Kriegsgericht - Will Berthold - E-Book

Kriegsgericht E-Book

Will Berthold

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Beschreibung

Der deutsche Kreuzer "Pommern" ist versunken. Als Symbol von Krieg und Zerstörung ist er ruhmvoll im Kampf untergegangen. Drei der 1400 Besatzungsmitglieder treiben nun im brennenden Öl des Atlantiks. Die Männer schaffen es tatsächlich, ihr Leben zu retten, und auf die Überlebenden warten Ruhm und Bewunderung. Doch die Zeit vergeht, und was nun passiert, scheint fast noch schlimmer zu sein als Tod: Die Seeleute haben Fahnenflucht begangen und das sinkende Schiff schon Stunden vor dem Befehl verlassen. Ein Kriegsgericht will sie nun dafür zur Verantwortung ziehen und die ganze grausame Apparatur der Unmenschlichkeit wird in Gang gesetzt. Vernunft und Moral stehen Humanität und Milde gegenüber.-

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Seitenzahl: 219

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Will Berthold

Kriegsgericht

Getreubis in den Tod

SAGA Egmont

Kriegsgericht

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Will Berthold Nachlass,

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de).

Originally published 1959 by Kindler Verlag, Germany.

All rights reserved

ISBN: 9788711726969

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Die See tobte, grau und grenzenlos. Die Wellen schlugen so hoch, als ob sie den Himmel peitschen wollten. In der Unendlichkeit des Sturms trieb ein Etwas wie eine verlorene Konservenbüchse. Ergeben, ohne Kraft, ohne Widerstand, im Rhythmus des Zufalls: auf und ab, und hoch und tief, und hin und her. An dieses Etwas krallten sich vier Menschen. Sie hingen mit schwindenden Sinnen in den Schlaufen des Floßes.

Als erster machte Willmers schlapp. Langsam waren seine Hände gestorben. Dann wurden die Gedanken klamm. Er löste sich wie von selbst. Der verfluchte Atlantik bestattete einen lebenden Toten im nächsten Wellental. Die Beerdigung war schnell und formlos. Sie dauerte nur zwei Sekunden.

Sie waren nur noch zu dritt. Stamann döste. Hinze fluchte. Düren schrie. Dann krallten sie sich wieder in die Lederriemen, spuckten Salzwasser, rangen nach Luft. Das Meer fraß sich in ihre Netzhaut. In ihren Pupillen schillerte es in allen Farben: Grün, Blau, Gelb, Violett. Und dann wieder Rot. Nur Rot. Rot wie das Blut. Die drei waren die letzten. 1400 deutsche Seeleute hatte der Atlantik verschlungen. Vor ein paar Stunden.

Seitdem trieben sie hilflos dahin. Aus der Hölle in die Hölle. Aus der Angst in den Tod. Nichts war mehr da von der großen Sehnsucht nach der weiten See. Nichts mehr vom Spiel des Wassers und der Wellen, vom blauen Himmel und der frischen Brise, die nach Salz schmeckte wie nach Leben, wie nach Liebe. Nichts mehr von dem überwältigenden Gefühl an der Reling, wenn sich der Mensch streckt, atmet und lacht …

Der Atlantik war zum Mörder geworden, der in brutalem Sadismus mit den drei Überlebenden spielte. Jede Welle spürten sie wie einen Schlag auf der nackten Haut. Ihr Bewußtsein kreiste nur noch um einen Gedanken: Nicht loslassen! Nicht loslassen …! Ihre Zähne hatten sich in die Unterlippe verbissen, ihre Hände umklammerten die Lederschlaufen.

»Laß los …«, raunte und lockte die See. Nein! peitschten und prügelten Düren die Gedanken. Nein, nein, nein …

Er riß die Augen auf und starrte in das Toben. Die silbrige Gischt auf dem Kamm der Wellen war wie ihr Haar. Wie Antjes Haar. Eine Sekunde lang lockerte der Oberleutnant den Griff. Ich darf Antje das Blondhaar nicht ausreißen, dachte er verbissen. Das Floß kreiselte in einem Wirbel.

»Halt mich fest, Antje …«, stöhnte der Seeoffizier.

