Königsberg. Glänzende Zeiten - Nora Elias - E-Book

Königsberg. Glänzende Zeiten E-Book

Nora Elias

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Beschreibung

Ostpreußen Ende des 19. Jahrhunderts: Die hübsche Kaufmannstochter Adela liebt den reichen Gutsbesitzererben Carl von Reichenbach. Doch dann wird sie von ihrem Vater in eine Ehe mit dem Adligen Leonhard von Schletter genötigt. Die Verbindung steht unter keinem guten Stern. Zwar versucht sich Adela mit der neuen Situation zu arrangieren, doch die einstmals enge Freundschaft zwischen Carl und Leonhard zerbricht, und Carl sinnt auf Vergeltung. Schließlich werden auch Leonhards Schwestern von Carl in den Zwist hineingezogen. Zwischen den Familien herrscht bald eine offene Feindschaft, die ihren Schatten auch auf die nächste Generation werfen wird …

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Buch

Ostpreußen Ende des 19. Jahrhunderts: Die hübsche Kaufmannstochter Adela Lamberg liebt den reichen Gutsbesitzererben Carl von Reichenbach. Doch dann wird sie von ihrem Vater in eine Ehe mit dem Adligen Leonhard von Schletter genötigt. Die Verbindung steht unter keinem guten Stern. Zwar versucht sich Adela mit der neuen Situation zu arrangieren, doch die einstmals enge Freundschaft zwischen Carl und Leonhard zerbricht, und Carl sinnt auf Vergeltung. Schließlich werden auch Leonhards Schwestern von Carl in den Zwist hineingezogen. Zwischen den Familien herrscht bald eine offene Feindschaft, die ihren Schatten auch auf die nächste Generation werfen wird …

Informationen zu Nora Elias sowie zu weiteren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Nora Elias

––––––––––––––––––––––––

KönigsbergGlänzende Zeiten

Roman

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Copyright © 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: © Novarc Images / Alamy Stock Foto;

FinePic®, München; mauritius images / Michael Harker

Redaktion: Regine Weisbrod

BH · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-22475-2 V003

www.goldmann-verlag.de

Teil 1

1880–1885

I

»Eine solche Stadt, wie etwa ­Königsberg am Pregelflusse, kann schon für einen ­schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann.«

Immanuel Kant

September 1880

Der Altweibersommer spann silbrige Fäden in die Bäume, ein zartes Gespinst, in dem sich das Licht verfing. Magdalena lag im Laub auf dem fedrigen Boden unter den Platanen, in dem sie noch die Reste sonnenwarmer Tage spürte, als wolle dieser den Sommer ebenso beharrlich festhalten wie sie. Hier waren die geschäftigen Geräusche, die vom Gut kamen, nur eine beschaulich anmutende Kulisse, vor der es sich träge in den Tag träumen ließ.

Wäre da nicht die Stimme Gesa von Reichenbachs. »Magdalena! Ich muss mit dir sprechen!«

Aber ich doch schon lange nicht mehr mit dir, Mutter. In früher Kindheit hatten Magdalena und ihr Bruder Carl ein Spiel gespielt, das lautete: sich taub stellen. Während sie einander fortwährend lustige Geschichten erzählten, durfte der andere nicht einmal mit den Lippen zucken. Meist war es Carl, der als Erster mit dem Lachen herausgeplatzt war. Inzwischen waren sie erwachsen, aber das Spiel beherrschte Magdalena immer noch.

Schritte waren zu vernehmen, langsam und fest, unverkennbar die eines Mannes. »Was denkst du, wie lange du ihr aus dem Weg gehen kannst?«

Magdalena gab einen Moment lang das Taubstellen auf, erkannte glänzende Stiefel, in denen Reithosen steckten, und beschattete die Augen, obwohl sie seine Stimme längst erkannt hatte.

»Carl?« Die Stimme Gesa von Reichenbachs hatte sich von soldatischer Strenge in mütterliches Entzücken gewandelt. Sie kam über die Veranda in den weitläufigen Garten. »Warum kommst du nicht rein?« Abrupt blieb sie stehen. »Grundgütiger! Was für ein Benehmen! Sofort stehst du auf!«

Aufreizend langsam – Rebellion konnte auch in Gehorsam gekleidet sein – erhob Magdalena sich und strich ihr Kleid glatt. Carl grinste.

»Die von Dornheims kommen zum Nachmittagstee, und du bist noch nicht einmal passend angezogen.«

Als müsse sie den Wahrheitsgehalt dieses Vorwurfs überprüfen, sah Magdalena an sich hinab.

»Na, für die wird’s reichen«, sagte Carl und zupfte ein Laubblatt aus Magdalenas Haaren.

Gesa von Reichenbach presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und scheuchte beide vor sich her ins Haus. Wenn er sich zu offensichtlich auf die Seite seiner Schwester stellte, wurde Carl in ihren Augen stets wieder zum rotznasigen Bengel, dem es an Benehmen mangelte.

»Zieh dich um!«, befahl sie, kaum, dass sie das Haus betreten hatte. »Und du wirst nachher pünktlich sein und dich reizend präsentieren, sonst kommst du mir nicht mehr zu deinem Pferd, auf keine zehn Schritte, das verspreche ich dir.«

Magdalena tat einen tiefen Atemzug und stieß die Luft in einem langen Seufzer aus, mehr Widerspruch wagte sie nicht, denn es galt, die Konsequenzen gegen den Gewinn aufzuwiegen. Ihre Mutter war unbeirrbar gerad­linig in der Unterscheidung dessen, was sich gehörte und was nicht, und wenn sich etwas nicht gehörte, war jeder Disput müßig. Sie waren privilegiert in der Gesellschaft, das, so wurde sie nie müde zu betonen, verlangte ein gewisses Benehmen, und dieses bestand darin, nur zu tun, was sich gehörte. Insbesondere als junge Frau. Und wenn etwas nicht verboten war, so galt es doch, Maß und Ziel zu kennen.

Schon in ihrer Kindheit war jedes Aufbegehren, jeder Widerspruch damit abgewürgt worden. Magdalena, das gehört sich nicht. Carl bekam dergleichen nie zu hören, dafür galt es für ihn, die Ehre zu wahren, ein überaus komplexes Gut, das durch einen zu kurzen Rock oder eine allzu freimütige Bemerkung der Schwester schon arg ins Wanken geraten konnte, jedoch nicht den kleinsten Makel bekam, widmete der Hüter derselben sich amourösen Abenteuern.

»Wo warst du?«, fragte Magdalena, als sie an Carls Seite die Treppe zum Obergeschoss betrat und ihre Mutter außer Hörweite wusste.

»Beim alten Schneidbrenner. Ein Kaufmann aus Masuren hat eines der Füllen gekauft, die Papa letztes Jahr gezogen hat.«

»Gloriette?«

Ihr Bruder nickte nur, wohl wissend, dass Magdalena gerade diesen Jährling nur ungern ziehen ließ. »Er möchte sie für seine Tochter.«

Etwas in Carls Tonfall ließ Magdalena aufmerken, und sie wandte den Kopf, um ihn anzusehen, bemerkte, wie ein Anflug von Röte in seine Wangen kroch. Dass er schwieg und nicht in Schwärmerei geriet, nicht beteuerte, er habe »das schönste Mädchen der Welt« gesehen, gab mehr Aufschluss über die junge Frau, als Worte es vermocht hätten. Carl war beeindruckt, so tief beeindruckt, dass er offenbar befand, Worte könnten dem nicht gerecht werden.

»Lebt er hier, dieser Kaufmann?«, fragte Magdalena.

»Nein, er hat hier nur geschäftlich zu tun.«

Also würde er wohl bald wieder gehen und das beeindruckende Mädchen mit ihm. Aber begannen so nicht alle großen Liebesgeschichten?

Adela wusste die Blicke auf sich gerichtet, als sie die kastanienbraune Stute am Halteseil führte – der ihres Vaters streng und prüfend, der ihres Bruders aufmerksam und die aller übrigen Männer in trägem Begehren. Sie ignorierte sie allesamt und wandte sich der Stute zu, die die Ohren aufmerksam aufgestellt hatte und mit geblähten Nüstern witternd den Kopf hob. Leise Koseworte murmelnd streichelte Adela ihr die Stirn, strich die Ponyfransen zur Seite und klopfte den glänzenden Hals. Sie wusste, dass sie sich bei ihrem Vater für das Geschenk bedanken sollte, aber sie ahnte, dass dieses nicht ohne Hintergedanken gemacht worden war. Erfahrungsgemäß sollte es ihr eine noch zu erwartende bittere Pille versüßen.

