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Seit über einem Jahr leidet Lea an Dauererregtheit, einer äußerst seltenen und unerforschten Krankheit. Täglich hat die 31-Jährige bis zu 220 (!) Orgasmen, obwohl sie bei über 99% von ihnen keinerlei sexuelles Verlangen verspürt. Sie kommen, wo und wann immer sie wollen. Kein Arzt, Heilpraktiker oder Wunderheiler kann ihr helfen; daher entschließt sie sich zur Selbsttherapie. Selbstkasteiung und Peinlichkeiten bestimmen von nun an ihr Leben. Als sie auf einen Leidensgenossen trifft, ist sie entschlossener denn je, in ihr früheres erfülltes Leben zurückzufinden, in dem ihr Sex - mit lediglich ein bis drei Orgasmen am Tag - so viel Spaß gemacht hat.
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Seitenzahl: 209
Veröffentlichungsjahr: 2015
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geboren 1972 in Berlin
Medizinstudium
zahlreiche Auslandsaufenthalte
verheiratet, 2 Kinder
beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit außergewöhnlichen Krankheiten
lebt und arbeitet abwechselnd in Berlin und London
"Manchmal braucht es eine tiefsinnige,
bizarre, aber zugleich amüsante Geschichte,
um auf eine völlig unbekannte Krankheit
(hier: PGAD) aufmerksam zu machen."
(Eva M., eine ehemals Betroffene)
Der Ironie des Schicksals habe ich es zu verdanken, dass ich als metaphysisch denkende Frau von meinem Körper unterjocht werde. Auf perfide Art und Weise weist er meinen Geist in seine Schranken. Zumindest derzeit. Dabei hätte es noch viel schlimmer kommen können. Zum Beispiel, wenn ich als Schwein auf die Welt gekommen wäre, genauer gesagt als Sau. Angeblich dauert der Orgasmus bei einer "geilen Sau" bis zu dreißig Minuten - viel Zeit, um ihre Lust zu genießen! Übertragen auf mich und meine jetzige Situation wäre das der absolute Supergau. Viel schlimmer noch als die Hölle. Denn bei meinem Orgasmenaufkommen würde ich im Durchschnitt etwa einhundert Stunden für meine Orgasmen benötigen. Am Tag! Durchgehend! Ohne jegliche Pause! So viele Stunden gibt der Tag nicht her. Zumindest nicht im Diesseits. Und von Genießen könnte da wirklich auch keine Rede mehr sein!
Vielleicht empfindet eine Sau den Sex mit einem Eber aber auch als nicht sonderlich lustvoll, wenn sein wie ein Korkenzieher geformter Penis in sie eindringt. Andererseits hat die Natur den Gebärmutterhals bei der Sau wie eine Art Mutter aufgebaut, in die sich der Eberpenis perfekt einschrauben kann. Nun kenne ich als notorische Nicht-Handwerkerin das Einschrauben nur in Bezug auf eine gute Weinflasche, die mit einem Korken verschlossen ist. Dass sich der Eber aber wie ein Korkenzieher mehrmals um sich selbst dreht, während er in seiner Sau steckt, habe ich bisher nirgends gesehen. Auch nicht im Internet, wo ja heutzutage alles Abstruse dieser Welt zu finden ist. Gleichwohl haben Schweine einen Höhepunkt, das steht wohl außer Frage. Ob sie dabei aber auch Lust bzw. Spaß empfinden, insbesondere die Sau, wenn ihre Innereien zucken, um das Sperma schneller zu den Eizellen zu bewegen, bleibt fraglich. Wenn man allerdings Bären- bzw. Stummelschwanzmakaken bei ihrem Höhepunkt beobachtet, könnte man indes wieder sicher sein, dass auch Tiere einen Orgasmus haben und ihn als lustvoll empfinden können. Der ganze Körper des meerkatzenartigen Äffchens bebt und seine Lippen formen ein deutliches "O", so als wolle es bei seinem Höhepunkt freudig erregt "Oooooh, wie ist das schön, oooooh, wie ist das schön" singen oder gar das Wort "Oooorgasmus" extra betont lauthals in den Dschungel hinausschreien. Vielleicht fing es bei den Primaten ausgerechnet beim Zeugungsakt vor zehntausenden von Jahren an, dass sie die ersten wortähnlichen Laute von sich gaben?! Womöglich gäbe es ohne den Orgasmus unsere als hochentwickelt geltende verbale Kommunikation nicht?! Und letztlich auch nicht uns Menschen in der heutigen Form!
