Laurin, das Schlossgespenst - Bettina Obrecht - E-Book

Laurin, das Schlossgespenst E-Book

Bettina Obrecht

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Beschreibung

Ein kleines Gespenst – ein ganz großes Abenteuer

Laurin, das Schlossgespenst, spukt mit »Leib und Seele« und das hat er mit Begeisterung die letzten 498 Jahre getan. Doch von einem Tag auf den anderen will der griesgrämige Graf von Wusewinkel seine Spuk-Pflichten selbst wahrnehmen und setzt Laurin vor die Tür. Traurig macht sich das Schlossgespenst auf die Suche nach einer neuen Bleibe und landet – auf einem Schrottplatz. Dort gibt es zwar kaum Menschen, die man erschrecken könnte, aber mit den Kindern Mario und Camille, dem Siebenschläfer Kurt und dem Schäferhund Rufus versteht sich Laurin prima. Doch dann erfährt Laurin, dass Burg Wusewinkel in Gefahr ist – und startet mit seinen neuen Freunden eine turbulente Rettungsaktion ...

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Seitenzahl: 252

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Bettina Obrecht

Mit Illustrationen von

Barbara Korthues

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 1

Da eine anständige, sichere Burg nun einmal auf einen Berg gehört, hatten die alten Ritter damals auch Burg Wusewinkel auf einen Burgberg gesetzt. Oder besser gesagt: setzen lassen – höhere Herrschaften machten sich schon zu alten Zeiten nicht so gerne die Hände schmutzig.

Es war sehr aufwendig, eine Burg auf einer Bergspitze zu erbauen, aber in diesem speziellen Fall hätte man sich die Mühe sparen können: Die Burg war zu keiner Zeit ernsthaft bedroht. Wie allgemein bekannt, war die Wusenau über die Jahrhunderte hinweg eine so langweilige Gegend, dass angreifende Feinde schon kurz nach dem Überqueren der Grenze einfach niedersanken und einschliefen.

Am Fuß des Burgberges wand sich ein schmaler, träger Bach entlang, die Wuse. An warmen Tagen kreisten über den Burgtürmen oft mehrere Segelflugzeuge, und ab und zu ratterte der Rettungshubschrauber auf seinem Weg zur Autobahn und zurück über die Wuse hinweg. Sonst war es sehr, sehr ruhig.

Drei Türme besaß die Burg, zwei leidlich hohe und einen verblüffend hohen. Den verblüffend hohen krönte ein Ring dicker Zinnen, und wer nicht fürchtete, verblüffend tief zu fallen, konnte da oben von einer Zinne zur anderen springen, immer im Kreis herum und dann wieder zurück. Natürlich war kein Mensch mutig genug, so etwas zu versuchen.

Doch Laurin tat es oft, allerdings nicht aus Freude an der Gefahr. Im Gegenteil, er tat es aus Angst. Zu seinen Lebzeiten im späten Mittelalter hatte er nämlich einen Zinnenzauber gelernt, der ging so:

Modern ausgedrückt, bedeutete das: Wenn es Laurin gelang, bei aufziehendem Gewitter dreimal im Kreis von Zinne zu Zinne zu springen, ohne abzurutschen, dann würde kein Blitz in den Turm einschlagen.

Laurin musste nicht wirklich fürchten, vom Turm herunterzufallen, denn er war schon lange kein sterblicher Mensch mehr. Tatsächlich hatte er nur ganze zehn Jahre und zwei Monate als Mensch verbracht. Seit Jahrhunderten spukte er als Schloss­gespenst. Eine Weile war er sogar für eine eigene Burg zuständig gewesen, aber nach deren Verlust war er wieder in seine Heimatburg Wusewinkel zurückgekehrt.

Der Blitzzauber funktionierte tatsächlich! Na ja, zumindest hatte seit Jahrzehnten kein Blitz in den verblüffend hohen Turm eingeschlagen, und in die anderen beiden Türme auch nicht. Als Blitzabwender war Laurin hundertprozentig zuverlässig, denn er hatte Angst vor Gewittern – panische Angst.

Aber Gewitter waren nicht das Einzige, was ihn in Angst und Schrecken versetzte. Zum Beispiel fürchtete er bei jedem Wetter den vorletzten Grafen von Wusewinkel – besonders, wenn dieser in seiner Gruft schlecht geschlafen hatte. Auch vor der mausgrauen Fremdenführerin namens Frau Schäkel hatte er Angst, und neuerdings vor einem jungen Mann mit Hornbrille, der, geduldet von Frau Schäkel, durch alle Räumlichkeiten der Burg schlich, vor sich hin murmelte, häufig telefonierte und sich manchmal an einen der alten Tische setzte, um auf seinem tragbaren Computer herumzuhacken – und das, obwohl die Tische eigentlich nicht berührt werden durften. Diesen Mann umgab eine unheimliche, metallisch kalte Wolke, die offenbar nur Gespenster bemerkten. Frau Schäkel jedenfalls benahm sich in seiner Anwesenheit, als wäre alles in Ordnung. Der Graf bemerkte die Wolke zwar, aber er hatte eine Vorliebe für alles, was unheimlich und metallisch kalt war, und störte sich deswegen nicht daran.

