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Er war in der Nähe. Molly glaubte, seinen schweren Atem zu hören. Sie spürte, dass er sie beobachtete. Wenn sie nach links über die Viehtränke schaute, würde sie ihn sehen. Sein Blick wäre gierig, sein Körper erregt. Doch diesen Gefallen tat sie ihm nicht. Stattdessen raffte sie ihre Röcke und eilte mit klappernden Absätzen die Fifth Street hinunter.
Noch einhundert Yards... fünfzig... Molly atmete auf, als sie das Haus mit der roten Laterne erreichte. Erleichtert stürmte sie die drei Stufen zum Eingang hinauf und blickte nun doch über ihre Schulter zurück.
Und da stand er. Lehnte an einem Frachtwagen und starrte sie auf seine seltsame Weise an. Mollys Herz machte einen schmerzhaften Satz. Und dann fasste sie einen gewagten Entschluss...
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Alle jagen Flinten-Jenny
Vorschau
Impressum
Alle jagenFlinten-Jenny
Er war in der Nähe. Molly glaubte seinen schweren Atem zu hören. Sie spürte, dass er sie beobachtete. Wenn sie nach links über die Viehtränke schaute, würde sie ihn sehen. Sein Blick wäre gierig, sein Körper erregt.
Doch diesen Gefallen tat sie ihm nicht. Stattdessen raffte sie ihre Röcke und eilte mit klappernden Absätzen die Fifth Street hinunter. Noch einhundert Yards... fünfzig... Molly atmete auf, als sie das Haus mit der roten Laterne erreichte. Erleichtert stürmte sie die drei Stufen zum Eingang hinauf und blickte nun doch über ihre Schulter zurück.
Und da stand er. Lehnte an einem Frachtwagen und starrte sie auf seine seltsame Weise an. Mollys Herz machte einen schmerzhaften Satz. Und dann fasste sie einen gewagten Entschluss...
Er war ihr gefolgt! Schon wieder!
Dieser Mann war ihr nicht geheuer. Seit einigen Tagen schien er ständig um das Fleur Rouge herumzustreichen. Sie hatte ihn zu jeder Tageszeit entdeckt, wie er rauchend dastand und aus tief in den Höhlen liegenden Augen herüberschaute. Er war von hagerer Gestalt, hatte braune Haare und einen sorgfältig gestutzten Bart. Seine Augen waren stets gerötet, was ihnen etwas Dämonisches verlieh.
Unsinn, rief sich Molly zur Ordnung. Der einzige Dämon in dieser Stadt ist Mrs. Hutzenbacher und ihren Unmut bekommt nur ihr armer Gatte zu spüren. Also nur Mut! Sie holte tief Luft, straffte die Schultern und entschied, den Fremden zu fragen, warum er nicht einfach hereinkam. Sie und ihre Kolleginnen würden alles tun, damit er sich entspannen und wohlfühlen konnte. Manche Gäste kamen jede Nacht, andere mussten sich erst überwinden, die Schwelle des Rouge zu überschreiten. Vielleicht ging es ihm auch so. Dann brauchte er vielleicht nur ein wenig Ermutigung.
Molly streifte das beklemmende Gefühl ab, das sie bei seinem Anblick stets überkam, drückte das Rückgrat durch und wirbelte herum.
Sie hatte erst einen Fuß auf die Straße gesetzt, als rechts von ihr jemand brüllte: »Vorsicht, Lady!«
Unwillkürlich wich sie zurück. Keine Sekunde zu früh! Die Postkutsche näherte sich rasend schnell. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie das Rumpeln und Hufschlagen nicht bemerkt hatte. Um ein Haar wäre sie vor das Gespann gelaufen!
»Passen Sie auf sich auf, Lady!« Der Kutscher zupfte an seiner Hutkrempe.
Ein Beben rieselte Molly durch den Körper.
Das war knapp.
Als die Kutsche an ihr vorüber war, schaute sie sich nach ihm um.