Ihr Vater, Oskar Lamberg, sah in allem eine mögliche Kapitalanlage, selbst in seinen Kindern, da er zwar über viel Geld verfügte, nicht aber über einen großen Namen. Und was dies anging, war Adela sein größtes Kapital, darüber hatte er sie nie im Unklaren gelassen. Da war nun also dieses wunderschöne Pferd. Klug investiertes Geld in etwas, das so viel Gewinn versprach, dass es den horrenden Preis für das Tier aufwog. Innerlich begehrte Adela auf, wollte sich umdrehen und ihm entgegenschreien, dass sie das Tier nicht annahm, das ihr nun zutraulich seinen warmen Atem ins Gesicht blies.

»Und? Was sagst du?«

Sie drehte sich zu ihrem Vater um. »Sie ist wunderschön.« Das musste ihm Dank genug sein, und offenbar gab er sich damit zufrieden. Ihr Bruder Justus sah sie an, dann das Pferd, und nicht der leiseste Anklang eines ­Lächelns trat auf seine Lippen. Er kannte den Vater ebenso gut wie sie, und ihm schien wahrhaftig nicht zum Lächeln zumute zu sein.

Adela wandte Vater und Bruder den Rücken und streichelte die Stute ein weiteres Mal. Dann drehte sie sich erneut um. »Ich würde gerne einen Spaziergang machen.«

»Ja, tu das ruhig«, antwortete ihr Vater, nickte ihr zu und wandte sich zu Jakob Schneidbrenner, seinem alten Freund, auf dessen Gut sie logierten. Adela ging langsam vom Hof, versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr es sie fortzog, denn das könnte ihren Vater dazu veranlassen, ihr unvermittelt Zügel anzulegen.

Ob sie den hübschen jungen Mann noch einmal sah, der das Pferd gebracht hatte? Offizier war er, hatte ­Jakob Schneidbrenner gesagt, hatte sein Patent erworben und seine militärische Ausbildung abgeschlossen, ehe er sich den Belangen des väterlichen Gestüts widmete. Adela wusste um die Bedeutung jener Männer, denn die Gutsbesitzer gehörten zu der Gesellschaftsschicht, die die Stimmungslage im Land beeinflusste. Allerdings schien dieser junge Mann – Carl von Reichenbach – ihrem Vater nicht wichtig genug zu sein, um ihm mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als Begutachtung und Bezahlung der Stute erforderten. Er war sogar so unbedeutend, dass er die Blicke zwischen ihm und Adela nicht bemerkte, die Bestürzung beider, als sie ihre eigenen, so plötzlich aufflammenden Gefühle in den Augen des jeweils anderen gespiegelt sahen.

Schritt um Schritt entfernte Adela sich vom Schneidbrenner-Gut. Satt und grün erstreckte sich die Landschaft, gesäumt vom schwarzen Grün dichter Wälder. Adela folgte dem Weg, den sie den jungen Mann hatte nehmen sehen, und hoffte, dass dieser nicht irgendwo unvermittelt abzweigte. Es war ohnehin eine Torheit, sie konnte ja unmöglich bis zum Gestüt gehen und im Hof stehend darauf hoffen, dass er zur Tür hinaustrat.

Ihr begegnete niemand, und in der in einer – wenn auch kleinen – Stadt aufgewachsenen Adela, die emsige Geschäftigkeit auf den Straßen gewohnt war, löste diese Einsamkeit eine Mischung aus Beklemmung und Befreiung aus. Würde sie jetzt das Kleid bis über die Knie raffen und sich tanzend im Kreis drehen, würde es niemand dem Vater zutragen können. Bei dem Gedanken stieß sie ein Lachen aus, hob instinktiv die Hand an den Mund und erinnerte sich dann daran, dass hier niemand war, der sie ob des Lachens für närrisch halten könnte.

Sie tauchte in die Schatten einer langen Allee ein, auf der die Sonnenstrahlen nur mehr goldfarbene Tupfer waren, die durch das halb entlaubte Geäst zu Boden tropften. Bunte Blätter raschelten unter Adelas Füßen, und sie überkam der Impuls, wie ein Kind hindurchzulaufen, dass das Laub zu allen Seiten aufwirbelte. Ehe sie jedoch ernsthaft in Versuchung geriet, diesem kindischen Trieb nachzugeben, machte sie in der Ferne die hohe Gestalt eines Reiters aus, der sich in gemächlichem Trab näherte. Vielleicht trug sich jemand, der so unvermittelt und unbändig verliebt war, mit Ahnungen, die über die Vernunft hinausgingen, aber Adela war sich gewiss, dass er es sein musste. Langsam ging sie weiter, beobachtete den Reiter, dessen schlanke Statur nun keine Silhouette mehr war, sondern Farbe und Gestalt bekam. Und als er nahe genug war, erkannte sie ihn und wusste, ihre Ahnung hatte sie nicht getrogen. Es zog ihn zu ihr wie sie zu ihm.

»Vorsicht, sie bricht aus!«, war die Stimme des Stallmeisters Hans Wolters zu hören, gefolgt von dem Scheppern eines Blecheimers.

»Spricht er von einem Pferd oder von seiner Frau?«, witzelte Leonhard von Schletter, und seine Schwester Elisa prustete recht undamenhaft los. Von seinem Vater allerdings bekam er einen derben Klaps auf den Hinterkopf, als sei er noch ein Bub, dem Benehmen eingebläut werden musste.

»Ins Haus, Elisa«, befahl er. »Und du, Leonhard, hilf, die Stute einzufangen.«

Im Stall schien es hektisch zuzugehen, aber noch ehe ­Leonhard sich in Bewegung setzen konnte, war trommelnder Hufschlag zu hören, und im nächsten Moment jagte das Tier im fliegenden Galopp durch das Stalltor hinaus auf den Hof und von dort aus über das angrenzende Feld.

»Verdammt noch mal!«, fluchte sein Vater. »Los, fang sie ein, ehe sie sich ein Bein bricht!«

Leonhard rannte zum Stall, wo einer der Burschen bereits sein Pferd sattelte und aufzäumte. Er nahm die ­Zügel, saß auf, dann ritt er hinaus in den Hof und trieb den noch sehr jungen und ungestümen Wallach in einen raschen Trab, von dem aus er ohne weiteres Zutun in einen gestreckten Galopp fiel. Weit vorn sah er die Stute, und das flatternde Halteseil, das ihr zwischen die Beine zu geraten drohte, tat seinem Reiterherzen weh. Er trieb seinen ­Wallach an, aber obwohl dieser in einen schnellen Jagd­galopp fiel, holten sie kaum auf, und kurz darauf geriet die Stute wieder außer Sicht.

Sein Wallach drohte durchzugehen, und so parierte Leon­hard durch, damit der Galopp sich verlangsamte und weniger raumgreifend wurde. Die Stute holte er ohnehin nicht ein, da brauchte er weder sich noch sein Pferd zu gefährden. Er ritt auf eine Allee zu, zwischen deren Bäumen er das Tier hatte verschwinden sehen. Und da stand sie, das Halteseil in den Händen einer jungen Frau, die in Begleitung Carl von Reichenbachs war. Das Tier zitterte am ganzen Körper, aber die Frau schien einen beruhigenden Einfluss zu haben. Sie sprach leise auf das Tier ein, während Carl einige Schritte entfernt stand, bereit einzugreifen, falls sich die Stute befreite. Sein Hengst stand an einen Baum gebunden, unruhig, den Kopf zurückwerfend.

»Rosst die Stute?«, fragte er, als er Leonhard bemerkte und offenbar die richtigen Schlüsse auf die Herkunft des Pferdes zog.

»Ja.« Leonhard zügelte seinen Wallach und stieg ab. »Danke, dass du sie eingefangen hast.«

»Der Dank gebührt Fräulein Lamberg, die Stute hat sich von ihr einfangen lassen, während ich damit beschäftigt war, Grandeur zu beruhigen.«

Leonhard wandte sich an die junge Frau. »Vielen Dank.«

Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Gern geschehen.« Sanft klopfte sie der Stute den Hals, während diese immer wieder den Kopf hochwarf und auf der Stelle tänzelte. Leonhard bemerkte den Blick, mit dem Carl die junge Frau ansah, die in der Tat ausgesprochen hübsch war mit dem Haar in der satten Farbe von altem Gold, dem sahneweißen Teint und den grünblauen Augen. Nun, es sei ihm gegönnt, dachte er und ging zu der jungen Frau, um ihr das Seil aus der Hand zu nehmen. Er tauschte einen Blick mit Carl und zwinkerte ihm zu, dann stieg er auf seinen Wallach.

