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"Es ist der größte Alligator, den ich jemals gesehen habe. Ein wahres Monstrum." James Neely nahm seinen Hut ab und wischte sich mit zittriger Hand über die Stirn. Sein Blick flackerte über den Bayou, suchte die Nebelschwaden nach Anzeichen einer drohenden Gefahr ab. "Dieses Biest hat sich den armen Harper geholt. Mich hätte es auch geschnappt, hätte ich nicht die Beine in die Hand genommen." Er blickte sich nach seinen Begleitern um, ehe er mit rauer Stimme fortfuhr: "Es heißt, diese Viecher legen unterirdische Speisekammern an. Dort horten sie ihre Opfer. Wir sollten zusehen, dass wir von hier wegkommen, ehe wir auch dort landen!"
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Die Lady und der Outlaw
Vorschau
Impressum
Die Ladyund derOutlaw
»Es ist der größte Alligator, den ich jemals gesehen habe. Ein wahres Monstrum.« James Neely nahm seinen Hut ab und wischte sich mit zittriger Hand über die Stirn. Sein Blick flackerte über den Bayou, suchte die Nebelschwaden nach Anzeichen einer drohenden Gefahr ab. »Dieses Biest hat sich den armen Harper geholt. Mich hätte es auch geschnappt, hätte ich nicht die Beine in die Hand genommen.« Er blickte sich nach seinen Begleitern um, ehe er mit rauer Stimme fortfuhr: »Es heißt, diese Viecher legen unterirdische Speisekammern an. Dort horten sie ihre Opfer. Wir sollten zusehen, dass wir von hier wegkommen, ehe wir auch dort landen!«
»Was für eine elende Brühe!« Grimmig starrte Greyson auf das schlammige Wasser, das im fahlen Mondlicht schwappte. Die Worte seines Begleiters schienen an dem stämmigen Mann einfach abzuprallen. Sein rundes Gesicht zeigte keine Regung.
»Was ist m-mit H-harper?« Bo stotterte wie immer, wenn ihm etwas nahe ging.
»Der kommt nicht mit uns zurück.« Neely keuchte wie eine löchrige Orgelpfeife. Schweißperlen rannen ihm über Gesicht und Nacken. Er wischte sie mit der flachen Hand weg und blinzelte. »Das verdammte Vieh hat ihn erwischt!«
Bo gab einen Laut von sich, der an einen verletzten Waschbären erinnerte.
»Fang bloß nicht an zu flennen«, brummte Greyson. »Das hat sich Harper selber zuzuschreiben. Es war unvorsichtig von ihm, zum Pinkeln an Land zu gehen. Ich hatte ihn davor gewarnt. Hat er auf mich gehört? Nee!«
»Was hätte er denn machen sollen? Wenn du musst, musst du.« Neely ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte er auf irgendetwas eingeschlagen, aber was hätte das geändert? Rein gar nichts! Harper war fort.
Er war sofort aus dem Boot gesprungen und seinem Kumpan gefolgt, als er dessen Schreie aus dem Unterholz gehört hatte. Jedoch: Es war zu spät gewesen. Er hatte nichts mehr für Harper tun können. Der andere Mann war verschwunden gewesen. Alles, was er noch gefunden hatte, war eine blutrote Lache und die Umrisse eines Monstrums, das blitzschnell aus seiner Sicht verschwand...
Greyson nickte bedächtig. »So ist das in den Sümpfen. Was du hier nicht frisst, das frisst dich.« Seine grauen Augen hefteten sich auf die Tunke, in der die fauligen Überreste eines armen Geschöpfs trieben, das den Weg aus dem unendlichen Labyrinth aus Sümpfen, Morast und Brackwasser nicht mehr gefunden hatte.
»W-was zum Geier ist das? D-doch nicht etwa...?« Bo stockte und machte den Hals lang. Der Kürze seines Namens zum Hohn war er ein langer Kerl, der sich so ungelenk bewegte, als würde er von unsichtbaren Fäden dirigiert. Sein langes Pferdegesicht war von den Pocken gezeichnet. Er hatte gutmütige braune Augen und ein ruhiges Gemüt. Es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, seinen Kumpanen oder gar seinem Boss zu widersprechen. »Seht ihr das? Da drüben! Da treibt etwas im Wasser!« Er streckte den Arm aus.