Doch er war verschwunden. Nicht mehr da. Als wäre er nur ihrer Fantasie entsprungen.
Sie drehte sich einmal auf dem Absatz um.
Verschwunden.
Ein eiserner Ring schien sich um ihre Brust zu legen.
Auf der Straße ging es noch recht ruhig zu. Der Betrieb würde erst in ein, zwei Stunden losgehen, wenn die Schicht der Minenarbeiter vorüber war und sie in die Stadt herunterkamen, um sich ein wenig zu amüsieren.
Molly wandte sich um und betrat das Rouge.
Ihr Zimmer lag am Ende des Flurs. Der Raum daneben gehörte Lucy. Die Tür stand offen, und Molly spähte hindurch.
»Da bist du ja wieder.« Lucys Stimme klang gepresst, denn sie beugte sich gerade über eine Schüssel, in der Kamillenblüten schwammen, schöpfte Wasser mit einer flachen Schale und goss es sich über das Haar. »Hast du sie bekommen?«
»Ja, waren ganz frisch im Store eingetroffen. Mac hatte sie noch nicht mal ausgepackt.« Molly legte das Päckchen, das in braunes Packpapier eingewickelt war, auf die Kommode. Es wog kaum mehr als eine Feder und enthielt Schwämme in verschiedenen Größen. »Soll ich dir beim Spülen helfen?« Molly trat hinter das andere Girl und nahm die Schale für die Kamillenspülung. Lucy schwor, dass ihr Haar davon glänzte wie pures Sonnenlicht.
Mollys wilde rote Locken verrieten ihre irischen Wurzeln und widerstanden jedem Versuch, sie zu bändigen.
»So, fertig.« Sie drückte das Wasser aus Lucys Haaren und reichte ihr das bereitliegende Handtuch.
»Danke dir. Puh, geschafft.« Lucy rubbelte ihre Haare trocken. »Die Männer haben es gut, was? Sie spucken sich einmal in die Hände, fahren sich durchs Haar und sehen gut aus. Und unsereins? Wir brauchen Spülungen und Brandeisen und... Warte! Ist alles in Ordnung? Du bist ja weiß wie der Hintern von Mr. Peabody.«
»Ich habe nur...« Molly stockte und schaute zum Fenster.
»Willst du einen Kaffee? Ich habe ihn vorhin erst geholt.« Lucy griff nach der gusseisernen Kanne, schenkte einen Becher voll ein – und fluchte leise, als ein schmaler Körper mit in das Gefäß flutschte. »Argh, ich hasse diese Viecher.« Mit spitzen Fingern fischte sie die Heuschrecke aus dem Kaffee und warf sie fort.
Molly nahm den Becher und nahm einen langen Schluck. Es störte sie längst nicht mehr, die Heuschrecken überall in ihren Sachen, in ihrem Essen und in ihren Stiefeln zu finden. Vier Wochen lebten sie nun schon mit der allgegenwärtigen Plage, und allmählich fühlte es sich an, als wäre es nie anders gewesen.
Dieser Sommer hatte sich nicht von anderen Sommern in Colorado unterschieden. Heiß war er, aber auch feucht genug, dass auf den Feldern eine reiche Ernte gedieh. Üppig leuchtete der goldgelbe Weizen bis zum Horizont in der Sonne. Unten am Fluss gediehen Felder voller Mais. Die Kürbisse versprachen ebenfalls prächtig zu werden. Und dann... war das Tageslicht plötzlich ganz seltsam geworden. Kalt. Fahl. Als wäre die Sonne abgekühlt. Kein Lüftchen hatte geweht, und doch war ein seltsames Summen zu hören gewesen. Und eine Wolke trieb von Osten heran. Schneller, als der Wind sie hätte tragen können.
Und dann kamen sie.
Heuschrecken.
Millionen und Abermillionen von ihnen.
