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Die Frau wollte schreien, doch ihr Bezwinger hielt ihr den Mund zu. Lassiter sah es, als er um die Ecke des Hotelkorridors bog. Er schnellte los. Die flauschigen Orientteppiche schluckten seine Schritte. Mit langen federnden Sätzen stürmte er auf den Gewalttäter zu.
Im Dämmerlicht drückte der Kerl sein Opfer in die Ecke zwischen Fensterwand und Zimmerflucht. Er war breitschultrig und stämmig, nur wenig größer als die Frau, aber viel stärker.
Trotzdem wehrte sie sich mit der Zähigkeit einer Katze. Ihr Widersacher hatte alle Hände voll zu tun, um sie zu bändigen. Deshalb bemerkte er den großen Mann erst, als dieser ihn an der Schulter packte und herumriss.
Lassiter erstarrte im selben Moment. Blitzender Stahl zuckte auf ihn zu...
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Die Bismarck-Bande
Vorschau
Impressum
Die Bismarck-Bande
von Kenneth Roycroft
Die Frau wollte schreien, doch ihr Bezwinger hielt ihr den Mund zu. Lassiter sah es, als er um die Ecke des Hotelkorridors bog. Er schnellte los. Die flauschigen Orientteppiche schluckten seine Schritte. Mit langen federnden Sätzen stürmte er auf den Gewaltttäter zu.
Im Dämmerlicht drückte der Kerl sein Opfer in die Ecke zwischen Fensterwand und Zimmerflucht. Er war breitschultrig und stämmig, nur wenig größer als die Frau, aber viel stärker.
Trotzdem wehrte sie sich mit der Zähigkeit einer Katze. Ihr Widersacher hatte alle Hände voll zu tun, um sie zu bändigen. Deshalb bemerkte er den großen Mann erst, als dieser ihn an der Schulter packte und herumriss.
Lassiter erstarrte im selben Moment. Blitzender Stahl zuckte auf ihn zu ...
Ihm blieb nur ein Sekundenbruchteil, um zu reagieren. Mit der geballten Kraft seiner Beinmuskeln katapultierte er sich nach links. Der flirrende Klingenstahl verfehlte seine Hüfte um weniger als einen Inch, verfing sich aber im hochwehenden Aufschlag seiner Lederjacke.
Die Frau schrie.
Sie verlor das riesige Bowiemesser aus der Hand. Lassiter blieb keine Zeit, sich den Gewalttäter zu schnappen. Denn die Frau ging auf ihn los wie eine Furie. Beide Hände zu Fäusten geballt, hieb sie auf seinen Brustkasten ein.
Und sie hörte nicht auf zu schreien. Eben noch aus Angst; war es jetzt unartikulierte, blinde Wut, die sie antrieb.
Der Angreifer nutzte die Gunst des Moments, um zu entwischen. Mehr als einen huschenden Eindruck von seinen indianischen Gesichtszügen bekam Lassiter deshalb nicht mit. Die Frau forderte seine ganze Aufmerksamkeit, während sich die dumpfen Schritte des Fliehenden rasch entfernten.
Noch vom eigenen Schwung des Zustoßens wurde die Frau mitgerissen. Ihr vor Anstrengung verzerrtes Gesicht kam erst knapp vor der Schulter des großen Mannes zum Stillstand, als er ihre Handgelenke mit beiden Händen packte.
Abermals wandelte sich der Klang ihres Schreis. Diesmal lag es an dem Schmerz, den Lassiters Zupacken ihr bereitete. Überdies war sie zu keiner Bewegung mehr fähig. Der eisenharte Doppelgriff des großen Mannes zwang sie in die Knie.
Ihr Schrei ging in ein jämmerliches Wimmern über. Mit Tränen in den Augen blickte sie zu Lassiter auf. Doch nichts als Wut und Schmerz verursachten diese Tränen. Das erkannte Lassiter, ohne zweimal hinsehen zu müssen. Keine Einsicht, keine Scham wegen ihres Handelns.
Die Schritte des Fliehenden waren im Treppenhaus längst verklungen. Wahrscheinlich benutzte er den Hinterausgang, um endgültig zu verschwinden.
Lassiter sicherte das Bowiemesser am Boden, indem er seinen linken Fuß daraufstellte. Gleichzeitig lockerte er seinen Griff, hielt aber weiter die Handgelenke der Frau fest. Er half ihr, sich aufzurichten. Ihr Wimmern endete. Doch ihr Blick war wie ein einziger flammender Dolchstoß.