Der Mann mit der Hornbrille verhielt sich leise. Meistens war von ihm nur das leise Klackern seiner Computertastatur zu hören. Der vorletzte Graf von Wusewinkel dagegen brüllte gern, und Frau Schäkel, die mausgraue Fremdenführerin, besaß eine so erschreckend blecherne Stimme, dass diese schon beim normalen Sprechen Angst und Schrecken in den verborgensten Winkeln der Burg auslöste. Laurin war ganz froh, dass er auf diese Weise früh genug Bescheid wusste, wenn sich Frau Schäkel mit ihrer Besuchergruppe näherte. Wenn man ihn erschreckte, schaffte er es nämlich nicht immer, sich rechtzeitig unsichtbar zu machen. Aber Unsichtbarkeit gehörte zum Spuken nun einmal dazu. Laurin ächzte und stöhnte und ließ hin und wieder den einen oder anderen Gegenstand scheppernd vor die Füße der Touristen fallen, aber sehen durften ihn die Kunden nicht. Nun ja, für ein Gespenst sah er auch wirklich nicht erschreckend genug aus. Die Touristen hätten einfach nur einen merkwürdig gekleideten Jungen entdeckt. Und weil er so blass war, hätten sie ihm vielleicht geraten, weniger Zeit vor dem Computer zu verbringen und häufiger in die Sonne zu gehen. Davongelaufen wären sie vermutlich nicht, denn man sah ihm die vielen Jahrhunderte, die er auf dem Buckel hatte, einfach nicht an.

Kapitel 2

»Es ist mir ein Rätsel, warum du überhaupt noch hier wohnst«, sagte die heisere Fledermaus an einem schwülen Sommerabend.

Gerade war Laurin wieder dreimal im Kreis über die Zinnen gesprungen.

»Kein Mensch, der sich vor Gewittern fürchtet, sollte auf einer Burg mit verblüffend hohen Türmen wohnen«, fügte sie hinzu.

»Erstens bin ich kein Mensch«, stellte Laurin fest. »Sonst könntest du ja überhaupt nicht mit mir reden.«

»Ja, ja«, antwortete die Fledermaus ungeduldig.

»Und zweitens«, fuhr Laurin fort, »hat diese Burg nur einen verblüffend hohen Turm. Die anderen beiden sind doch eher durchschnittlich.«

»Geh doch lieber woanders arbeiten«, krächzte die Fledermaus munter weiter. »In einer Höhle oder wenigstens in einem Haus mit Flachdach. In Flachdächer schlagen Blitze nicht so schnell ein.«

Laurin runzelte die Stirn. »Wie stellst du dir das vor? Kennst du ein Schloss mit Flachdach? Ich bin ein Schlossgespenst, also muss ich in einem Schloss spuken. Was soll ich denn sonst machen?«

»Im Leben ist es wie beim Fliegen«, behauptete die Fledermaus. »Es geht nicht immer nur geradeaus. Man kann nach links, nach rechts, nach oben oder unten ausweichen.« Sie überlegte einen Moment. »Rückwärts fliegen ist allerdings eher schwierig«, gab sie zu. »Oder besser gesagt: unmöglich.«

»Man kann beim Fliegen auch gegen eine Mauer knallen.«

Diesen Kommentar konnte sich Laurin nicht verkneifen. Die Fledermaus reckte verlegen den rechten Flügel, den sie sich erst einige Tage zuvor bei einem kleinen Zusammenstoß mit der Burgmauer verstaucht hatte.

»Jedenfalls gibt es nie nur eine Möglichkeit«, wiederholte sie streng. »Vor allem, wenn diese eine Möglichkeit schon unmöglich ist.«

»Na ja.« Laurin ließ sich nicht so leicht überzeugen. »Ich meine, du hast nur die Möglichkeit, dich an den Füßen aufzuhängen. Oder hast du schon einmal versucht, dich an den Ohren aufzuhängen?«

Die Fledermaus dachte nach.