»Wir sehen uns«, verabschiedete er sich von seinem Freund.

»Auf bald«, antwortete dieser.

Leonhard ritt im Schritt zurück, was den Pferden die Gelegenheit gab zu verschnaufen. Dreißig Minuten später kam das Gut in Sicht, von Weitem imposant und hochherrschaftlich. Erst wenn man näher kam, wurden die Anzeichen des Verfalls deutlich, anfangs ein wenig verwunschen und romantisch anmutend, ehe es sich schließlich in seiner ganzen Verwahrlosung offenbarte. Schloss ­Lilienau war seit Hunderten von Jahren im Besitz der Familie, und auf Leonhard von Schletter ruhte die Erwartung, das Fami­liengut vor dem endgültigen Untergang zu bewahren. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte, aber derzeit schien es ohnehin, als sei dafür nicht mehr als seine reine Existenz notwendig.

Neben ihm stob ein Rabe aus dem Gebüsch, und die Stute scheute, aber Leonhard gelang es direkt, sie wieder zu beruhigen. Als er in den Hof ritt, kam ihm ein Stallbursche entgegen.

»Der Herr Baron hatte schon Sorge, dass die Stute auf und davon ist.«

Leonhard übergab dem Burschen das Pferd. »Das hätte ich niemals zugelassen, Peter.«

Er ließ seinen Wallach am langen Zügel auf den Stall zugehen und stieg schließlich ab. Sein Vater war weit und breit nicht zu sehen, was ihm nur recht war.

»Lass nur«, sagte er, als ein Stallbursche kam, um ihm den Wallach abzunehmen. »Ich mache das selbst.« Er führte das Pferd in die geräumige Box, nahm ihm Sattel und Zaumzeug ab, hängte dies über die hölzerne Wand, die die Box von der Stallgasse trennte, und öffnete die Tür zum Auslauf hinter dem Stall. Hernach räumte er Sattel und Trense in die Kammer. Als er sich umdrehte, bemerkte er eine Gestalt an der Tür und fuhr zusammen.

»Himmel, hast du mich erschreckt«, sagte er.

»Ich stehe hier doch nur.« Seine siebzehnjährige Schwester Karolina, die um zwei Jahre jüngere seiner beiden kleinen Schwestern, lehnte am Türrahmen, eine steile Falte zwischen den dunklen Brauen. War seine Schwester Elisa blond und von Kind an wie ein Sonnenschein gewesen, so war Karolina dunkelbraun wie er selbst, mit grauen Augen. Sie standen einander nicht sehr nahe, vermutlich, weil sie sich in vielen Dingen sehr ähnlich waren.

»Papa führt die Stute gerade dem Hengst zu«, erklärte sie.

»Ich weiß. Bei seinem letzten Versuch ist die Stute ausgebrochen.«

»Er hat mich weggeschickt, als hätte ich dergleichen auf den Viehweiden nicht Dutzende Male gesehen.«

Leonhard verließ die Kammer und zog die Tür hinter sich zu. »Na ja, auf diese Weise kann er sich weiterhin einreden, deine unschuldigen Augen vor dergleichen geschützt zu haben.«

Sie verließen den Stall, und Leonhards Blick fiel auf jenen Bereich, wo sich die Besamungsbox befand. Der Beschäler stammte aus der eigenen Zucht, eines der wenigen wirklich guten Pferde, die sein Vater gezogen hatte. Die Stute hatte er für eine Summe gekauft, die ihre Mittel eigentlich überstieg, weil er sich von ihr gute Anlagen versprach. Dabei war sein Vater wahrhaftig nicht der geborene Pferdezüchter, und erst recht konnte er nicht in Konkurrenz mit den von Reichenbachs treten, die mit ­Johannes von Reichenbach in der dritten Generation reinrassige Trakehner zogen.

»Wo willst du hin, Wildfang?«, fragte er, als Karolina sich anschickte, den Hof zu verlassen.

»Ich gehe hinten herum und sehe durchs Fenster zu.«

Er hob die Brauen. »Das will ich nicht gehört haben.«

»Hast du doch auch nicht, oder?« Sie lachte und lief davon. Kopfschüttelnd sah er ihr nach, dann ging er ins Haus.

Adela hatte noch nie zuvor geküsst, und so war dieser Moment unbeschreiblich, als Carl sie an sich zog, seinen Mund auf ihren senkte, ihn umschmeichelte, dazu brachte, sich zu öffnen. Bei ihren letzten Treffen waren sie nur spazieren gegangen, und Adela war es schon sehr gewagt und intim vorgekommen, ihm zu erlauben, ihre Hand zu nehmen. Aber sie hatte es gemocht, wie sich seine Finger in sanftem Druck um die ihren schlossen. Ebenso, wie sie es nun mochte, wenn er sie küsste.

»Ich komme mir furchtbar verrucht vor«, sagte sie, als er sich von ihr löste und sie ansah.

Ein kleines Lächeln tanzte auf seinen Lippen. »Ich finde dich wundervoll, wenn du verrucht bist.«

Sie lachte und wünschte, er würde sie noch einmal küssen, was er umgehend tat. Ein langer Kuss, der sich viel Zeit nahm und eine Begierde entfachte, die sich fremd anfühlte und tief in ihr zu nisten schien. Eine Wärme, die in den Bauch aufstieg und atemlos machte.

»Wie lange werdet ihr bleiben?«, fragte Carl, nachdem er sich von ihr gelöst hatte.

»Mein Vater ist vage geblieben. Aber so bald steht die Abreise noch nicht an.« Alles sprach dafür, dass ihr Vater in Verhandlungen war, deren Ausgang er noch nicht so recht absehen konnte. Sie hatte Justus gefragt, aber der hatte ­beteuert, nichts Genaueres zu wissen. Wenn es um rein Geschäftliches ging, weihte ihr Vater ihn in der Regel ein, und so war es überaus beunruhigend, dass dies nicht geschehen war.

»Wenn ich hier eines Tages stehe, und du kommst nicht zu unserem Treffpunkt, werde ich dir nach Johannisburg nachreisen.«

Sie musste lächeln. »Mein Vater ist ein schwieriger Mann.«

»Meiner auch – damit werde ich schon fertig.«

Jetzt lachte sie, und er zog sie an sich, um sie wieder zu küssen.

Hernach gingen sie spazieren, und Adela erzählte von Johannisburg, von ihrem prachtvollen Stadthaus und von einem sehr geselligen Leben, das sie jeden Winter zur ­Saison nach Berlin führte, wo sie Freunde ihres Vaters trafen.

»Er ist ein Geschäftsmann durch und durch. Ich fürchte, er hat nicht einen echten Freund in der Welt, aber so viele Geschäftsfreunde, dass man sie kaum zählen kann. Es war ihm stets wichtig, sich mit uns zu präsentieren, uns auf Bällen vorzuzeigen, als seien wir ein Produkt, das man bewirbt, um möglichst großen Gewinn zu erzielen.« Und genau aus dem Grund war diese Reise hierher zu dieser Jahreszeit so ungewöhnlich. Im November stand normalerweise die Jagd an und danach die Reise nach Berlin. Ihr Vater verreiste nie bereits im September – und dazu noch ohne ein Ende der Reise geplant zu haben.

Carl hatte Adela so weit begleitet, wie er es durfte, ohne Gefahr zu laufen, dass man sie zusammen sah. Sie trafen sich stets frühmorgens, weil es am unverfänglichsten war, einen Spaziergang vor dem Frühstück zu machen. Nach seinem Dafürhalten hätte es diese Heimlichtuerei nicht gebraucht, aber sie war sehr deutlich gewesen, was den Charakter ihres Vaters anging, und er wollte nicht, dass sie in Schwierigkeiten geriet. Was seinen eigenen Vater anging, machte er sich weniger Sorgen, der würde froh sein, wenn er überhaupt irgendwann an eine Ehe dachte, und hatte gelegentlich beklagt, dass Carl so wenig Interesse an einer festen Bindung zeigte.

Und nun, da Carl zum ersten Mal in seinem Leben so unbändig verliebt war, wusste er, dass es ihm unmöglich war, sich jemals mit weniger zufrieden zu geben. Er würde nur den richtigen Moment abwarten müssen, und der lag in Adelas Hand, denn es war ihr Vater, der überzeugt werden musste. Carl würde warten, selbst wenn das bedeutete, dass er ihr in der Tat hinterherreisen musste.