»Sie sollten sich freuen«, sagte er ruhig. »Erstens habe ich Sie gerettet, und zweitens habe ich Sie vor einem schwerwiegenden Fehler bewahrt.« Mit einem Blick deutete er auf das Messer unter seiner Stiefelsohle. »Das war ein glatter Mordversuch, Madam.«
Seine Worte erreichten sie nicht. Nicht die geringste Spur von Reue war ihr anzumerken. Ihre Gesichtszüge waren eisenhart. Der Mund verkniffen. Die Augen von blauer Eiseskälte.
Ihr straff zurückgebundenes blondes Haar hatte sie am Hinterkopf zu einem wohlgeordneten Knoten zusammengesteckt. Ihre Gesichtsfarbe war das, was man eine vornehme Blässe nannte.
Vor allem die Frisur war es wohl, die sie älter wirken ließ, als sie war. Nur weil sie ihm ungewollt ganz nahe war, vermochte Lassiter sie auf Mitte zwanzig zu schätzen. Sie war ein Rätsel für ihn – ganz abgesehen von ihrer Messerattacke.
Was, in aller Welt, brachte eine Frau dazu, sich älter zu machen als sie war? Sie ließ ihm keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Unverschämter Lümmel!«, fauchte sie. »Was bilden Sie sich ein!«
Ihr Englisch hatte einen harten, leicht kehlig klingenden Akzent. Es wunderte ihn nicht, denn es hielten sich viele Ausländer in Bismarck auf. Anlass waren die Feierlichkeiten zur Gründung des Bundesstaates North Dakota, und Bismarck war die Hauptstadt des neuen Staates.
Lassiter grinste amüsiert. »Klären Sie mich auf, verehrte Dame«, sagte er, wobei er die letzten beiden Worte auf Deutsch aussprach. »Was ist ein Lümmel?«
Ihre Augen verengten sich, während sie immer noch versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien.
»Es wird Ihnen nicht gelingen, sich über mich lustig zu machen«, erwiderte sie keuchend. »Aber ich erkläre es Ihnen trotzdem. Ein Lümmel ist ein Rüpel, ein Flegel, einfach ein unverschämter Kerl.«
Der große Mann nickte geduldig. »Wir haben ein Sprichwort. Undank ist der Welt Lohn.«
»Das haben wir auch«, fauchte sie. »Im Übrigen weiß ich nicht, wofür ich Ihnen dankbar sein soll. Sie haben mich daran gehindert, einem Sittenstrolch die Quittung für sein krankhaftes Tun zu verpassen.«
»Wir?«, wiederholte Lassiter ihr Wort. »Wen meinen Sie damit?«
»Uns Deutsche.« Sie schob das Kinn vor und musterte ihn von oben herab. »Wissen Sie nicht, wer ich bin?«
Lassiter schmunzelte. »Ich bin sicher, ich werde es gleich erfahren. Im Augenblick spielt das allerdings keine Rolle, weil ich Sie vorläufig festnehmen muss. Ihr persönliches Pech, dass Sie einen Regierungsbeamten angegriffen haben.«
Nur für den Hauch eines Moments war etwas wie Erschrecken in den Gesichtszügen der Frau zu erkennen. Doch sofort hatte sie sich wieder in der Gewalt. Selbstsicherheit und Arroganz kehrten in ihren Blick zurück. Sie stieß einen verächtlichen Laut aus.
»Vorläufig festnehmen! Dass ich nicht lache! Dazu haben Sie gar kein Recht. Ich bin Staatsbürgerin des deutschen Kaiserreichs. Mein Name ist Henriette von Ehrenburg.«
Sie unterbrach sich und sah ihr Gegenüber herausfordernd an, als müsste ihn allein die Nennung ihres Namens in Grund und Boden verdammen.
»Na und?«, hätte er am liebsten geantwortet. Doch er ließ es. Er wollte sie nicht unnötig reizen. Sie hatte genug mit ihrer eigenen Verbohrtheit zu kämpfen. Deshalb nickte er nur.
»Allright, Henriette«, sagte er gelassen. »Wir beide haben jetzt zwei Möglichkeiten, wenn wir gemeinsam zum Marshal's Office gehen. Entweder, Sie sind ein folgsames Mädchen und leisten keinen Widerstand. Oder es wird hart für Sie.«
✰
Ihr Kinn sank abwärts, und wenig ladylike stand sie mit offenem Mund da. Sie starrte den Mann der Brigade Sieben an, als hätte sie es plötzlich mit einem unbekannten Wesen aus einer fremden Welt zu tun.
Weil sie den Anschein machte, dass es ihr bis auf weiteres die Sprache verschlagen hatte, übernahm Lassiter erneut die Wortführung.