Dann war er bei ihr. Sekunden oder Stunden vor dem Tod. Der zu früh kam oder zu spät. Der ihn nach unten zog, um die eigene Achse schleuderte, auf einer Drehscheibe des Untergangs, auf einem Karussell des Glücks. Mit Antje. Bei ihr. Vor ihr. Auf und ab, hoch und tief, und hin und her …

Ihre Augen glänzten. Wie damals. In der Nacht. Sie waren groß und blau, glücklich und traurig. Dann die schmale Stirne, die gerade Nase, der helle Flaum am Nackenansatz. Antje … Manchmal klebten an den etwas dunkleren langen Wimpern Tränen wie Perlen. Perlen bringen Unglück. Unsinn, es waren Glückstränen …

Antje sprach halblaut. Wie immer. Sooft sich ihre Lippen bewegten, sah es aus, als ob sie ihn liebkosen wollte. Und ihre Worte streichelten ihn, ob sie nebensächlich waren oder wichtig. Und bei jeder Berührung kroch ihm die Gänsehaut des Glücks über den Rücken. Antje, stöhnten Dürens Gedanken, ich will zu dir … ich bleib’ bei dir … ich … wir … du darfst mich nicht verlassen …

Eine Sturzflut brandete über sein Gesicht. Er spürte es nicht. Er sah und hörte nur Antje.

»Du schaffst es … für uns … wir werden bald zu dritt sein … ja, glaub nur!«

»Ich tue alles, Antje, wenn ich nicht durchkomme … du weißt, ich wollte … ich hab’ dich noch gesehen … ich hab’ noch an dich gedacht als …«

Wieder riß ihn ein Wirbel herum.

»Verfluchte Scheiße!« schrie Hinze. Sein Gesicht war verzerrt. Es sah aus, als ob es lachen würde. Schaurig, fest, tapfer, verzweifelt. Er war der Härteste der drei. Düren der Ruhigste. Stamann der Jüngste. Ein Kleeblatt des Todes. Kameraden des Untergangs. Männer, die erfahren hatten, wie langsam ein Kriegsschiff stirbt. Turm um Turm, Deck um Deck, Schott um Schott. Die ›Pommern‹ war bewegungsunfähig. Ein Treffer in die Ruderanlage hatte sie gelähmt. Aber sie wehrte sich. Bis zur letzten Granate. Auch danach noch, als ihr nichts blieb, als mit ihrer Eisenhaut die britischen Einschläge aufzufangen.

Den Engländern war es gelungen, eine gewaltige Übermacht gegen das einsame Schiff zusammenzuziehen. Die ›Pommern‹ konnte nicht mehr leben und wollte noch nicht sterben. Über die Deckplatten rann das Blut. Neben den Geschütztürmen lagen die Toten wie Zementsäcke übereinander. So wie sie der Krieg zeichnete. Ohne Kopf oder Beine, mit herausgerissenen Gedärmen, mit verbrannten Augen, mit verkohlten Gesichtern. Der Heldentod roch nach Gas und Blut. Er nahm dem einen den Kopf, zerfetzte dem anderen den Magen. Er machte Geschichte an diesem Tag. Er mißbrauchte 1400 menschliche Schicksale als Stufenleiter zu neuem Frevel.

16 Uhr. Der Himmel wurde noch dunkler. Gleich kam die Nacht. Die ewige Nacht.

»Christa …«, heulte Stamann. Sein Gesicht zuckte. Er weinte. Ein Junge von neunzehn, der auf die Universität gehörte, aber nicht in den Krieg.

»Antje …«, übersetzte Düren den Aufschrei des Kameraden. 1400. Jeder hatte eine Christa. Oder eine Antje. Aber ganz bestimmt hatte jeder eine Mutter, die von morgen an Schwarz tragen mußte …

Der Atlantik gönnte sich eine Atempause. Die Schläge der See gingen langsamer. Die Wassergräben waren nicht mehr so tief und die Wellenberge nicht mehr so hoch.

Hinze pumpte die Lungen mit Luft voll. Düren griff am Lederriemen nach. Stamann wurde von dem Floß gezogen wie ein lebloser Fisch an der Angel.

»Ich … ich … kann nicht mehr«, stöhnte er, »… ich laß los …«

»Reiß dich zusammen!« schrie ihn Düren an.

»Es ist … vorbei …«, wimmerte der Oberfähnrich.