»Da bist du ja«, sagte sein Vater, als er in den Hof ritt. »Athena lahmt, der Neue hat sie zusammen mit Goldstein auf die Weide gebracht, und die hat gekeilt.«

»Hat ihm niemand gesagt, dass die beiden unter keinen Umständen zusammengebracht werden dürfen?«

»Angeblich schon, aber du weißt ja, wie das ist, da lässt sich der Schuldige im Nachhinein nur schwer ausmachen. Das Zureiten müssen wir nun natürlich verschieben.«

Carl ging in den Stall, wo die Stute von einem Reitburschen versorgt wurde. Der Tierarzt war auf dem Weg, und so lange musste jemand bei Athena bleiben, um die dicke, heiße Schwellung zu kühlen.

»Na, Prinzessin«, murmelte Carl und streichelte die ­weichen Nüstern, »was machst du für Sachen, hm?« Er vergewisserte sich mit einem Blick, dass der Reitbursche das Bein vernünftig versorgte, dann klopfte er der Stute noch einmal den Hals und ging ins Haus, was er jedoch umgehend bereute, da hier ein lautstarker Streit zwischen seiner Mutter und Magdalena im Gange war.

»Du bleibst augenblicklich stehen, junge Dame!«, rief seine Mutter, indes Magdalena aus dem Raum stürmte und fast in Carl hineingerannt wäre.

»Hoppla.« Er fing sie mit einem Griff um den Arm ab, als sie bei dem Versuch, ihm auszuweichen, fast ­gestolpert wäre. In ihren Augen standen Tränen, und sie befreite ­hastig ihren Arm und lief weiter.

»Bleib stehen!« Gesa von Reichenbach folgte ihr, so rasch es Kleid und Würde erlaubten. »Magdalena! Ich bin noch nicht fertig mit dir!«

Ohne sich umzudrehen rannte Magdalena durch die Halle und war zur Tür hinaus, noch ehe ihre Mutter auch nur den halben Weg zurückgelegt hatte. »Himmel, dieses Kind bringt mich noch verfrüht ins Grab!« Gesa von Reichenbach presste sich die Hand auf die Brust.

»Was ist denn passiert?«, fragte Carl.

Seine Mutter schnaubte. »Hat Dinge in ihr Tagebuch geschrieben, die ein anständiges Mädchen nicht einmal denken sollte. Gerede von Liebe, von … ich mag es nicht wiederholen. Es waren Gedanken, wie sie keine wohlerzogene junge Frau hegt.«

»Du hast ihr Tagebuch gelesen?«

»Glücklicherweise fiel es mir in die Hände, ja. Wer weiß, welche Blüten es sonst noch getrieben hätte.«

Carl sah zur Tür, durch die seine Schwester verschwunden war. »Warum hast du das getan?«

»Das ist alles, was dir dazu einfällt?«

»In der Tat, ja.«

Wieder schnaubte seine Mutter, und Carl fragte sich, ob sie wusste, wie wenig damenhaft dieser Laut klang.

»Ich sehe mal, wo sie ist«, sagte er. »Wirst du ihr das ­Tagebuch zurückgeben?«

»Das ist nicht möglich, ich habe es in den Kamin geworfen.« Kopfschüttelnd ging sie zurück ins Wohnzimmer. »Ich wüsste zu gerne, wo ich bei diesem Kind versagt habe.«

Carl sah sich im Hof um, ohne seine Schwester entdecken zu können. Im Garten war sie gewiss nicht, der war vom Salon her einsehbar, und dort würde ihre Mutter sie zuerst suchen. In den Stallungen war die Gefahr zu groß, auf ihren Vater zu stoßen. Blieb das alte Pförtnerhaus am Portal zum Hof.

Er behielt Recht, hier saß sie auf dem Boden zwischen Staub und Mäusedreck, hatte die Arme um die Brust geschlungen und weinte leise. Als er eintrat, blickte sie kurz auf und sah rasch weg, während sie die Zähne in die Unterlippe grub, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Carl ließ sich nach kurzem Zögern neben ihr nieder. »Sie denkt vermutlich, dass sie das Richtige tut«, setzte er behutsam an.

»Ach ja, tut sie das? Sie hat mein Tagebuch gelesen, meine geheimsten Gedanken. Und dann hat sie so getan, als seien sie etwas Schmutziges. Seit einem Jahr schreibe ich alles hinein, was mich bewegt, und sie verbrennt es einfach.«

Carl legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie an sich. »Ich fahre morgen nach Königsberg und kaufe dir ein neues Buch.«

»Sie wird es wieder finden und verbrennen. Und vorher wird sie das, was ich geschrieben habe, laut vorlesen und mich wegen unzüchtiger Gedanken beschimpfen. Dabei habe ich doch nur von der Liebe geträumt und davon, wie sie sich anfühlen mag. Darf ich das nun nicht einmal mehr für mich im Geheimen tun?«

»Wir wissen ja alle, wie sie ist, nicht wahr? Aber was das Buch angeht, so kannst du es in meinem Zimmer verbergen. Mein Eigentum durchsuchen – das wagt sie nicht.«

Argwöhnisch taxierte sie ihn. »Und du würdest es nicht lesen?«

»Wofür hältst du mich?« Seine Empörung war nicht gespielt, und ein kleines Lächeln zuckte auf ihrem Mund.

»Hätte ich gewusst, dass Mutter das Buch liest, hätte ich mir sehr verruchte Inhalte ausgedacht, die sie wahrhaftig schockieren.«

»Sie wirkte auch so durchaus schockiert. Woher kennst du überhaupt verruchte Dinge?« Er taxierte sie mit Strenge, die nur halb gespielt war.

»Ach, man hört so dies und das«, antwortete sie ausweichend. »Aber in meinem Tagebuch stand nichts Verruchtes, es waren nur meine Gedanken über das Leben und die Liebe. Na ja, und ich habe über alltägliche Begebenheiten geschrieben, auch darüber, wie eng das Leben für mich ist. Ich vermute, das hat Mutter auch nicht gefallen.«

Das war anzunehmen. »Und was machst du jetzt? Dich bis heute Abend hier verstecken?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Komm.« Er erhob sich, nahm ihre Hand und zog sie hoch. »So schlimm wird es schon nicht sein. Ausgetobt hat sie sich ja, und nun bin ich dabei und stehe dir zur Seite.«

»Sie wird es Vater erzählt haben.«

»Die verruchte Version deiner Gedanken, ja. Du hingegen kannst erzählen, dass du Mädchenträume gehegt hast. Und da das Tagebuch nun verbrannt ist, kann niemand etwas anderes behaupten. Abgesehen davon – du weißt doch, was er von Vertrauensbrüchen hält. Er wird Mutter eher übelnehmen, dass sie hinter deinem Rücken in dem Tagebuch liest, das er dir geschenkt hat, und dies überdies noch verbrennt, als dass er wütend auf dich sein wird, weil du es seinem Zwecke entsprechend genutzt hast.«

Sie wirkte nicht überzeugt, begleitete ihn jedoch ins Haus, wo sich ihr Vater in der Tat bereits zum späten Frühstück eingefunden hatte. Magdalena sah ihn an, die Miene in vorsichtiger Wachsamkeit. Und obwohl es ihrer Mutter nur schlecht gelang, ihre Wut und Entrüstung unter einer Miene freundlicher Aufmerksamkeit zu verbergen, so schien sie doch zu demselben Schluss gekommen zu sein wie Carl und hielt es offenbar für angebracht, das Tagebuch nicht zu erwähnen.

Dezember 1880

Adela löste sich aus Carls Kuss und stieß einen tiefen Seufzer aus. Konnte sich das Leben vollkommener anfühlen? Der Atem stand zwischen ihren Mündern, dann küssten sie sich wieder.

»Ich möchte mich deinem Vater erklären«, sagte er.

Sie zögerte. »Das wünsche ich mir auch, wir müssen nur den passenden Zeitpunkt abwarten.« Sie hegte jedoch die Befürchtung, ihr Vater würde nicht einwilligen, denn er verfolgte grundsätzlich nur Pläne, die er selbst geschmiedet hatte. Und ein junger Mann, den er schon bei seinem ersten Auftauchen der Beachtung für nicht würdig erachtet hatte, würde niemals Gnade vor seinen Augen finden.

»Was ist mit deiner Familie?« Vielleicht bestand Hoffnung, wenn Carls Vater jene Art Mann war, dem ihr Vater mit Respekt begegnete.