»Das kann man nicht vergleichen«, behauptete sie dann. »Schließlich hänge ich gerne an den Füßen. Nichts spricht da­gegen, dass ich an den Füßen hänge. Aber Leute, die sich vor Gewittern fürchten, sollten nicht auf Burgen leben.«

Laurin schüttelte den Kopf. »Der Unterschied liegt ganz woanders: Du bist eine Fledermaus. Du kannst Mücken fangen, wo du willst. Aber ich bin ein Schlossgespenst. Wo soll ich denn sonst spuken, wenn nicht in einem Schloss?«

»Irgendwo«, sagte die Fledermaus leichthin. »Die Welt ist groß. Vielleicht in der Post oder im Rathaus. Eine Taube hat mir mal erzählt, dass in der Schule ein Skelett im Schrank aufbewahrt wird. Sie hat es durchs Fenster gesehen. Vielleicht wäre das ja ein Ort für dich und du lernst noch was. Oder wie wäre es mit einer Pizzeria? Ich weiß, dass du nichts essen kannst, aber da riecht es wenigstens gut.«

Laurin verstand vom Geplapper der Fledermaus höchstens die Hälfte. Er hatte nicht viel Ahnung von modernen Schulen und Pizzerien. Schließlich hatte er das Burggelände seit Jahrzehnten nicht mehr verlassen. Aber er verstand etwas vom Spuken, vor allem vom Fach »Stöhnen und Ächzen«: Er beherrschte tadellos alle neunzehn vorgeschriebenen Tonarten.

Die mausgraue Frau Schäkel mit der Blechstimme konnte er nicht leiden, aber die Besucher respektierte er schon. Immerhin kamen sie von weit her, nur um sich die Burg anzusehen. Sie kamen mit Bussen und Privatautos, mit Kindern und Hunden, und je nach Jahreszeit mit Schnupfen oder mit Sonnenbrand. Sie bezahlten Eintritt und hatten ein Recht darauf, anständig bespukt zu werden, denn um die Burg herum war es in der Wusenau immer noch sterbenslangweilig.

Eigentlich stand das Spuken dem Schlossherrn zu, also dem vorletzten Grafen von Wusewinkel. Aber der kümmerte sich nicht um seine Kunden. An dunklen Tagen stand er wohl einmal für Menschen unsichtbar mit grimmiger Miene, die Reitpeitsche in der Hand, oben auf der Freitreppe und beobachtete den Be­sucherstrom wie eine Prozession unappetitlicher Würmer.

»Zu meinen Lebzeiten hätte ich es dem gemeinen Volk niemals gestattet, meine Burg zu betreten«, knurrte er dann. »Ich denke ja gar nicht daran, diesem Pöbel etwas vorzuspuken. Womöglich spricht es sich herum, und dann fallen erst recht endlose Scharen von Gaffern und Glotzern hier ein. Nein, niemals, so lange ich tot bin!«

Eigentlich wollte der Graf nur eines: eine langweilige, öde Burg. Kein Wunder also, dass er nicht gut auf Laurin zu sprechen war.

»Verräter«, brummte er in seinen Zwirbelbart, wenn er ihn spuken sah.

»Alter Griesgram«, flüsterte Laurin. »Die ganze Arbeit bleibt an mir hängen, und dann macht er mir auch noch Vorwürfe.«

Na ja, ehrlich gesagt war es ihm ganz recht, dass der Graf sich nicht in seine Arbeit einmischte, denn Laurin liebte seinen Beruf. Das Spuken machte ihm richtig Spaß. Und am meisten Spaß machte es ihm, wenn eine Gruppe von Kindern die Burg besich­tigte. Dann saß er manchmal lange Zeit unsichtbar auf einer alten Truhe und beobachtete, wie sie einander schubsten, sich etwas zuflüsterten, heimlich in ihre Brote bissen – das Essen war im Schloss verboten –, hin und her rannten, bis sie ermahnt wurden. Kinder sahen sich meistens so aufmerksam um, dass sie kleinste Spukereien bemerkten. Einmal ließ Laurin einer Schülergruppe einen Ball vor die Füße rollen, den er im Innenhof gefunden hatte. Aber da wurde der begleitende Lehrer so wütend, dass er die Fremdenführerin bat, die Führung abzubrechen, und mit der ganzen Gruppe nach Hause fuhr. Das tat Laurin sehr leid. Eigentlich hatte er sich ja nur gewünscht, dass eines der Kinder den Ball zu ihm zurückrollen würde.

Kapitel 3

Für ihr junges Alter war die Fledermaus ziemlich schlau. Vor allem konnte sie gut zuhören und störte sich nicht daran, wenn Laurin dieselbe Geschichte immer wieder erzählte.

»Wenn es nur nicht wieder so ein Gewitter gibt wie vor 498 Jahren«, sagte Laurin gerade und betrachtete misstrauisch die Fahne mit dem Wappen der Wusewinkels – gelbe Reitpeitsche auf blauem Grund –, die im Westwind flatterte.

»Was ist damals noch mal passiert?«, fragte die Fledermaus höflich, obwohl sie die Geschichte schon hundertmal gehört hatte – und vorher hatten sie ihre Eltern, Großeltern, Urgroßeltern bis zu den entferntesten Urahnen gehört, denn alle hatten Laurin gekannt.

»Die Reitställe haben Feuer gefangen, alle Pferde sind in den Hohen Erlenwald galoppiert!«

Laurin sprang auf die höchste Turmzinne und wedelte mit den Armen. Dann setzte er sich wieder hin.

