Leben zwischen den Geschlechtern - Ulla Fröhling - E-Book

Leben zwischen den Geschlechtern E-Book

Ulla Fröhling

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Beschreibung

Etwa 100 000 Menschen in Deutschland sind intersexuell. Manche sehen eindeutig weiblich aus - oft schön wie Models - und haben doch weder Gebärmutter noch Eierstöcke, anderen Mädchen wächst in der Pubertät ein Penis. Bei Jungen hat das Geschlechtsteil mitunter eine so ungewöhnliche Form, daß Mediziner empfehlen, daraus eine Scheide zu konstruieren und das Kind als Mädchen aufwachsen zu lassen - nur drei Möglichkeiten in einer Fülle von Formen der Intersexualität, die im Roman "Middlesex" nun auch erfolgreich Eingang in die Literatur gefunden hat. Da die Gesellschaft noch kein drittes Geschlecht zuläßt, treffen Eltern und Chirurgen oft frühzeitig eine Entscheidung. War der Entschluß falsch, kann das für die Betroffenen mit großen persönlichen Dramen verbunden sein. Ulla Fröhling lernte viele Intersexuelle kennen, die von ihrem Leben, ihren Kämpfen, Konflikten und dem wachsenden Selbstbewußtsein der Intersex-Bewegung berichten. Einige von ihnen sprechen zum ersten Mal über diesen Tabu-Bereich. Interviews mit Medizinern, Sexualwissenschaftlern, Therapeuten, Informationen über Genetik und ein umfangreicher Service-Teil ergänzen dieses erste deutsche Sachbuch zum Thema.

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Seitenzahl: 371

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Ulla Fröhling

Ulla Fröhling

Leben zwischen den Geschlechtern

Intersexualität – Erfahrungen in einem

Für Marieke, Katharina, Tom und die anderen

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von November 2003) © Christoph Links Verlag GmbH Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected] Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin Lektorat: Heike Olbrich, Andernach

Inhalt

Vorwort

Intersexuelle – Die Dritten im Bunde

Schwarze Medizin

Gibt es ein »wahres Geschlecht«?

Sprache: Verständigen, ohne zu verletzen

Ein letztes Tabu?

Erwachsene

Anna Heinrichs: »Ich kann damit leben, aber akzeptieren kann ich es nicht.«

Erika Kasal: »Daß ich plötzlich einen Penis bekam wie ein Junge, fand ich interessant.«

Luise Weilheim: »Weiblichkeit habe ich mir erkämpft.«

Intersexualität – ein Trauma?

Nicht der Intersexuelle ist das Problem, sondern die Gesellschaft

Was ist ein Trauma?

Dr. Luise Reddemann, Traumatherapeutin: »Im Grunde genommen sind es Helden.«

Raina/Rainer Haller: »Von allen Problemen meiner Kindheit war dies das geringste.«

Ernst Bilke: »Schwierigkeiten, meinen Platz zu finden.«

Intersexualität – eine Chance für die Gesellschaft?

Von Transsexualität zu Intersexualität

Prof. Hertha Richter-Appelt, Sexualwissenschaftlerin: »Ein bißchen anders.«

Exkurs 1: Ein genetischer Geheimcode

Exkurs 2: Der Medizin durchs Raster gerutscht

Chris Hausendorf: »Meine Großtante war ein Zwitter, mit 20 hat sie sich aufgehängt.«

Intersexuelle – vergessene Patienten?

Die erlösende Frage

Dr. Ute Thyen, Fachärztin für Kinderheilkunde: »Macht, Geheimhaltung, Sexualität – dem waren die Patienten ausgesetzt.«

Kinder

Sabine Warncke: »Sie weiß bestens über sich Bescheid.«

Intersexualität – eine Frage des (Er-)Messens?

AGS – Das Adrenogenitale Syndrom

Dr. Jens Commentz, Kinderarzt: »Wenn beide Eltern es vererbt haben, verschwinden die Schuldgefühle.«

Intersexualität – überforderte Eltern?

Unwissende Therapeuten

Dipl.-Psych. Knut Werner-Rosen, Psychotherapeut: »Sexualität steht an der Schnittstelle zwischen Leben, Tod und Ewigkeit.«

Ein mögliches Modell: Patenschaften

Maria Matthes: »Ich habe die Luxusausführung!«

Antje Henningsen: »Ich hab’ Puzzlesteine vom Jungen, aber ein Mädchen bin ich trotzdem.«

Intersexualität – ein rechtloser Zustand?

Gibt es ein drittes Geschlecht?

Dr. Hans-Georg Koch, Jurist: »Der Gesetzgeber wünscht Eindeutigkeit, auch wenn sie falsch ist.«

Nachwort

Anhang

Glossar

Anmerkungen

Verwendete Informationen

Dank

Wichtige Adressen

Zora hatte eine Androgenresistenz. Ihr Körper war blind für männliche Hormone. Obwohl sie wie ich XY war, hatte sie sich weiblich entwickelt.

[…]

»Eine Frage habe ich«, sagte ich eines Tages zu Zora. »Warum hast du es überhaupt erzählt?«

»Was meinst du damit?«

»Sieh dich doch an. Keiner würde es merken.«

»Ich möchte, daß die Leute es wissen, Cal.«

»Und warum?«

Zora schlug ihre langen Beine unter sich. Ihre Feenaugen, paisleyförmig, blickten blau und eisig in mich hinein, und sie sagte: »Weil wir das sind, was als nächstes kommt.«

aus: Jeffrey Eugenides: Middlesex. Reinbek 2003, S. 677–681.

Vorwort

Sie stehen an der Schwelle zu einem Tabuthema. Wenn Sie die Schwelle zu diesem Buch überschreiten, tun Sie es mit Respekt. Die Menschen, denen Sie hier begegnen, beweisen großen Mut, wenn sie aus ihrem Leben berichten. Intersexualität ist eines der letzten Tabus. Lange nachdem sich andere ausgegrenzte Gruppen – Schwule und Lesben, vergewaltigte Frauen und Kinder, Menschen mit Behinderungen – geoutet und in Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen haben, trauen sich Intersexuelle allmählich an die Öffentlichkeit. Homosexuelle werden heute als normale Mitbürger gesehen, ihre kulturellen Leistungen geschätzt. Und das ist auch gut so – was immer Päpste oder Kirchen dazu meinen. Diesen Weg haben Intersexuelle noch vor sich.

Intersexuelle, Hermaphroditen oder Zwitter sind Menschen, die nach medizinischen Normen nicht in die Zwei-Klassen-Gesellschaft Mensch passen: 1. Klasse für Männer, 2. Klasse für Frauen. Die Klasseneinteilung bei U- und S-Bahnen ist abgeschafft. Bei Menschen leider noch nicht.

Vor vielen Jahren saß mir in der S-Bahn ein junger Mensch gegenüber, den ich nicht einordnen konnte. War es Mann oder Frau? Es war kein Transvestit, dem man die Lust an gegengeschlechtlicher Verkleidung schnell ansieht. Es war kein Mann-zu-Frau-Transsexueller: kein erwachsener Mann mit männlichem Körperbau, der mit Kleidung und Hormonen, eventuell auch mit Operationen versuchte, zierliche Weiblichkeit zu imitieren. Diese Person war zierlich. Es war auch keine Frau-zu-Mann-Transsexuelle, die Weiblichkeit ablegen und nur Mann sein wollte. Mein Gegenüber hatte zwar eher männliche Gesichtszüge, aber fast keinen Bartschatten, trug neutrale Kleidung, Jeans, ein kariertes Hemd, unter dem sich sehr schwach Brüste abzeichneten. Nur die Unauffälligkeit war auffällig. Keinerlei Koketterie oder Provokation. Selbstverständlich. Ich war irritiert. Vor allem, weil ich so irritiert war. Ich wollte mein Gegenüber weder heiraten noch sonst in irgendeine Beziehung zu ihm treten. Warum also wollte ich wissen, wer oder was er war? Brachte er meine gut sortierte Welt durcheinander, die es mir ermöglichte, Menschen mit einem Blick in Kästchen zu packen und keinen Gedanken mehr an sie zu verlieren? Es war nicht nur eine intellektuelle Irritation. Ich spürte ein Gefühl, das ich fast archaisch nennen möchte. Fühlte ich mich bedroht? Wohl kaum, mein Gegenüber las eine Zeitung (keine Frauenzeitung) und kümmerte sich nicht um mich.

