. Blieb sie unverheiratet, war sie auf ihre Verwandten angewiesen, heiratete sie, hatte sie kein Recht, ihren Namen zu behalten oder ohne Erlaubnis ihres Ehemanns eine Arbeit anzunehmen. Nicht einmal ihren Wohnsitz durfte sie wählen, und in allen Angelegenheiten hätte ihr Mann das letzte Wort. Auch ihr Vermögen ging in seinen Besitz über, was wohl der Hauptgrund für die Entscheidung ihres Vaters gewesen war. Andererseits – wenn das Kaufhaus ihr gehörte, gab es keinen Grund zu heiraten, sie wäre finanziell unabhängig. Aber davon wollte ihr Vater nichts wissen. Sophies Tändeleien gingen ihm schon gehörig gegen den Strich, und jeder der höchst annehmbaren Heiratsanträge, den sie zurückwies, war ein Ärgernis für ihn.

»Fräulein Marquardt?«

Louisa sah von den Knöpfen auf. »Ja, was gibt es?«

Annemarie Wetzel, eine junge Verkäuferin, die im letzten Jahr eingestellt worden war, stand vor ihr, die Wangen erhitzt. »Wieso wurde ich in die Kurzwarenabteilung versetzt?«

»Die Entscheidung hat der Personalleiter getroffen.«

»Aber ich wollte in die Modeabteilung.«

»Das wollten zwei weitere Damen ebenfalls, und Herr Schmitz hat sich für Fräulein Schwanitz entschieden.«

Louisa bemerkte die Schluckbewegung an der Kehle der jungen Frau und die nur mühsam beherrschte Starre in ihrer Haltung. »Warum?«

»Das müssen Sie ihn fragen, er hat mir seine Gründe nicht mitgeteilt.«

»Fräulein Lanters war zufrieden mit meiner Arbeit.«

»Das mag sein, aber Fräulein Lanters hat das nicht zu entscheiden.«

Annemarie Wetzel wandte kurz den Blick zur Treppe, dann sah sie Louisa wieder an. »Ich habe Fräulein Schwanitz vor einigen Tagen gesehen, wie sie mit Herrn Schmitz im Restaurant gesessen hat.«

Louisa hob die Brauen. »Möchten Sie wirklich diese Art von Beschuldigungen aufs Tapet bringen?«

Die junge Frau biss sich auf die Lippen.

»Gehen Sie und fragen Sie ihn nach den Gründen. Allerdings tun Sie das erst in Ihrer Pause, und bis dahin werden Sie hier bei den Kurzwaren bedienen.« Louisa winkte die Leiterin der Abteilung herbei. »Annemarie Wetzel wird Sie ab heute hier unterstützen.«

Die ältere Dame, eine erfahrene Angestellte seit dem ersten Tag des Kaufhauses, nickte und erfasste vermutlich mit einem Blick, wie widerstrebend die Jüngere ihre Stelle antrat. Dementsprechend fiel das Lächeln – ansonsten stets sonnige Herzlichkeit – aus. »Gut, dann kommen Sie mit, Fräulein Wetzel. Ich zeige Ihnen alles.«

Obwohl sich eine Etage höher die begehrtesten Abteilungen befanden – Mode aus Paris, feine Düfte aus dem Orient, Gold- und Juwelenschmuck – war Louisa am liebsten hier unten. Hier betraten die unterschiedlichsten Menschen das Kaufhaus, ehe sie sich auf die einzelnen Etagen verteilten. Es glich einem Basar, auf dem die Ehefrau des Hutmachers neben der eines Bankiers stand und feine Lederhandschuhe begutachtete, Knöpfe für das neue Kleid oder Gardinen für den Salon. Louisa mochte die Atmosphäre dieser kuppelgekrönten Verkaufsfläche, genoss es, den Kopf in den Nacken zu legen, während die Menschen wie ein Farbenmeer um sie wogten, ihr Blick an den Emporen vorbei zu dem Spiel des Lichts auf dem Kunstwerk aus Glas wanderte. Und wieder nahm dieses überwältigende Verlustgefühl ihr fast den Atem.

»Ist er schon da?«

Louisa drehte sich um. »Oh, guten Tag, Olga.«

Olga Wittgenstein hatte sich, ebenso wie Sophie, herausgeputzt, wenngleich aus gänzlich anderen Motiven. Noch war Louisa sich nicht sicher, wen sie weniger in der Familie haben mochte, entschied jedoch, dass von Olga gerade keine unmittelbare Gefahr ausging. Erst einmal musste sie diesen Max Dornberg loswerden, ehe sie ihre Bemühungen, Olga zu vergraulen, fortsetzte. »Sie sind im Café.«

»Wie ist er so?«

Louisa zuckte mit den Schultern.