Sie flogen gegen Fenster, Windräder, Menschen, fielen zu Boden wie Hagelkörner. Molly war an jenem Tag draußen unterwegs gewesen. Sie hatte versucht, die Heuschrecken abzuschütteln, aber diese klammerten sich mit winzigen Krallen an ihren Körper und ihr Kleid. Schreiend war sie zurück in das Bordell gerannt, aber auch hier drangen die Heuschrecken ein, nutzten jedes offene Fenster, jeden freien Winkel. Bald war der Boden übersät mit ihnen.
Wenn Molly auf sie trat, knirschte es unschön und zäher Schleim klebte unter ihren Stiefelsohlen. Von den Feldern war ein Beißen und Schaben zu hören.
Das Heer von Heuschrecken machte sich über den Weizen her!
Die Farmer hatten in aller Eile altes Stroh und Stallmist von ihren Misthaufen aufgesammelt, waren mit Fuhrwerken zu ihren Feldern gerast und hatten kleine Haufen aus Streu und Mist um den Weizen verteilt und angezündet. Der Rauch sollte die Heuschrecken abhalten.
Das tat er jedoch nicht.
Das Geräusch der fressenden Heuschrecken riss die ganze Nacht nicht ab.
Seitdem waren sie da. Sie fraßen sich am Weizen satt, machten sich über das Gras her und über die Weiden am Fluss. Das Grün war aus der Gegend verschwunden, war dem fahlen Braun der geplünderten Natur gewichen. Statt Blätter hingen nun dicke Trauben von Heuschrecken in den Bäumen.
Die Auswirkungen bekamen auch die Girls aus dem Rouge zu spüren. Die Farmer kamen seltener als früher, viele gar nicht mehr. Ihre Ernte war von den Heuschrecken vor der Zeit vernichtet worden. Nun waren viele in bitterer Not.
Molly drehte ihren Becher zwischen den Fingern, den bitteren Geschmack des Kaffees auf den Lippen. »Ich glaube, ich werde verfolgt.«
»Verfolgt?« Lucy riss die Augen auf. »Von wem?«
»Ich kenne ihn nicht, aber ich sehe ihn seit ein paar Tagen ständig. Er taucht immer da auf, wo ich auch bin. Es ist mir unheimlich.«
»Ist er jetzt auch da?«
Molly trat ans Fenster und spähte hinaus. »Nein. Ich kann ihn jedenfalls nirgendwo entdecken.« Trotzdem rieselte ihr Gänsehaut den Rücken hinunter, als würden unsichtbare Augen sie durchbohren.
»Wie sieht er denn aus?«
»Groß, dünn. Ganz in Schwarz gekleidet. Mit weißem Kragen.«
»Wie ein Priester?«
»Ja, genau.«
»Na, da hast du es. Er würde gern und darf nicht.« Lucy zwinkerte ihr zu. »Wahrscheinlich würde er dich zu gern einmal aufsuchen, aber seine Kirche sagt nein. Nun kämpfen zwei Seelen in seiner Brust.«
»Meinst du?« Molly ließ sich das Gehörte durch den Kopf gehen.
»Da bin ich mir ziemlich sicher. Wenn er dir aber Angst macht, dann sag es Lou oder Will, die kümmern sich dann darum. Wenn er wieder auftaucht, reden sie mit ihm.«
»Nein, ich glaube, du hast recht. Er ist vermutlich nur unsicher.« Molly wandte sich wieder zur Tür. »Danke für den Kaffee.«
»Jederzeit.« Lucy folgte ihr und umarmte sie. »Ich werde mich noch eine Weile aufs Ohr hauen, während meine Haare trocknen.«
»Bis später.« Molly ging in ihr Zimmer hinüber. Lucys blumiger Duft begleitete sie, während sie ihren Hut abnahm und die Locken ausschüttelte.
Ihr Zimmer war klein, aber zweckmäßig ausgestattet. Dominiert wurde es von einem breiten Himmelbett. Auf dem Waschtisch standen zwei Schüsseln. Zum Baden konnten die Girls ein Zimmer in der unteren Etage nutzen. Dort standen drei Zuber, die mit Vorhängen voneinander abgetrennt waren.