»Du feige Sau!« brüllte Hinze. »Laß doch los! … Verreck doch, du dummes Schwein!«

Es sah aus, als ob der Maat nach dem Neunzehnjährigen schlagen wollte, um ihn zur Besinnung zu bringen. Er hätte es getan. Er konnte es nicht. Loslassen hieß sterben. Festhalten auch. Wahrscheinlich …

Langsam verdämmerten alle Empfindungen. Sie wußten nicht mehr, ob das Wasser warm war oder kalt. Sie sahen einander mit drei, vier Köpfen. Und die Frauen, an die sie dachten, waren weg, weit weg. Jenseits des Lebens. Irgendwo in der Ferne. Vorbei. Aus. 1403 Kreuze konnten symbolisch auf der Seekarte eingetragen werden.

Die Nacht zog auf. Der trübe Himmel fiel endgültig in das Wasser. Himmel ohne Sterne. Atem ohne Hoffnung. Leben ohne Sinn. Die drei wußten, daß es die letzte Nacht sein mußte …

Der Hafen schläft noch. Es ist ein Sonntag. Und er bringt selbst im dritten Kriegsjahr noch Ruhe und Besinnung. Feierlich schwebt das Geläut der Glocken über Kiel. Die Menschen kommen aus den Kirchen. Sie haben ihre besten Kleider angelegt. Die meisten tragen Marineblau oder Schwarz. Sie gehen ruhig nebeneinander her, sprechen halblaut über den Alltag, von dem sie dieser Sonntag befreit. Nur die Möwen kümmern sich nicht um die Zeit. Sie kreischen, segeln über die Kaimauer, balgen sich um Futter. Der Himmel hat aufgeklart. Die Wintersonne ist hell und kalt. Gestern regnete es noch. Heute glänzt das Licht, als wollte es den Kameras der Wochenschau Beihilfe leisten.

Ein Mädchen steht an der Mauer. Der Wind spielt mit seinen Haaren, weht den weiten Mantel gegen die zierliche Figur. Das Gesicht ist kindlich, die Lippen sind weich und gewölbt; Lippen, die noch nichts erlebten, die in Träumen schlummern. In den Augen dieses Mädchens glänzt das Glück, schwimmt erfüllte Hoffnung.

Der Herr neben der Siebzehnjährigen steht ein paar Meter entfernt, obwohl er zu ihr gehört. Er ist ernst, würdig, gefaßt. Und doch ergriffen. Ein Mann, ein Mensch, den das Leben hart machte. Seine Züge halten nach Bangen und Grauen, Grübeln und Verzweiflung fest. Aber plötzliches, unerwartetes Glück hat dieses männliche Gesicht mit einem hellen Glanz überzogen.

Die beiden, der alte Mann und das junge Mädchen, starren auf den Platz, wo eine Ehrenkompanie der Kriegsmarine angetreten ist. Ein paar Zivilisten stehen herum. Sie kümmern sich kaum um das militärische Schauspiel. Zu oft haben sie es gesehen. Der Admiral spricht in dem getragenen, gehobenen Ton, der markige Kampfszenen in der Wochenschau begleitet. Nur ein paar Schulkinder werden von der Schau gebannt.

Admiral Zirler faßt sich kurz. Er hat persönlich die Begrüßung des heimgekehrten U 61 übernommen. Bärtige, blutjunge Männer lachen mit steinalten Gesichtern in die gläsernen Augen der Propaganda. Am Turm flattert der Tonnage-Wimpel. Die Zeit addiert Bruttoregistertonnen. Der Wind reißt die Sätze Zirlers in Fetzen von seinen Lippen, verweht sie. Noch bis zu der Bank hin, auf der zwei Verwundete sitzen und mißmutig die Szene anstarren.

»Nu haben sie ja wieder ein paar Helden …«, sagt der Schmalere.

Der andere nickt bloß. Sie gehören zur Genesungskompanie und wurden zusammengeflickt. Bald schickt man sie wieder hinaus. Bis zum nächstenmal. Oder in die Ewigkeit …

»Männer«, ruft der Admiral, »wieder einmal habt ihr eure Pflicht getan, seid ihr siegreich nach Hause gekehrt … seid stolz auf eure Leistung! … auf euren Mut … auf eure Kameradschaft … Aber nicht nur das: Vertraut eurem Glück! Auch wir haben euch und eurer Tapferkeit vertraut.«

Eine Gruppe von Kriegsberichtern steht hinter dem Admiral und verfolgt die Begrüßung. Die Männer von U 61 sind in verschmiertem Lederzeug angetreten. Neben ihnen, etwas abseits, stehen drei Soldaten in sauberen, blauen Uniformen, die sie erst seit einer Stunde besitzen: ein Oberleutnant, ganz Typ seiner Zeit, ein bulliger Bootsmannsmaat und ein jungenhafter Oberfähnrich.