Als ich vor drei Jahren begann, zum Bereich Intersexualität zu recherchieren, fiel mir diese Begegnung wieder ein. Würde sich die Irritation wiederholen? Sie tat es nicht. Vielleicht, weil ich jetzt offene Gespräche haben konnte mit intersexuellen Menschen. Das Tabu war verschwunden. Gemeinsam dachten wir nach über Männliches und Weibliches in ihnen, in uns.

Meine Gesprächspartner leben in sehr verschiedenen Regionen Deutschlands. Sie sind Single, geschieden, verheiratet oder verwitwet. Ich sprach mit erwachsenen Intersexuellen, mit Eltern intersexueller Kinder und mit diesen Kindern. Einige Kontakte entstanden durch Vermittlung der Selbsthilfegruppen. Andere Gesprächspartner hatten bisher kaum jemandem ihre Besonderheit anvertraut. Überzeugt, daß Intersexualität häufiger ist als bisher vermutet, wollte ich auch in meiner Nähe betroffene Menschen finden. So lernte ich die Familie Warncke kennen, es sind Bekannte von Bekannten. So fand ich Rainer Haller, er war die Schulkameradin einer Kollegin. Chris Hausendorf kenne ich seit 20 Jahren. Einige, wie Ernst Bilke, haben den Mut, mit ihrem richtigen Namen zu erscheinen. Indem sie sichtbar werden, tragen sie zu einer Veränderung unserer Einstellung bei.

Ergänzend kamen Interviews hinzu mit Fachpersonen aus den Bereichen Medizin, Therapie, Traumatologie, Endokrinologie und Sexualwissenschaften. Keiner dieser Interviewten tat, als wüßte er oder sie die Wahrheit. Die Interviews mit Fachpersonen sind ebenfalls als Begegnungen geschrieben, die ein wenig vom jeweiligen Gegenüber aufscheinen lassen. Und von deren eigenen Fragen und Unsicherheiten. Das geschah im Einverständnis mit ihnen. Mir war es wichtig, weil alle, die sich zu diesem Thema äußern, auch persönlich Farbe bekennen sollten. Niemand sollte sich verstecken bei der Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit den Geschlechtergrenzen?

Ich habe meine intersexuellen Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen immer gefragt, wie sie angesprochen werden wollen. Natürlich sind ihnen die sprachlichen Grenzen sehr bewußt. Wir konnten sie nicht sprengen. Um die Grenzen bewußtzumachen, wechselt im Verlaufe des Buches hin und wieder ein »sie« zu einem »er«. Diese Irritation ist gewollt, sie kann die existierenden Grenzen nicht auflösen, aber vielleicht problematisieren.

Manche Fragen waren voller Vorurteile. Ich habe das nicht verborgen, denn es sind gesellschaftliche Vorurteile. Als Erika Kasal* mir erzählte, daß ihr in der Pubertät ein Penis wuchs, fragte ich, ob das erschreckend gewesen sei. Psychologen nennen dieses Verhalten Projektion. Mein eigenes Erschrecken darüber, daß so etwas passieren kann, versuchte ich unbewußt, Erika zu unterstellen. Ihre Antwort war klar: Nein, nicht erschreckend, sondern interessant sei das gewesen. »Jetzt werde ich also ein Junge«, hatte sie damals gedacht. In meinem Erschrecken steckt das Erschrecken der sogenannten normalen Gesellschaft. Alles, was anders ist, bedroht die bestehende Ordnung, und nicht selten löst es Angst, Ablehnung, Intoleranz aus. Manchmal auch Aggression.

Ziel dieses Buches ist nicht, Leid und Elend auszubreiten. Es will mit Menschen bekannt machen, die eine medizinische Zurichtung sondergleichen überlebt haben. Aber auch mit solchen, die ihre chirurgischen Veränderungen zufriedenstellend finden. Und mit anderen, die diesem Schicksal entgangen sind, weil sie hindurchschlüpften durch die Maschen der Medizin.

Meine Vorstellungen von Geschlecht, von Mann und Frau und den Grenzen zwischen ihnen veränderten sich im Laufe meiner Gespräche nachhaltig. Die Grenzen wurden fließender. Ich nehme die Geschlechter nicht als zwei Extreme wahr, sondern als ein Kontinuum. Viele Zwischenformen sind möglich. Das erscheint mir als eine tröstliche Version, anders als die uralte feindliche Variante, in der Mann und Frau Gegner sind und es über Jahrtausende darum ging zu beweisen, daß Frau die unterlegene Ausgabe Mensch ist.

Damit will ich keineswegs die sich entwickelnde eigene Position intersexueller Menschen schmälern. Manche, die ich kennenlernte, nehmen sich wahr als etwas andere Frauen oder Männer. Einige aber sehen sich als ein Drittes, grundsätzlich anders als Frau oder Mann. Diese Position erfordert Mut, denn es gibt keinerlei gesellschaftliche Vorbilder, jedenfalls nicht bei uns. Was man aus anderen Gesellschaften weiß, aus Indien, Indonesien, von amerikanischen Indianern zum Beispiel, ist oft nur anekdotisch. Hermaphroditen seien als Schamanen geehrt, als Weise geachtet worden, sie stellten eine besondere Kaste da. Doch wenig ist bekannt über ihr Lebensgefühl in diesen Rollen. Sie sind hervorgehoben, aber sind sie zufrieden?

Dieses Buch ist ressourcenorientiert: Es will die Stärken, die Individualität, die Vielfalt dieser Menschen sichtbar machen. Es will betroffenen Familien mögliche Wege weisen. Es will etwas Verwegenes versuchen: Vorbilder zeigen für Menschen, die einen Teil ihres Lebens geglaubt haben, sie wären ganz allein auf der Welt, ein »Monstrum«, das in früherer Zeit auf Jahrmärkten zur Schau gestellt worden wäre. Es will die Idee denkbar machen, daß intersexuellen Menschen ein Raum in dieser Gesellschaft zusteht. Nicht nur als Mitmenschen, nicht obwohl sie sind, wie sie sind. Sondern gerade weil sie so sind. Wegen des Wertes ihrer Eigenart und ihrer Kreativität für uns alle.

Hamburg, im Oktober 2003

Ulla Fröhling

* Die Texte in diesem Buch basieren auf Interviews mit Fachleuten und Gesprächen mit Betroffenen. Die Namen einiger Betroffener sowie persönliche Details, durch die sie identifizierbar wären, wurden auf ihren Wunsch geändert. Sie sind bei der ersten Nennung mit einem * gekennzeichnet.