Ich sollte mir als Tochter, deren Elternteile studierte Germanisten sind, dieses ominöse "O"-Wort einmal genauer anschauen: "Orgasmus" wird mit kurzem "a" und kurzem "u" gesprochen, jeweils kombiniert mit einem gezischten s-Laut. Diese Schreibweise ist aber meines Erachtens inkonsequent, denn genau genommen müsste wegen der Aussprache je ein zusätzliches "s" an die bereits vorhandenen "s" angefügt und als Folge dessen dieses Wort richtigerweise "Orgassmuss" geschrieben werden. Sprachpfleger stiegen bei dieser Sichtweise wahrscheinlich sofort auf die Barrikaden. Und eine probate Begründung, warum diese Überlegung Quatsch sei, könnten sie sicher auch gleich mitliefern. Ob diese für einen sprachwissenschaftlichen Laien nachvollziehbar wäre, sei einmal dahingestellt. Denn wie bitteschön erklärte man jemandem, der Deutsch lernen möchte, auf verständliche Art und Weise, warum etwa der "Kuss" mit zwei, der "Bus" aber mit nur einem "s" geschrieben wird, obwohl beide Worte gleich bissig, hart, scharf bzw. mit einem gleich gezischten s-Laut ausgesprochen werden. Ähnlich schwierig wäre die Erklärung bei so manchen, mit "...mus" oder "...ust" endenden Worten, wie etwa "Apfelmus" im Vergleich zu "Orgasmus" oder "Wust" im Vergleich zu "Lust". Das jeweilige "u" wird das eine Mal als Langvokal, das andere Mal aber als Kurzvokal gesprochen. Und auch bei Langvokalen bei Worten, die mit "s" oder "ß" enden, gibt es grammatische und phonetische Regeln, die kaum nachvollziehbar sind. Beispielsweise wird das Wort "Gras" genauso lang gedehnt und hinten scharf gesprochen wie das Wort "Spaß". - Ein dreifaches Hoch auf den Germanismus, die sprachliche und grammatische Besonderheit des Deutschen.
Letztlich ist die deutsche Sprache aber genauso vielschichtig, abwechslungsreich und nicht zu bändigen wie meine Orgasmen. Es gibt allerdings einen gravierenden Unterschied: Worte sind die Produkte des Verstandes; Orgasmen hingegen sind das Resultat des Triebes und der Lust. Doch bestätigen Ausnahmen die Regel, wie man ausgerechnet in meinem Fall sehen kann! Denn über neunundneunzig Prozent meiner Orgasmen sind weder triebgesteuert noch resultieren sie aus einer sexuellen Lust. Sie kommen, wann immer sie wollen. Doch nur etwa jeder zweihundertste Orgasmus kommt, wann ich es will. Keine wirklich tolle Quote!
Wie dem auch sei, es muss eine Rechtschreibreform her! Wieder einmal eine neue. Unbedingt! Aber diesmal radikal, umfassend und für jedermann nachvollziehbar. Widersprüchlichkeiten und Inkonsequenzen der genannten Art müssen aus der deutschen Sprache ein für alle Mal verschwinden. Mir ist durchaus bewusst, dass dieser Vorschlag einem langen Kampf gegen Windmühlen gleichkäme. Dafür ist der Germanismus zu sehr mit dem Denken und Handeln der Deutschen verankert. Darum wird er aus sprachwissenschaftlicher Sicht jede Rechtschreibreform überleben, da bin ich mir sicher. Genauso wie der Orgasmus evolutionär jede Entwicklung des Menschen überleben wird. Und auch mein spezieller Fall ändert nicht das Geringste daran.
