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"Socorro!", schmetterte die Stimme des Bahnhofsvorstehers. "Socorro, New Mexico, Endstation! Alle Passagiere bitte aussteigen!" Seine Ansage machte der dunkelblau Uniformierte durch eine Flüstertüte, mit deren Hilfe er das Schnaufen und Zischen der Lokomotive mühelos übertönte. Das blankpolierte Messing des Schalltrichters glänzte golden im Schein der Julisonne.
Der Zug der Atchison, Topeka and Santa Fé Railway war zum Stehen gekommen. Die Lok umhüllte sich selbst und einen Teil des Bahnsteigs mit einer weißen Dampfwolke. Der Bahnhofsvorsteher ließ sein Sprachrohr sinken und wandte sich der kleinen Gruppe von Frauen und Männern zu, die neben ihm ausharrte. "Es gefällt mir nicht, dass Sie bewaffnet sind", sagte er und deutete missbilligend auf die Revolverkolben, die an den Hüften der Männer aus den Halftern ragten.
"Wir wissen, was wir tun", erwiderte die Anführerin der Gruppe kühl und herablassend.
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Seitenzahl: 128
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Das Hexenhausvon Socorro
Vorschau
Impressum
Das Hexenhausvon Socorro
von Ken Roycroft
»Socorro!«, schmetterte die Stimme des Bahnhofsvorstehers. »Socorro, New Mexico, Endstation! Alle Passagiere bitte aussteigen!« Seine Ansage machte der dunkelblau Uniformierte durch eine Flüstertüte, mit deren Hilfe er das Schnaufen und Zischen der Lokomotive mühelos übertönte. Das blankpolierte Messing des Schalltrichters glänzte golden im Schein der Julisonne.
Der Zug der Atchison, Topeka and Santa Fé Railway war zum Stehen gekommen. Die Lok umhüllte sich selbst und einen Teil des Bahnsteigs mit einer weißen Dampfwolke. Der Bahnhofsvorsteher ließ sein Sprachrohr sinken und wandte sich der kleinen Gruppe von Frauen und Männern zu, die neben ihm ausharrte. »Es gefällt mir nicht, dass Sie bewaffnet sind«, sagte er und deutete missbilligend auf die Revolverkolben, die an den Hüften der Männer aus den Halftern ragten.
»Wir wissen, was wir tun«, erwiderte die Anführerin der Gruppe kühl und herablassend.
Es gefällt mir nicht, dass Sie überhaupt hier sind, wollte James Donahue, der Mann in der dunkelblauen Uniform der Railroad-Company, eigentlich noch sagen. Doch er schwieg. Seine ärgerlich zusammengepressten Lippen waren unter dem buschigen Schnauzbart nicht zu erkennen.
Aber sein Gesichtsausdruck sagte alles über seine Abneigung gegen die ungebetenen Gäste auf dem Bahnsteig. Und sein Blick, mit dem er die Anführerin Gertrude Payton maß, spiegelte unverhohlene Verachtung.
Gern hätte er sie und ihre Leute zum Teufel geschickt. Aber ein Hausrecht konnte er nicht geltend machen, weil der Bahnsteig zum öffentlichen Bereich des Bahnhofs gehörte.
Donahue konnte die hagere, streng aussehende Frau nicht leiden. Das hatte er ihr sogar schon einmal ins Gesicht gesagt, als sie mit ihrem Gefolge auf dem Bahnsteig aufgekreuzt war.
Allein mit ihrem Äußeren gab sich Gertrude Payton wenig Mühe, sympathisch zu wirken. Wie sie aussah und sich kleidete, glich sie einer verknöcherten Alten. Mit ihren dreiunddreißig Jahren sah sie aus, als wäre sie im Dienst ergraut und kurz vor der Pensionierung.
Das lag vor allem an ihrem aschblonden Haar, das wie grau wirkte. Sie trug es zu einem Knoten zurückgebunden. Eine Nickelbrille mit runden Gläsern verschärfte das Bild ihrer Strenge. Außerdem kleidete sie sich stets nur in Grau.
An diesem Tag war es ein dunkelgraues Kostüm, das ihre hagere Statur noch unterstrich. Ein topfförmiger Hut im gleichen Farbton wirkte ebenso unvorteilhaft wie die schwarzen Schnürstiefel.
Darüber war ein kurzes Stück ihrer storchendünnen Beine, in graue Wollstrümpfe gehüllt, zu sehen. Der lange Rock verdeckte gnädig weitere Einblicke. Natürlich war sie unverheiratet.