»Und ich hätte doch auf sie aufpassen sollen. Ich habe im Stall geschlafen und sollte aufpassen, dass keins gestohlen wird.«

»Keiner kann etwas dafür, wenn der Blitz einschlägt«, stellte die Fledermaus fest. »Was hättest du tun sollen? Du warst doch noch ein Junge.«

»Das Lieblingspferd des Grafen war auch dabei.« Laurin seufzte. »Es ist mit den anderen in den Wald gelaufen.«

»Du hast versucht, es zu finden.«

»Der Graf hat mich losgeschickt, mitten in der Nacht. Er hat gesagt, er wirft mich für den Rest meines Lebens ins Verlies, wenn ich sein Pferd nicht zurückbringe.«

»Ich erinnere mich«, sagte die Fledermaus leise. »Dabei ist es passiert.«

»Ja.« Laurin schwieg eine ganze Weile. Heute Abend mochte er nicht erzählen, wie er sich in der Dunkelheit auf der Suche nach den Pferden im Wald verirrt hatte. Noch vor Morgen­grauen war er in einen Bach gefallen, der nach dem Gewitterregen Hochwasser führte, und ertrunken.

»Bist du deswegen ein Geist geworden?«, fragte die Fledermaus vorsichtig. »Weil du das Pferd nicht finden konntest?«

»Keine Ahnung.« Laurin zuckte mit den Schultern. »Es kann schon sein.«

»Und warum findet der Graf keine Ruhe?«, wollte die Fledermaus wissen. »Weil er schuld an deinem Tod ist?«

»Er hat vielen Menschen etwas angetan«, sagte Laurin. »Er war jähzornig, selbstsüchtig und rücksichtslos und hat Menschen aus den albernsten Anlässen in sein Verlies gesperrt.«

»Eigentlich könntet ihr euch doch jetzt endlich versöhnen«, sagte die Fledermaus. »Immerhin seid ihr die einzigen Gespenster auf dem Schloss und kennt euch schon seit vielen hundert Jahren.«

Aber Laurin schüttelte den Kopf. »Er ist immer noch wütend auf mich. Wenn er mich erwischt, schlägt er mich hin und wieder mit seiner Reitpeitsche.«

Die Fledermaus starrte nach Westen.

»Den Hohen Erlenwald gibt es nicht mehr«, sagte sie. »Da ist jetzt ein Industriegebiet. Lauter Lastwagen. Die fahren auch nachts und machen einen Höllenlärm.«

Laurin folgte ihrem Blick und zuckte zusammen.

»Da! Wetterleuchten! Hast du das gesehen?«

»Das Flackern? Ach nein.« Die Fledermaus peilte mit den Ohren. »Das sind Autoscheinwerfer. Heute Nacht gibt es keine Gewitter.«

Die Fledermaus kannte sich mit dem Wetter sehr gut aus. Sie behauptete, sie könne am Sirren der Insekten hören, ob es Regen geben würde oder nicht. Aber Laurin traute ihr heute nicht.

»Ich höre mir lieber den Wetterbericht an«, sagte er.

»Wie du willst«, meinte die Fledermaus gleichmütig.

Laurin sauste die Wendeltreppe hinunter in seine Gruft im Keller, die direkt neben der des Grafen von Wusewinkel lag. Seit einigen Jahren besaß Laurin ein Radio, das ein Schlossbesucher vor der Besichtigung an der Garderobe abgegeben und nicht wieder abgeholt hatte. Es war wie für Geister gemacht: Durch das Drehen einer Kurbel ließ sich seine Batterie immer wieder neu aufladen. Laurin kurbelte, so schnell er konnte. Das Radio war sein wertvollster Besitz. Einerseits hörte er gerne Musik – durch das Radio hatte er erst entdeckt, was für großartige, mitreißende, rockige Musik im Lauf der Jahrhunderte entstanden war –, andererseits schätzte er den Wetterbericht.

Rauschen und Knistern erfüllten die Gruft. Laurin drehte an der Antenne. Endlich fing er die Stimme eines Sprechers ein.

» … löst sich die Bewölkung im Westen auf. Nach Mitternacht werden überall die Sterne zu sehen sein …«

Laurin seufzte erleichtert. Dann seufzte er traurig.

»Wenn ich alte Geschichten erzählt habe, fühle ich mich immer ganz schwer«, sagte er zu der dicken Kreuzspinne in der Ecke, aber die hatte ihm noch nie geantwortet.

Laurin beschloss, ein bisschen in der Ahnengalerie zu spuken. Die Ahnengalerie war einer seiner Lieblingsräume im Schloss, denn die meisten der dort ausgestellten Grafen, Gräfinnen, Grafenkinder, Grafenhunde und Grafenpferde hatte er im Laufe seines kurzen Lebens oder später als Geist kennengelernt. Die Galerie war wie ein etwas unhandliches Fotoalbum. In der Vergangenheit hatte Laurin sogar oft zugesehen, wie die Porträts gemalt wurden.