Greyson schlug ihm kräftig darauf. »Nimm den runter«, knurrte er. »Oder willst du ihn an die Alligatoren verfüttern?«
»Alli...« Bo schluckte. »Du denkst, das da drüben ist 'n Alligator?«
»Wenn es einer wäre, hätte Neely es nie und nimmer lebend zurück in unser Boot geschafft. Nein, das da drüben ist bestimmt kein Alligator, aber vermutlich das Abendessen von einem. Diese Biester lassen ihr Fressen gern ein paar Tage im Wasser liegen, damit sie es besser runterschlingen können.«
»Sie fressen, was schon 'n paar Tage im Wasser gelegen hat?« Bo lebte lange genug in der Nähe des großen Flusses, um zu wissen, was das Wasser mit einem toten Körper anrichten konnte. Er wandte sich hastig ab, konnte ein Würgen jedoch nicht zurückhalten. Es ging im Gebrüll der Ochsenfrösche unter, die im Dickicht auf der Suche nach einem Weibchen waren.
Sie saßen zu dritt in dem Boot: Neely, der noch immer atemlos war nach seinem Spurt durch den Sumpf, Bo, der es tunlichst vermied, noch einmal nach der verendeten Kreatur im Wasser zu sehen, und Greyson, der seelenruhig mit einem Span in seinen Zahnritzen bohrte. Im Gegensatz zu seinen Begleitern wirkte er so entspannt, als würden sie nicht mitten in den Sümpfen von Louisiana, sondern in einem piekfeinen Theater im Osten sitzen. Greyson war ein massiger Kerl, der das Boot eine Handbreit tiefer in das stinkende Wasser einsinken ließ. Er hatte die Statur eines alten Büffels, trug eine Machete im Gürtel und war von Kopf bis Fuß in Leder gekleidet. Seine Wange wurde von einer gezackten Narbe gezeichnet, die aussah, als hätte sich vor langer Zeit etwas von innen nach außen durchgefressen.
Er beäugte die Reste der Kreatur im Wasser. So abschätzend, als würde er sich überlegen, ob sie noch zum Essen taugte.
Neely wurde unter der Schmutzschicht auf seinen Wangen noch eine Spur blasser. Falls es etwas gab, das Greyson aus der Ruhe bringen konnte, so hatte er es noch nicht miterlebt.
Neely lehnte sich gegen die Bordwand. Er kam allmählich wieder zu Atem und betrachtete bekümmert den grünlichen Schlamm, der an seinen Stiefeln klebte. Verdammt, die würden im ganzen Leben nicht wieder sauber werden. Nun, wenigstens passten sie damit zum Rest seiner Erscheinung. Es war lange her, dass er die Gelegenheit gehabt hatte, Mollys Badehaus einen Besuch abzustatten. Vielleicht konnte er sich ein paar Stunden loseisen, wenn der Auftrag hier erledigt war.
Ein Bad im warmen Zuber unter Mollys sanften Händen käme ihm jetzt wirklich gelegen. Harper wäre sicherlich mit ihm gekommen, wenn er nicht zur falschen Zeit aus dem elenden Boot gestiegen wäre. Er hatte Molly und ihre Mädchen auch gemocht. Harper... Verdammt. Ihm schien die feuchte Luft hier nicht zu bekommen. Jedenfalls tränten seine Augen plötzlich wie verrückt.
Trotz der Hitze krochen ihm kalte Schauer über den Rücken. Die grauen Schwaden, die über das morastige Wasser zogen, erinnerten ihn an Geister, die ruhelos umherirrten. Womöglich die Seelen der Menschen, die den Sümpfen zum Opfer gefallen waren. Aber er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als sein Unbehagen zu erwähnen, denn er konnte sich lebhaft vorstellen, was Greyson dazu sagen würde. Die Zunge des anderen Mannes war bisweilen schärfer als seine Machete.
Zwischen Ruderbank und Heck des Bootes lag ein fleckiger brauner Sack. Darin eingewickelt war die Leiche eines Mannes. Neely hatte geholfen, ihn zu verstauen. Der Tote mochte fünfzig bis sechzig Jahre gezählt haben, hatte einen gepflegten Bart und zwei Colt Peacemaker an den Hüften getragen. Genutzt hatten ihm seine Waffen nichts. Jetzt waren sie im Besitz ihres Bosses und er auf dem Weg, auf Nimmerwiedersehen in den Sümpfen zu verschwinden.
»Bringen wir den Auftrag zu Ende«, brummte Neely, »und dann lasst uns zusehen, dass wir von hier verschwinden.« Er rutschte neben Greyson auf die Ruderbank, griff nach seinem Paddel und tauchte es ins Wasser. Greyson tat es ihm gleich, während Bo hinten saß, die Lampe hielt und die Augen nach unliebsamen Gefahren offenhielt.