Wie die meisten Leute in Socorro konnte sich James Donahue beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie jemals einen Mann abkriegen würde. Gemessen daran, dass sie keinen Wert auf ihr Erscheinungsbild legte, hatte sie offenbar auch kein Interesse an einer Ehe.
Als Schulleiterin war Gertrude Payton allerdings eine Respektsperson in der Stadt. Ihre Schüler fürchteten sie wegen ihrer Hartherzigkeit.
Und viele Erwachsene empfanden ebenso wie der Leiter des Bahnhofs. Das lag daran, dass Gertrude die Organisation der Temperenzlerinnen in Socorro leitete. Dabei hatten die Erwachsenen von Gertrude und ihren Anhängern nicht grundsätzlich etwas zu befürchten.
Nur die Freunde des Alkohols waren ihre Feinde.
Deshalb waren Gertrude Payton und ihre Mitstreiterinnen vor allem in den Saloons, Tanzhallen und Bordellen verhasst – kurzum, in allen Etablissements, in denen der Alkohol in Strömen floss.
Die Dampfwolken auf dem Bahnsteig senkten sich und lösten sich langsam auf. Die ersten Passagiere stiegen aus. Anfangs schemenhaft, dann rasch deutlicher, schälten sie sich aus den nebelartigen Schwaden hervor.
Zumeist handelte es sich um Gentlemen in eleganten Businessanzügen. Aber auch etliche Cowboys verließen den Zug. Vermutlich kehrten sie aus Kansas City zurück, nachdem sie die Rinderherden ihrer Rancher in den dortigen Verladestationen abgeliefert hatten.
Die Geschäftsreisenden durchquerten die Bahnhofshalle und eilten auf die Mietkutschen zu, die auf dem Vorplatz bereitstanden. Unterdessen machten sie sich die Cowboys auf den Weg zum Ende des Zugs. In den dortigen Güterwaggons waren ihre Pferde und das Sattelzeug untergebracht.
Mit wachsendem Unmut beobachtete James Donahue, wie sich die Haltung der Frauen anspannte. Ihre bewaffneten Begleiter, vier an der Zahl, blieben zwar gelassen, doch das konnte sich jeden Augenblick ändern.
Etwas braute sich zusammen. Die Frauen suchten Verdruss. Donahue witterte es förmlich. Auf ihn wirkten sie wie Löwinnen, die im Begriff waren, sich auf ihre Jagdbeute zu stürzen.
Allerdings waren die Leibwächter Befehlsempfänger. Sie würden nur dann losschlagen, wenn sie entsprechende Order erhielten.
Die Temperenzlerinnen waren zu sechst, Gertrude Payton mitgezählt. Ein vergleichsweise geringes Aufgebot. Bei ihren zornigen Kundgebungen vor Saloons, aber auch vor Privathäusern, in denen private Feiern stattfanden, marschierten sie stets in viel größerer Zahl auf.
Bei solchen Gelegenheiten riefen sie lautstark und im Chor ihre Warnungen vor den schlimmen Folgen der Alkoholsucht. Dagegen ging es hier, auf dem Bahnsteig, eher um die Bekehrung von Einzelpersonen.
So oder so waren diese Frauen kein gutes Aushängeschild für Socorro, fand der Bahnhofsvorsteher. Die Stadt war klein, aber dank der Eisenbahn hatte sie die allerbesten Voraussetzungen für eine aufwärtsstrebende wirtschaftliche Entwicklung.
Doch welcher Firmengründer wollte sich schon an einem Ort niederlassen, an dem ihm und seinen Mitarbeitern Vorschriften gemacht wurden, wie sie ihr Privatleben zu gestalten hatten?
Denn genau das wollten Gertrude Payton und ihre Gruppe tun. Vorschriften machen. Ihrer Meinung nach musste Alkohol vollständig verboten werden. Nicht einen einzigen Tropfen sollten sich die Menschen in die Kehle rinnen lassen.
Bislang, als die Frauen dieses Ziel allein verfolgt hatten, waren sie belächelt und nicht ernst genommen worden. Nun aber änderte sich die Lage – zumindest in Socorro. Als Erste in der staatenweiten Anti-Alkohol-Organisation hatte Gertrude Payton eine eigene Schutztruppe engagiert. Die Revolvermänner.
Offiziell dienten die Bewaffneten den Frauen als Beschützer. Das klang plausibel, weil sie bei ihren Kundgebungen nicht selten belästigt und angepöbelt wurden.