Die beiden Aquarellbilder an den Wänden hatte Molly selbst gemalt. Sie zeigten Ansichten ihrer irischen Heimat: die von Gischt und Wellen umtosten Cliffs of Moher und den sanften Hügel, an dessen Fuß die Hütte ihrer Familie stand. Die Bilder erinnerten Molly an ein Zuhause, das es nicht mehr gab. Hier war sie jetzt daheim, und auch wenn die Frauen vom Nähzirkel die Nase rümpften, mochte sie es. Die Girls aus dem Rouge hielten zusammen. Sie waren eine Familie.
Molly setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch, schlug ihr Tagebuch auf, tauchte die Feder in die Tinte und begann zu schreiben. Dem Buch vertraute sie alles an. Manchmal fertigte sie auch Zeichnungen an.
In einer verborgenen Lade des Schreibtischs verwahrte sie ihr Geld. Sie sparte jeden Cent, weil sie sich eines Tages ein eigenes Haus kaufen wollte. Hier im Rouge konnte sie noch ein paar Jahre bleiben und Geld verdienen, aber dann? Sie träumte von einem Ort, an den sie für immer gehörte.
Molly schrieb eine Weile, dann malte sie den Fremden mit den seltsam roten Augen. Unter ihrer Feder entstand ein lebendiges Bild von ihm. Sie bemerkte kaum, wie es allmählich dunkel vor ihrem Fenster wurde.
Erst, als ihr ein seltsam beißender Geruch in die Nase stieg, blickte sie auf.
Graue Schwaden stiegen vor ihrem Fenster auf.
Rauch!
Molly sprang so hastig auf, dass ihr Stuhl umfiel und krachend auf dem Holzboden aufschlug. Nun vernahm sie auch das seltsame Knacken, das aus der unteren Etage heraufdrang. Wie gelähmt vor Schreck blickte sie sich um. Im nächsten Augenblick entdeckte sie das orangefarbene Flackern von Flammen, die sich an der Hauswand emporzüngelten. Nun waren auch Schreie zu hören.
»Es brennt! Raus da! Es brennt!«
Das Knacken und Prasseln des Feuers wurde lauter.
O nein! Molly wirbelte herum, riss ihre Tür auf und prallte zurück, weil ihr dicke, stinkende Rauchschwaden entgegenschlugen. Sie musste husten. Ihre Augen begannen zu tränen bei dem vergeblichen Versuch, den Qualm zu durchdringen.
Sie konnte nicht einmal die andere Seite des Korridors erkennen!
Molly rannte zurück zum Waschtisch, tauchte ein Tuch in die Wasserschüssel und feuchtete es an. Dann presste sie es sich vor Mund und Nase und eilte aus ihrem Zimmer. Sie hörte Schreie, das Poltern von Schritten, aber sie sah niemanden.
Der Rauch schien überall zu sein!
Allmählich nahm die Hitze im Gebäude zu.
Molly wurde es himmelangst.
Das Feuer schien im unteren Geschoss seinen Anfang genommen zu haben. Bei all dem Holz und den trockenen Wandfarben fand es reichlich Nahrung und fraß sich in Windeseile vor. Der Qualm war wie eine graue Wand, durch die sie musste.
Molly streckte einen Arm vor und tastete sich zur Treppe vor. Jemand stürmte an ihr vorbei, rempelte sie so hart an, dass sie gegen die Wand geschleudert wurde, und war vorüber, ehe sie erkennen konnte, wer es war.
Sie hatte gerade die obere Stufe erreicht, als ihr etwas einfiel.
Lucy! Hatte sie es nach draußen geschafft? Wenn sie schlief, könnte eine Herde Büffel an ihr vorüberstampfen, sie würde es nicht bemerken.
»Lucy?« Hustend tastete sich Molly zurück zum Zimmer ihrer Kollegin.
Die Tür war geschlossen.