Intersexuelle – Die Dritten im Bunde

Weltweit gibt es und zu allen Zeiten gab es Intersexuelle: Menschen, die bei ihrer Geburt die Hebamme in Verwirrung bringen, weil sie auf die allererste Frage »Was ist es denn?« nur antworten kann: »Es ist ein gesundes Kind.« Ob Junge oder Mädchen, weiß sie nicht so recht. Jedes 1000. bis 2000. Neugeborene, so schätzen selbst vorsichtige Experten, zeigt sich diesem ersten Blick weder als eindeutig weiblich noch als zweifellos männlich. Bei einer weiteren Gruppe, vielleicht sind es ebenso viele, ruft die Hebamme ohne jedes Zögern: »Es ist ein Mädchen!« Doch diese Gewißheit hält nur etwa bis zur Pubertät an. Dann setzen Veränderungen ein, mit denen kaum jemand gerechnet hätte: Manche Mädchen entwickeln sich nicht zu Frauen weiter, andere scheinen sich in Jungen zu verwandeln. Plötzlich steht das ganze Leben für diese Kinder und Jugendlichen in Frage.

Vor 2000 Jahren tauchte der Sohn von Hermes und Aphrodite, schon damals eine Gestalt der Mythologie, in den Metamorphosen des Dichters Ovid1 auf. Dem 15jährigen begegnete an einer Quelle die Nymphe Salmacis, die sich unsterblich in den Kleinen verliebte und die Götter um Verschmelzung mit ihm bat, »so daß sie weder Knabe noch Frau genannt werden konnten und wie keines oder wie beides schienen«. Hermaphroditus eben. Die Metamorphose, die Veränderung geschah in der Pubertät des Jungen, den Sexualität – zumal mit dieser aufdringlichen Nymphe – überhaupt noch nicht interessierte. Pubertät, eine verletzliche Phase des Übergangs, der Verwandlung. Dieser Mythos inspiriert seither die Phantasie von Dichtung, bildenden Künsten und – nicht zuletzt – Sexualwissenschaften. Ich vermute allerdings, daß die lüsterne Nymphe Salmacis nie existiert hat; Aphrodite und Hermes erfanden sie, um zu verbergen, was wirklich geschehen war. Verschiedenen Quellen zufolge waren die beiden nämlich Kinder desselben Vaters: Uranus. Aphrodite ist die Göttin der Liebe, genannt »die Schaumgeborene«, – dieser Schaum bildete sich übrigens um das abgeschnittene Geschlechtsteil von Uranus, das auf den Wellen des Meeres trieb; so dicht liegen Liebe und Haß, Zerstörung und Geburt beieinander. Vater Uranus muß diesen beiden Kindern wohl im Chromosomensatz seines Erbguts ein besonderes Gen mitgegeben haben. Ein Gen mit einer Macke. Dieses Gen war rezessiv vererblich, das heißt, es konnte seinen speziellen Auftrag nur erfüllen, wenn es bei der Zeugung auf ein gleiches Gen traf. Dann aber schuf es ein Wesen, das weder Mann noch Frau und wie keines oder wie beides schien. Und da bot eine Geschwisterliebe wie die von Hermes und Aphrodite natürlich optimale Bedingungen. Hermaphrodit – das ist der Beweis – trug seinen Namen von Geburt an, nicht erst seit der Pubertät, als die Verwandlung begann und sichtbar wurde, was sonst noch alles in ihm steckte.

Geschwisterliebe als Transporteur eines mutierten Gens ist auch die Quelle, der Ursprung von Calliope/Cal Stephanides. Calliope ist Heldin – und Held – im mitreißenden Romanepos Middlesex des griechisch-amerikanischen Autors Jeffrey Eugenides.2 Ihr besonderes Gen sitzt auf dem Chromosom Nr. 5, Mediziner katalogisieren Calliope als 5-alpha-Reduktase-Pseudohermaphroditen.* Sie aber widersetzt sich allen Normierungsversuchen und wird in der Pubertät zum Beinahe-Jungen Cal.

In den Jahrtausenden zwischen diesen beiden Dichtungen gab es viele Mythen, aber auch viele Berichte über reale Hermaphroditen. Jeanne d’Arc, heißt es, hätte XY-Chromosomen gehabt, sei also genetisch männlich gewesen, doch ihre Körperzellen hätten nicht auf Androgene reagieren und daher keine Männlichkeit produzieren können. Lebte sie heute, dann wäre sie vielleicht Mitglied der Selbsthilfegruppe XY-Frauen – statt Krieg gegen England zu führen. Auch der Amerikanerin Wallis Simpson – König Edward VIII. zog sie dem britischen Thron vor – wird diese Androgenresistenz (AIS) nachgesagt. Manchen Schauspielerinnen, Sportlerinnen und Models ebenfalls. Abwegig ist das nicht, denn eine erstaunliche Folge dieser speziellen Genveränderung ist perfekte Weiblichkeit – äußerlich jedenfalls: schlanke, großgewachsene Frauen mit dichten, kräftigen Haaren, wunderbar reiner Haut und schönen Brüsten. Geradezu liebevoll singt die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Natalie Angier in ihrem Buch Frau3 eine Hymne auf die AIS-Frauen und fegt dabei reihenweise Vorurteile über Bord, wie oder was Frau sei.

Der Schein trügt also: Männliche Chromosomen produzieren nicht immer männliche Körper. Weibliche Körper können männliche innere Geschlechtsorgane beherbergen. Oder ein wenig von beiden. In unterschiedlichen Mischungen. Geschlecht ist nicht gleich Identität. Sexualität ergibt sich nicht automatisch aus dem Geschlecht. Weibliche Erziehung ist kein Garant für Weiblichkeit. Sogenannte geschlechtsanpassende Operationen an intersexuellen Kindern sind es ebenfalls nicht.

Dieser kurze Überblick soll eines zeigen: daß es den Intersexuellen nicht gibt. Eine Vielzahl von Ursachen kann dazu führen, daß das körperliche Geschlecht eines Menschen sich nicht in die Richtung entwickelt, die seine genetische Ausstattung oder die seiner Keimdrüsen vermuten lassen. Die Entwicklungen sind unterschiedlich, die Auswirkungen auch. Die Lebenswege ebenfalls. Die Traumatisierungen durch medizinische Einstellungen, Ein- und Übergriffe allerdings ähneln sich oft.

Oberflächlich betrachtet, führen die meisten Intersexuellen ein ganz normales Leben. 80 000 bis 100 000 Intersexuelle, vielleicht noch mehr, leben in der Bundesrepublik. Wahrscheinlich ist Ihnen schon jemand begegnet oder wohnt vielleicht in Ihrer Nähe, ohne daß Sie es wissen, möglicherweise Ihre Anwältin, Ihr Hauswirt, das schlanke junge Mädchen, das morgens durch Ihre Straße joggt. Die meisten verbergen ihre Besonderheit und sprechen kaum darüber. Vielleicht auch nie. Sie würden sie nicht erkennen. Viele von ihnen haben erlebt, daß sich unser Sozialverhalten manchmal nicht besonders weit von dem unzivilisierterer Tiere, etwa der Hühner, entfernt hat. Ohne viel Federlesens picken die reinweißen Hühner ein blau gefärbtes Huhn tot. Warum? Weil es anders ist. Natürlich muß man hier die Frage stellen, wer das Huhn blau gefärbt hat. Und warum. Aber das Andere kann auch schön sein: Die Mutter eines intersexuellen Kindes machte mich darauf aufmerksam, daß wir alle uns über ein vierblättriges Kleeblatt freuen, das doch auch eine Laune der Natur ist, denn normaler Klee hat nur drei Blätter.4

Einige seriöse Fernsehdokumentationen zu Intersexualität wurden in den letzten Jahren produziert.5 Aber es gab auch schon das eine oder andere TV-Team, das – auf der Suche nach blauen Hühnern – enttäuscht von hinnen zog, weil ihnen die Intersexuellen, die sie kennenlernten, irgendwie zu normal erschienen. Gar nicht so schillernd, erregend, wie sie es sich vorgestellt hatten.