Sie ruderten das Boot zu der Stelle, an der sie immer die Leichen abluden, die nicht gefunden werden sollten. Hier hievten sie den leblosen Körper aus dem Boot und schmissen ihn ins Wasser. Sie hatten den Sack mit Steinen beschwert, damit er nicht so bald wieder auftauchte.
Neely blickte auf die Kreise im Wasser. »Womöglich ist es unsere Schuld, dass die Alligatoren immer öfter auf Menschen gehen«, murmelte er. »Wir füttern die Biester an. Sie finden die Toten und kommen auf den Geschmack.«
»Ach, und das fällt dir jetzt erst ein?« Greyson rollte die Augen. Sein Blick fragte: Bei dir brennen auch nicht alle Kerzen am Kronleuchter, oder?
»Mir war das bisher wirklich nicht klar, aber nachdem immer mehr Menschen aus der Gegend spurlos verschwinden...« Neely rutschte nervös auf der Ruderbank herum.
»Nun entspann dich mal«, mahnte Greyson.
»Wie soll ich mich entspannen, wenn uns so eine verdammte Fressmaschine im Nacken sitzt? Ich hab das Vieh gesehen, das sich Harper geholt hat. Es maß fünf Yards in der Länge. Mindestens. Ihr habt es nicht gesehen. Ich schon. Und es ist schnell. Schneller, als ihr Holy Shit sagen könnt.« Unwillkürlich schloss er eine Hand um seine Waffe.
»Lass gut sein«, murmelte Greyson. »Mit deinem Schießeisen kannst du ihn höchsten kitzeln, aber nicht umbringen. Den Panzer durchdringen deine Kugeln sicher nicht.«
»Dann schieße ich ihm eben ins Auge.«
»Versuchs nur. Du hast es doch eben selbst gesagt: Diese Biester sind schnell. Die drehen sich blitzschnell im Wasser. Es ist aus mit dir, bevor du noch den Finger krümmen kannst.«
»Aber man muss sie doch irgendwie umnieten können.«
»Ich kenne keinen, der es versucht hätte und noch davon erzählen könnte.«
»Dann lasst uns zurückfahren. Mir ist es hier nicht geheuer. Wir hätten nicht so spät noch rausfahren sollen. Die Dunkelheit ist der Freund dieser Ungetüme.« Neely griff nach dem Ruder, ließ es jedoch im selben Augenblick los, weil etwas Haariges von dem Holz über seine Hand lief. Eine braune Spinne – groß wie sein Handteller!
Mit einem Schrei fegte er sie fort und sprang auf.
Im nächsten Augenblick geschahen mehrere Dinge auf einmal.
Das Boot geriet bedrohlich ins Schwanken. Greyson stieß einen vernehmlichen Fluch aus. Und die Spinne landete auf Neelys Stiefel und krabbelte sein Hosenbein hinauf. Er machte einen Schritt zurück und brachte das Boot damit endgültig zum Kentern. Sie kippten um!
Neely ruderte mit den Armen, aber es war zu spät. Er landete im Wasser, tauchte unter, schluckte etwas von der trüben Brühe und spürte plötzlich Grund unter seinen Stiefeln. Tief war das Wasser hier nicht, nur brackig. Er durchstieß keuchend die Oberfläche und schnappte japsend nach Luft.
Die Lampe war mit ins Wasser gestürzt und erloschen. Nun erhellte nur noch nebliges Mondlicht den Sumpf.
In der Nähe schien Bo von einer unsichtbaren Macht herumgeschleudert zu werden. So wild, als wäre er nicht schwerer als ein Grashalm. Sein Brüllen hallte von den mit Flechten und Moosen bewachsenen Zypressen wieder. Das Wasser rings um ihn färbte sich noch dunkler. Ein massiger, langgezogener Körper zeigte sich kurz neben ihm in den wirbelnden Wassermassen.
Und dann... waren beide mit einem Mal verschwunden!
Neely war wie erstarrt – bis neben ihm jemand brüllte: »Raus aus dem Wasser! Na los! Oder wartest du auf eine Einladung zum Tee? Komm schon! Beweg dich, wenn du an deinen heilen Knochen hängst!« Es war Greyson, der mit weit ausgreifenden Schritten durch das Wasser watete und geradewegs auf das Ufer zuhielt. Er blickte zu Neely um. Der schätzte die Entfernung auf gute fünfzig Yards. Das war zu weit. Wenn der Alligator zurückkam, waren sie im Wasser leichte Beute. Nein, er hatte einen anderen Plan. Auf einer kleinen Insel im Wasser, die kaum größer als ein Pferdegespann war, wuchs eine ausladende Sumpfzypresse. Wenn er es dort hinaufschaffte, war er gerettet.