»Ich werde jetzt Ihr rechtes Handgelenk loslassen«, kündigte er an, »damit ich das Beweismittel aufheben kann. Ich werde es dem Town-Marshal übergeben, damit er es bis zur Gerichtsverhandlung aufbewahrt.«
Henriettes Augen wurden groß und rund.
»Nun sagen Sie mal...«, flüsterte sie fassungslos und herablassend zugleich. »Wissen Sie überhaupt, was Sie da reden? Meine Familie und ich sind Ehrengäste in dieser Stadt. Der Name von Ehrenburg hat hier einen erhabenen Klang. Mein Mann, Friedrich Wilhelm von Ehrenburg ist Rittergutsbesitzer und Reeder. Sein Vater, Eginhardt Wilhelm von Ehrenburg, hat als Investor einen bedeutenden Beitrag zum Bau der Northern Pacific Railroad bis hierher, in die Stadt Bismarck, geleistet.«
»Ist das so?«, entgegnete Lassiter mit gespieltem Interesse.
»Allerdings.« Henriette nickte heftig. »Leider konnte mein Schwiegervater, obwohl eingeladen, die beschwerliche Reise über den Atlantik nicht antreten. Wilhelm, seine Frau Eleonore und ich vertreten ihn aber mit gebotenem Respekt und angemessener Würde.«
Lassiter ließ ihr rechtes Handgelenk wie angekündigt los, und zu seinem Erstaunen rührte sie sich nicht, als er das Bowiemesser aufhob. Er schob die Klinge auf seinem Rücken unter den Revolvergurt und hielt lediglich Henriettes linkes Handgelenk weiterhin fest.
Wie ein kleines Mädchen an seiner Hand begleitete sie ihn bereitwillig den Korridor hinunter. Trotzdem traute er dem Frieden nicht. Vielmehr rechnete er in jeder Sekunde damit, dass sie versuchen würde, sich loszureißen.
Sie war in eine verbissene Art von Schweigen verfallen. Es zeigte ihm, dass sie darüber nachsann, wie sie sich ebenjenen Respekt verschaffen konnte, den sie auch für sich selbst als angemessen erachtete.
Lassiter kannte die Zusammenhänge zwischen Deutschland und der Stadt Bismarck. Hier in North Dakota hatten sich deutsche Ingenieure beim Eisenbahnbau einen Namen gemacht. Investoren aus dem Kaiserreich jenseits des Atlantiks waren gefolgt und hatten Hoffnungen bei den örtlichen Politikern geweckt.
Die Northern Pacific Rail Road, kurz NPRR genannt, spielte in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Nach ihrer Gründung 1872 »Missouri Crossing« genannt, wurde die Stadt kurz darauf umbenannt in »Edwinton«, nach Edwin Ferry Johnson, einem Chefingenieur der NPRR, der maßgeblich an der Fertigstellung der Eisenbahnroute von Minnesota westwärts nach North Dakota beteiligt war.
Schon 1873 gab es abermals einen neuen Namen für die Stadt am Missouri. Dafür sorgte die einflussreiche Railroad Company. Mit ihrem Vorschlag, die Stadt auf den Namen »Bismarck« umzutaufen, rannte die NPRR bei den maßgeblichen Lokalpolitikern offene Türen ein.
Mit der Umbenennung zu Ehren des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck vereinten Politiker und NPRR-Führung die Hoffnung, neben deutschen Siedlern auch deutsches Kapital nach Bismarck und North Dakota locken zu können.
Diese Hoffnung zerschlug sich aber, weil die Railroad Company ständig am Rand des Bankrotts lavierte. Daher war sie ein unsicherer Kandidat und für Investitionen alles andere als reizvoll.
Doch ihren Namen hatte die Stadt Bismarck beibehalten. Und jetzt, 1889, im Geburtsjahr des neuen Bundesstaates North Dakota, hatte dessen frischgebackene Hauptstadt die guten Beziehungen zum Kaiserreich Deutschland nach wie vor nicht aufgegeben.
Mit der neuen Hauptstadtwürde verbanden Bürgermeister und Ratsherren der Stadt nicht zuletzt die Hoffnung auf neu erblühende Geschäftsbeziehungen mit dem guten alten Deutschland.
Nicht umsonst waren Würdenträger aus dem Land des Reichskanzlers eingeladen worden. Auch er selbst natürlich. Bei der Umbenennung hatte man ihm bereits die Ehrenbürgerschaft angetragen und ihn gebeten, die Patenschaft für die Stadt zu übernehmen, die seinen Namen trug.