»Mein Vater hat mir nie etwas verwehrt«, antwortete Carl. »Er wird mir auch diesen Wunsch nicht verweigern.«

Adela nickte, obgleich ein stetes Unbehagen an ihr nagte, selbst bei Nacht, wenn sie in ihrem Bett lag und vergeblich Schlaf suchte. Ihr Vater plante etwas, das war offensichtlich, aber nicht einmal Justus war eingeweiht. Dass ihr Vater ein solches Geheimnis daraus machte, legte nahe, dass er mit ihrem Widerspruch rechnete. Nicht dass er viel darauf gab, aber es war ihm einfach lästig. Ohne seine Einwilligung zu heiraten war gewiss eine schöne Vorstellung, nichtsdestoweniger war es eben genau das – eine Vorstellung und somit nur ein Traum. Adela hätte diese Treffen mit Carl schon viel früher wieder beenden sollen. Aber es fühlte sich so wundervoll an, und ganz aufgeben mochte sie den Gedanken an eine Zukunft mit ihm eben doch noch nicht.

Langsam spazierten sie am Waldsaum entlang, Arm in Arm, als dürfe jeder sehen, dass sie zusammengehörten. Dabei hatten sie diesen Treffpunkt gewählt, gerade weil sie wussten, dass niemand sie hier sehen würde. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, und der Atem stieg in weißen Wölkchen auf, während die Welt in einer frostkalten Stille zu verharren schien. Die Vorstellung gefiel Adela. Alles war regungslos, die Zeit blieb stehen und verschaffte ihnen einen endlos währenden Augenblick des Beisammenseins.

Als der Moment kam, sich zu verabschieden, taten sie das eng umschlungen mit einem langen Kuss. Raben flatterten krächzend auf, und der endlos währende Augenblick war vorbei, die Welt hielt nicht mehr inne.

»Wo, um alles in der Welt, ist Carl?«, fragte Johannes von Reichenbach an diesem frostkühlen Morgen.

Fortgeritten, mit liebestrunkenen Augen, dachte Magdalena, schwieg jedoch und zuckte mit den Schultern. Sie stand in der Box ihrer Stute und streichelte die weichen ­Nüstern. Ein wenig beneidete sie Carl darum, einfach fortzureiten, in der Hoffnung, ein Mädchen zu treffen, in das er sich so unvermittelt verliebt hatte. Natürlich würde ihr Vater ihm eine solche Liaison, sollte sie ernst werden, nicht bewilligen, aber ein wenig träumen konnte man ja trotzdem. Die Position ihres Vaters machte es seinen Kindern schwer bis unmöglich, ihren Lebensweg selbst entscheiden zu können.

»Ist er schon lange fort?«, fragte ihr Vater nun, und Magdalena zuckte mit den Schultern. Die Seide ihres teuren Kleides raschelte leise bei jeder Bewegung, ein selt­samer Missklang zwischen den Geräuschen mahlender Mäuler, dem leisen Schnauben, dem Klirren von Zaumzeug und dem Aufflattern im Gebälk.

Ihr Vater murmelte etwas, das sie nicht verstand, das jedoch verärgert klang und zweifellos wenig schmeichelhaft für ihren Bruder war. Magdalena wandte sich wieder der Stute zu, murmelte Koseworte und lauschte der morgendlichen Geschäftigkeit.

Im Herbst, nach der Ernte, hatten die Reitjagden stattgefunden, quer über ungepflügte Stoppelfelder und Wiesen, die vorher gemäht worden waren. Auf diese Weise waren lange Galoppstrecken möglich, und die Vorfreude auf die nächste Jagd vibrierte bereits in der Luft.

Magdalena hatte an der Jagd selbst kein Interesse. Sie konnte zwar gut schießen, aber sie tat es nicht gerne. Vielmehr genoss sie den wilden Galopp über Wiesen und ­Felder, und da es in der Hand ihrer Mutter lag, ihr dieses Vergnügen zu verwehren, hatte Magdalena sich sehr folgsam und angepasst gegeben.

Sie verließ den warmen Stall, in dem es nach Leder, Pferd und Stroh roch, und atmete die Schneeluft, als sie den Hof betrat, der still im blassen Licht des frühen Tages lag. Im Haus hatte die Geschäftigkeit schon vor Anbruch des Morgens begonnen, und auch in den Ställen war die Arbeit aufgenommen worden, aber der Hof schien erst langsam zu erwachen. Marie, die Magd, verließ durch den Seiteneingang die Küche, um im Hühnerstall die Eier zu holen. Der Bauer hatte die Milch bereits in aller Frühe gebracht, und obwohl Magdalena bei dem Gedanken an frisches Brot, Kaffee, Butter und süßes Kompott einen drängenden Hunger verspürte, hatte sie es nicht eilig, ins Haus zurückzukehren.

»Du riechst nach Pferd«, begrüßte ihre Mutter sie, kaum, dass sie die Halle betreten hatte.

»Wir leben ja auch auf einem Gestüt«, antwortete Magdalena und barg die Hände in den Falten ihres Kleides.

»Wo ist dein Bruder?«

»Grandeur steht nicht in der Box.« Das musste ihrer Mutter Antwort genug sein, und diese nickte nur und wies Magdalena mit einem knappen Nicken an, ins Speisezimmer zu gehen.

Der Tisch war gedeckt, und auf der Anrichte standen Körbe mit frischem Brot, hauchdünn geschnittener Schinken, Süßrahmbutter, Kompott, Honig, Käse und Wurst. Außerdem Kannen mit Tee und Kaffee.

»Guten Morgen, gnädiges Fräulein«, sagte Hanne, eines der Stubenmädchen. Derer hatten sie im Haus acht, allesamt adrett gekleidet in Kleider, die fein grau gestreift waren, mit weißen Schürzen und ebensolchen Hauben.

Magdalena nahm Platz, als ihre Mutter gerade den Raum betrat und sich mit einem Blick davon überzeugte, dass alles ihren Wünschen entsprechend war. Kurz ­darauf folgte ihr Vater. Magdalena beobachtete, wie Hanne die Kaffeekanne von der wärmenden Haube befreite und Kaffee in eine Tasse aus weißem Porzellan einschenkte. Diesen servierte sie hernach dem Hausherrn und reichte Magdalena den Brotkorb sowie das Butterfässchen und das Kompott.

»Halte dich gerade«, sagte ihre Mutter, und Magdalena drückte das Kreuz durch und nahm die Schultern zurück.

Die bleiche Sonne malte durch die Gardinen hindurch ein Spitzenmuster auf das honigfarbene Parkett, durchbrochen von aufflatternden Schatten, als ein Rabe krächzend aufflog. In Magdalena vibrierte eine stete Unruhe, und sie frühstückte rasch, obwohl sie wusste, dass sie sich erst vom Tisch erheben durfte, wenn ihre Mutter dies erlaubte. Und wie immer war es, als erahnte diese, wie es in ihr aussah, und verlängerte absichtlich die erzwungene Ruhe. Dem Vater zuliebe beendete sie schließlich das Frühstück, und noch bevor sie Magdalena aufhalten konnte, hatte diese sich erhoben und war aus dem Raum geflohen.

In der Kammer, wo Mäntel und Stiefel standen, zog sie sich an, streifte pelzgefütterte Handschuhe über die Hände und eine Mütze übers Haar. Zu guter Letzt wickelte sie einen Wollschal um und huschte hinaus in den winter­lichen Morgen.

Grete, die Tochter des Hausverwalters, kam über den Hof gelaufen. Seit ihrer Geburt, als klar war, dass sie nicht war wie andere Kinder, lief sie einfach so nebenher mit. Sie hatte leicht schrägstehende Mandelaugen wie eine ­Asiatin, ein flächiges Gesicht und sprach nicht richtig, auch weil sich von klein auf niemand so recht darum gekümmert hatte, dass sie es lernte. Dafür hatte sie ein sonniges Gemüt und umarmte die Menschen, die sie mochte. Magdalena gehörte zu diesen, und als sie ihr »Guten Morgen, Gretchen« zurief, kam die Zehnjährige auf sie zugelaufen und drückte sie überschwänglich an sich.