»Nicht!«, gellte Greyson. »Diese Biester können klettern.«
»Klettern? Alligatoren? Im ganzen Leben nicht.«
»Und ob! Manche verweilen stundenlang und sonnen sich da oben.«
Neely schnaubte. Seinem Kumpan musste die Hitze zu Kopf gestiegen sein. Nein, diese schweren Riesen mochten im Wasser schnell sein, aber auf einen Baum schafften sie es sicher nicht. Dieses Ungeheuer würde ihn nicht zu fassen bekommen. Es würde... Moment mal!
Neely blieb jäh im Wasser stehen, während ihm das Blut in den Adern gefror. Der Alligator war nicht mehr zu sehen. Wo lauerte er nun? Wo? Panisch suchte Neely die Wasseroberfläche nach einem Anzeichen des riesigen Reptils ab. Vergeblich. Ihr Gegenspieler war nirgendwo zu sehen.
Neely wagte keine Bewegung. Wenn er sich rührte und die Aufmerksamkeit des Untiers auf sich zog, war alles aus. Kalter Schweiß brach ihm aus.
Greyson hatte es unterdessen an Land geschafft und brüllte ihm etwas zu, das er nicht verstand. In Neelys Ohren rauschte es. Er nahm eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr... rechts von ihm... Sein Kopf ruckte herum. Ein langer, baumähnlicher Körper bewegte sich im Wasser auf ihn zu... »Nein!« Seine Rechte schnellte an seine Waffe, aber ihm blieb nicht mehr die Zeit, um sie zu ziehen.
Eine ungeheure Kraft schlug sich in seinen rechten Oberschenkel. Krachend splitterten die Knochen. Es tat nicht weh. Zumindest nicht gleich. Erst einen oder zwei Herzschläge später raste ein so grausamer Schmerz durch seinen Körper, dass er glaubte, den Verstand zu verlieren. Sein ganzes Sein reduzierte sich auf diese eine glutrote Empfindung. Er konnte nicht atmen, nicht denken, nichts tun.
Er war nichts weiter. Nur noch Schmerz.
Und dann zog die Urgewalt ihn unter Wasser, hielt ihn dort fest, bis seine Brust zu bersten drohte und er tief, tief inhalierte, um der Pein zu entrinnen. Doch nicht Luft, sondern Wasser flutete seinen zuckenden Körper.
Erstaunen flackerte durch ein letztes Aufwallen seines Verstandes.
Er würde nicht sterben, weil er gefressen wurde. Nein, er würde vorher ertrinken.
Von irgendwo drang ein gewaltiges Krachen zu ihm durch. Versuchte Greyson, sich zu ihm durchzuschlagen? Neely bäumte sich auf – und dann schwemmte die Qual seine letzten Gedanken fort und er tauchte ein in ein dunkles Nichts.
Er bemerkte nicht mehr, wie ihn der riesige Alligator fortschleifte und dann auszog, um sich ein weiteres Opfer zu holen...
✰
Bei jedem Schritt, den Ryan Delaney machte, gab der Grund unter seinen Stiefeln schmatzende Geräusche von sich. Er hatte nicht das Gefühl, sich auf sicherem Boden zu bewegen, denn er sank immer wieder in das feuchte Grün ein.
Eine Wahl blieb ihm indes nicht. Er musste dem schmalen Grünstreifen folgen, der sich zwischen den Wurzeln der Zypressen schlängelte und vor Feuchtigkeit glänzte. Es war schon später, als ihm lieb war. Nach Einbruch der Dämmerung waren die Sümpfe gefährlicher als am hellen Tag.
Der Bayou war ein Labyrinth, gespeist vom Wasser des Mississippi und wohl auch vom Blut derer, die hier für immer verschwunden waren. Seitdem Ryan zuletzt hier gewesen war, waren dreizehn Jahre vergangen. Er hatte geglaubt, sich in den Sumpfgebieten auszukennen. Was konnte sich hier schon groß verändert haben?
Doch nun musste er einsehen, dass sich die Umgebung mit der Dunkelheit komplett verwandelte und dass seine Erinnerungen nicht ausreichten, um sich zu orientieren. Er hatte schlicht keine Ahnung, wo er sich befand.
Sollten die ersten Lichter von New Orleans nicht längst vor ihm zu sehen sein?