Schwarze Medizin

Die meisten Intersexuellen verbergen diesen Aspekt ihrer Person, weil Ärzte ihnen einschärften, ihre anatomischen Eigenheiten geheimzuhalten, um nicht im sozialen Abseits zu landen. Die Tabuisierung war so dogmatisch, so einschneidend, daß viele sich kaum gestatteten, über sich selbst nachzudenken. Einige wurden im Laufe ihres Lebens so tief beschämt und gedemütigt, daß sie sich weit in sich selbst zurückzogen. Oder sich das Leben nahmen. Es ist journalistische Pflicht, über Methoden dieser schwarzen Medizin zu informieren. Wie auch berichtet werden muß, daß fortschrittliche Mediziner sich heute davon distanzieren. Doch auch sie gestehen ein, daß manche Kollegen noch vorgehen wie in früheren Jahrzehnten.

Geschlechtliche Identität – ein soziales Konstrukt?

Dieses Buch stellt mehr Fragen, als es Antworten geben kann. Daß diese Fragen endlich gestellt werden, verdanken wir intersexuellen Menschen, die seit Mitte der neunziger Jahre zuerst in den USA, dann in Großbritannien und nun auch in Deutschland auf ihre Situation aufmerksam machen. Eine Antwort immerhin steht fest: Die Medizin hat sich an Intersexuellen über lange Zeit hinweg schuldig gemacht. Nicht nur in Deutschland, aber gerade in Deutschland hat die Medizin eine schwarze Tradition, die auf nationalsozialistischem Denken fußt. Nur wenige führende Ärzte der Nazizeit praktizierten nicht mehr nach 1945; manche übernahmen die Ausbildung der nächsten Generation und prägten die jungen Forscher und Mediziner. Nur so kann ich mir einige der ärztlichen Verhaltensweisen erklären, die in diesem Buch geschildert werden.

In den sechziger Jahren hatte es ausgesehen, als sei das »Problem der Zwitter« gelöst: durch chirurgische Anpassung zur Auslöschung. Und so war es dazu gekommen: Die Annahme, daß die geschlechtliche Identität des Menschen ein soziales Konstrukt ist, durch das Umfeld geprägt, setzte sich durch. Die Frauenbewegung griff dies auf: »Als Frau wird man nicht geboren, zur Frau wird man gemacht« wurde Simone de Beauvoir – nicht ganz korrekt – zitiert. Weitergedacht bedeutete dieses, Erziehung könnte aus einem biologischen Mädchen auch einen Jungen machen. Und umgekehrt. Wie günstig. Zwar wurden die technischen Möglichkeiten der Mikrochirurgie kontinuierlich verfeinert, aber immer noch galt es als leichter, aus einem intersexuellen Kind ein Mädchen zu konstruieren als einen Jungen. Wenn also die chirurgische Vorgabe »Mädchen« durch Erziehung unterstützt würde, müßte dann nicht soziologischen Erkenntnissen folgend auch die Identität »Mädchen« entstehen? Und die Sache wäre geritzt.

Das Menschenexperiment

Das Experiment, das den Beweis erbringen sollte, bahnte sich an: Am 27. April 1966 sollte in einer Kinderklinik im kanadischen Winnipeg an den eineiigen Zwillingsbabys Bruce und Brian Reimer eine Vorhautbeschneidung durchgeführt werden. Bruce war der erste. Durch technisches oder ärztliches Versagen wurde sein Penis vollkommen verbrannt (kein einmaliger Fall!). Diese Katastrophe beschädigte nicht nur einen gesunden kleinen Körper, sondern die seelische Gesundheit der gesamten Familie Reimer. (Den anderen Zwilling, Brian, nahmen die Eltern natürlich unbeschnitten wieder mit nach Hause.) Bruce war ein Junge mit XY-Chromosomen, ein gesundes, ganz »normales« Baby, kein intersexuelles Kind. Dennoch prägte die weitere Entwicklung seiner Geschichte den Umgang mit intersexuellen Kindern in aller Welt über Jahrzehnte hin. Wegen dieser Folgen wird der Fall hier ausführlich dargestellt.

Zehn Monate nach dem Unfall sahen die unglücklichen Eltern von Bruce und Brian in einer Fernseh-Talkshow den bekannten Sexualforscher Dr. John Money vom Johns Hopkins Hospital in Baltimore. Er sprach über operative Geschlechtsumwandlungen an Transsexuellen. Transsexuelle sind Menschen mit biologisch eindeutigen Körpern und der Überzeugung, eine gegengeschlechtliche Identität zu besitzen. Viele streben eine operative Geschlechtsumwandlung an. Auf derartige Operationen hatte sich das Johns Hopkins Hospital spezialisiert. Money stellte in der Talkshow eine Mann-zu-Frau-Transsexuelle vor, die ein überzeugendes Bild modischer Sechziger-Jahre-Weiblichkeit abgab. In der Diskussion äußerte Money, »das Geschlecht, mit dem Babys geboren wurden, spiele keine Rolle. Man konnte das Geschlecht eines Babys umwandeln.«6 Diese Botschaft erreichte die Eltern von Bruce, endlich sahen sie einen Hoffnungsschimmer für die Zukunft ihres Sohnes und nahmen Kontakt mit Dr. Money auf. Dieser befürwortete eine Geschlechtsumwandlung für Bruce. Sie hätte aber bald zu geschehen, mahnte er, innerhalb der ersten zweieinhalb Lebensjahre. Danach »sei die psychosexuelle Orientierung des Kindes weniger leicht zu beeinflussen«, gibt der Journalist John Colapinto die Einstellung John Moneys wieder. In seiner sorgfältigen Dokumentation des Falles, Der Junge, der als Mädchen aufwuchs, fährt Colapinto fort: »War über das Geschlecht des Kindes erst einmal entschieden, durften Ärzte und Eltern die einmal getroffene Entscheidung keineswegs mehr in Frage stellen, weil sonst eine fatale Desorientierung des kindlichen Bewußtseins zu befürchten sei.«7

Ein Junge wird zum Mädchen

Am 3. Juli 1967 erhielt Bruce Reimer, der Junge ohne Penis, im Johns Hopkins Hospital eine Narkose, dann wurden ihm die Hoden und Samenleiter entfernt und aus der verbleibenden Hodenhaut eine Art äußere Vagina geformt. Als Brenda, das Mädchen, erwachte sie wieder. Brendas Eltern erhielten strikte Anweisungen, ihrem Kind niemals die Wahrheit zu sagen, um jegliche Zweifel im Entstehen zu ersticken. Ab 1972 publizierte John Money breit über diesen Fall, den er als Erfolg verbuchte. Die bisher gültige Theorie – die wichtigsten seelischen und körperlichen Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht stünden im Moment der Zeugung genetisch fest – geriet ins Wanken. Das war Wasser auf die Mühlen der entstehenden Emanzipationsbewegung der Frauen. Moneys Schriften weisen Brenda als ein zufriedenes Mädchen mit lauter mädchenhaften Eigenschaften aus: Schüchternheit, Zurückhaltung, häufiges Lächeln. Die Vergleichsperson, der Zwillingsbruder Brian, entwickelte sich entsprechend dominant männlich. Für Money war Bruce/Brenda der Beweis, daß Weiblichkeit und Männlichkeit soziale Konstrukte sind.

Die Wahrheit sah anders aus: Brenda verbrachte eine unglückliche, unangepaßte Jugend, blieb in der Schule weit hinter ihrem eineiigen Zwillingsbruder zurück, wurde weder von anderen Kindern noch von sich selbst als Mädchen anerkannt und beendete diesen Zustand 1980, als der Vater ihr endlich die Wahrheit gesagt hatte. 1981, mit 16 Jahren, nahm Bruce/Brenda den Namen David an, und es begann eine lange Kette von Operationen, mit denen er sich Stücke seiner körperlichen Männlichkeit zurückzuholen versuchte. Am 22. September 1990 heiratete er eine Frau.