Magdalena löste sich sanft von ihr, schob ihr die wirren Haarsträhnen aus dem Gesicht und setzte ihren Weg fort. In den Stallungen herrschte emsige Geschäftigkeit. Das Gut hatte über vierhundert Gestütsbedienstete und weitläufige Stallungen und Ländereien. Alles stand im Dienst der edlen Pferde, der ganze Stolz der von Reichenbachs. Die Region mit ihren futterwüchsigen Böden und den natürlichen Weiden war ideal für die Zucht. Magdalena hatte schon auf einem Pferd gesessen, bevor sie laufen konnte. Ihr Vater hatte sie oft vor sich in den Sattel gesetzt und festgehalten, wenn er über die Ländereien ritt. Später hatte sie ein eigenes Pony bekommen und als Halbwüchsige schließlich ihren ersten Trakehner, eine Stute, die sie sich aus der eigenen Zucht hatte aussuchen dürfen, womit ihr Vater auch gleich ihren Pferdeverstand auf die Probe stellte. Denn es galt, ein Pferd auszusuchen, das zu ihr passte. Und die Wahl, die sie getroffen hatte, war die richtige gewesen.

Sie ging zwischen den Stallungen hindurch zur Rückseite des Anwesens. Ein eisiger Wind stach wie Nadelspitzen in Magdalenas Wangen, und sie senkte das Kinn in ihren Schal. Außer Sichtweite des Hauses atmete sie durch, immer leichter, je weiter sie sich von dem Gut entfernte. Zwei Monate zuvor war sie sechzehn geworden, und ihr entging nicht, wie sich die Blicke und das Verhalten der jungen Männer ihr gegenüber wandelten. Sie war nicht mehr Carls lästige kleine Schwester, die von seinen Freunden geärgert und an den Zöpfen gezogen wurde. Als habe sie eine Grenze überschritten, die jeder außer ihr sah.

Vor allem ihrer Mutter schien dieses Überschreiten sehr bewusst zu sein, denn sie war nun zunehmend bestrebt, sie mit jungen Männern bedeutender Familien bekannt zu machen. Und auf einmal war Magdalena diese Aufmerksamkeit nicht mehr nur fremd, sondern auch unangenehm.

Sie blieb stehen, tat einen tiefen Atemzug und genoss die kalte Wintersonne. Vor ihr breitete sich die Welt aus, weit, unberührt und dahinter der Wald. Ein verwunschenes Reich, in das sie gerne verschwunden wäre.

Johannes von Reichenbach, feinsinniger Unterhalter und Liebhaber schöner Pferde – Trakehner, die einen der wichtigsten Pfeiler wirtschaftlicher Einflussnahme in Ostpreußen darstellten –, hatte Macht, und er wusste diese zu nutzen, um seiner Familie Geltung zu verschaffen, indem er seine Vasallentreue zum König von Preußen und nun Kaiser des Deutschen Reiches bei allem, was er tat, in den Vordergrund stellte. Er hatte geheiratet, weil es von ihm verlangt wurde, und er hatte aus demselben Grund Nachwuchs gezeugt.

Zehn Kinder hatte seine Frau von ihm empfangen, drei hatte sie vor ihrer Zeit verloren, eines war kurz nach der Geburt verstorben, weitere vier hatten nur das Kleinkind­alter erreicht. Geblieben waren ihnen Carl und Magdalena, auf die insbesondere Gesa von Reichenbach große Hoffnungen setzte. Carl würde das Gut führen, aber Magdalena bot die Möglichkeit, in eine weitere große Familie einzuheiraten, neue Verwandtschaftsbeziehungen zu knüpfen. Nun, derer gab es genug, das konnte Johannes getrost seiner Ehefrau überlassen. Er machte sich vielmehr Gedanken um Carl, der bei aller Pflichterfüllung den nötigen Ernst vermissen ließ. Erst letzte Nacht war er wieder bis in die Morgenstunden aus gewesen, zusammen mit Leon­hard von Schletter. Die Freiherren von Schletter hatten einst einen großen Namen, Macht und viel Geld besessen. Jetzt besaßen sie nur noch einen Namen.

Die von Reichenbachs hingegen waren Bürgerliche gewesen, die in der Generation von Johannes’ Großvater in den Adelsstand erhoben wurden. Die Nobilitierung war dem Umstand zu verdanken, dass Walter Reichenbach seinerzeit sein gesamtes Dasein in den Dienst des Königshauses gestellt und sich im Militär verdient gemacht hatte. Und so hielt Johannes von Reichenbach es noch heute, daher besaß sein Sohn das Offizierspatent und diente dem Kaiser. Sieben Jahre Wehrdienst waren für jeden Mann ab seinem zwanzigsten Lebensjahr Pflicht, aber man konnte seine Söhne bereits mit siebzehn in den Militärdienst schicken, daher hatte Carl seinen Wehrdienst mit vierundzwanzig abgeleistet. Johannes vertrat die Auffassung, dass eine Aufgabe gleichzeitig eine Gabe war, die entsprechend gewürdigt werden musste.

Carl musste dies jedoch offenbar immer wieder aufs Neue eingeimpft werden, denn gerade jetzt glänzte er wieder durch Abwesenheit, obwohl er auf dem Gestüt gebraucht wurde. Ich habe ihn zu sehr verwöhnt, dachte ­Johannes, ihm zu viel durchgehen lassen. Dass Carl abends gerne ausging, war ihm bekannt. Aber dass er sich bereits vor dem Frühstück davonstahl, ließ auf eine Liebschaft schließen, von der er offenbar nicht wollte, dass sie ans Licht kam. Und das konnte und würde Johannes ihm nicht erlauben.

So war er in keiner besonders nachgiebigen Stimmung, als sein Sohn eine Stunde später in gemächlichem Schritt auf den Hof geritten kam. Carl stieg vom Pferd und pfiff leise ein Lied.

»Wer ist sie?«

Das Pfeifen bekam einen Missklang, und Carl sah seinen Vater erstaunt an.

Kinder, dachte Johannes, hielten ihre Eltern stets für Narren und glaubten, so viel klüger zu sein. Als hätte man selbst dergleichen nicht auch bereits erlebt.

»Das Mädchen, für das du dich fortwährend heimlich davonstiehlst. Wer ist sie?«

»Hat Magdalena etwas erzählt?«

»Nein, aber das ist auch nicht nötig.«

Carl schwieg einen Moment lang. »Dieses Mal ist es mir ernst.«

»Tatsächlich? Und warum triffst du sie dann heimlich?«

»Weil ihr Vater es noch nicht wissen soll.«

»Spricht nicht gerade für sie.«

»Er ist ein strenger Mann, der seine eigenen Pläne für sie hat.«

»Die da wären?«

»Das hat er ihr noch nicht eröffnet.«

Vermutlich war das Mädchen anderweitig versprochen. »Wer ist sie?«

»Die Tochter eines Kaufmanns aus Masuren.«

»Ein einfacher Kaufmann? Denk nicht einmal daran.«

In Carls Augen blitzte etwas auf, das jeden Willen zum Gehorsam entbehrte. Johannes seufzte und stellte sich auf einen längeren Disput ein. Carl jedoch, und das war wahrhaft beunruhigend, entgegnete nichts, sondern neigte nur den Kopf. Nicht fügsam, sondern als stelle er klar, dass er seine Zeit abwartete.

»Weder deine Mutter noch ich werden dergleichen erlauben«, betonte Johannes. »Mit dir haben wir andere Pläne.«

Ein kaum merkliches Zucken zwischen Carls Brauen war die einzige Antwort darauf. »Er ist reich«, sagte er schließlich.

»Reich? Reich bin ich selbst.«

Daraufhin schwieg Carl, und Johannes hoffte, dass er nicht anfing, gefühlsselig von Liebe zu reden, aber sein Sohn wusste offenbar, dass diese Art von Geständnis nicht zum Ziel führen würde.

»Wie lange kennst du sie?«

»Seit drei Monaten.«

»Etwas kurz, um schon an eine Ehe zu denken, nicht wahr?«

»Du hast Mutter vier Tage vor eurer Verlobung kennengelernt.«

»Die Umstände waren anders. Wir wurden zusammengebracht, weil es für beide Familien eine nützliche Beziehung war. Du hingegen willst ein Mädchen heiraten, nach dem es dich gerade verlangt, das ist ein Unterschied.«

Carl sah ihn an, schien etwas sagen zu wollen, dann jedoch nickte er nur knapp und führte Grandeur in den Stall.

Selbst der festliche Schmuck war für das geübte Auge nur eine dünne Tünche über dem allgegenwärtigen Verfall. Seit Tagen gaben sich die beiden Stubenmädchen und der Hausdiener alle Mühe, unter der Aufsicht Berta von Schletters das Haus prunken zu lassen, dabei wirkte es jedoch wie eine alte Dame, die versuchte, mit viel Schminke das Alter zu kaschieren. Da Leonhard wusste, wie viel dieser schöne Schein seiner Mutter bedeutete, bestätigte er mehrmals, wie hübsch alles geworden war.