Die Augen des Admirals suchen die drei. Er geht ein paar Schritte auf sie zu.

»Aber nicht nur das …«, fährt er fort und steigert seine Stimme, »nach beispielhafter Pflichterfüllung, nach heldenhaftem Einsatz sind drei Kameraden von unserem tapfer, bis zum bitteren Ende kämpfenden Kreuzer ›Pommern‹ heimgekehrt …«

Oberleutnant Düren schluckt. Er sieht dem Admiral ins Auge. Die Anstrengung drückt in seinem Nacken. Er möchte seine Augen nach rechts wenden, wo Antje steht, ihn ansieht, auf ihn wartet, schon die Hände ausstreckt, zu einer Umarmung, wie sie sie noch nie erlebt hatten …

Vor fünf Tagen, als sie sich mit letzter Kraft, mit verzweifelter Anstrengung dagegen wehrten, sich selbst aufzugeben, in der Dämmerung des Abends, war U 61 neben ihnen aufgetaucht, um im Schutz der Dunkelheit Luft zu schnappen. Ein Ausguck sah etwas im Wasser treiben … und der Strahl des Scheinwerfers, der sich nach ihren Gesichtern durchtastete, war der erste Arm der Rettung. Drei von 1403 wurden aufgefischt. Der U-Boot-Kommandant meldete an die Seekriegsleitung. Die Seekriegsleitung verständigte die Angehörigen. Die Kriegsmarine wollte aus diesen drei Überlebenden etwas machen. Nie braucht die Propaganda dringender Helden als nach einer Niederlage. Und das Rezept zieht sich durch die Geschichte, von Cäsars Feldzug in Gallien bis zu diesem Weltkrieg …

»In der stolzen Trauer …«, sagt der Admiral laut und akzentuiert, »um die auf See gebliebenen Männer der ›Pommern‹ empfinden wir dankbar und in tiefer Ergriffenheit die Rettung dieser drei tapferen Seeleute … Ich begrüße Sie! … Willkommen in der Heimat!« Admiral Zirler geht auf die Überlebenden zu. Die Kamera der Wochenschau schwenkt herum, hält jede Einzelheit fest, für Millionen, die es eine Woche später im weichen Polsterstuhl im Kino sehen sollen.

Der Admiral reicht als erstem Oberleutnant Düren die Hand, heftet ihm persönlich das EK I an die Brust. Dann Hinze, der nicht ganz so zackig dasteht und fast melancholisch lächelt. Und zuletzt Stamann, dessen jugendheißer Traum sich erfüllt, als längst alle Träume in der Schlacht krepiert waren.

»Wenn ich Sie jetzt verabschiede«, fährt der Admiral fort, »in einen Urlaub, den Sie sich mehr als verdient haben, so grüßen wir noch einmal …«

Die Möwen kreischen hartnäckig über ihnen, schwatzen gleichgültig, wie sie vielleicht über der Stelle kurvten, an der ein Wrack versank.

»Achtung!«

Die Hacken fahren aneinander. Staub wirbelt auf.

»So grüßen wir ein letztesmal die ›Pommern‹ und ihren Kommandanten, der mit seinem Schiff untergegangen ist … Unser persönliches Schicksal ist nebensächlich … Wir werden siegen oder sterben … Es lebe Großdeutschland!«

»Weggetreten!« kommt das nächste Kommando.

Der Admiral und seine Suite gehen gemessen über den Appellplatz. Der Abgang Zirlers wird zum Zugang der Angehörigen.

Hundertmal hat sich Oberleutnant Düren ausgemalt, was er zu Antje sagen wird. Nun steht er vor ihr, bringt kein Wort heraus, würgt, kämpft mit dem Kloß im Hals, sieht ihre Augen, wie er sie immer sah: groß, naß, dankbar und gläubig.

»Nicht weinen …«, sagt er leise und legt den Arm um sie.

Und weiter kurbelt die Wochenschau.

Stamann, dem Oberfähnrich, geht es nicht anders. Das Gesicht seines Vaters zuckt. Und daneben Christa, wegen der es zuletzt zu einer Auseinandersetzung gekommen war, weil sie noch so jung, zu jung waren. Zu jung für die Liebe, alt genug für den Heldentod.

»Christa …«, sagt der Oberfähnrich und würgt, toll vor Freude wie ein junger Hund, der nicht weiß, von welcher Hand er sich zuerst streicheln lassen soll.