»Lucy? Bist du... da?« Hustend drückte Molly die Klinke nieder. Schweiß rann zwischen ihren Brüsten hinab. Ihre Haut schien zu glühen. Die Hitze... wurde unerträglich. Hier schien der Rauch noch viel dichter zu sein! »Lucy!«
Molly taumelte zum Bett. Hier lag ihre Kollegin noch im Bett, zusammengerollt wie ein schlafendes Kätzchen. Sie rührte sich nicht.
Molly wollte sie an der Schulter rütteln, als der Boden unvermittelt unter ihr nachgab! Ein ohrenbetäubendes Krachen begleitete das Brechen der Bretter und Balken. Funken sprühten. Oben und unten vermischten sich.
Sie stürzte geradewegs in das Flammennest!
Sekundenlang spürte sie keine Qual, nur eine seltsame Überraschung. Doch als sie zu atmen versuchte, rasten Wogen von Schmerzen durch ihren Körper.
Dann verschlang die Nacht sie mit ihrer düsteren Umarmung.
✰
Das gleichmäßige Stampfen und Rumpeln des Zuges lullte die Reisenden ein wie ein Schlaflied. Rauch wehte von der Dampflok an den Fenstern vorüber. Die meisten Fahrgäste in dem Pullmanwagen dösten vor sich hin. Einer älteren Lady war das Kinn auf die Brust gesunken. Sie schnarchte leise. Der Oldtimer, der ihr gegenübersaß, hatte eine Zeitung auf dem Schoß, aber anstatt zu lesen, waren ihm die Augen zugefallen und er hatte angefangen, einen Mammutbaum nach dem anderen umzusägen.
Lassiter registrierte das alles. Seine Aufmerksamkeit jedoch war auf die blonde Frau gerichtet, die ihm gegenüber Platz genommen hatte. Ihr Reisekleid war schlicht geschnitten, aber der tiefe Ausschnitt gewährte ihm Einblicke, die auch den letzten Rest Schläfrigkeit aus seinen Gliedern vertrieb. Auf jeder Schwelle wurde ihr praller Busen durchgerüttelt und wippte und wogte wie Götterspeise. All devils! Diese Frau hätte einen Mönch in Versuchung bringen können. Aus verhangenen Augen blickte sie Lassiter an, und ihr Lächeln verriet, dass ihr der große Mann auch gefiel.
Lassiter hatte seinen Hut auf den freien Platz neben sich gelegt. Nun wünschte er beinahe, er hätte ihn auf seinem Schoß liegen, denn ihr Anblick blieb nicht ohne Wirkung auf bestimmte Teile seiner Anatomie. Der Blonden schien das nicht zu entgehen, denn sie leckte sich über die Lippen und wirkte so verträumt, dass ihm sogleich noch heißer wurde. Der Anblick ihrer kleinen, feuchten Zunge zwischen ihren roten Lippen...
Holy Shit!
Schlagartig wurde es stockdunkel draußen, als wären sie in einen Tunnel eingefahren. Allerdings war Lassiter die Strecke schon gefahren. Es gab auf der gesamten Länge keinen Tunnel. Während ihm dieser Gedanke noch durch den Kopf raste, setzte plötzlich ein ohrenbetäubender Lärm ein.
Etwas prasselte draußen gegen den Zug!
Jäh wurden die Reisenden aus ihrem Schlummer gerissen.
Etwas hagelte auf das Dach des Zuges. Erschrockene Rufe gellten. Menschen stürzten von ihren Sitzen, weil nun ein scharfer Ruck durch den Zug ging. Bremsen quietschten. Taschen, Koffer und ein Hühnerkäfig flogen quer durch das Abteil. Jemand brüllte. Ob vor Schmerz oder Schrecken war nicht auszumachen.
Eine gefühlte Ewigkeit wurde der Zug langsamer. Dann standen sie.
Lassiter sprang auf. »Ist jemand verletzt?«
Gemurmel antwortete ihm, aber allen schien es gut zu gehen.