Der amerikanische Sexualwissenschaftler Milton Diamond hatte John Moneys Thesen von der Formbarkeit geschlechtlicher Identität wiederholt angegriffen. Weder in den sechziger, noch in den siebziger Jahren löste er damit Resonanz aus. Soziale Prägung, nicht biologische Determination, entsprach dem Zeitgeist. Selbst eine kritische Dokumentation der BBC über die Geschichte des unglücklichen Zwillings im Jahre 1980 blieb ohne Widerhall. Erst der Aufsatz über Bruce/Brenda, den Diamond zusammen mit dem Psychiater Keith Sigmundson verfaßte und 1997 veröffentlichte,8 schlug ein wie eine Bombe. Der Zeitgeist hatte sich wieder einmal gewendet. (David Reimer war 31 Jahre alt.) »Sexuelle Identität laut Studie doch nicht beeinflußbar« titelte die New York Times. Natalie Angier, die den Artikel dazu geschrieben hatte, veröffentlichte zwei Jahre später ihr Buch über den weiblichen Körper. Biologie als prägende Kraft war zurückgekehrt.

Gibt es ein »wahres Geschlecht«?

Dieser Wandel in der Einstellung zu menschlichen Prägungen läßt ahnen, wie wechselhaft der Umgang mit Hermaphroditen in der Geschichte war. Oft reagierten die Anderen, die Nicht-Intersexuellen, mit Vorurteilen, sehr selten nur mit Respekt oder gar Verehrung, meist aber mit Verfolgung und Vernichtung. Im »dunklen« Mittelalter legte der Vater im Zweifelsfall bei der Taufe das überwiegende Geschlecht eines intersexuellen Kindes fest, eher fiel die Wahl auf das männliche, vielleicht aus Gründen der Erbfolge; als junge Erwachsene, vor der Eheschließung, konnten Hermaphroditen noch einmal die Seite wechseln. Auch das Preußische Recht erlaubte bis zum Jahre 1900 »Personen zweifelhaften Geschlechts«, im 18. Lebensjahr selbst zu entscheiden, »zu welchem Geschlechte sie sich halten wollen«.

Doch diese freie Entscheidung wurde beseitigt. Zwei Veränderungen gingen voraus: Die Medizin hatte das »wahre Geschlecht« entdeckt – zur Auswahl standen genau zwei –, und der Staat konnte sein Bedürfnis nach Kontrolle und Verwaltung des Volkes immer effektiver durchsetzen. »Nicht mehr das Individuum entscheidet über das Geschlecht, zu dem es in rechtlicher und sozialer Hinsicht gehören will, sondern der Experte bestimmt, welches Geschlecht die Natur für es ausgewählt hat und an welches sich zu halten die Gesellschaft darum von ihm verlangen muß«,9 schrieb der französische Soziologe und Philosoph Michel Foucault 1978 in seiner Studie über den Hermaphroditen Herculine Barbin. Herculine, Lehrerin in einer Klosterschule, wurde mit 22 Jahren nach eingehender Untersuchung juristisch zum Mann erklärt. Man meinte, ihr »wahres Geschlecht« erkannt zu haben: es sei das männliche. Ob sie einverstanden war, wurde nicht erfragt. Mit 29 Jahren schrieb sie ihre Autobiographie, im Jahr darauf, 1868, nahm sie sich das Leben.

Wäre Herculine nicht 1838, sondern 1968 geboren worden, dann hätten Ärzte bei ihrer Geburt vielleicht ein Adrenogenitales Syndrom an ihr entdeckt und als ihr »wahres Geschlecht« das weibliche diagnostiziert. Vielleicht aber hätte man sie als »männlichen Pseudo-Hermaphroditen« definiert, also überwiegend männlich, und dennoch beschlossen, das chirurgisch Machbare zu produzieren: eine Frau. Dann wäre ihre – nach medizinischen Kriterien – übergroße Klitoris amputiert, ihre Vagina verlängert oder künstlich angelegt worden, man hätte Hormonsubstitution und Schweigegebot verordnet. Beides lebenslang. Mit 29 Jahren, also 1997, zeitgleich mit Milton Diamonds Kritik an John Moneys Experiment, hätte sie vielleicht ihre Medikamente abgesetzt und beschlossen, von nun an als Mann zu leben. Dann wären ihm einige Barthaare gewachsen, und nach einer gewissen hormonellen Anpassungszeit wäre sein Leben weitergegangen. Oder eine andere Möglichkeit: die vielen medizinischen Untersuchungen und Operationen, vor allem aber der Verlust der Klitoris und damit ihrer Orgasmusfähigkeit, hätten sie so traumatisiert, daß sie sich nach Jahren von Depressionen und selbstverletzendem Verhalten das Leben genommen hätte.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts besteht die Gesellschaft also auf Anpassung. Und die Chirurgie führt sie durch. Nur sehr wenige Intersexuelle, die bei der Geburt erkannt wurden, entgingen dem Zwang zur Angleichung. In den meisten Fällen konstruierten die Chirurgen Mädchen, weil es »einfacher sei, ein Loch zu graben, als einen Pfahl zu errichten«.10

Fatale Folgen einer schwarzen Medizin

Die ärztlichen und chirurgischen Maßnahmen, die viele der heute erwachsenen Intersexuellen in ihrer Kindheit und Jugend im ganz normalen Medizinbetrieb erlebten, unterscheiden sich in nichts von schwerstem sexuellen Mißbrauch. Nein, das ist falsch: Sie unterscheiden sich dadurch, daß dieses menschenverachtende Verhalten den offiziellen, anerkannten Behandlungsmethoden entsprach. Wie manches im deutschen Medizinbetrieb der Nachkriegszeit hat auch dies seine Wurzeln im Nationalsozialismus. Einige Chirurgen waren noch von Nazikoryphäen ausgebildet worden. Das Tabu über die Taten wurde den Patienten auferlegt. Sie sollten schweigen. Aber die Ärzte sowie eilends herbeigeholte Kollegen und Studenten in Ausbildung durften nach Herzenslust schauen (habe ich Herzenslust geschrieben?), wenn ein intersexuelles Kind in der Klinik auftauchte. Sie durften sich darüber austauschen, publizieren, promovieren, sich habilitieren. So entdeckten sich einige erwachsene Intersexuelle nach Jahrzehnten wieder, als sie in medizinischen Fachbüchern blätterten. Plötzlich standen sie ihm gegenüber, dem kleinen Kind, das sie einmal waren, nackt vor einer Meßlatte, mit einem schwarzen Balken vor dem Gesicht, die Geschlechtsteile noch einmal extra in Großaufnahme. Daneben lasen sie die medizinischen Informationen über sich selbst, die man ihnen in der Kindheit und Jugend verweigert hatte. Dieser Umgang mit den Patienten und Patientinnen galt als optimale Behandlungsmethode.