Die Zeitungen hatten bereits über Gertrude Paytons Schutzmaßnahme berichtet, und es stand zu befürchten, dass weitere örtliche Gruppen der Temperenzlerinnen dem Beispiel aus Socorro folgen würden.
Ihren Kampf gegen den Alkohol führten die kämpferischen Ladys normalerweise nur mit der Kraft des Wortes. Überall in den Vereinigten Staaten und im Rest der Welt, wo es Organisationen der »Temperance Union« gab, machten die rigorosen Demonstrantinnen Schlagzeilen.
Und mit ihrer wachsenden Popularität wuchs der Widerstand. So rotteten sich in den Saloons immer mehr Freunde harter Drinks zusammen, die nicht davor zurückschreckten, den Temperenzlerinnen Schläge anzudrohen.
In einigen Städten des Westens hatte es bereits Zwischenfälle gegeben. Jedes Mal waren es Angetrunkene gewesen, die die Frauen niedergebrüllt und ihnen angedroht hatten, nachzuholen, was ihre Ehemänner wohl versäumt hatten. Nämlich, sie übers Knie zu legen und ihnen den Hintern zu versohlen.
Und bei Drohungen war es nicht geblieben. In Socorro war zwar noch nichts Derartiges passiert, doch Gertrude Payton hatte beschlossen, ein Exempel zu statuieren. Sie hatte die Revolvermänner engagiert, um möglichen Gewalttätern zuvorzukommen.
✰
Der Bahnhofsvorsteher konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen. »Temperenz heißt doch Mäßigung, nicht wahr, Madam?«
»Ja, da haben Sie recht«, lobte ihn Gertrude Payton schulmeisterhaft wohlwollend. »Ich nehme an, dass Sie allein von Berufs wegen verantwortungsbewusst sind und den Teufel Alkohol aus Ihrem Leben verbannt haben.«
»Das habe ich in der Tat«, bestätigte James Donahue. »Nur nach dem Abendessen genehmige ich mir mal ein kleines Glas Bier. Das ist doch nicht so schlimm, o...?« Das Wort »oder« bekam er nicht mehr heraus.
Denn Gertrude Payton unterbrach ihn mit einer schroffen Handbewegung. Ihr Blick wanderte von ihm ab.
»Der Mann dort!«, rief sie ihrer Gruppe zu. »Den knöpfen wir uns vor.«
Mit ausgestrecktem Arm zeigte sie auf einen elegant gekleideten Gentleman, der aus dem Pullman-Wagen gleich hinter dem Postwagen stieg.
James Donahue konnte nur den Kopf schütteln. »Aber der Mann ist doch völlig nüchtern«, entfuhr es ihm.
»Nein«, widersprach Gertrude Payton ihm schneidend. »Er ist sturzbetrunken. Man sieht es ihm nur nicht an.«
Donahue schüttelte ungläubig den Kopf. »Das glaube ich nicht«, wies er standhaft zurück. »Das ist doch ein typischer Großstädter – und wohlhabend noch dazu.«
»Mag sein.« Gertrude Payton lächelte hart und grimmig, nur für einen Moment. Dann beschied sie den schnauzbärtigen Chef des Bahnhofs: »Aber auch wohlhabende Großstädter trinken Alkohol. Manchmal nicht zu knapp. Und dieser Mann da drüben ist ein ganz hartgesottener Alkoholiker. Ich kann es beurteilen, ich sehe es auf einen Blick.«
Ohne ein weiteres Wort ließ sie Donahue stehen und marschierte los. Die Frauen und ihre vierköpfige Privatarmee folgten ihr, ohne dass sie eine Aufforderung brauchten. Sie waren ein eingespieltes Team, das zeigten sie mit jedem ihrer energiegeladenen Schritte.
Im nächsten Moment glaubte James Donahue, seinen Augen nicht zu trauen.
Denn der elegante Gentleman blieb auf dem Bahnsteig stehen, nur ein paar Schritte vom Zug entfernt. Die restlichen Dampfschwaden verflüchtigten sich, und er war deutlicher zu erkennen. Obwohl er sich wie verstohlen umsah, beachtete er die herannahenden Frauen und ihre Begleiter nicht.
Er trug einen hellgrauen Anzug, der seine schlanke Statur unterstrich. Weiße Gamaschen bedeckten seine schwarzen Stiefeletten.