Durch die dicke Eichentür glitt Laurin in die Ahnengalerie. Er war so in seinen Erinnerungen gefangen, dass er die Gestalt vor dem Bild des vorletzten Grafen von Wusewinkel nicht gleich bemerkte.

»Ach ja«, seufzte die Gestalt mit blecherner Stimme.

Laurin sprang mit einem Satz hinter eine glänzende Ritterrüstung.

Die mausgraue Fremdenführerin! Was hatte sie um diese Zeit noch hier verloren? Schon vor mehr als zwei Stunden waren die letzten Besucher in ihrem Reisebus davongebraust. Normalerweise setzte sich Frau Schäkel kurz danach in ihr mausgraues Auto und rollte die Zufahrtsstraße hinunter.

Laurin reckte den Kopf, um besser sehen und hören zu können. Frau Schäkel stand dicht vor dem Porträt des vorletzten Grafen.

»Ach, mein Graf«, seufzte sie. Selbst ihr Seufzen war so blechern, dass die Ritterrüstung ergriffen mitschepperte. »Letzte Nacht habe ich wieder von Euch geträumt. Ihr ahnt nicht, wie es ist, von Euch zu träumen und dann ein paar Stunden später wieder vor diesen Menschen zu stehen … diesen jämmerlichen Gestalten, diesen Familienvätern, Rentnern, Studenten, gelangweilten Junggesellen, Dickbäuchigen, Spitzbäuchigen, Waschbrettbäuchigen, Trainierten und Schlaffen, Gelangweilten, Aufgeregten, mit ihren Mützen und Hüten, Krawatten, Freizeithemden und bunten Höschen, Fotokameras und Smartphones. Keiner kann sich mit Euch messen, Graf …«

Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und schnäuzte sich laut. Dann küsste sie ihre Fingerspitzen und tupfte dem gemalten Grafen den Kuss auf die Nase. Fast hätte Laurin laut gekichert, aber im letzten Moment steckte er sich die Faust in den Mund.

Die mausgraue Fremdenführerin faltete ihr Taschentuch säuberlich wieder zusammen und steckte es ein. Sie zog die Schultern nach hinten, rückte ihre Handtasche zurecht und lachte. Es klang gespenstisch.

»Ein Mann wie Ihr würde mich nach Hause geleiten, nicht wahr? In Eurem schnittigen roten Sportwagen würdet Ihr mich nach Hause fahren oder mein Auto eigenhändig reparieren … nein, nicht eigenhändig, Euer Diener … jedenfalls würdet Ihr niemals zulassen, dass eine Frau wie ich eine einsame Nacht lang auf dieser kalten Burg festsitzt …«

Sie wandte sich brüsk um und marschierte mit festem Schritt den Flur hinunter. Laurin duckte sich tiefer hinter der Rüstung. Erst als die Eichentür mit lautem Knall ins Schloss gefallen war, wagte er sich aus seinem Versteck. Er trat vor das Gemälde und betrachtete es. In diesem Moment erlebte er den zweiten Riesenschreck des Abends: Der Graf kletterte aus seinem Bild. Er schnaufte ein bisschen, denn seit das Porträt gemalt worden war, hatte er deutlich zugenommen, und so passte er fast nicht mehr durch den geschnitzten Goldrahmen

»Was glotzt du so?«, schrie er Laurin an. »Du Spitzel und Spion! Glaubst du etwa, ich hätte dich nicht längst entdeckt, du Bengel? Was mischst du dich in meine persönlichen Angelegenheiten? Warte nur, du kannst etwas erleben!«

»Ich habe doch nur zufällig …«, stammelte Laurin.

Dann fiel sein Blick auf die geküsste Nasenspitze des Grafen. Er schwieg kurz und fing dann an zu kichern.

»Miserable Kreatur!«

Der Graf holte mit der Reitpeitsche aus, schlug aber nicht zu. Er ließ die Hand wieder sinken und starrte in die Richtung, in der die Fremdenfüh­rerin verschwunden war.

»So eine wundervolle Frau!«, murmelte er.

Kapitel 4

Nur ganz selten wagte sich die heisere Fledermaus in Laurins Gewölbe. Normalerweise hielt sie sich ausschließlich in den allerobersten Turmzimmern auf, weil da die Luft besser war. Als sie nun durch das Gitterfenster hereinschlüpfte und mit ihren ledrigen Flügeln vor Laurins Nase herumwedelte, ahnte das Gespenst schon, dass etwas Besonderes vorgefallen war.

»Laurin!«, krächzte die Fledermaus. »Der Graf! Was ist mit dem Grafen los?«

Laurin rieb sich die Spinnweben aus den Augen. »Wieso?«

»Er spukt!«

Die Fledermaus kreiste immer noch, besann sich dann jedoch und hängte sich an einen kleinen Mauervorsprung, dicht neben der Kreuzspinne.

»Er spukt?« Laurin starrte die Fledermaus an. »Bist du dir da ganz sicher?«

Die Fledermaus nickte.