... Mensch Lea, was für eine quere Analogie dir da wieder durch den Kopf geht! Wahnsinn, Blödsinn, Irrsinn!? Oder doch eher eine gehörige Portion Tiefsinn? Nun, ohne jeglichen Sinn ist sie für mich jedenfalls nicht. Denn das Gute an ihr ist, dass ich in der Zeit, in der ich über das Wort Orgasmus philosophiert habe, keinen solchen hatte. Sollte ich als Spätberufene etwa Philosophin werden oder sogar in die Fußstapfen meiner Eltern treten und dem Germanismus auch ganz offiziell frönen? Wenigstens aber einem Verein zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache beitreten, um meine Orgasmen besser in den Griff zu bekommen? Oder mich beim Nachdenken, wie soeben geschehen, einfach nicht mehr bewegen, um meinem Unterleib zu signalisieren, dass es überhaupt keine Veranlassung gibt, wegen jeder Nichtigkeit sofort rebellisch zu werden? Als bewegungsintensive Frau, die ich seit meiner Geburt nun einmal bin, wäre allerdings jede bewusst herbeigeführte Bewegungseinschränkung über einen längeren Zeitraum eine wirkliche Herausforderung, vielleicht sogar eine Folter, zumindest eine kleine.
Nichtsdestotrotz könnte ich mich in Sachen Orgasmen mal experimentell betätigen. Schlimmer als im Moment kann es für mich mit ihnen ja nicht werden. Ja, genauso mache ich es! Und das Forschungsprojekt bin ich selbst. Genauer gesagt, mein zurzeit so unberechenbarer, böser, einst von mir so geliebter Unterleib.
Fünf Wochen nach diesen Überlegungen starre ich die Decke an. Es ist Montag, mein erster Ferientag. Mir gehen meine letzten fünf Orgasmen durch den Kopf. An die davor Gewesenen kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern. Erst recht nicht an deren Anzahl. Dafür waren es einfach wieder zu viele ... am heutigen Tag.
An die achtzig werden es bisher gewesen sein. Vielleicht waren es auch weniger, vielleicht aber auch mehr. Im Gegensatz zu früher ist es mir nicht mehr wichtig, die genaue Anzahl meiner täglichen Orgasmen zu kennen. Über deren Quantität führe ich schon lange nicht mehr Buch. Auch habe ich aufgehört aufzuschreiben, wenn einer meiner Orgasmen eine außergewöhnliche Intensität hatte oder mir an einem unmöglichen Ort oder in einer unpassenden Situation gekommen ist. Schriebe ich wie zu Anfangszeiten alles weiterhin akribisch auf, käme ich aus dem Schreiben nicht mehr heraus. Zumal ich mich zum Schluss ins Schreiben immer mehr hineingesteigert habe, denn währenddessen bekam ich im Verhältnis zu sonstigen Aktivitäten nicht ganz so viele Orgasmen. Wahrscheinlich bräuchte ich - hätte ich das Schreiben mit dieser stoischen Akribie weiterbetrieben - mindestens einen Dreißig-Stunden-Tag. Und selbst bei regelmäßigen Kurznotizen über die Biographien meiner täglichen Orgasmen wäre der Zeitaufwand beträchtlich; bei einem einminütigen Vermerk über jeden meiner durchschnittlich zweihundert Orgasmen pro Tag machte das in der Summe immerhin satte drei Stunden und zwanzig Minuten aus. Neben einem Fulltime-Job absolut nicht machbar! Auch nicht bei der besten Zeiteinteilung, der perfektesten Organisation und der äußersten Disziplin.
Zu Forschungszwecken wären meine Aufzeichnungen vermutlich sehr nützlich; wenn es denn hierzu ein richtiges Forschungsgebiet gäbe. Doch das gibt es meines Wissens nicht; zu wenige Menschen teilen mein absonderliches Schicksal. Daher sind meinesgleichen für die Wissenschaft zu uninteressant, vernachlässigenswert, völlig unbedeutend - schon eher forschungslästig. Würde allerdings nur jeder tausendste Mensch meine Krankheit haben, sähe das wahrscheinlich anders aus, denn für die Pharmaindustrie wäre diese Minderheit vermutlich höchst interessant. Weltweit gäbe es dann immerhin an die sieben Millionen potentielle Patienten, die entsprechende Medikamente täglich zu sich nähmen. Zumindest in der westlichen Welt gäbe es einen diesbezüglichen Medikamentenkonsum, was vielleicht noch vier Millionen Patienten ausmachte. Für diese müssten die Medikamente entsprechend teuer sein. Deren Umsatz ginge locker in die Milliarden. Nur eine Tablette pro Tag, die vielleicht fünfzehn Euro kostete, bedeutete bei vier Millionen Patienten einen Jahresumsatz von etwa zweiundzwanzig Milliarden Euro. Wow! Pharmaunternehmen witterten hier garantiert ganz schnell den großen Reibach; die Forschung würde auf diesem Gebiet in kürzester Zeit auf Hochtouren laufen. Allerdings ist mit dieser seltenen Krankheit bei nur ganz wenig Betroffenen - schätzungsweise einigen Tausend, vielleicht auch nur einigen Hundert weltweit - kein Geld zu verdienen.