Unter der schmalen Krempe eines ebenfalls schwarzen Pork-Pie-Stetsons lugte der blonde Haaransatz des Mannes hervor. Zur weißen Hemdbrust trug er eine sorgfältig aufgebauschte, blau und rot gestreifte Cravat, die durch eine Ziernadel mit Perlenaufsatz festgesteckt war.
Er griff in die Innentasche seines Jacketts, und als wollte er Gertrude Paytons Feststellung bestätigen, brachte er einen silbernen Flachmann zum Vorschein, der im Sonnenschein verräterisch blitzte.
Hastig entkorkte er das metallene Fläschchen, sah sich nur kurz um. Erst jetzt nahm er Notiz von den Frauen und ihren männlichen Begleitern. Noch waren sie gut zehn Yards entfernt. Doch beim Tempo ihrer Schritte würde es nur noch Augenblicke dauern, bis sie bei ihm waren.
Rasch wandte er sich dem Zug zu und hob den Flachmann zum Trinken. Tatsächlich schaffte er es noch, einen ordentlichen Schluck zu nehmen.
Doch vor dem zweiten Schluck stoppte ihn Gertrude Paytons schneidende Stimme.
»Halt! Hören Sie auf mit Ihrem schändlichen Tun. Weg mit dem Teufelstrank!«
Wie ertappt zuckte der Mann zusammen. Betont eilig stopfte er den Korken zurück in das Mundstück des Fläschchens. Langsam jetzt, drehte er sich um.
Und grinste.
Herausfordernd sorgfältig schob er den Flachmann zurück in die Innentasche seines Jacketts. Sein Grinsen wurde breiter, als er die Aufschläge des Jacketts auseinanderschlug. Darunter trug er eine Weste, die aus dem gleichen Stoff wie der Anzug geschneidert war.
Der Mann legte beide Hände mit gespreizten Daumen und Fingern in die Hüften.
Die Front der Frauen und Männer starrte ihn an. Ihre ungläubigen Blicke senkten sich von seinem Grinsen auf seine rechte Körperhälfte. Denn dort, knapp unter der Stelle, an der seine rechte Hand lag, ragte ein Revolverkolben aus einem Gürtelholster.
Der dazugehörige Gürtel war unter dem Saum der Weste weitgehend verborgen. Das Holster war erstaunlich flach gearbeitet und trug kaum auf, obwohl es sich bei dem Revolver um eine Waffe im Kaliber .44 handelte, einen Sechsschüsser von Smith & Wesson.
Das erkannten die Leibwächter der Temperenzlerinnen, ohne zweimal hinsehen zu müssen. Der Waffentyp allerdings war ihnen unbekannt. Es musste sich um ein neueres Modell handeln.
Jeweils zwei Revolvermänner hatten sich links und rechts von den Frauen postiert. Der Mann ganz rechts, ein schlanker Schwarzhaariger mit Vollbart, schien der Anführer der Leibwächter zu sein. Denn er war es, der das Wort an den Eleganten richtete.
»Wir begrüßen Sie in Socorro, Sir. Unsere leitende Temperenzlerin, hier, hat Sie ausgewählt, an einer Schulung teilzunehmen.«
»Einer was?«, entfuhr es dem eleganten Gentleman. Er hob die Brauen und runzelte die Stirn. »Und wie können Sie mich ausgewählt haben? Sie kennen mich doch gar nicht.«
Gertrude Payton ergriff das Wort. »Umso angebrachter wäre es, wenn Sie uns jetzt Ihren Namen nennen würden.«
Der Elegante nickte, und sein Grinsen verwandelte sich in ein mildes Lächeln mit hintergründigem Zug. »Ich heiße Desmond Hargrove und komme aus Boston. Es könnte sein, dass Sie es bedauern werden, mich – wie auch immer – ausgewählt zu haben.«
»Hargrove?«, wiederholte Gertrude Payton, ohne auf seine unterschwellige Drohung einzugehen. Nichtsdestoweniger verfinsterte sich ihre Miene. »Sind Sie verwandt mit...?«
»Annie Hargrove«, vervollständigte er ihre Frage. »In der Tat, sie ist meine Tochter. Sie hat mir viele Briefe geschrieben, seit sie sich hier im Socorro County niedergelassen hat. Ich nehme an, Sie sind Gertrude Payton, Madam.«