»Dir muss es doch auch gegen den Strich gehen, dass er hier ist, oder nicht?«, fragte Olga.

»Na, was denkst du wohl?« Für einen Moment konnte man sogar vergessen, dass Olga ebenso wenig gewollt war, und dafür hatte nicht nur Louisa ihre Gründe. Sophie fürchtete um ihre Freiheit, wenn sie eine Stiefmutter bekam, die ihr Leben womöglich auf eine Art gängeln würde, wie ihr Vater das nicht tat. Und Mathildas Tage im Hause Marquardt wären wohl gezählt, wenn Olga das Zepter in die Hand bekäme. Natürlich würde ihr Vater sie nie auf die Straße setzen, aber wenn Olga ihr das Leben ausreichend zur Hölle machte, würde sie vermutlich freiwillig gehen. Daher verbot es sich im Grunde genommen, dass Louisa – wenn auch nur vorübergehend – gegen Max Dornberg auf Olgas Seite stand.

Olga sah zur Treppe und krauste die Stirn. »Wer hätte gedacht, dass ich einmal mit einem Mann um deinen Vater konkurrieren muss?«

Obwohl Louisa nicht danach war, musste sie lachen.

»Guten Morgen, Fräulein Marquardt«, begrüßte einer der jungen Kellner Sophie.

»Guten Morgen. Ist mein Vater noch da?«

»Auf seinem üblichen Platz, gnädiges Fräulein.«

Sophie neigte dankend den Kopf und ging weiter. Da saß er auf seinem Lieblingsplatz, zusammen mit dem jungen Mann vom Vortag. »Guten Morgen, Papa«, sagte sie und hatte prompt die Aufmerksamkeit beider Männer, die sich höflich erhoben.

»Guten Morgen, mein Liebes«, sagte Caspar Marquardt. »Max, das ist meine Tochter Sophie. Sophie, Max Dornberg.«

Der junge Mann reichte ihr die Hand. »Es freut mich sehr.«

Der Kellner eilte herbei und rückte ihr einen Stuhl zurecht und fragte, ob sie etwas wünsche.

»Eine Tasse Kaffee, bitte«, sagte sie, während sie sich setzte. Sie legte ihr Täschchen auf dem Tisch ab und wandte sich an Max Dornberg. »Ich hoffe, du bist nicht nachtragend.«

Er lächelte. »Keineswegs.«

»Sehr gut. Ich meine, es war zwar nicht meine Schuld, aber mitgefangen, mitgehangen, nicht wahr?«

»So drastisch würde ich es nicht ausdrücken.«

Sophie erwiderte sein Lächeln. »Das ist reizend von dir. Und? Zeigt Papa dir heute alles, und morgen fängst du dann offiziell hier an? In welcher Funktion überhaupt?«

»Zunächst in keiner offiziellen«, erklärte ihr Vater an Max’ Stelle. »Ich weise ihn ein, danach wird er mein Stellvertreter.«

»Anstelle von Louisa, ja?«

»Louisa war nie meine Stellvertreterin.«

»Offiziell nicht, aber inoffiziell hat jeder ihre Weisungen befolgt.«

Ihr Vater taxierte sie. »Das wird man auch weiterhin tun.«

»Vorausgesetzt Max ist nicht anderer Meinung als sie.«

Wenn die Kiefermuskeln hervortraten, wie bei ihrem Vater in diesem Moment, rang er sich die Ruhe nur mit äußerster Selbstbeherrschung ab.

»Ich trete nicht in Konkurrenz zu deiner Schwester«, sagte Max, ehe Caspar Marquardt antworten konnte. »Ich bin mir sicher, wir finden einen Weg der Einigung.«

»Ganz recht«, fügte ihr Vater hinzu. »Und nun wäre ich dir dankbar, wenn du die Belange des Kaufhauses mir überlässt. Sonst hat es dich ja auch recht wenig geschert, möchte ich meinen.«

Der Kellner erschien mit dem Kaffee und enthob so Sophie von einer entsprechenden Antwort. Dass ihr Vater ihr so über den Mund fuhr – noch dazu in Gegenwart eines praktisch Fremden – verärgerte sie, was ihm klar sein musste, wenn er ihren Blick richtig deutete. Sie rührte Sahne in den Kaffee und hob die Tasse an die Lippen, wobei sie Max über den Rand hinweg ansah.

Ihr Vater richtete sich alarmiert auf. »Was sind deine Pläne für heute?«, fragte er.

»Ach, ich weiß nicht so recht. Vielleicht besuche ich eine Freundin.«

»Ist das eines der Kleider, die ich aus Paris mitgebracht habe?«

Sophie sah an sich hinab, als sei ihr entfallen, was sie trug. »Ja.«

»Sehr hübsch.«

Mit einem Lächeln nahm sie das Versöhnungsangebot an. Immerhin, das musste sie sich eingestehen, hatte sie ihn vorher mit Absicht provoziert.