Ob sich hieran irgendwann einmal etwas ändern wird? Schwierig zu beantworten. Schließlich müssen sich neue Forschungsgebiete erst herauskristallisieren und dann über mehrere Jahre bzw. Jahrzehnte entwickeln, wie es etwa bei der Erforschung von Nahtoderfahrungen der Fall war. Bis Anfang der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gab es hierzu auch noch keine seriösen Untersuchungen. Das hat sich erst geändert, als Pioniere in der Sterbeforschung, wie die bekannte schweizerisch-US-amerikanische Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross, die als Begründerin der Sterbeforschung bzw. Hospizbewegung gilt, den Mut fanden, hierüber intensive Forschung zu betreiben, und das mit der untrüglichen Gewissheit, zunächst belächelt und nicht ernst genommen zu werden. Mittlerweile aber hat sich die Forschung über Nahtoderfahrungen etabliert; mehr noch, sie sind ein anerkanntes und auch seriöses Forschungsgebiet geworden. Bücher hierzu finden sich immer häufiger in den Bestsellerlisten. Und das ist auch gut so, denn Nahtoderfahrungen behandeln einen Bereich unseres Seins, an dem letztlich kein aufgeschlossener und hinterfragender Mensch drum herum kommt. Aufgrund meiner langjährigen beruflichen Tätigkeit als Sterbebegleiterin weiß ich, wovon ich rede. Vielleicht findet ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin ja irgendwann den Mut, den Schwerpunkt seiner bzw. ihrer Forschung auf dem Gebiet rund um die Dauererregtheit zu legen. Das wäre sensationell, revolutionär und absolut überfällig. Zumindest aus meiner Sicht. Doch höre ich bereits jetzt schon den hellen Aufschrei einer bestimmten Riege von nicht aufgeschlossenen Menschen: »Was? Sie forschen über Dauererregtheit? Das ist nicht Ihr ernst! Und Sie wollen ein seriöser Wissenschaftlicher sein?« Dabei wäre die Erforschung dieses Gebiets meiner Ansicht nach um ein Vielfaches leichter als die über Nahtoderfahrungen. Denn der Unterschied zwischen einem Erlebnis im Nahtodbereich und meinem speziellen Fall liegt auf der Hand: Nahtoderfahrungen finden im Verborgenen statt; Betroffene können, müssen aber nicht darüber berichten. Sie entscheiden selbst, ob ihre übernatürlichen Erlebnisse ihre höchstpersönliche, intime Angelegenheit bleiben oder ob sie sich anderen anvertrauen. Außerdem kann es im Einzelfall nach wie vor äußerst schwierig sein, einen wissenschaftlichen Beweis für das Vorliegen einer Nahtoderfahrung zu erbringen, wovon immer auch die Glaubwürdigkeit einer Person abhängt. Dafür ist das Erleben zu individuell und für die Betroffenen meist kaum in Worte zu fassen. Auch gibt es nach wie vor eine Vielzahl von Skeptikern unter den Fachleuten, die die Seriosität der Nahtodforschung bestreiten. Gleichwohl rümpft die breite Masse nicht mehr sofort die Nase, wenn heute jemand über dieses frühere Tabuthema spricht. Zumal es Hochrechnungen gibt, dass fünf bis zehn Millionen Menschen weltweit derartige Erfahrungen zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits machen. Jährlich!
Meine täglichen Zwangs-Orgasmen sind hingegen so etwas von bewiesen. Der bloße Augenschein reicht dazu aus. Sie finden nicht im Verborgenen statt, zumindest nicht alle, weil sie eben nicht in allen Lebenssituationen kontrollierbar bzw. steuerbar sind. Aus diesem Grund können sie auch nicht alle eine höchstpersönliche, intime Angelegenheit sein. Gut wäre zwar, wenn es so wäre, aber das ist leider nur ein unerfüllbarer Wunsch. Ich muss sie mit anderen teilen, sofern ich einigermaßen normal am Alltagsleben teilnehmen möchte. Ich hätte natürlich die Wahl und könnte mich komplett vom Leben abschotten. Das wäre aber dann etwa so, als sei ich lebendig begraben, ohne unter der Erde zu liegen. Oder lebendig eingemauert, ohne zuvor von anderen eingemauert worden zu sein. Sich für so ein Eremitendasein zu entscheiden, wäre wirklich schlimm! Ein solches Leben schiene mir erheblich schwieriger zu sein als das bloße Sterben und das damit verbundene Hinübergehen in eine andere Dimension hinein, die wir Diesseitigen Jenseits nennen!
