Vater unser in der Hölle - Ulla Fröhling - E-Book

Vater unser in der Hölle E-Book

Ulla Fröhling

4,8
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Seit frühester Kindheit erlebt Angela Lenz sexuelle Gewalt. Mit grausamen Folterungen, Drogen und Gehirnwäsche wird sie in einer Geheimsekte zur Prostitution gezwungen und muss andere mit satanistischen Ritualen quälen. Unter der Last des Unerträglichen zersplittert ihre Seele in Dutzende von Persönlichkeiten. So überlebt sie die Schrecken. Doch bald drängen die traumatischen Erlebnisse an die Oberfläche. Angela macht eine Therapie und wagt es, trotz Schweigegebot und Todesdrohungen über das zu sprechen, was man ihr und anderen angetan hat. Die Autorin Ulla Fröhling begleitet Leben und Therapie der »Angela Lenz« seit zwanzig Jahren. Jetzt liegt das brisante Buch in aktualisierter Neuausgabe vor.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 584

Bewertungen
4,8 (28 Bewertungen)
21
7
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.
 
Für Fragen und Anregungen:
[email protected]
www.vaterunserinderhölle.de
www.ourfatherinhell.com
Facebook: TheRealUllaFröhling
www.renate-rennebach-stiftung.de
 
7. Auflage 2023
 
© 2015 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
 
Das Werk erschien erstmals 1996 bei der Kallmeyerschen Verlagsbuchhandlung.
 
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
 
Umschlaggestaltung: Melanie Melzer
Umschlagabbildung: iStockphoto: links oben, Hintergrund rechts unten. Amulett: Gerald Hänel
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
 
ISBN Print: 978-3-86882-546-6
ISBN E-Book (PDF): 978-3-86415-709-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi): 978-3-86415-710-3
 
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.mvg-verlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unterwww.m-vg.de

Inhalt

Titel
Impressum
Inhalt
Widmung
Vorworte
Einleitung
Kapitel 1 Stimmen
Stefanie
Therapie
Kapitel 2 Schweigen
Die Kinder
Kapitel 3 Signale
Blinder Fleck
»Das multifunktionale Kind«
Die erste Zeugin: Die Lehrerin
Kapitel 4 Schreie
Doppelkopf
Traute
Kapitel 5 Das Grauen
Das andere System
Die Sektenkinder
Exkurs: Satan Revisited
Der zweite Zeuge: Der Mann vom Jugendamt
Kapitel 6 The Missing Link
Sie sind wieder da
Der mandschurische Kandidat
Die dritte Zeugin: Die Kriminalkommissarin
Kapitel 7 Hoffnung
Masken
Grete
Der vierte Zeuge: Das Versorgungsamt
Kapitel 8 Gegenwart
Ten Years After
Die kleine Traute
Kapitel 9 Zukunft
Zeitreisen
Nachwort
Anhang
Rituelle Gewalt in Deutschland
Dank
Stimmen zum Buch
Literatur

Wir widmen dieses Buch all den Kindern,

Vorworte

Konspiratives Schweigen

Luise Reddemann, 2015

In den sechs Jahren nach Erscheinen der Neuauflage des Buches von Ulla Fröhling sind viele Dinge ans Licht der Öffentlichkeit gekommen, die zumindest indirekt bestätigen, was in ihrem Buch »Vater unser in der Hölle« beschrieben wird: Dass kleine und größere Kinder aufs grausamste sexuell ausgebeutet und misshandelt werden in einem Ausmaß, das sich die meisten nicht vorstellen wollen und vielleicht auch nicht können.

Die Frage, die mir wichtig erscheint, ist: Warum wird immer wieder zur Tagesordnung übergegangen? Warum wird nicht genauer hingeschaut, warum wird so wenig für die Opfer getan? Fast möchte ich von »konspirativem Schweigen« sprechen, so als wollten sehr viele, dass die Verbrechen verschwiegen werden, kaum, dass sie bekannt geworden sind.