»Komm«, sagt der Vater ruhig.

»Du hast … du hast Christa mitgebracht?« Der Junge schreit es fast heraus.

»Ja«, erwidert der Vater. Er wendet das Gesicht ab, sieht in eine Ferne, zu einer Stelle, an der jetzt 1400 Soldaten liegen. Nur 1400 … Einer ist zurückgekehrt.

»Ja«, wiederholt Dr. Stamann, »und ihr zwei … ihr dürft euch künftig sehen und treffen, sooft ihr wollt … solange ihr wollt …«

In diesem Moment hat der Ordonnanzoffizier, ein junger Leutnant, die Gruppe erreicht. Er wendet sich an Düren:

»Herr Oberleutnant, Kapitän Paulsen erwartet Sie und Ihre beiden Kameraden zu einem kleinen Imbiß …« Seine Haltung wird zivil. Er dreht sich zu Antje um. »Entschuldigen Sie, gnädige Frau … eine halbe Stunde nur … der Kapitän möchte mit Ihrem Gatten anstoßen …« Er lächelt. »Kein Salzwasser diesmal …«

»Nischt dajejen …«, brummelt Hinze.

»Danke«, sagt Düren.

Der Oberfähnrich bleibt einfach stehen zwischen Christa und dem Vater, starrt sie an, geht keinen Schritt, bis die anderen beiden ihn lachend am Arm nehmen und mitziehen.

»Dr. Stamann«, stellt sich der Vater des Oberfähnrichs Antje vor. »Ich kann es noch nicht fassen«, erwidert Antje, »zuerst diese Nachricht, und dann …«

»Ja …« Dr. Stamann nickt.

Die junge Frau sieht ihn voll an.

»Sie werden es nicht glauben«, sagt sie, »aber ich habe niemals daran gezweifelt, daß mein Mann zurückkommen wird …«

Sie gehen wie von selbst nebeneinander her.

»Und jetzt bin ich überzeugt, daß der Glaube an einen Menschen, den man liebt … die Gedanken, mit denen man ihn umgibt … sie müssen doch eine Kraft haben … eine beschwörende, beschützende Kraft …«

Dr. Stamann lächelt traurig. Er schüttelt den Kopf. Dann sagt er: »Glauben Sie nicht, daß die anderen 1400 … die mit der ›Pommern‹ untergegangen sind … verbrannt, zerfetzt … ertrunken …, daß sie auch Frauen und Mütter hatten … die in diesem Moment … an sie dachten?«

Sie gehen weiter, an den Kameraleuten vorbei, die ihre Apparate abbauen und ihnen nachsehen. Christa sagt nichts. Ihr Gesicht ist abwesend. Er ist da, denkt sie. Und wir dürfen uns sehen. Sooft wir wollen.

»Ich muß Ihnen gestehen«, fährt Stamann fort, »ich habe alles dagegen getan, daß sich mein Junge freiwillig meldet … 18 Jahre alt … noch ein Kind … ich habe ihn beschworen, angeschrien … Aber er ging … ohne Abschied … auf die ›Pommern‹ … ich habe getan, was ich konnte …«

Antje blieb stehen.

»Dann haben Sie ihn jetzt erst wiedergesehen?«

»Ja«, erwidert der Vater ernst. »Ob er jetzt den Wahnsinn erkannt hat?«

Das Gesicht der jungen Frau wirkt irritiert. Sie schüttelt die Gedanken ab.

»Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Doktor …«, sagt sie fast heftig, »wenn alle so dächten, würde es keinen Idealismus mehr geben … das wäre doch das Ende … müssen wir nicht alle Opfer bringen?«

»Opfer?« antwortet Stamann fest. »Wozu? Für wen?« Er faßt Antje leicht am Arm. »Kommen Sie, wir trinken eine Tasse Kaffee …«

»Gern«, versetzt die junge Frau. Sie wischt sich mit der Hand über die Stirn.

Er ist zu alt, um die Zeit zu begreifen, denkt sie. Aber wozu streiten, in einer solchen Stunde? Der Mann, den sie liebt, ist zurückgekehrt, und alles andere ist unwichtig …

Der Messeraum ist mittelgroß und schmucklos. Zwei Tische wurden aneinandergestellt und weiß gedeckt. An den Wänden hängen Marinebilder. Über dem Eingang, dünn an Reißnägeln befestigt, die Kriegsflagge. Der Kapitän unterhält sich mit ein paar Offizieren. Er ist groß und schlank. Sein Gesicht wirkt warm, trotz der Uniform. Es ist kein Zufall: Kapitän zur See Paulsen ist ein Mensch. Es wäre an sich nicht bemerkenswert, aber zu dieser Zeit sind Männer seines Schlages längst Mangelware.