«It’s easier to make a hole than a pole.« Diese Behauptung ist nicht nur chauvinistisch, sondern hat sich auch als falsch erwiesen, wie Ute Thyen, Fachärztin der Kinder- und Jugendklinik am Universitätsklinikum Lübeck, bei der Veröffentlichung erster Forschungsergebnisse zur Lebensqualität intersexueller Menschen betonte.11 Neue Studien zeigen, so Ute Thyen, daß fast alle Operationen, bei denen intersexuelle Kinder z.B. Neovaginen erhielten, das sind künstliche Scheiden, mehr als eine Folgeoperation erforderlich machten. Die Operationen an sich glichen oft sexueller Folter und hatten nicht das Geringste mit Verbesserungen der Lebensqualität zu tun. Einem Mädchen wurden große Hautteile von Rücken und Po abgelöst und zur Konstruktion einer Vagina verwendet. Während des schmerzhaften Heilungsprozesses der großen Rückenverletzungen wurde sie hängend gelagert – wie ein Brandopfer. Nur um eine Scheide zu konstruieren, mit der keinerlei körperliche Empfindungen für die geplante Frau verbunden waren als Schmerzen. Zumal man diesen Kindern oft die vergrößerte Klitoris amputierte, da sie den weiblichen Gesamteindruck störte. Der weibliche Gesamteindruck, das war die äußere Erscheinung der Barbiepuppe: eine vollkommen geschlossene, sittsam verhüllende Scham. Im Gegensatz dazu die vollkommene Männlichkeit: der erigierte Penis, aggressiv vordrängend und sichtbar. Mann und Frau, so sollten sie sein.

Alle Betroffenen, mit denen ich sprach und die dem deutschen Medizinapparat ausgeliefert waren, mußten Behandlungen erleiden, die sexueller Gewalt ähnlicher sind als einer medizinisch notwendigen Behandlung auf der Basis des hippokratischen Eides. Hierzu zähle ich auch die ärztliche Neugier, die dazu führt, daß Mediziner ihre Machtpositionen ausnutzen und Patientinnen, die über Brustspannungen klagen oder ein Hormonrezept verlängert haben möchten, auf den gynäkologischen Stuhl zwingen, um auch mal schauen zu können, »wie so etwas aussieht«. Das ist Machtmißbrauch und sexueller Mißbrauch zugleich. So ein Verhalten basiert auf einer Tradition, in der Ärzte einen höheren Wert haben als Patienten, die Menschen betrachtet wie Dinge und von »Patientengut« spricht, als handle es sich um »Leergut«. Manche Mediziner gaben in den Interviews Einblicke in diese Praktiken ihrer Ausbildung. Sie versuchten, sich deutlich davon zu distanzieren, vielfach glaubwürdig.

Allmählich beginnt sich die Einstellung zu ändern. Das Bemühen, Veränderungen in der Pädiatrie, der Kinderheilkunde, darzustellen, ist nicht zu überhören. Andererseits ist es erschreckend, daß die Wahrnehmung der Ärzte erst durch den Protest der intersexuellen Menschen geschärft wurde. Und daß Einsicht und Veränderung nicht ohne Kampf erreicht werden. Amerikanische Patientenverbände haben durchgesetzt, daß die Gefühle der Patientinnen und Patienten selbst im ärztlichen Handeln eine Rolle spielen. Der Arzt ist nicht mehr der Halbgott in Weiß, der unhinterfragt über die Geschicke von Menschen befindet und entscheidet, was die Patientin wissen darf und was nicht.

Sprache: Verständigen, ohne zu verletzen

Dieses Buch macht den Versuch, über ein Tabuthema zu sprechen, ohne zu verletzen. Das gelingt sicher nicht immer. Die Wörter, die uns zur Verfügung stehen, sind dürftig. Die deutsche Sprache ist voller Vorurteile. Sie sortiert strenger nach Geschlechtern als andere Sprachen. Sie kennt nur den Patienten oder die Patientin und kann nicht, wie das Englische, beide zusammenfassen – the patient. Besonders in den siebziger und achtziger Jahren wurde kritisiert, daß die deutsche Sprache meist die männliche Form wählt – der Patient –, um Männer und Frauen gemeinsam zu benennen. Dies führt dazu, daß im öffentlichen Bewußtsein eher Männer als Frauen vorkommen. Es gab Versuche, das zu verändern. Stets beides zu benennen – Patientinnen und Patienten –, war zwar ein Versuch in Fairneß, machte die Sprache aber so ungelenk wie eine Bundestagsrede. Der Versuch der taz, ein großes »I« in die Wörter zu pflanzen – PatientInnen –, war zwar originell und platzsparend, konnte sich aber nicht durchsetzen. Wir müssen also damit leben, daß unsere Sprache besonders männlich voreingenommen ist. Es wird sicher noch einige Generationen dauern, bis sich nachhaltig etwas daran verändert.

Die Begegnungen mit intersexuellen Menschen machen bewußt, daß unsere Sprache noch einen weiteren Defekt hat: Menschen, die weder eindeutig männlich noch eindeutig weiblich sind, bietet sie überhaupt keinen Raum. Hier spiegelt sie natürlich unsere Gesellschaft, die das ebenso hält.

Als was sehen sie sich selbst? Sind sie Intersexuelle, Hermaphroditen, Menschen mit Intersexualität? Wie fühlen sie sich, wenn sie das Wort »Zwitter« lesen? Was machen die Worte »unklare Geschlechtszugehörigkeit«, »uneindeutig« mit ihnen? Anna, die im ersten Kapitel aus ihrem Leben erzählt, meint dazu: »In der Fachliteratur taucht immer wieder der Begriff ›genetischer Mann‹ auf. Das ist eine Zuschreibung: Was da vor mir steht und wie eine Frau aussieht, ist eigentlich ein Mann, verkleidet vielleicht. ›Genetisch männlich‹ finde ich besser, denn das ist nun mal eine Tatsache. Der Begriff ›testikuläre Feminisierung‹ ist in der Szene sehr verhaßt. Außerdem ist er biologisch falsch. ›Pseudo-Hermaphroditismus‹ ist nicht ganz falsch. Aber wie ist jemandem zumute, der von sich hört: ›Du bist noch nicht mal ein echter, du bist bloß so ein Pseudo‹? ›Kastration‹ sagen Mediziner leicht, wenn sie rudimentäre Gonaden entfernen. Was wollen sie damit sagen: Diese Frau ist ein Kastrat? Die Begriffe sind verstörend für jemanden, der eine Diagnose hört.«

Ein letztes Tabu?

Viele Jahre habe ich über sexuelle Gewalt, besonders an Kindern, geschrieben. Die Parallelen waren mir schnell deutlich. Dennoch scheint mir Intersexualität ein tabuisierteres Thema zu sein als Inzest. Ist das möglich? Über Inzest und sexuelle Gewalt an Kindern zu reden, ist gefährlich, weil es die Illusion von Gewaltfreiheit in der bürgerlichen Familie bedroht. Das kann heftige Reaktionen auslösen. Aber warum könnten wir uns von Intersexuellen bedroht fühlen? Vielleicht weil sie eine andere liebgewordene Täuschung in Frage stellen, die uns noch näher ist: Mann und Frau. Die bürgerliche Familie ist unser engstes Umfeld, und wir wollen, daß es intakt und schützend ist. Aber zur Not können wir dieses Feld verlassen. Vielleicht nicht in der Kindheit; aber wenn wir erwachsen sind, können wir die Tür öffnen, die Familie verlassen und frei sein. Doch Mann oder Frau zu sein, betrifft unsere eigene Identität, ist zutiefst mit ihr verbunden. Die können wir nicht ohne weiteres hinter uns lassen. Oder doch? Gleichzeitig aber gibt es eine Angst vor Identitätsverlust. In manchen Phasen unseres Lebens sind wir uns gar nicht so sicher, ob wir eine richtige Frau, ein richtiger Mann sind. Und was das überhaupt ist. Auch wenn uns alle Medien unablässig mit Klischees von Weiblichkeit und Männlichkeit zuschütten. Oder vielleicht gerade deshalb? Vielleicht ist dieser heterosexuelle, zweigeschlechtliche Overkill, der sich aus den Medien über uns ergießt, das Zeichen einer großen Unsicherheit.