Die hagere Frau nickte ergrimmt. Zornesfalten formten sich in ihren Mundwinkeln. Ihre Stimme klang schneidend, als sie antwortete: »Dann hat die verdammte Hexe also über mich hergezogen, in ihren Briefen. Und nun hat sie ihren Daddy zu Hilfe gerufen. Als ob sie ausgerechnet von einem notorischen Trinker Hilfe erwarten könnte.«
Desmond Hargrove schüttelte den Kopf. Er schluckte die Beleidigungen, blieb äußerlich völlig gelassen. »Sie weiß nicht einmal, dass ich hier bin. So gesehen bin ich also eine Überraschung, Mistress Payton, auch für Sie.«
»Miss Payton, wenn ich bitten darf.« Die Temperenzlerin gab einen verächtlichen Laut von sich und fuhr fort: »Überschätzen Sie sich nur nicht, Mr. Hargrove. Niemand kennt Sie im Socorro County. Ihre Bedeutung dürfte entsprechend gering sein.«
»Das könnte sich ändern.«
Gertrude Payton überhörte auch das und maß ihn mit einem herablassenden Blick. »Kommen wir zurück auf die Schulung, die wir Ihnen anbieten. Die Behandlung wird Ihnen völlig kostenlos gewährt. Betrachten Sie das als einen außergewöhnlichen Vorzug, denn Sie werden geläutert aus der Maßnahme hervorgehen und in der Lage sein, künftig ein Leben, ohne jeglichen Suchtzwang zu führen.«
»Ach, Sie wollen mich zu meinem Glück zwingen?«, spottete Hargrove. Und bevor die hagere Frau etwas erwidern konnte, fuhr er fort: »Annie hat mir Ihre sogenannte Schulung beschrieben. Ziel ist die dauerhafte Abstinenz der Teilnehmer. Wer mit der Schulung fertig ist, muss einen heiligen Eid leisten, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren. Richtig?«
»Allerdings«, stimmte Gertrude Payton ihm zu. Der Anflug eines erfreuten Lächelns zeigte sich in ihren Mundwinkeln. Doch ihre beginnende Freude schwand rasch, als ihr Gegenüber weitersprach.
»Schulung ist ein beschönigender und scheinheiliger Ausdruck. In Wirklichkeit handelt es sich um Gewaltanwendung bis hin zur Folter. Die Trinker, die Sie angeblich heilen wollen, werden gequält und misshandelt, bis sie gefügig sind. Dafür haben Sie Ihre Handlanger.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Revolvermänner. »Glauben Sie im Ernst, dass diese Strolche mich zu irgendetwas zwingen können?«
Die vier Leibwächter erbleichten. Ihre rechten Hände zuckten auf die Revolverkolben zu. Doch ihre Chefin stoppte sie mit einer herrischen Kopfbewegung.
»So kommen wir nicht weiter, Mr. Hargrove. Ihre Tochter ist leider ein missratenes Geschöpf. Wahrscheinlich kein Wunder bei einem Trunkenbold als Vater. Und wenn ich sie als Hexe bezeichnet habe, trifft auch das zu.«
Desmond Hargrove nahm auch die erneuten Beleidigungen hin, ohne dass sein Lächeln schwand. »Es ist besser, Sie und Ihre Freundinnen gehen jetzt nach Hause, Miss Payton. Und natürlich nehmen Sie Ihre Hofhunde mit.«
Diesmal bekam Gertrude Payton den Mund nicht wieder zu. Und sie wurde einer Antwort enthoben.
»Es reicht!«, zischte der vollbärtige Anführer der Leibwächter. Er zog im selben Sekundenbruchteil. Atemberaubend schnell. Aber noch während er den Sechsschüsser aus dem Holster freibekam, weiteten sich seine Augen in jähem Entsetzen.
Denn im selben Atemzug hatte sein Gegner den schweren Smith & Wesson schon im Anschlag. Und als der Bärtige in wilder Hast den Hahn seines Colts spannte, zog Hargrove bereits durch.
Der Mündungsblitz und das Krachen des Smith & Wesson waren die letzte Wahrnehmung des Leibwächters. Den Schuss, der sich noch aus seinem Colt löste, hörte er schon nicht mehr. Er war tot, noch bevor er in sich zusammensank. Seine Kugel war himmelwärts gerast, ohne Schaden anzurichten.
Gertrude Payton und die Temperenzlerinnen ergriffen schreiend die Flucht, denn Desmond Hargrove hielt nicht inne. Blitzschnell schwenkte er den Sechsschüsser, senkte den Lauf im selben Sekundenbruchteil.