»Hier, Oberfähnrich«, sagt er lachend und drückt dem verwirrt vor ihm stehenden Stamann das Sektglas in die Hand, dreht sich nach den anderen beiden um. »Auf die Rückkehr aus der Hölle …Trinken Sie und vergessen Sie …«

Paulsen merkt die Befangenheit des jungen Oberfähnrichs und lokkert wie von selbst die starre Etikette:

»Ihre erste Feindfahrt?«

»Jawohl, Herr Kapitän.«

»Wie alt sind Sie?«

»Neunzehn Jahre, Herr Kapitän.«

Paulsen dreht sich nach den anderen Offizieren um, sieht an ihren Gesichtern entlang, hebt das Glas wieder und sagt:

»Neunzehn Jahre, meine Herren … ich glaube, wir alten Knochen sollten einmal auf die Jugend trinken …«

Die Ordonnanz füllt nach. Für einen Moment wirkt der Kapitän zerstreut, nachdenklich, betrachtet die prickelnde Kohlensäure im Glas und sagt mit einem schwachen Lächeln:

»Auf das junge … auf das schäumende Leben …«

Jetzt erst setzen sie sich. Zwanglos, Maat Hinze ist zum erstenmal in einer Offiziersmesse. Die Umgebung ist ungewohnt. Aber er ist der einzige Unbefangene. Er sieht auch nicht auf das blitzblanke EK I. Seine Gedanken sind praktischer: Sie zählen die Flaschen, die Kapitän Paulsen kaltstellen ließ. Schnaps wäre mir lieber, denkt er, aber man nimmt, was man kriegt. Die Hauptsache, ich kann überhaupt noch was saufen …

Dann wird das Gespräch ernst.

»Ich verstehe nicht, warum es so wenig Überlebende gibt …«, sagt Paulsen.

»Kunststück«, erwidert Hinze. »Tote können nicht mehr schwimmen …«

Ein Kapitänleutnant will den Maat zurechtweisen. Paulsen winkt ab.

»Lassen Sie«, sagt er.

Am Nebentisch sitzt Kriegsgerichtsrat Brenner. Er löffelt verdrossen in seiner Tasse. Ab und zu sieht er unbeteiligt zu der Gruppe um Paulsen. Der Kapitän fängt seinen Blick auf. Man kann nicht sehen, was er denkt.

»Kommen Sie, Brenner«, ruft er, »und stoßen Sie mit den dreien an, die dem Schlamassel entkommen sind.«

»Danke, Herr Kapitän«, erwidert der Kriegsgerichtsrat im Aufstehen, »wenn ich meinen Kaffee mitbringen darf?«

»Wenn’s sein muß«, antwortet Paulsen lachend.

»Ich trinke nie am Vormittag, Herr Kapitän.«

»Ich hab’ Sie überhaupt noch nie trinken sehen«, erwidert der Kapitän. »Sie brauchen auch nicht … es ist keine Frage der Weltanschauung …« Paulsen lächelt mit leichter Ironie. Komischer Kauz, dieser Brenner!

Eine Ordonnanz bringt einen Stuhl. Das Gespräch stockt. Und dann kommt es zurück auf die ›Pommern‹.

Verrückt, denkt Düren. Vor ein paar Tagen noch auf der Schlachtbank … und jetzt sitze ich hier und trinke Sekt und soll berichten, wie alles war. Als ob man das könnte. Als ob Worte ausreichten, um dieses Inferno zu beschreiben.

Fragen, nichts als Fragen:

»Welcher Geschützturm ist zuerst ausgefallen?«

»Wann hörte die Gegenwehr der ›Pommern‹ auf?«

»Wann kam der Befehl zur Selbstversenkung?«

»Wie viele Tote hatte es da schon gegeben? Ungefähr?«

Maat Hinze kommt in Fahrt. Sein Gesicht ist gerötet. Seine Antworten kommen rasch und sicher.