Vielleicht ist das auch eine gewagte These. Dennoch, längst weiß man, daß wir identische Anfänge haben, männliche und weibliche Embryos unterscheiden sich in den ersten Wochen ihrer Entwicklung in nichts. Wir alle haben sowohl Östrogen als auch Testosteron in uns. Durch diese beiden Hormone definierte man im vorletzten Jahrhundert Mann und Frau. Gibt es diese Grenzen überhaupt? Oder geraten wir nun alle ins Schwimmen? Jedenfalls hat Intersexualität mit uns allen zu tun. Das wird durch alle Zeiten hindurch sehr deutlich an den Reaktionen der anderen, der Nicht-Intersexuellen. Es sind nicht sie und wir. Ihre Anpassung an uns ist ein Irrweg.

* Alle Fachbegriffe sind im Glossar erklärt (siehe Anhang).

Erwachsene

»Ich kann damit leben, aber akzeptieren kann ich es nicht.«

Anna Heinrichs, 61, Dozentin für Sonderschulpädagogik, Mecklenburg-Vorpommern

»Dieses Leben, so wie es gewesen ist, war es nicht wert, gelebt zu werden«, sagt sie. Mitten hinein in eine matt-zufriedene Sommerstimmung sagt sie das. Und bekräftigt, als sei es vielleicht noch nicht deutlich genug gewesen: »Das ist meine tiefinnerste Überzeugung.«

Vogelgezwitscher durch geöffnete Fenster, auf dem Tisch eine Schale mit fetten schwarzen Kirschen, der Hund schlafend zu ihren Füßen, der große Garten, der Pool, die Pferde zu ihrer Verfügung. Der Blick geht über eine kleine Dorfstraße, Mais- und Weizenfelder, im Hintergrund der Wald. Hier läßt es sich leben.

»Es ist vollkommen ungerecht, daß ich das sage«, fügt sie an, den Blick der Besucherin deutend. »Aber es ist so. Soviel psychische Schmerzen. All das Positive wiegt die nicht auf. Dieses Leben würde ich nicht noch einmal leben wollen.« Ihre Stimme, als sie dieses Urteil ausspricht, klingt gelassen. Eine angenehme Stimme, tief, oft mit leichter Ironie im Nachklang. Dann lacht sie. Sie lacht oft in unserem Gespräch. Manchmal scheint das Lachen nicht recht zu ihren Worten zu passen. Und dennoch ein ansteckendes Lachen, es klingt nach Lebensfreude. Doch in keinem meiner Gespräche mit intersexuellen Menschen habe ich mehr Verzweiflung gespürt. »Eine unergründliche Verzweiflung«, findet Anna Heinrichs* selbst. »Ich weiß, daß es dummes Zeug ist. Es ging mir immer gut, ich hatte viel Glück. Ich bin nicht vereinsamt, hatte immer Beziehungen, Sie sehen, ich lebe hier angenehm und friedlich.«

Der alte Bauernhof in Mecklenburg-Vorpommern, ein wenig außerhalb des kleinen Dorfes, gehört der 61jährigen. Diese Einsamkeit hat sie gesucht.

Äußerlich zeigen, was innerlich ist. Und es verbergen zugleich. »Das können Sie nicht verstehen«, wehrt sie Fragen ab. »Menschen, die nicht intersexuell sind, können diese Verzweiflung nicht nachfühlen«, erklärt sie, sich kategorisch gegen Versuche abgrenzend. »Sie können auch Blinde nicht verstehen. Gut, Sie können sich die Augen zuhalten, aber Sie haben immer noch Bilder im Kopf und wissen, Sie können sehen. Aber die geschärften anderen Sinne Blinder haben Sie nicht.«

57 Jahre alt war Anna Heinrichs, als sie zum ersten Mal jemanden traf, der es genauso ging wie ihr. Die das Gefühl kannte, die einzige zu sein, »ein Monster, mit dem nichts stimmt«. Dann sagt sie es wieder: »Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie das war.« Andere kennenlernen, denen es genauso geht. Ein Schlüsselerlebnis für viele meiner Gesprächspartner. Nach zehn, 20, 30 oder 50 Jahren Einsamkeit ist da plötzlich jemand, der das gleiche erlebt hat, eine, die dasselbe fühlt. Überwältigend. Befreiend. Der Kontakt war über die XY-Frauen entstanden, eine Selbsthilfegruppe, die 1998 in Hamburg gegründet wurde, nachdem es kleinere Treffen schon vorher in München und Würzburg gegeben hatte.

Was kommt da jetzt auf dich zu, dachte Anna Heinrichs besorgt, als sie sich auf den Weg machte, die andere kennenzulernen. Dann ist sie mit ihr essen gegangen. Ganz normal, sagt sie, in ein normales Restaurant in einem Einkaufszentrum.

Anna Heinrichs: »Eine unglaubliche Erfahrung. Du brauchst gar nicht viel rumzulabern, denn der versteht das, weil er das genauso empfindet. Es war faszinierend. Das hatte ich vorher noch nie erlebt.«

Das Gefühl hingegen, etwas stimme nicht mit ihr, kannte sie seit früher Jugend. Den Namen dafür – die Diagnose – hat sie sich erst vor kurzem geholt: 17-beta-HSD-Mangel. Endokrinologen – Mediziner, die auf Hormone spezialisiert sind – brauchten fast ein Jahr für die genaue Bestimmung. Aber darauf kam es dann auch nicht mehr an. 17-beta-HSD-Mangel: eine winzige Unregelmäßigkeit auf dem Chromosom Nummer 9. Genauer: bei jenem der 1330 Gene auf Chromosom 9, das die Hausnummer 9q22 trägt. Mit dem Ergebnis, daß die Produktion von Testosteron nicht ganz so funktioniert, wie sie soll.

All diese medizinischen Fachausdrücke können nicht annähernd wiedergeben, welche körperlichen und seelischen Folgen der Enzymmangel für Anna hat.

Nein, welche Auswirkungen der gesellschaftliche Umgang mit den Folgen für das gesamte Leben von Anna hat. Fast ein Lebenswerk war es für Anna, sich die Wahrheit, die Bedeutung, die Konsequenzen wirklich bewußt zu machen. Zuerst waren es Schocks, Tiefschläge. Sie konnte nur reagieren. Aber welche Reaktionen waren möglich? Sie konnte nichts verändern. Sie konnte nichts akzeptieren. Nur beiseite schieben, so gut wie möglich, das ging. Und weitermachen mit dem Leben.

Auf Spurensuche durch die Kindheit

Annas Leben spiegelt den Umgang der Gesellschaft mit intersexuellen Menschen seit Beginn der Bundesrepublik wider. Auf Spurensuche gehen wir durch ihre Erinnerungen: Wann gab es erste Hinweise? Wer hat etwas bemerkt, wer etwas übersehen, wer wissentlich weggeschaut? Gab es Unterstützung? Wie hätte gute Hilfe aussehen müssen?

Im Bombenkrieg zur Welt gekommen, wuchs Anna in eine typische Nachkriegskindheit hinein. Ein introvertiertes kleines Mädchen, so schamhaft, so genant, wie es eben normal war für ein Kind aus bürgerlicher katholischer Familie. Oder vielleicht doch etwas schamhafter schon als andere? »Ich bin ganz normal als Mädchen aufgewachsen«, sagt sie. Brav und fleißig. Puppenspiel mit Freundinnen. Alles ganz normal. Bis auf dieses Gefühl, daß irgendetwas mit ihr nicht stimmt: »Ich würde so gerne rauskriegen, was mich eigentlich zu dem Gefühl gebracht hat. Ich glaube nicht, daß bei meiner Geburt schon irgendwelche Zweifel waren.« Das Etwas, das anders war, hatte keinen Namen. Wie hätte sie damals ohne Worte danach fragen können? Wann sind die Zweifel aufgetaucht? Der ältere Bruder kann sich nicht erinnern, und die Eltern leben nicht mehr. Als sie noch am Leben waren, konnte Anna ihnen die Fragen nicht stellen. Hatte ihr Lebensthema an den Rand ihres Bewußtseins verdrängt.