Eine Bitte, die nun durch den Rang der Hauptstadt neues, zusätzliches Gewicht erhielt. Und mit dem unter dem Spitznamen »Eiserner Kanzler« berühmten Otto von Bismarck als Ehrenbürger und Pate würde man sich nun noch deutlicher von South Dakota und dessen Hauptstadt Pierre abheben können.
Beide Bundesstaaten waren in diesem Jahr neu gegründet worden, nachdem sie gemeinsam als Dakota Territory abwechselnd von den Hauptstädten Yankton und Bismarck regiert worden waren.
Henriette von Ehrenburg fand unvermittelt ihre Sprache wieder, als sie mit Lassiter die Treppenstufen zur Lobby im Erdgeschoss hinunterschritt.
»Ohne uns wäre diese Stadt ein Nichts«, sagte sie in plötzlichem Plauderton, was ihr einen erstaunten Seitenblick des großen Mannes eintrug. Sie bemerkte seinen Blick und nickte bekräftigend. »Ja, wirklich, deutsche Ingenieurskunst hat entscheidend zum Eisenbahnbau in North Dakota beigetragen. Und ohne die Eisenbahn wäre dieses Land wahrscheinlich noch ausschließlich von Büffelherden bevölkert.«
Lassiter sah, dass Henriette auf dem Weg nach unten suchend in die Eingangshalle spähte. Aber wie es schien, konnte sie kein bekanntes Gesicht entdecken.
»Ich bin sicher«, erwiderte Lassiter spöttisch, »die Stadt Bismarck liegt Ihnen zu Füßen.«
Sie atmete hörbar durch die Nase aus. »Glauben Sie bloß nicht, dass Sie sich über mich lustig machen können. So etwas prallt wirkungslos an mir ab.«
»Umso besser.« Er sah sie an und lächelte. »Es täte mir wirklich leid, wenn ich ihnen seelischen Schaden zufügen würde. Dabei hätte ich allen Grund dafür.«
»Ach, wirklich?« Sie erwiderte seinen Blick, und in der Eisestiefe ihrer Pupillen glaubte er, aufkeimendes Interesse zu erkennen.
»In der Tat«, bestätigte er. »Immerhin sind Sie mit dem Messer nicht nur auf Ihren Sittenstrolch, sondern auch auf mich losgegangen. Ich frage mich ja nicht allein, warum Sie das getan haben. Der Marshal und der Richter werden an der Antwort genauso interessiert sein. Und woher hatten Sie überhaupt das Messer?«
Sie gab den Ansatz eines grimmigen Lachens von sich. »Ich habe es ihm weggenommen, ganz einfach.«
»Ach, und das hat er einfach so geschehen lassen?«
»Ja, das hat er«, ereiferte sie sich. »Er hat sich so sehr auf sein schändliches Tun konzentriert, dass er nichts anderes mehr wahrgenommen hat. Ich habe also nichts weiter getan als das, was wir Notwehr nennen.«
»Und mich anzugreifen, als ich Sie vor dem Kerl gerettet habe – soll das etwa auch Notwehr gewesen sein?«
»Aber natürlich. Ich musste doch davon ausgehen, dass Sie mir auch Gewalt antun wollten.«
»Ich glaube es nicht!«, stöhnte Lassiter und sandte einen Blick in die Höhe.
Sie erreichten das Erdgeschoss. In der Lobby herrschte Betrieb. Gäste kamen und gingen. Draußen fuhren Kutschen vor, nachdem andere ihnen Platz gemacht hatten. Noch immer konnte Henriette niemanden entdecken, den sie kannte.
Im Ausgang, nach wie vor fügsam an Lassiters Hand, winkte sie einen Hotelboy herbei. Gezwungenermaßen blieb Lassiter mit ihr stehen.
»Ja, Madam?«, sagte der livrierte Junge und verbeugte sich.
»Verständigen Sie meinen Bruder«, wies sie ihn mit gestrenger Miene an. »Sagen Sie ihm, mir wird hier Unrecht zuteil. Er wird mich im Büro des Marshals finden.«
»Ich werde es ausrichten, Madam.« Der Junge verbeugte sich abermals, machte kehrt und verschwand zwischen den Menschen in der Lobby.
»Kennt der Junge Ihren Bruder?«, fragte Lassiter, als er seinen Weg mit Henriette fortsetzte.