Tue ich mir aber jetzt einen Gefallen, so gefesselt in meinem Bett zu liegen? Dabei meine vier Gliedmaßen ausgestreckt, so als wolle man mich vierteilen? Ist diese Maßnahme, um Unbeweglichkeit zu erzwingen, für die Bekämpfung meiner Dauerorgasmen wirklich sinnvoll? Ist sie zielführend? Im besten Fall heilend? - Lea, jetzt nur bei der Stange bleiben und keinen Zweifel hegen, schließlich habe ich mir alles im Vorfeld gut überlegt. Abgewogen, immer wieder abgewogen, über mehrere Wochen hinweg, und zum Schluss als die einzige Maßnahme auserkoren, die mir noch helfen kann. Ich kann es schaffen, und ich werde es schaffen. Weil ich es will, verdammt noch mal, so etwas von will. Und weil ich es unbedingt will, kann ich es auch schaffen. Den Gedanken Die Kunst des Könnens liegt im Wollen´ habe ich irgendwo einmal aufgeschnappt und zur fundamentalen Grundlage meines Denkens gemacht. Denn er zwingt mich zur Ehrlichkeit mir selbst gegenüber. Viel zu schnell sind die Menschen versucht zu sagen: Ich kann das nicht. Doch dahinter verbirgt sich Bequemlichkeit und die Angst, seine Komfortzone verlassen zu müssen. Letztendlich aber geht es immer nur ums Wollen bzw. Nicht-Wollen. Ich will nicht, ich kann nicht! Ich will, ich kann! So einfach ist das!
Meine Nasenspitze beginnt zu jucken. Durch das Vorschieben meines Unterkiefers blase ich das Kribbeln weg. Das anschließende mehrmalige Anheben und Hochziehen meiner Nase soll ihr wieder das Gefühl von Normalität suggerieren. Es funktioniert, ich habe Glück gehabt. Es hätte mich auch an einer unliebsamen Stelle jucken können, an der meine ausgefeilte Blastechnik in meiner gegenwärtigen Lage versagt hätte.
Ich höre Schritte. Es klopft an der Tür. Lars, mein Folterknecht, schiebt zaghaft erst seinen wuscheligen Kopf und anschließend seinen Körper durch den Spalt.
»Warum klopfst du?«
»Weil ich so erzogen worden bin, wenn ich ein fremdes Zimmer betrete.«
»In welcher verfänglichen Situation könntest du mich denn jetzt zusätzlich noch erwischen können? Ich bin dir momentan doch ohnehin völlig ausgeliefert. Das weißt du ganz genau!«
»Was die Sache für mich nicht gerade einfacher macht.«
»Meinst du, für mich ist sie einfach?«
»Natürlich nicht, aber ...«
»Was aber?«
»Aber du hast es so gewollt!«
»Ja, das habe ich.«
Lars stellt ein Glas stilles Wasser neben mich auf das Nachttischchen. Kein Mineralwasser, denn das stetige Geräusch des Kribbelns könnte so einiges in meinem Unterleib auslösen. Das hat er sich gemerkt. Lieb von ihm. Doch wie soll ich jetzt trinken, so gefesselt?