»Man sieht dir tatsächlich nicht an, dass du lügst«, sagte seine Schwester Karolina.

»Ich nenne es die Wahrheit ein wenig beugen.«

Karolina hob spöttisch die Brauen.

»Weißt du eigentlich, wer dieser besondere Gast ist, der heute kommen soll?«, fragte Elisa.

»Nein.« Sein Vater hatte es bei diffusen Andeutungen belassen.

»Vermutlich hat er endlich einen Bräutigam für dich gefunden«, spöttelte Karolina. Sie hatte natürlich gut reden, sie wäre erst an der Reihe, wenn Elisa verheiratet war.

Elisa hingegen riss erschrocken die Augen auf.

Es war ein mehr oder weniger offenes Geheimnis, dass sie für Carl von Reichenbach schwärmte. Der jedoch war nun leider vergeben, und so, wie er von dieser jungen Frau schwärmte, war nicht anzunehmen, dass er von ihr ablassen würde. Aber dieser Umstand würde Elisa noch früh genug bewusst werden, es brachte nichts, ihr das ausgerechnet jetzt zu sagen.

Ihre Mutter huschte mit der bebenden Nervosität eines Rennpferds um sie herum. »Vielleicht noch ein wenig mehr von dem Tannengrün?«

»Auf keinen Fall!«, riefen Elisa und Karolina wie aus einem Mund und ernteten dafür einen tadelnden Blick von Leonhard, dem die Verunsicherung seiner Mutter angesichts des vehementen Widerspruchs nicht entging.

»Wenn ihr meint …«, sagte sie zögernd.

»Es ist alles entzückend«, sagte Leonhard.

Seine Mutter schenkte ihm ein Lächeln. »Ja, das ist es, nicht wahr?« Sie wandte sich ab. »Mariechen, bring das Tannengrün in den Salon, hier benötigen wir es nicht mehr.«

»Hoffen wir«, sagte Karolina, als ihre Mutter den Speise­saal verlassen hatte, »dass die Gäste nicht in den Salon geführt werden.«

Elisa lachte, und Leonhard scheuchte beide hinaus, ehe seine Mutter zurückkam. Er verbrachte den Nachmittag damit, die Bilanzbücher zu prüfen, mit dem ernüchternden Ergebnis, dass sie mehr rote Zahlen schrieben denn je. Im Grunde hätten sie viel sparsamer haushalten müssen, aber das ging in diesem heruntergekommenen, überdimensionierten Kasten nicht. Schloss Lilienau. Einmal ein Name, der Respekt einflößte, jetzt war er angesichts der prekären finanziellen Lage der Freiherren von Schletter nur noch ein müdes Lächeln wert. Es war deprimierend, und Leonhard fragte sich nicht zum ersten Mal, wann dieser schleichende Prozess, der alles den Bach hinuntergehen ließ, begonnen hatte. Früher hatte sich der Verfall wenigstens noch einigermaßen kaschieren lassen, jetzt jedoch …

»Du wirst dir die Augen verderben.« Die Stimme seines Vaters riss Leonhard aus den Grübeleien. Er blickte auf und sah seinen alten Herrn in der Tür stehen. Es war bereits stockfinster, und das Öllicht auf dem Schreibtisch tauchte den Raum in einen milchig gelben Schimmer.

»Ich mache gleich Schluss.«

Sein Vater nickte. »Beeil dich aber. In einer Stunde kommen unsere Gäste, und ich möchte einen guten Eindruck machen.«

»Ja, natürlich.« Leonhard nahm die Schreibfeder wieder auf, und seine Hand fuhr schnell übers Papier, hinterließ in gestochen scharfer Schrift Einnahmen und Ausgaben. Eine halbe Stunde später war er fertig, legte Löschpapier auf die Seiten und erhob sich.

Pünktlich um sieben Uhr führte Markus, der Hausdiener, die Gäste in den Speisesaal, wo die Familie sie erwartete. Oskar Lamberg, wie Wilhelm von Schletter ihn vorstellte, Händler aus Masuren, in Begleitung seiner beiden Kinder, einem Sohn, der in etwa in Leonhards Alter sein musste, Justus, und jenem Mädchen, von dem Carl so schwärmte, Adela.

Sie wurden zu Tisch geführt, und Karolina warf Elisa ihren »Ich habe es doch gesagt«-Blick zu. Die wirkte, als sinke ihr der Mut, dabei sah der junge Mann wirklich gut aus, und einen freundlichen Eindruck machte er überdies, soweit sich das auf die Schnelle sagen ließ. Leonhard nickte seiner Schwester aufmunternd zu, aber dieser schien es den Appetit verdorben zu haben, denn sie nahm kaum etwas von den über ihre Verhältnisse dargebotenen Speisen.

Das Tischgespräch wurde von Wilhelm von Schletter und Oskar Lamberg bestritten, beides Männer, die sich gut darin gefielen zu reden. Leonhards Mutter schwieg, Adela schien mit ihren Gedanken ebenfalls woanders zu sein, und Karolina fing eine Unterhaltung mit Justus an, in die sie Elisa mit einbezog, wozu diese unübersehbar wenig Lust hatte. Leonhard lächelte seiner Mutter zu und aß schweigend, indes er seinen Gedanken nachhing. Ab und zu beantwortete er eine Frage, die Oskar Lamberg an ihn richtete, ansonsten zeigte er an dem Besuch kein Interesse, das über reine Höflichkeit hinausging. Er würde Carl später erzählen, wer hier zu Gast gewesen war. Sollte es tatsächlich dazu kommen, dass Elisa Justus Lamberg heiratete, wäre vielleicht auch der Weg zu Adela für Carl einfacher. Immerhin wäre er dann näher dran.

»Ihr fragt euch sicher«, sagte sein Vater, als das Dessert gereicht wurde, »was der Grund unseres heutigen Zusammenkommens ist.« Er lächelte wie ein Zauberer, der im Begriff war, das Kaninchen aus dem Hut zu holen, und nicht wusste, dass sein Trick längst durchschaut war. »An diesem Abend möchten wir die Verbindung unserer Familien offiziell machen.«

Leonhard warf Elisa einen verstohlenen Blick zu und bemerkte, dass auch Justus nicht eben glücklich aussah. Beruhigend drückte er die Hand seiner Schwester.

»Im kommenden Frühjahr wird sich Leonhard mit ­Oskars Tochter Adela vermählen.«

Leonhards Griff um Elisas Hand erschlaffte, dafür drückte diese nun zu. Sein Blick flog zu seinem Vater und von dort zu Adela. Diese wirkte nicht annähernd so schockiert wie er, vielmehr zeichnete eine leise Überraschung ihre Miene, die beherrscht war von einem Ausdruck der Resignation, als trete etwas ein, das sie insgeheim befürchtet hatte, wenngleich womöglich auf andere Art als gedacht.

»Ich freue mich sehr«, fuhr sein Vater fort, »in Adela eine dritte Tochter in mein Haus aufzunehmen.«

»Und ich gewinne einen Sohn dazu«, gab Oskar Lamberg die einzig mögliche Erwiderung darauf.

Leonhard war es, als drehe sich ihm der Magen um, und das Dessert erschien ihm Übelkeit erregend süß. Er legte den Löffel hin und sah erneut zu Adela, die nun ihrerseits den Blick gesenkt hatte. Aber niemand würde ihr das zum Vorwurf machen, vielmehr wirkte es so entzückend sittsam, dass seine Mutter mit gerührter Miene nach ihrer Hand griff.

»Ich freue mich, mein Kind.«

Trotz allem war Adela ihre Höflichkeit nicht abhandengekommen, denn sie hob den Blick und schenkte ihr ein Lächeln, das auf einen unbefangenen Beobachter schüchtern wirken musste, letztlich jedoch nichts anderes als ­distanziert und zurückhaltend war. Adela wollte hier nicht sein, das war offensichtlich. Und mochte sie sich auch ­fügen – welche Wahl hatte sie? –, so war ihr Blick in dem Moment, in dem sie Leonhards erwiderte, der eines Pferdes, dem man unvermittelt aus der Freiheit heraus Zügel angelegt hatte. Schon senkte sie wieder die Lider.