»Aber natürlich«, antwortete sie, und beinahe empört über sein Unwissen fügte sie hinzu: »Wir sind die wichtigsten Gäste hier im Riverside-Hotel. Wir bewohnen die Präsidentensuite. Immerhin repräsentieren wir das deutsche Kaiserreich.«
Lassiter grinste wieder. »Warum haben Sie den Kaiser nicht gleich mitgebracht?«
Sie schnaubte verächtlich. »Kaiser Wilhelm der Zweite hat Wichtigeres zu tun, als sich in einem Provinznest im Wilden Westen zu langweilen.«
»Donnerwetter«, entgegnete Lassiter mit gespielter Anerkennung. »Jetzt haben Sie es mir aber gegeben, was?«
Diesmal glaubte er, in ihren Augen etwas Neues zu erkennen – etwas wie schmelzendes Eis. Doch der Eindruck verlor sich gleich wieder, und die Kälte kehrte in ihren Gesichtsausdruck zurück.
»Haben Sie überhaupt einen Namen?«, fragte sie schroff.
»Habe ich«, erwiderte er. »Lassiter.«
»Und?«, schnappte sie. »Vorname?«
»Kein Vorname.«
»Was?« Diesmal erntete er einen geradezu empörten Seitenblick. »Man muss doch einen Vornamen haben.«
»Bei uns nicht.« Lassiter lächelte mild. »Ich habe nur den einen Namen. Damit müssen Sie sich abfinden.«
Sie schnaubte herablassend. »Als ob mir das schwerfallen würde. Halten Sie sich bloß nicht für wichtig, Herr Lassiter.«
»Sorry, es muss an Ihrer Nähe liegen«, spottete er. »In Ihrer Nähe fühlt man sich wohl automatisch geadelt.«
Statt einer Antwort schob sie das Kinn vor und blickte starr geradeaus – als Zeichen dafür, dass sie an einer Fortsetzung des Gesprächs nicht interessiert war.
Lassiter führte sie über die Main Street, durch die wenigen Lücken im Straßenverkehr. Viele geschlossene und offene Kutschen mit elegant gekleideten Fahrgästen waren unterwegs. Auch Reiter waren zu festlichen Veranstaltungen unterwegs und entsprechend gekleidet.
Lassiter und Henriette stiegen die beiden Stufen hinauf, die unter das Vordach des Marshal's Office führten. Aus einer Ahnung heraus blieb der große Mann mit seiner Begleiterin noch einmal stehen. Beide blickten in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Das Tageslicht begann bereits zu versiegen. In der einsetzenden Dämmerung schien die Zahl der Menschen auf der Straße noch zugenommen zu haben. Auch vor dem Riverside-Hotel herrschte nach wie vor reges Kommen und Gehen.
Trotz der Entfernung von gut hundert Yard fiel dort ein hochgewachsener Mann in schwarzem Gehrock auf. Unter der Krempe seines hohen, ebenfalls schwarzen Zylinders waren blonde Haare zu erkennen. Seine Hände steckten in enganliegenden weißen Handschuhen.
Henriette hatte den Mann ebenfalls entdeckt.
»O, da ist ja Friedrich Wilhelm«, frohlockte sie und sah Lassiter triumphierend an. »Mein Bruder kommt. Jetzt können Sie was erleben.«
✰
Ron Wapasha war noch immer außer Atem, obwohl er sich jetzt sicher fühlen konnte. Er hatte sich in eine der Lauben zurückgezogen, die weit verstreut auf dem gepflegten Rasen des Hotelgartens standen.
Die Rasenfläche führte mit leichtem Gefälle zum Ufer des Missouri hinunter. Aus seiner Laube konnte Wapasha alles im Auge behalten, was für ihn wichtig war. Das waren zum einen der Anleger am Fluss und zum anderen die Rückseite des Hotels.
Letztere wies eine Fensterfront und eine verglaste Tür auf, die auf eine geräumige Terrasse mündete. Von dort konnten die Gäste des noblen Hauses den Ausblick auf den Missouri genießen.
Elegant gekleidete Menschen saßen an Tischen in dem von prunkvollen Kronleuchtern erhellten Saal. Einige standen in kleinen Gruppen herum, in angeregte Gespräche vertieft. Vier Musiker auf einer Bühne spielten Tischmusik. Die dezenten Klänge waren immer dann für einen Moment lauter zu hören, wenn Hotelgäste auf die Terrasse heraustraten.
Die Stadt Bismarck strengte sich mächtig an, um als neue Hauptstadt eines neuen Bundesstaats einen glanzvollen Eindruck auf ihre Gäste zu machen.
Ron Wapasha hatte sein Versteck trotz aller Eile mit Bedacht ausgewählt. Den Anleger hatte er durch die offene Vorderseite der Laube im Blick. Vier Ruderboote waren dort unten vertäut und dümpelten in der Strömung.