»Wenn du trinken magst, sag es mir!«
»Ich will trinken.«
»Jetzt?«
»Lars ...«
»Schon gut, aber die Situation ist mir etwas zu skurril.«
»Ja, für mich ist sie auch ungewohnt.«
»Kannst du denn schon etwas sagen?«
»Was meinst du?«
»Na ja, ob dein Experiment schon etwas bringt?«
»Ich weiß nicht. Immerhin liege ich ja erst etwas über eine halbe Stunde so da. Bis jetzt klappts ganz gut. Einen Orgasmus hatte ich bis jetzt jedenfalls noch nicht.«
»Mhm ...«
»Was: Mhm?«
»Ob es auch über einen längeren Zeitraum funktioniert, weißt du ja noch nicht. Und selbst wenn das der Fall sein sollte, du kannst nicht ständig auf diese Weise im Bett liegen.«
»Lars, das weiß ich selbst. Aber meine Beweggründe, warum ich das auf diese Weise mal so ausprobieren möchte, habe ich dir ja erklärt. Welche Schlüsse ich zu welchem Zeitpunkt dann aus dem Experiment ziehen werde, weiß ich selbst noch nicht. Wie auch in der Kürze der Zeit? Ich brauche halt ein wenig Geduld.«
»Wohl eher viel Geduld.«
»Du hast recht. Sogar sehr viel Geduld. Und noch etwas: Disziplin und Durchhaltevermögen. Und zwar ganz viel davon. Schließlich muss ich meine jetzige Urlaubswoche sinnvoll nutzen.«
»Indem du dich die meiste Zeit so kasteist?«
»Lars, hast du eine bessere Idee?«
»Nein, hab ich nicht. Tschuldige.«
»Gibst du mir nun endlich etwas Wasser?«
»Wie lange willst du denn heute, am ersten Tag deines Experiments, liegend so durchhalten?«
»Wasser bitte!«
»Erst, wenn du meine Frage beantwortet hast.«
»Lars!«
»Ja, ist ja schon gut.«
Lars greift nach dem Wasserglas. Ich hebe meinen Kopf an. Fürsorglich gleitet seine linke Hand darunter und stützt ihn. Ich halte kurz inne. Weil sich aber augenblicklich in meinem Unterleib nichts rührt, nehme ich schnell einige Schlucke und gehe mit meinem Kopf anschließend etwas nach hinten. Lars reagiert sofort und zieht seine Hand zurück. Dann stellt er das zur Hälfte von mir geleerte Glas wieder auf das Nachttischchen. Sein scharfer Blick verrät mir einen gesteigerten Grad an Skepsis, bevor er seine Frage wiederholt: »Und? Wie lange gedenkst du, den ersten Tag deines wegweisenden Experiments so zu verbringen?«
»Ich weiß es noch nicht, ich lasse es einfach auf mich zukommen. Im Übrigen schwingt in deiner Wortwahl etwas Negatives mit.«
»Ich meine es nicht so, Lea. Aber ich sitze etwas auf heißen Kohlen. Ich müsste gleich mal für zwei Stündchen in die Uni.«
»Das hatten wir doch so besprochen. Du kümmerst dich zwar während meines Experiments um mich, aber dein Studium soll darunter nicht leiden. Kein bisschen.«
»Ja, das hatten wir so besprochen.«
»Und daran halten wir uns. Oder etwa nicht?«
»Ich müsste aber in ein paar Minuten schon los.«
»Kein Problem.«
»Und du?«
»Kein Problem.«
»Kein Problem?«
»Herrgott ja, kein Problem.«
»Aber ich kann dich doch nicht einfach so liegenlassen, so gefesselt. Alleine.«
»Auch darüber haben wir doch gesprochen.«
»Ja.«
»Also?«
»Ich meine ja nur.«
»Lars, was meinst du nur?«
»Du bist dann hilflos in der Zeit, in der ich fort bin. Und jeglicher Situation völlig ausgeliefert.«
»Jaja, das weiß ich.«
»Ich fühle mich dann aber scheiße.«
»Lars, wir haben doch über alles gesprochen. Warum rührst du wieder daran? Willst du mir nun helfen oder nicht?«
»Klar will ich das!«
»Dann bitte keine Diskussion mehr!«
Lars nickt zögerlich. Seine rechte Hand fährt in Richtung meiner linken Wange, um mich zu streicheln.
»Lars ... nicht!«
»Oh, sorry, hatte ich fast vergessen.«
»Gibst du mir noch den Rest Wasser?«
»Klar.«
Von Lars starker Hand gestützt, leere ich das Glas. Erstaunlicherweise bleibe ich auch diesmal von einem Orgasmus verschont. Kaum zu glauben!