»Guten Morgen«, trällerte eine bekannte Stimme, und Sophie verdrehte die Augen.

»Olga, meine Liebe.« Ihr Vater erhob sich, Max tat es ihm gleich, während Sophie nur aufblickte. Caspar Marquardt machte sie und den jungen Mann miteinander bekannt, dann wies er auf den freien Stuhl zu seiner Linken. »Setz dich doch. Hast du schon gefrühstückt?«

»Ja. Aber eine Tasse Kaffee wäre mir recht.«

»Wie du wünschst. Paul?« Caspar Marquardt winkte den Kellner heran und gab die Bestellung auf. Über den Tisch hinweg warf Olga Sophie einen kühlen Blick zu und wandte sich dann mit einem Lächeln an Max Dornberg.

»Ist es Ihre erste Reise nach Köln?«

»Nein, ich war als Kind einmal hier mit meinen Eltern. An viel erinnere ich mich allerdings nicht mehr, nur daran, dass meine Eltern mich den Dom hochgeschleppt haben.«

»Der Ausblick war es sicher wert.«

»Dafür war ich noch zu klein, und meine Mutter weigerte sich, mich hochzuheben. Vermutlich befürchtete sie, ich könnte abstürzen.«

Wer Olga kannte, konnte in ihrer Mimik lesen wie in einem Buch. Und jetzt besagte ihr Gesichtsausdruck: wie bedauerlich. Obwohl Sophie Louisas Sorgen verstehen konnte und sie sich einen Spaß daraus machte, ihren Vater damit zu ärgern, war ihr Max doch die liebere Alternative zu Olga, die ihr noch vor wenigen Wochen zu verstehen gegeben hatte, mit dem Müßiggang und der Geldverschwendung ohne Sinn und Verstand sei Schluss, wenn sie erst hier das Sagen habe.

Olga war die Witwe eines Industriellen, den sie als sogenanntes spätes Mädchen kennengelernt und der bereits erwachsene Kinder gehabt hatte – was der Grund gewesen war, mit Olga kein weiteres zeugen zu wollen. Das Erbe ging fast gänzlich an seine Kinder, und Olga bekam eine monatliche Rente sowie eine kleine, wenn auch recht hübsche Wohnung. Nun streckte sie die Fühler nach Caspar Marquardt aus – offenbar war es ihr Schicksal, nur an Männer mit erwachsenen Kindern zu geraten, die kein weiteres Mal Vater werden wollten. Ein männlicher Erbe jedoch war das Einzige, was Olga einen sicheren Platz in der Erbfolge verschaffen würde. Ihre Brüder würden sich zwar um sie kümmern, aber irgendwie war das auch demütigend, stets als die kinderlose Tante mitversorgt zu werden. Als Mutter eines Erben hätte sie zumindest etwas Vorzeigbares im Leben erreicht.

Um nicht länger mit ihr an einem Tisch sitzen zu müssen, trank Sophie rasch ihren Kaffee aus und erhob sich. »So, Papa, dann will ich jetzt mal zusehen, dass ich dein Geld unter die Leute bringe.« Die kleine Spitze konnte sie sich nicht verkneifen, und während ihr Vater nachsichtig nickte, sah Olga sie aus leicht verengten Augen an.

Max hingegen neigte mit einem verschwörerischen Lächeln den Kopf. »Nur nicht am falschen Ende sparen.«

Sophie lachte, warf Olga eine Kusshand zu und verließ das Café.

»Hast du ihn kennengelernt?«, fragte Louisa.

»Na ja, kennengelernt ist zu viel gesagt.« Mathilda hängte ein Kleid aus cremegelber Seide auf einen Bügel. »Papa hat ihn mir vorhin vorgestellt, wir haben nur ein paar Worte gewechselt. War er verärgert wegen gestern?«

»Papa oder dieser Dornberg?«

»Letzterer. Papa vermutlich ohnehin.«

»Kann gut sein, anzumerken war es ihm nicht.«

Mathilda nickte. »Alles andere wäre wohl unsouverän gewesen. Wenn er hier in einer derart hohen Position bestehen möchte, darf er sich keine Blöße geben.« Sie wusste noch nicht, was sie von der ganzen Situation halten sollte, denn ihr war Max Dornberg lieber als Olga, wenngleich sie Louisas Standpunkt verstehen konnte.

»Olga ist übrigens auch gekommen«, sagte Louisa, als habe sie ihre Gedanken gelesen. »Sie sitzt mit Papa, Dornberg und Sophie im Café.«