Leonhard hätte im Nachhinein nicht zu sagen vermocht, wie er es geschafft hatte, den Rest des Abends freundlich und beherrscht zu bleiben. Während er auf alle Fragen nur bemüht antwortete, war Elisa nun gelöst und in Plauderstimmung, und in Karolinas Miene malte sich unübersehbare Belustigung. Endlich war es so weit, und sie erhoben sich vom Tisch, die Herren, um im Herrenzimmer zu rauchen, die Damen, um im Salon der Hausherrin beisammenzusitzen.

Während Leonhard sich eine Zigarre ansteckte und dabei zusah, wie sich Oskar Lamberg an der Karaffe bediente, stellte er fest, dass er diesen Mann nicht mochte. Er konnte das nicht an etwas Konkretem festmachen, es war der Gesamteindruck, die Jovialität, mit der er zu ihm trat, ihm auf die Schulter klopfte, ein Gewinnerlächeln auf den Lippen. Leonhard fiel es zunehmend schwerer, seine Wut im Zaum zu halten. Dass sein Vater ihm eine Braut aussuchte – geschenkt. Aber hätte er nicht vorher mit ihm darüber sprechen können? Musste er ihn vor vollendete Tatsachen stellen? Und musste es ausgerechnet dieses Mädchen sein?

Sein Vater unterhielt sich mit dem Kaufmann, beide offen­kundig zufrieden mit sich selbst, und in fortwährendem Bekunden dieses Umstands balzten sie voreinander herum. Leonhard rauchte schweigend und sprach nur, wenn eine Frage an ihn gerichtet wurde. Schließlich kam der langersehnte Moment des Abschieds. Natürlich nicht, ohne einen erneuten Besuch zu vereinbaren, schließlich sollten die Brautleute die Möglichkeit bekommen, einander kennenzulernen. Leonhard begleitete die Gäste zusammen mit seinen Eltern und Schwestern zur Tür und wandte sich sogleich an seinen Vater.

»Hieltest du es nicht für angebracht, mir vorher davon zu erzählen?«

Karolina und Elisa wandten neugierig die Köpfe.

»Das müssen wir nicht hier besprechen, ja?« Sein Vater wies zum Arbeitszimmer hin, und Leonhard nickte knapp.

»Ich habe es dir nicht erzählt«, sagte Wilhelm von Schletter, nachdem er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, »weil ich nicht wollte, dass du ihnen womöglich direkt mit Ablehnung begegnest. Schließlich kenne ich deine Haltung zur Ehe.«

»Und die zu berücksichtigen fiel dir nicht ein, ja?«

»Nicht in diesem Fall. Oskar Lamberg ist reich, obszön reich. Und wir brauchen Geld. Im Gegenzug bekommt er die Verwandtschaft mit uns, ohne die er einfach nur ein reicher Geldsack wäre.«

»Und wenn ich sie nicht heiraten möchte?«

Sein Vater taxierte ihn mit leicht schräg gelegtem Kopf. »Was ist an ihr auszusetzen? Sie ist bildhübsch.«

Natürlich konnte Leonhard nichts davon erzählen, dass Carl ein Auge auf sie geworfen hatte und sie seine Gefühle erwiderte. Damit hätte er ihren Ruf in Gefahr und sie in große Schwierigkeiten gebracht. Also schwieg er.

»Ich erwarte keine eheliche Treue von dir«, fuhr sein Vater fort. »Aber ein paar Kinder mit ihr zu machen, vorzugsweise einen Erben, das sollte dir bei einer so hübschen Frau doch wohl gelingen, nicht wahr?«

Leonhard fuhr sich durchs Haar, dachte an Carl. Verdammt noch mal!

»Finde dich damit ab«, sagte sein Vater. »Und wenn du’s nicht tust, auch recht. Aber du heiratest sie, gleich, wie sehr es dir widerstrebt. Allerdings muss ich mich tatsächlich fragen, ob mit dir etwas nicht stimmt, wenn in dir der Gedanke, mit einer solchen Frau ins Bett zu müssen, einen solchen Widerwillen auslöst.«

Leonhard hob den Blick, verengte die Augen. »Du weißt, dass es in einer Ehe nicht allein damit getan ist, mit der Frau ins Bett zu gehen. Eine hübsche Bettgespielin kann ich jederzeit auch mit deutlich weniger Aufwand finden.«

»Na, da bin ich erleichtert, dass es daran nicht scheitern wird. Wie auch immer, die Sache ist beschlossen. Und nun sei so gut und lass mir einen Moment meine Ruhe, der Abend war anstrengend.«

Abrupt wandte Leonhard sich ab und verließ den Raum, wobei er beim Öffnen der Tür fast in seine Schwestern gelaufen wäre. »Neugier gestillt, ja?«, blaffte er sie an.

»Zumindest wissen wir nun, dass es nicht an Bettgespielinnen mangelt«, antwortete Karolina keck.

Leonhard war kurz davor, sie zu ohrfeigen. Rasch ging er an ihr vorbei und strebte auf die Treppe zu.

»Leon?«, hörte er Elisa rufen und blieb stehen, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Was?«

»Hättest du lieber gesehen, wenn man mich an Justus Lamberg verheiratet?«, fragte sie. Justus Lamberg, der – wie sie nebenbei beim Essen erfahren hatten – bereits eine Ehefrau hatte.

»Angesichts der Umstände wäre das tatsächlich die bessere Wahl gewesen«, antwortete er und setzte seinen Weg fort.

»Warum hast du mich nicht gefragt?«, äffte ihr Vater sie nach. »Weil ich wusste, dass du von Anfang an mit einem langen Gesicht am Tisch gesessen hättest, und kaum etwas wirkt abschreckender auf einen künftigen Bräutigam. So wart ihr eben beide überrascht. Abgesehen davon muss ich dich nicht fragen, du hast dich zu fügen, und damit hat es sich.«

Es war ein letztes Aufbegehren, das von Beginn an sinnlos gewesen war. Justus hatte es seinerzeit auch nichts gebracht, er hatte trotzdem die Tochter eines Berliner Industriellen heiraten müssen – eine unglückliche Allianz. Ihr Vater jedoch war ein vorausschauender Mann, der ahnte, dass die Zeit der Menschen, die er ein wenig spöttisch als »Industrieadel« bezeichnete, noch kommen würde. Solange allerdings der echte Adel noch das Sagen hatte, war es wichtig, dorthin ebenfalls die Fühler auszustrecken.

Aber gänzlich widerspruchslos wollte Adela sich dennoch nicht fügen. »Und wenn ich einen anderen Mann liebe, der ebenfalls über Einfluss verfügt?«

Der Blick ihres Vaters veränderte sich, er war auf der Hut. »Wer soll das sein?«

»Carl von Reichenbach.«

»Der Kerl, der uns das Pferd gebracht hat?«

»Ja.«

»Indiskutabel.«

»Was ist an ihm auszusetzen?«, fragte Adela.

»Er hat uns nichts zu bieten.«

»Er hat Geld!«

»Geld! Geld habe ich selbst.«

»Ich liebe ihn.«

»Grundgütiger! Kennst du mich wahrhaftig so schlecht, dass du denkst, ich mache so weitreichende Entscheidungen von weiblicher Gefühlsduselei abhängig?« Ihm kam ein anderer Gedanke. »Triffst dich heimlich mit ihm, ja?«

Sie schwieg, und im nächsten Moment landete seine Hand klatschend auf ihrer Wange. Adela zuckte zurück, und ihr schossen Tränen in die Augen. »Ja, wir treffen uns«, sagte sie rasch, als die Hand sich zum nächsten Schlag hob.

»Hat er dich angerührt?«

»Nein.«

»Das will ich für dich hoffen. Für wann seid ihr das nächste Mal verabredet?«

»Morgen vor dem Frühstück.«

»Daher also die frühen Spaziergänge. Ich habe dir zu sehr vertraut, nicht wahr? Wo ist der Treffpunkt?«

Sie beschrieb es ihm, und er nickte.

»Muss ich deutlich machen, dass du nicht hingehen wirst?«

»Nein.«

»Stattdessen werden wir übermorgen zum Mittag­essen bei den von Schletters sein, wo du deinen zukünftigen Bräutigam näher kennenlernen wirst. Und wenn du dich nicht fügst, verdresche ich dich daheim, bis du nicht mehr sitzen kannst, ungeachtet deines Alters. Hast du das verstanden?«

»Ja.«

»Wenn du diesen von Reichenbach noch einmal triffst, verdresche ich dich ebenfalls. Auch das verstanden?«

»Ja.«

»Wenn du noch einmal ohne Begleitung losziehst, dasselbe. Klar?«

»Ja.«

»Dann darfst du jetzt gehen.«