»Mit Ketten hat er gerasselt. Gestöhnt. Ein Bild von der Wand geworfen, gerade, als die letzte Besuchergruppe durch die Galerie gegangen ist.«

»Welches Bild denn?«

»Sein eigenes Porträt!« Die Fledermaus stotterte fast vor Aufregung. »Er hat es allerdings im letzten Moment aufgefangen. Du hast ja schon erwähnt, dass er immer geizig war.«

Laurin schüttelte ungläubig den Kopf. »Und woher weißt du das alles?«

»Eine der Teppichmäuse hat es beobachtet.«

»Teppichmäuse?«

»Die nenne ich so. Es sind ganz normale Mäuse, die in Räumen mit Teppichen leben und ab und zu davon fressen. Diese Maus also war so verblüfft, dass sie die Geschichte jedem erzählt hat.« Die Fledermaus räusperte sich. »Normalerweise reden Teppichmäuse nicht mit Leuten, die Flügel haben. Es ist der Neid, das muss man verstehen …«

Laurin rieb sich die kalte Stirn. »Ich kann das nicht glauben … ich meine, noch nie hat er auch nur ein bisschen gestöhnt oder so was.«

Die Fledermaus schielte nach der Kreuzspinne. So ein fetter Brocken kam ihr jetzt eigentlich gelegen. Leider hatte sie gelernt, dass Kreuzspinnen schwer verdaulich waren.

Laurin betrachtete ratlos seine schimmernden weißen Füße.

»Und was mache ich jetzt?« Er zögerte. »Soll ich trotzdem …? Aber zwei Gespenster in einer Nacht … Da müsste ich eigentlich gar nicht …« Er seufzte. »Was soll ich denn jetzt die ganze Nacht anfangen?«

Genau in diesem Moment erklang von nebenan das scharrende Geräusch zweier übereinander gleitender Steinplatten.

»Der Graf!«, flüsterte die Fledermaus und machte sich so steif, dass man sie nicht mehr vom grauen Mauerwerk unterscheiden konnte.

Laurin stellte sich schlafend. Der Graf klopfte natürlich nicht an. Weder zu Lebzeiten noch während seines viel länger währenden Daseins als Geist hatte er sich je mit irgendwelchen Höflichkeiten aufgehalten. Er kam mit einem Satz durch die Wand mitten in die Gruft gesprungen und baute sich vor Laurin auf.

»Wach auf, du Zwerg!«, dröhnte er. »Ich bin gekommen, um etwas zu verkünden.«

Laurin setzte sich langsam auf. Die wässrigen Augen des Grafen schienen durch ihn hindurchzusehen.

Da trat eine dunkelgraue Gestalt durch die offene Tür. Metallisch kalte Luft wehte herein. Die Gestalt trug einen Aktenkoffer unter dem Arm. Es war der Mann mit der Hornbrille und dem Laptop. Dass er sich in der Gesellschaft zweier Gespenster in einer alten Gruft befand, schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken. Er klappte seinen Koffer auf und entnahm einige mit Zahlentabellen bedruckte Papiere.

»Möchten Sie zuerst sprechen?«, wandte sich der Mann mit der Hornbrille an den Grafen.

Der Graf nickte und machte einen drohenden Schritt auf Laurin zu.

»Jahrhundertelang …«, fing er an, »… hast du dir angemaßt, in meinem Haus zu spuken!« Er hob die Reitpeitsche. »Du jämmerlicher, dahergelaufener Kleingeist!«

»Lassen Sie es mich so ausdrücken.« Der Mann mit der Hornbrille räusperte sich. »Dieses Schloss ist mit zwei Schlossgeistern eindeutig überbesetzt. Der Unterhalt von zwei Gespenstern zahlt sich nicht aus, verstehst du?«

»Welcher Unterhalt?«, fragte Laurin fassungslos.

»Nun ja, die Werbung. Das verstehst du doch, Junge …«, sagte der Mann mit der Hornbrille, »bei der Vermarktung des Schlosses, der Anpassung an die europäische Spukrichtlinie … Zwei Geister in einem Schloss, das ist geradezu langweilig. Das entwertet die Sache. Wir müssen uns daher leider von dir trennen. Der Hausherr wird das Spuken in Zukunft persönlich und individuell übernehmen.«

Laurin verstand nicht einmal die Hälfte von dem, was der Hornbrillen-Mann sagte.

»Ich besitze nun einmal kein eigenes Schloss mehr. Ihr erinnert Euch, Graf, es wurde versehentlich gesprengt. Es hieß, die Schweden kämen, aber dann war es nur ein Wanderzirkus … aber die Stelle in Eurem Schloss war ja frei …«

»Diese Stelle war noch nie frei!«, brüllte der Graf. »Hier spukt der Hausherr persönlich! Wenn ich dich noch einmal dabei er­wische, wie du mir ins Handwerk spukst, zerreiße ich dich in lauter dünne Spinnfäden!«

Und dann verschwand er unter heftigem Kettengeklirr aus der Tür. Im Gewölbe hörte Laurin ihn stöhnen. Es sollte vermutlich das Stöhnen Nr. 17 sein – hohles Stöhnen wie von Leibschmerzen gemartert in einer eisig kalten Gruft, in der sich nebst Giftschlangen auch weiteres Schuppengetier befindet.