»Weeß ick nich«, sagt er, »hab’ die Hand nich vor den Oogen jesehn … war ja zappenduster …«

»Wie konnten Sie denn da schießen?« fragt ein Kapitänleutnant. »Janz einfach«, versetzt der bullige Berliner lachend, »frei nach Schnauze … übern Daumen … Und ick saje Ihnen, Herr Kaleu … ick hab’den Tommies noch’n paar’rüberjerotzt …verlaß dir druff!«

Auf einmal verfolgt Kriegsgerichtsrat Brenner, der sich bisher kaum am Gespräch beteiligte, aufmerksam jedes Wort. Er hebt den Kopf, dreht sich zu Düren um.

»Es war noch Nacht, sagen Sie?«

»Ja, Herr Kriegsgerichtsrat«, antwortet der Oberleutnant.

»Von wo sind Sie abgesprungen?«

»Vom Achterdeck … wir waren die letzten.«

»So einfach hinein in die Dunkelheit?«

»Die brennenden Deckaufbauten lieferten Festbeleuchtung«, entgegnete Düren, »im übrigen hatten wir keine andere Wahl …«

»Herrschaften«, sagt Paulsen und sieht auf die Uhr, »eure Angehörigen warten. Fahrt nach Hause, ruht euch aus …« Er lächelt warm. »Laßt euch ein bißchen als Helden feiern …« Er gibt jedem einzelnen die Hand. »Alles Gute …«

Einen Moment schielt Maat Hinze noch nach der halbleeren Flasche. Dann nickt er.

»Also, auf zu Muttern!« sagt er in seiner derben, offenen Art.

Paulsen sieht den drei Überlebenden nach. Zunächst überhört er es, als sich Brenner an ihn wendet:

»Ich muß Sie sprechen, Herr Kapitän.«

»Jetzt?«

»Ja … es ist wichtig.«

»Papierkrieg?«

»Nein.« Der Kriegsgerichtsrat verzieht kaum das Gesicht beim Sprechen. Er hat eine intelligente Stirn und kluge Augen, aber sein Blick ist teilnahmslos. Brenner hat die Augen des Fanatikers. »Bitte«, entgegnet Paulsen.

»Nicht hier, Herr Kapitän.«

Paulsen zieht den Kriegsgerichtsrat ein Stück weg von den anderen.

»Sie immer …«, sagt er mißmutig, »Mensch, Brenner … immer sauer wie eine Zitrone … tut doch gut, etwas Seeluft in unseren überheizten Stuben … Also, was ist?«

»Herr Kapitän … nehmen Sie diesen drei Leuten ihre Erzählung ab?«

»Warum nicht?«

»Da stimmt doch etwas nicht … da ist doch etwas faul …« Paulsen kneift die Augen zusammen.

»Ich versteh’ Sie nicht.«

»Die behaupten doch, daß es dunkel war, als die ›Pommern‹ unterging.«

»Na und?«

»Sehen Sie sich doch mal die Uhrzeiten an, Herr Kapitän … die letzten Funksprüche … Und was die sonst noch erzählen … Lauter Unklarheiten.«

»Schon mal ’ne Seeschlacht erlebt, Brenner?«

»Nein, Herr Kapitän.«

»Na also«, versetzt Paulsen hart, »ihr Juristen seid mißtrauisch wie alte Pferdehändler … die Jungs wurden durch den Fleischwolf gedreht … die sind fix und fertig.«

»Na ja … das kann schon sein …«, erwidert der Kriegsgerichtsrat gedehnt, »Krieg ist kein Kinderspiel … aber …«

»Lassen Sie sich mal auf einem brennenden Schiff den Hintern rösten«, schneidet ihm Paulsen sarkastisch das Wort ab, »und dann schwimmen Sie zehn Stunden im kalten Wasser … und wenn Sie dann aufgefischt werden, dann sagen Sie mir, was Sie gefrühstückt haben …«

Brenner schüttelt den Kopf.

»Möglich, daß ich das nicht wüßte«, erwidert er. Dann geht er einen Schritt näher auf seinen Vorgesetzten zu, sieht ihm fest in die Augen: »Aber ob ich mir den Hintern bei Tag verbrannt habe oder bei Nacht … das wüßte ich ganz bestimmt, Herr Kapitän.«

»Wie meinen Sie das?« fragt Paulsen jetzt mit unverhülltem Ärger. »Ich werde der Sache nachgehen«, antwortet der Kriegsgerichtsrat.

»Machen Sie, was Sie wollen«, erwidert der Kapitän und läßt Brenner einfach stehen.