Er knirschte mit den Zähnen und kämpfte sich weiter. Tief hängende Zweige zerkratzten seine Wangen und Arme, weil er sie in der Dunkelheit zu spät sah. Das Mondlicht wurde von den fahlen Nebelschwaden gedämpft, die über dem Sumpfland waberten. In der Ledertasche, die er sich umgebunden hatte, bewahrte er seine wenigen Habseligkeiten auf. Einen Beutel mit Wasser, eine Klinge und ein paar Münzen, die jedoch nicht lange reichen würden. Das war alles. In seiner Faust trug er eine Harpune, die er selbst gefertigt hatte. Er war geschickt, damit zu jagen. Allein: Gegen das Raubzeugs, das sich in den Sümpfen verbarg, würde er damit nicht viel ausrichten können. Das war ihm klar. Wer hier überleben wollte, der tat gut daran, Gefahren aus dem Weg zu gehen, bevor sie ihn umbrachten.
Links und rechts von dem Grünstreifen verbargen sich stehende Gewässer, ein tückisches Geflecht aus Grün und Braun, das in der Dunkelheit mit dem sicheren Grund verschmolz. Er musste höllisch aufpassen, um nicht plötzlich in einen Flusslauf zu geraten. Das Wasser war meistens nicht sonderlich tief, aber die stinkende Brühe war alles andere als geeignet, um ein Bad zu nehmen.
Zumal die Gesellschaft darin zu wünschen übrig ließ...
Er war auf seinem Weg mehreren kleineren Alligatoren begegnet. Von einigen hatte nicht viel mehr als die Atemlöcher aus dem Wasser geschaut. Allesamt Jungtiere, zu unerfahren, um ihm gefährlich zu werden, aber ihm war bewusst, dass es nichts als Glück war, dass er noch keinem Menschenfresser über den Weg gelaufen war.
Und auf sein Glück verließ er sich lieber nicht. Fortuna war eine launische Lady, die einem im einen Augenblick zulächelte und im nächsten geradewegs mitten ins Gesicht schlug.
Er stapfte weiter, hörte das Schmatzen von Schlamm und Schlick unter seinen Sohlen. Sein Hemd klebte ihm vor Schweiß am Leib. Kurz gestattete er sich, von einem Bad zu träumen. Ein warmer Zuber mit klarem Wasser, duftende Seife, saubere Handtücher und vielleicht ein williges Girl, das sich im Zuber an ihn schmiegte... Etwas in ihm krampfte sich sehnsüchtig zusammen.
Dann war der Augenblick vorbei.
Ryan mochte es nicht, sich in Illusionen zu verlieren. Die brachten einem Mann nichts als Kummer. Er hatte gelernt, im Hier und Jetzt zu leben. Und das Hier und Jetzt bestand in einem schier endlosen Weg durch diese elenden Sümpfe und einem Bad, das ein Traum bleiben würde. Nun, er kam damit zurecht. Während der vergangenen dreizehn Jahre hatte ihm eine Schüssel mit kaltem Wasser genügt – und die hatte er sich mit fünf anderen teilen müssen.
Er straffte sich und marschierte voran. Irgendwann, so hoffte er, würde er auf ein Boot stoßen, das er sich nehmen und mit dem er schneller vorankommen konnte. Oder er fand eine der Fischerhütten, die in der Gegend verteilt waren wie Fliegen auf dem Hintern eines Pferdes. Er könnte dem Fischer etwas zu essen abkaufen und nach dem Weg fragen. Es sei denn, der hatte sein Konterfei auf einem der Steckbriefe entdeckt, die gewiss von ihm im Umlauf waren. Dann standen sie beide vor einem Problem. Der Fischer, weil er einen entflohenen Sträfling vor sich hatte. Delaney, weil er niemanden töten wollte, sich aber auch nicht aufhalten lassen würde. Er hatte eine Mission und die wollte er zu Ende bringen.
Nein, verdammt, er würde seinen Weg auch allein finden.
Etwas stach ihn in den Nacken. Mit der Dämmerung kamen sie – unzählige Moskitos, die um seinen Schädel schwirrten. Er schlug nach dem Störenfried, aber schon waren zwei neue da und drangsalierten ihn. Fluchend hieb er danach und beschleunigte seine Schritte unwillkürlich. Er wusste schon, warum er diese Gegend verabscheute. Das Klima war heiß, feucht und zehrte an den Kräften selbst des stärksten Mannes. Und die Insekten waren eine elende Plage. Er würde sich einreiben müssen und...
Ein Platschen in der Nähe riss ihn aus seinen Gedanken.
Ein Alligator?