Weiter alles normal: die üblichen Kinderkrankheiten. Bis auf den Leistenbruch mit sieben. Bei Jungen kommt so etwas schon mal vor. Bei Mädchen aber ist es ein Alarmsignal. Manchmal ruhen im Inneren nämlich winzige Hoden, Anzeichen dafür, daß es einen chromosomalen Auftrag gibt, Männlichkeit zu produzieren. Wenn Mediziner diesen Hinweis entdecken und verstehen, sprechen sie von rudimentären Gonaden. Gonaden sind Keimdrüsen. Aus ihnen entwickeln sich bei Mädchen Eierstöcke und bei Jungen Hoden. Normalerweise. Normalerweise hätte ein Arzt auch aufmerksam werden müssen, der den Leistenbruch eines Mädchens operieren sollte. »Aber dieser bescheuerte Kerl hat nichts gemerkt. Der hat aufgeschnitten, wieder zugemacht, und fertig war die Laube.« Das nimmt Anna ihm heute noch übel.

»Das war ein Doktor«, fügt sie hinzu, »der bei jeder Krankheit sagte: viel Fisch und warme Fußbäder«. Das hätte nicht geholfen. Genau, sagt sie. Und dann lacht sie wieder. Hatte es vielleicht auch Vorteile, daß er nichts begriff? Viele Intersexuelle blicken zurück auf eine Kindheit, durch die sich eine Kette von Operationen zog. Wenigstens das ist Anna erspart geblieben.

Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre werden in der Bundesrepublik und der DDR zusammen jährlich fast eine Million Kinder geboren, aller Wahrscheinlichkeit nach jeweils 1000 davon intersexuell. In jedem Jahr. Früher hatte man andere Wörter für diese Kinder. Hermaphrodit. Oder Zwitter. Das erste taugte für die Wissenschaft. Das zweite nur als Schimpfwort, unter dem man zusammenzuckt. Kein Wort, in dem man zu Hause sein kann. Kein Wort, bei dem man lächelnd sagen kann: Das bin ich.

Die Medizin hielt die Zahl der Intersexuellen damals für verschwindend gering. Ein extrem seltenes – und nicht nur deshalb besonders faszinierendes – Phänomen. Was das kleine Kind im Blick des anderen entdeckt, in seinem Spiegel, ist prägend für sein ganzes Leben. Im anderen nimmt das Kind sich selbst wahr. Eines der Kinder sieht anders aus als erwartet, fremd. Was aber sieht das Kind in den Augen der Eltern – Angst, Liebe, Ekel, Sorge, Mitleid?

Manche fallen bei der Geburt auf, weil die Hebamme auf die allererste Frage – was ist es denn? – ins Stottern gerät. Manche merken es erst in der Pubertät, wenn unerwartete körperliche Veränderungen eintreten. Oder wenn erwartete Veränderungen – Brustwachstum, Menstruation, Schambehaarung – ausbleiben. Manchmal aber halten sich Familien über Jahrzehnte Augen und Ohren zu, entschlossen, nicht wahrzunehmen, was ihr Fassungsvermögen übersteigt.

Anna ist überzeugt, daß sie bei der Geburt ein unauffälliges kleines Mädchen war, mit allem ausgestattet, was die Mediziner für normal hielten. »Sonst hätten meine Eltern etwas unternommen, wären früher mit mir zum Arzt gegangen.« Wirklich? In der Nazizeit galt ein intersexuelles Kind als nicht »erbgesund« und schwebte daher in Lebensgefahr. Zum Arzt zu gehen wäre sicher keine gute Idee gewesen.

Die nächste Erinnerung: Kinderlandverschickung Ende der vierziger Jahre. Das gemeinsame Bad aller Kinder, Abschrubben im Bottich. Da hat sie sich mit Händen und Füßen gewehrt, nackt vor allen wollte sie sich auf keinen Fall waschen lassen. Warum? fragt sie sich heute. Warum war mir das so wichtig? Was wollte ich verbergen? Die Antwort darauf weiß sie nicht. Und der Bruder, sieben Jahre älter als sie, findet in seiner Erinnerung kein einziges Bruchstück, das helfen könnte. Ob er sich überhaupt traut, dort zu suchen, überlegt Anna.

Schulzeit. Und der Wunsch, auch mal lange Hosen tragen zu dürfen statt der Röcke. Eine Sehnsucht, die sie mit Millionen Mädchen ihrer Generation teilte. Ein ganz normaler Wunsch. Anna ist zwölf, vielleicht 13. Sie bekommt Akne, »so heftig, so therapieresistent, daß ich schier verzweifelt bin«. Heute weiß sie, daß ihr zumindest dies erspart geblieben wäre, wenn der Arzt den Leistenbruch richtig gedeutet hätte. Dies und der Stimmbruch.

Der Musikunterricht hieß damals Singen. Vorsingen ist angesagt. Anna bleibt stumm. »Warum?« will die Lehrerin wissen. Die Antwort, »Ich bin im Stimmbruch«, läßt die Klasse aufjohlen: »Das gibt’s doch gar nicht, Stimmbruch haben nur Jungs!« Das hatte Anna nicht gewußt. Vollkommen unvorbereitet, wie ein Tritt in die Kniekehlen, traf sie das Gelächter der anderen. Die Rettung kam von einer Mitschülerin, die sich ermannte und in das Gejohle hinein die anderen zurechtwies: »Mensch, hört doch auf, klar gibt’s das, meine Schwester hat das auch.« Ihr ist Anna bis heute dankbar. Rettung in einem Moment der Beschämung. Das Bild dieses Mädchens steht ihr bis heute vor Augen, sie weiß, wie sie heißt und wie sie aussah. Wo war eigentlich die Lehrerin in diesem Bild?

Hinterher dachte Anna nach, hörte hin und stellte fest, daß tatsächlich keine ihrer Mitschülerinnen Stimmbruch hatte. Nur Anna. Wieso ausgerechnet Anna? Mit dieser Frage ist sie dann wieder allein geblieben. Ist es schon nicht mehr möglich, sie den Eltern zu stellen? Anna tut also, was sie inzwischen gut kann: Sie legt sie ab am Rande des Bewußtseins.

Streng katholisch, einfache Verhältnisse – so beschreibt Anna ihr Elternhaus. In den fünfziger, sechziger Jahren war das ein Umfeld, in dem es ein absolutes Tabuthema gab: Sex. Auch in Annas Familie wurde nicht aufgeklärt. Ein kleines Beispiel fällt ihr ein: Schon immer mochte sie Pferde – wie viele junge Mädchen, gerade die einsamen. »Ja«, unterbricht sie ihren Rückblick und versachlicht dieses emotionale Bild. »Pferde sind therapeutisch wirksam. Hunde noch mehr. Deshalb bin ich ein Tiernarr. Menschen, da steh’ ich nicht so drauf. Ein Tier akzeptiert einen so, wie man ist.« Das Pferdebuch zu Weihnachten für die Elfjährige. Die traute Familie unter dem Weihnachtsbaum: Vater, Mutter, Sohn und Tochter, mit ihren Geschenken beschäftigt. »Vati«, fragt Anna, »was ist ein Wallach?« Der ältere Bruder grinst, schnell verläßt die Mutter den Raum, um nach dem Braten zu sehen. »Das ist ein Pferd«, sagt der Vater, spürbar peinlich berührt.