Dann waren sie zu Hause. Sie begriffen es nicht. Nicht an diesem Tag, nicht an den folgenden. Die Hölle hatte sie in das Paradies entlassen. Ihre Empfindungen streiften sie wie ein Schauer des Glücks. Jedes Möbelstück, jede Gardine, jeden Teppich sahen sie heute mit anderen Augen. Die gewohnte Umgebung wurde zum berauschenden Abenteuer. Der trunkene Blick verklärte alles, was sie verloren und doppelt wiedergefunden hatten. Der Wille zum Leben blieb Sieger. Er war stärker gewesen als die Schlacht und mächtiger als der Sturm. Drei waren dem Tod von der Schippe gesprungen und feierten die Wiedergeburt.

Maat Hinze fand als erster zur Wirklichkeit zurück.

»Tach, Mutter«, sagte er und warf seinen Seesack in die Ecke. Dann ging er in die Küche und sah nach, was es zu essen gab. Er blieb zu Hause und ließ sich alte Geschichten vom Wedding erzählen, die er längst kannte und die heute anders klangen, weil sie von einer Frau mit grauen Haaren erzählt wurden, die ihn immer wieder ansah, mit Augen, die das Leid ausgewaschen hatte.

Oberfähnrich Stamann war mit dem Vater und Christa nach Freiburg gefahren, in die kultivierte Villa am Stadtrand. Sie saßen im Wohnzimmer. Das Radio spielte leise. Keiner hörte zu. Auf dem Tisch stand eine Flasche Mosel. Sie stammte noch aus einer besseren Zeit und war für eine bessere Zeit bestimmt. Aber konnte es eine glücklichere Stunde geben als diese?

Christa hatte die Beine hochgezogen und das Kinn in die Hand gestützt. Dr. Stamann hängte das Telefon aus. Heute kannte er nur einen Patienten, einen Rekonvaleszenten: seinen Sohn. Sein einziges Kind, das er verloren und wiedergefunden hatte. Heimkehr, dachte er und kämpfte gegen die Tränen. Er hatte nur einmal in seinem Leben geweint. An einem Grab. Vor 13 Jahren, als man die Mutter des Jungen der Erde übergeben mußte.

Er stand auf. Er sagte nichts. Er ging so lautlos aus dem Raum, daß es die beiden gar nicht hörten. Dann begriffen sie es.

»Ich muß gehen«, sagte Christa leise.

»Schon?« fragte der Oberfähnrich.

»Ich komme ja wieder«, antwortete das Mädchen.

»Du kannst nicht spät genug gehen … und nicht früh genug kommen«, versetzte der Junge.

Er trat neben Christa. Seine Hand war noch scheu und unbeholfen. Sie berührte ihre Schulter, wie man ganz wertvolles, blattdünnes Porzellan anfaßt. Als er über ihre Haare fuhr, schien es unter der Hand zu knistern.

Er atmete schneller. Dann kam er näher. Und dann bestand das Leben nur noch aus einem Blick, aus einem Gefühl, aus einem Rausch …

In dieser Stunde ging auch für Oberleutnant Düren alles unter und stand wieder auf, was je in seinem Leben Bedeutung hatte. Alles und jedes: Antje. Sie trug einen Morgenmantel. Ihre Haare waren gelöst. Sie hielten sich an den Händen. Sie fieberten einander entgegen. Sie hatten warten gelernt und hoffen, aushalten und durchkommen. Sie wohnten in Kiel. In einem Zweifamilienhaus. Nie hatte Düren daran gezweifelt, daß er Seeoffizier werden würde. Als Junge stand er schon am Hafen und sah den Schiffen nach. Nie hatte er daran gezweifelt, daß er Antje heiraten würde. Als Pennäler schon ging er zum Lyzeum und sah ihr nach und verspürte die Beklemmung, die so frei macht und so schwer, die den Puls beschleunigt und die Gedanken wirbeln läßt.

»Ich bin so glücklich«, sagte Antje leise.

»Ja«, erwiderte er, »und trotzdem … weißt … die anderen … sie alle …«, er schrie plötzlich, ohne es zu merken, »vor die Hunde gegangen … wie … wie Schlachtvieh … es war einfach entsetzlich.«

Düren hielt die Hand an die Augen. Aber den inneren Blick konnte er nicht verdecken.

Antje schwieg. Lange, geduldig. Als sie ihre schmale Hand auf sein Haar legte, spürte er es nicht. Er kam von weit her. Vom Sterben. Sein Gesicht war verzerrt, verkrampft. Es wurde zum Spiegel einer Schlacht.

»Komm«, sagte Antje leise.