»Ich geh dann jetzt. Mhm?«
»Okay. Viel Erfolg!«
»Ich beeile mich auch.«
»Musst du nicht. Ich halte das locker zwei Stündchen so aus.«
»Bis gleich. Ich beeile mich trotzdem.«
»Na dann, tschüss!«
Lars wirft mir mit ernster Miene einen schnellen Luftkuss zu, den ich augenzwinkernd erwidere. Dann zieht er die Tür hinter sich zu. Ich starre erneut die Decke an und damit ins Leere. Kurze Zeit später höre ich die Wohnungstür zufallen. Es ist wieder ruhig um mich. Und so langsam auch wieder in mir drin. Schön!
Orgasmen sind ein Segen. Oder aber ein Fluch! Letzteres ist momentan bei mir der Fall. Ein Segen sind sie, weil ich von früher her weiß, wie schön sie sein können. In Kombination mit der wahren Liebe zu jemandem sind sie das höchste der Gefühle. Sofern sie steuerbar sind, man also den Zeitpunkt ihres Genießens selbst bestimmen kann. Ein Fluch sind sie derzeit für mich, weil ich weiß, dass ich sie auch hassen kann, selbst im Zustand des Verliebtseins. Ich liebe Lars sehr und bin gern in seiner Nähe, wobei Nähe im Moment nur selten etwas mit Anfassen und Austauschen von Zärtlichkeiten zu tun haben darf. Schließlich bedeutet für mich beinahe jede seiner Berührungen die potentielle Gefahr einer Erregung. Aus diesem Grund ist Sex zwischen uns, wie es früher einmal bei mir mit fast ein bis drei Höhepunkten täglich der Fall war, nahezu vollständig auf Eis gelegt. Nur etwa alle zwei bis drei Wochen schlafen wir noch miteinander, ich möchte schließlich nicht, dass Lars und sein bestes Stück aus der Übung kommen. Lars ist dann immer sehr liebevoll zu mir und ich gebe ihm das Gefühl, dass ich es auch genieße. Wir wissen jedoch beide, dass das meist nicht der Fall ist, auch wenn er zweifelsfrei davon ausgehen kann, dass ich ihm keinen meiner Orgasmen vortäusche. Denn selbst wenn ich dies wollte, wäre ich aufgrund meiner Dauererregtheit hierzu nicht in der Lage. Dauererregtheit, so schlimm sie wie in meinem Fall auch ist, gewährleistet dem Liebespartner absolute Orgasmen-Ehrlichkeit! Und dennoch, unsere sexuelle Enthaltsamkeit tut unserer Liebe keinen Abbruch. Im Gegenteil, unsere mentale Verbundenheit ist dadurch stark gewachsen. Und Zukunftspläne in Sachen Sex haben wir auch bereits, schließlich wollen wir den versäumten Sex unbedingt nachholen, sobald bei mir wieder alles im Lot ist. So Gott will! Für uns beide ein schöner Trost. Und zudem ein hoffnungsvolles Ziel, das den gegenwärtigen Frust, insbesondere bei mir, etwas erträglicher macht.
Ob das ständige Wiederkehren von Orgasmen bei mir ein Werk des Teufels ist, glaube ich nicht. Denn meine Dauererregtheit lässt sich erklären. Zumindest medizinisch. Theologisch wohl eher nicht. Ich glaube auch nicht, dass kompetente und einfühlsame Theologinnen oder Theologen bzw. Geistliche hierzu schon einmal irgendwelche Überlegungen angestellt, geschweige denn zu Papier gebracht haben. Warum auch, werden sie mit einer solchen absonderlichen Thematik, die das Leben einer verschwindend geringen Minderheit von Menschen bestimmt, wohl niemals konfrontiert, selbst wenn die mit dieser seltenen Krankheit Betroffenen sehr gläubig sein sollten und sich einer der beiden christlichen Konfessionen zugehörig fühlten. Wo sollten sie auch mit diesem Leiden konfrontiert werden? Etwa im Falle eines Pfarrers im Beichtstuhl, weil der oder die betroffene Gläubige seine bzw. ihre Krankheit als Sünde begreift? Etwas anderes wäre es, wenn Geistliche selbst unter dieser Krankheit litten. Möglicherweise wäre das sogar Bestsellerstoff für ein Drehbuch: Ein Priester - ein katholischer Pfarrer oder gar ein erzkonservativer Bischof -, der von der andauernden genitalen Erregungsstörung betroffen ist und verzweifelt in aller Heimlichkeit eine Lösung für sein Problem sucht, das wäre was. Vielleicht wäre es