Laurin verschränkte schaudernd die Arme.

»Ich bin besser als er«, sagte er trotzig.

»Du kannst dir selbst ein Bild von den Zahlen machen«, bot der Mann mit der Hornbrille an und hielt Laurin die Zettel hin. »Wir müssen uns auch in diesem Bereich dem 21. Jahrhundert anpassen. Die Konkurrenz schläft nicht.«

Laurin schüttelte den Kopf. Der Mann steckte seine Zettel wieder ein und zuckte mit den Schultern.

Laurin überlegte noch immer, ob er aus den alten Geschichten ein schlafloses Ungeheuer namens »Konkurrenz« kannte, als der Geschäftsmann schon aus der Tür verschwunden war.

Die Fledermaus klappte vorsichtig ihre Flügel aus.

»Was hat denn den Grafen gebissen?«, flüsterte sie.

»Die mausgraue Fremdenführerin«, flüsterte Laurin zurück.

Die Fledermaus runzelte ihre pelzige kleine Stirn.

»Seit wann beißen Menschen? Ich dachte, das tun nur Vampire?«

Laurin winkte ab.

»Es ist nur wegen des Autos. Offenbar ist ihr Auto kaputt.«

Eigentlich verstand Laurin das alles selbst nicht, aber das wollte er vor der Fledermaus nicht eingestehen.

»Und was hat der Graf damit zu tun?«

»Er kann es vielleicht reparieren.«

»Kann er das denn?«

Da musste Laurin kichern, obwohl ihm noch die Knie zitterten.

»Er konnte früher nicht mal selbstständig eine Nuss knacken«, sagte er.

Die Fledermaus kicherte so sehr, dass ihre Flügel zitterten. Dann räusperte sie sich wieder.

»Sein Diener sieht merkwürdig aus«, sagte sie. »Und er selbst ist wirklich sehr schlecht gelaunt. Was machst du denn jetzt?«

Laurin schwieg so lange, bis die Fledermaus beleidigt ihre Flügel ausschüttelte.

»Wenn du nicht mit mir sprichst, verschwinde ich eben wieder«, sagte sie.

Laurin machte die Augen auf.

»Keine Ahnung, was ich tun soll«, gab er zu. »Ich kenne weit und breit kein Schloss, in dem eine Stelle frei wäre. Schließlich gehen Schlossgespenster nie in Rente.«

»Vielleicht kannst du noch umschulen«, schlug die Fledermaus vor. »Einem geschickten Gespenst stehen bestimmt viele Möglichkeiten offen. Du könntest zum Film gehen.«

Aber Laurin, der nur sein Kurbelradio kannte, hatte keine Vorstellung davon, was ein Film war.

»Uns fällt schon etwas ein«, versprach die Fledermaus.

Und dann schwang sie sich in die Luft und flatterte durch das Gitterfenster davon. Kein einziger Stern funkelte am Himmel. Die Luft war feucht und schwer. Womöglich würde es heute noch ein Gewitter geben. Aber das war Laurin fast schon egal. Er war so unglücklich, dass er eigentlich vor nichts mehr Angst haben musste.

Kapitel 5

Laurin quälte sich durch einen schlaflosen Tag. Die Zeit kroch dahin. Das Gespenst zählte die Wassertropfen, die in unregelmäßigen Abständen von der Decke auf den Steinboden fielen. Er sah zu, wie die Kreuzspinne ein kompliziertes, ganz regelmäßiges neues Netz spann. Das alte Netz hatte die Fledermaus aus Versehen mit ihren Flügeln zerrissen.

»Wird es denn immer noch nicht dunkel?«, fragte Laurin die Kreuzspinne.

Aber die antwortete, wie immer, nicht. Er fragte sich allmählich, ob sie überhaupt sprechen konnte. Laurin schwebte an die Fensterluke. Das Sonnenlicht blendete ihn, und er wich schnell in die Tiefe der Gruft zurück.

»Soll ich die Fledermaus wecken?«, fragte er die Kreuzspinne.

»Nein, lieber nicht«, antwortete er sich selbst. »Die Fledermaus hat eine lange, anstrengende Nacht vor sich und muss viele Mücken fangen.«

»Aber Freunde darf man ruhig wecken, wenn man sie dringend braucht«, wandte er ein.

»Sie kann dir auch kein neues Schloss herzaubern«, sagte er darauf.

»Hm«, machte er. »Aber trotzdem. Ich tu’s jetzt einfach.«

Entschlossen glitt er durch das Gitter ins Freie.