Allmählich wurde es wieder heller. Und nun wurde offenbar, dass sie geradewegs in eine Wolke aus Heuschrecken gefahren waren. Tote Insekten klebten an den Scheiben. Grünlich-gelber Schleim sickerte daran herab.
Angewiderte Rufe gellten.
Nicht alle Tiere waren tot. Tausende und Abertausende bedeckten den Boden, falteten ihre Flügel zusammen und sprangen umher. Ein weiterer Schwarm bewegte sich im Flug wie eine lebendige Wolke um den Zug herum.
Dem Oldtimer war die Zeitung heruntergefallen. Mit einem gedämpften Fluch hob er sie wieder auf. Das Huhn flatterte mit protestierendem Gackern in seinem Käfig umher, dass die Federn flogen.
»Diese elenden Heuschrecken«, knurrte der Graubart. »Breiten sich aus. Hab meine Söhne in den Osten geschickt, wo die Biester nicht wüten. Hoffe, dass sie dort Arbeit finden und Geld verdienen können, sonst weiß ich nicht, wie wir die Farm halten sollen. Allerdings sind sie schon seit drei Wochen unterwegs und ich habe noch nichts von ihnen gehört.«
»Die Telegrafenleitung ist zurzeit nicht immer zuverlässig«, erklärte Lassiter.
»Ich weiß. Alles wegen dieser Viecher.«
Die Tür zu ihrem Wagen wurde aufgezogen. Das gerötete Gesicht des Schaffners erschien in der Öffnung. »Ladys und Gentlemen, wir müssen die Fahrt unterbrechen. Vor uns bedeckt ein Schwarm von Heuschrecken die Schienen. Wir müssen sie zur Seite schaufeln, vorher können wir nicht weiterfahren. Gibt es hier Freiwillige, die eine Schaufel halten und helfen können?«
Lassiter angelte seinen Hut vom Sitz und strebte zu dem Eisenbahner. »Ich werde helfen.«
Der Blick des Eisenbahners hellte sich auf. »Kommen Sie, Sir.« Er drückte ihm eine Schaufel in die Hand und nahm ihn mit vor den Zug.
Als Lassiter die drei Eisenstufen hinuntersprang, landete er bis zu den Knöcheln in Heuschrecken. Das Knirschen ging ihm durch und durch.
Der Eisenbahner stapfte voraus zu der Dampflokomotive.
Heuschrecken flogen um sie herum, landeten auf den Fahrgästen und dem Lokführer, die sich nach draußen wagten.
Lassiter strich einen der Plagegeister von seinem Lederhemd und hatte prompt zwei neue darauf sitzen. Er zuckte mit den Achseln, stiefelte vor zur Lokomotive, die schnaufend und pfeifend auf den Schienen wartete.
Zusammen mit drei anderen Männern machte er sich daran, die Gleise freizulegen. Vor ihnen führte eine Holzkonstruktion über einen Taleinschnitt. Auch die Brücke wurde von den Insekten umlagert, aber sie schienen es weniger auf das Holz und mehr auf die spärlichen Büsche abgesehen zu haben, die neben dem Gleisbett wuchsen.
In einiger Entfernung konnte Lassiter die Umrisse eines Farmhauses ausmachen. Es wirkte verlassen. Teile des Zauns waren umgestürzt. Die umliegenden Felder waren kahlgefressen. Nur hier und da ragten einzelne vertrocknete Stängel aus dem Boden. Hier mussten schon andere Schwärme durchgezogen sein!
Lassiter schaufelte weiter.
Er wurde in Boulder erwartet. Die ersten Siedler waren Goldsucher gewesen, aber in den vergangenen Jahren war die Stadt gewachsen. Es gab ein Krankenhaus, eine Schule und eine Telegrafenstation. Der Boulder Creek schlängelte sich durch die Stadt. Bis dorthin konnten es nur noch wenige Meilen sein, aber der Lokführer zögerte, seine Old Lady durch den knöcheldicken Teppich aus Heuschrecken rollen zu lassen. Und so schaufelten sie die Schienen frei.