sogar Stoff für einen Mehrteiler, weil der betroffene Geistliche einen langen Entwicklungsprozess mitmachte und auf kurz oder lang seinen Beruf nicht mehr ausüben könnte. Eine menschliche Tragödie täte sich hier auf, eine mitreißende Story, die unter die Haut ginge. Man stelle sich situationsbedingt einen Bischof vor, der während einer Predigt oder einer Priesterweihe einen oder mehrere Orgasmen bekäme. Oder eine evangelische Pastorin, die während einer Trauung oder einer Taufe zu einem oder mehreren Höhepunkten käme. Oder ein katholischer Priester während einer Krankensalbung. Ein Regisseur könnte die jeweilige Szene sehr ambivalent inszenieren - lustig, makaber, in jedem Fall äußerst emotional. Für ihn wäre es sicher eine besondere Herausforderung, die eigentliche physische wie psychische Qual des Seelsorgers oder der Seelsorgerin und bedingt dadurch die Peinlichkeit für sämtliche der anwesenden Personen darzustellen. Ob ein derartiger Film aber der eigentlichen Ernsthaftigkeit dieser Krankheit gerecht werden würde, wäre eine ganz andere Frage. Auf jeden Fall könnte man aus dem Stoff einen skandalträchtigen, preisverdächtigen Film von höchster Güte machen. Vielleicht auch ein Filmdrama oder aber eine Filmkomödie mit einem zugleich ernsten, aufklärerischen Hintergrund, wie etwa bei den Filmen Rain Man, Ziemlich beste Freunde´ oder Honig im Kopf.
Für jeden Geistlichen würde diese Krankheit das berufliche Aus bedeuten. Ein Pornostar hingegen würde von der Krankheit ordentlich profitieren, zumindest finanziell. Denn damit hätte er in der Pornobranche ein absolutes Alleinstellungsmerkmal. Echte Orgasmen im Minutentakt! Gar nicht auszudenken, welche versauten Fantasien ein Pornoproduzent da in seinen Drehbüchern verpacken könnte. Die Echtheit der Orgasmen bei einem Pornostar mit dieser Krankheit kämen für den Zuschauer von Pornos authentisch rüber, gespielte Orgasmen gehörten für den Protagonisten der Vergangenheit an. Durch die Vielzahl der Orgasmen wäre er zwar jedes Mal völlig erschöpft, für viele Zuschauer wäre dieser Umstand aber wahrscheinlich genau das Richtige, um ihre Geilheit auf die Spitze zu treiben. Für sie wäre die Dauererregtheit, die dieser Pornostar hätte, ein Segen. Dass der Pornostar dies letztendlich genauso sähe, wage ich jedoch stark zu bezweifeln. Könnte er seine Krankheit nach Abdrehen eines Films abschalten, wäre sie als lediglich temporäre Dauererregtheit sicherlich auch für ihn ein Segen. Da es einen solchen Schalter aber nicht gibt, wäre sie für ihn doch eher ein Fluch. Trotz des vielen Geldes, das er mit ihr verdienen könnte, und trotz der Berühmtheit, die er in der Pornobranche zweifellos erlangen würde.
Vielleicht sollte ich mich schriftstellerisch mit dieserart erdachten Schicksalen auseinandersetzen und auf das Schreiben entsprechender Drehbücher spezialisieren. Schließlich habe ich am eigenen Leib erfahren, wie beruhigend das Schreiben auf mich wirkt. Ob ich nun Buch über sämtliche meiner Orgasmen führe oder mir Geschichten ausdenke, wie sie mir im Ansatz soeben durch den Kopf gegangen sind, wäre einerlei, zumindest zeitlich gesehen. Und so könnte ich, wenn ich die Krankheit schon habe, das Beste daraus machen. Ich hätte eine Ablenkung, bekäme dadurch weniger Orgasmen und könnte noch ganz nebenbei - sofern der Erfolg Einzug halten sollte - bestimmt eine Menge Geld verdienen. Vielleicht wären meine Einnahmen dann der Grundstein zur Gründung einer Stiftung oder besser noch eines Instituts, das sich der Erforschung der Dauererregtheit widmete. Als Bestsellerautorin, die dann in sämtlichen Talkshows präsent wäre, hätte ich die notwendige mediale Aufmerksamkeit, um mit meinem Anliegen Großes bewegen zu können. Vielleicht ist das meine Berufung, meine Bestimmung, mein Schicksal?!