Unheimlich, so ein altes Schloss bei Tag! Alles leuchtete in knalligen Farben, glitzerte und blendete. Laurin hielt sich entsetzt die Augen zu. Die Sonnenstrahlen erhitzten seine Haut. Was würde wohl passieren, wenn er sich zu lange im Licht aufhielt? Würde er verbrennen oder schwarz werden wie Kohle? Würde er verblassen und für immer unsichtbar werden? So genau hatte ihm das nie jemand erklärt.

Er tastete sich vorwärts. Eine Tür klappte.

»Da hinten steht er!«, rief eine dröhnende Blechstimme.

Laurin nahm die Hände von den Augen und sah sich panisch um. War er nicht unsichtbar? Schritte näherten sich, aber Laurin konnte im hellen Licht nichts erkennen. Er stolperte vorwärts, stieß gegen ein sonnenheißes Blech, blinzelte und entdeckte das Auto der Fremdenführerin. Ohne lang zu überlegen, schlüpfte Laurin hinein.

Das Auto hatte mausgraue Polster und roch scharf nach Parfüm. Auf der Ablage zwischen den Vordersitzen lagen einige neumodische Münzen, wie Laurin sie noch nie gesehen hatte. Auf der hinteren Ablage saß ein kleiner, brauner Spielzeughund. Sein Kopf wackelte wie der eines Hängekopfgeistes hin und her, als Laurin ihn mit dem Finger antippte.

Die Schritte kamen immer näher. Laurin duckte sich hinter den Rücksitz, obwohl er unsichtbar war. Jemand öffnete die Fahrertür, stieg ein und knallte die Tür zu. Der Kopf des Wackelhundes wackelte noch heftiger. Ein Mann im blauen Overall steckte einen Schlüssel ins Schloss unter dem Lenkrad und grunzte vor sich hin. Das Auto jaulte und hüpfte dreimal. Laurin spürte, dass er vor Schreck grünlich wurde. Der Wackelhund wackelte wild.

Wenn das Auto jetzt losfuhr? Glücklicherweise fiel ihm das Gespräch der Fremdenführerin mit dem Grafen ein. Ihr Auto war kaputt, es konnte also gar nicht losfahren.

Laurin atmete so tief aus, dass es wie Stöhnen Nr. 7 klang – leises Ächzen, wie wenn sich ein betagter, kreuzkranker Herr nach körperlicher Anstrengung in ein weiches Polster sinken lässt. Der blaue Mann sah einen Moment lang misstrauisch in den Rückspiegel, dann zog er den Schlüssel aus dem Schloss und stieg wieder aus.

Laurin krabbelte auf den Rücksitz. Er nahm den Wackelhund in die Hand. Wie hatten es die Wackelhund-Baumeister dieser neuen Zeit bloß geschafft, diesen Kopf so genial aufzuhängen? Laurin kannte einige Hängekopfgeister, die vor Neid neongelb geworden wären. Er starrte immer noch in die schwarze Höhle, in deren Tiefe der Hundekopf auf geheimnisvolle Art befestigt war, als das Auto losrollte.

Laurin war vor Schreck wie gelähmt. Sein letzter Ausflug auf Rädern lag Jahrhunderte zurück. Damals hatte er sich hinten an der Kutsche seiner Herrin, der Herzogin von Plüschwisch, festgeklammert. Sie war eine Cousine des Grafen von Wusewinkel, die damals in einem Seitenflügel wohnen durfte.

Seit hundert Jahren beobachtete Laurin die Autos auf dem Schlosshof. Aus dem Radio wusste er, es gab inzwischen so viele Autos, dass sie alle Straßen verstopfen konnten und viele Unfälle passierten. Aber er mochte diese modernen Kutschen nicht. Niemals würde er verstehen, warum die Menschen ihre wunderschönen, freundlichen Pferde gegen diese kalten, stinkenden Maschinen eingetauscht hatten.

Das Auto, in dem er sich jetzt befand, machte allerdings keinen Lärm. Es rollte ohne Motor und sogar ohne Fahrer. Es rollte steil bergauf, obwohl es im Schlosshof gar keine Berge gab. Laurin hob ein wenig den Kopf und spähte zwischen den Vorder­sitzen hindurch. Plötzlich verstand er, was los war: Ein Seil zog das Auto mit der Schnauze voran auf die Ladefläche eines Transporters. Und während Laurin noch fieberhaft überlegte, was das wohl zu bedeuten hatte, fuhr der Transporter einfach los. Er ruckelte über die Pflastersteine des Schlosshofs und durchquerte das hohe Tor. Noch hätte Laurin abspringen können, aber aus irgendeinem Grund tat er es nicht. Er drückte den Wackelkopfhund an sich.

»Wo fahren wir jetzt hin?«, flüsterte er leise.

Aber genau wie die Kreuzspinne im Gewölbe gab auch der Wackelkopfhund keine Antwort.

Kapitel 6