Durch einige Fälle, die in jüngster Zeit bekannt geworden sind, kann man ahnen, dass hochrangige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Dinge verstrickt sind, die in Ulla Fröhlings Buch beschrieben sind. Auch Fachleute wollen nicht immer genau hinsehen.

In all diesen Kontexten scheint es mir vor allem um einen Mangel an Mitgefühl mit den geschundenen Opfern zu gehen. Eine ungute Mischung aus »blaming the victim«, Sadismus, Heldenmythos und Feigheit scheint hier immer wieder zu verhindern, dass den Opfern Gerechtigkeit und angemessene Behandlung und Unterstützung zugebilligt wird, während die Täter ungeschoren davonkommen. Nicht zuletzt geht es auch um die Scheu, sich menschliche Abgründe bewusst zu machen, weil das schmerzt. Wir wollen uns nicht damit beschäftigen, was Menschen Menschen anzutun in der Lage sind, weil uns das auffordert, in die eigenen seelischen Abgründe zu blicken. Also lieber wegschauen, bagatellisieren, verleugnen, verdrehen.

Umso wichtiger erscheint es mir, dass Ulla Fröhling den Mut aufbringt, ihr Buch erneut herauszubringen und aufzufordern: Schaut hin, und tut jede und jeder so viel, wie sie oder er kann, damit das aufhört.

Ich bin Ulla Fröhling dankbar, dass sie »Angela Lenz« Gehör verschafft und uns auffordert, uns gegen Gewalt und sexuelle Ausbeutung zu engagieren und, vielleicht noch wichtiger, alles zu tun, dass Kinder in einer für sie förderlichen, liebevollen Umgebung aufwachsen können. Mit dem, was bisher auf dem Gebiet der Durchsetzung von Kinderrechten erreicht ist, dürfen wir uns nicht zufrieden geben.

Traurig stimmt auch, was die Therapeutin andeutet und woraus professionelle Lehren zu ziehen sind: Es geht darum, im Interesse der PatientInnen selbstfürsorglich mit sich umzugehen. Heute wird von Selbstmitgefühl gesprochen, ein Begriff, den es bis vor Kurzem noch nicht gab. Es ist schwer, so viel Leidvolles zu teilen. Seit den Anfängen der Behandlung von »Angela Lenz« hat sich das Wissen durchgesetzt, dass TherapeutInnen von schwer traumatisierten Menschen vielfältige Unterstützung benötigen, die heute auch mehr verfügbar ist als in den 90er Jahren. Insbesondere die Fachgesellschaften sind hier zu nennen. Unterstützung durch andere Menschen, vor allem das kollegiale Umfeld, ist gefragt. TherapeutInnen, die den Mut haben, sich solchen Extrembelastungen zu stellen, brauchen Solidarität genauso wie ihre PatientInnen.

Prof. Dr. Luise Reddemann Psychotherapeutin und Professorin für Psychotraumatologie und medizinische Psychologie an der Universität Klagenfurt

Es geht um organisierte Kriminalität

Renate Rennebach, 2008

Als ich dieses Buch das erste Mal las, war ich erschüttert, dass es solche Grausamkeiten gibt. Ich wollte mehr wissen und lernte Menschen kennen, die sich mit ritueller Gewalt beschäftigen: Therapeuten, Sozialarbeiter, Opfer.

Und ich lernte Ulla Fröhling kennen. Durch sie erfuhr ich, dass es Menschen gibt, die Kinder foltern, missbrauchen und brutal vermarkten. Menschen, die Macht, Geld und Einfluss haben. Menschen, die nach außen die braven Bürger spielen und im Geheimen ihr schreckliches Handwerk tun. Sie sind gut vernetzt. Mir wurde klar, dass es sich um organisierte Kriminalität handelt.

Wer aber hilft den Opfern?

Wir alle hören viel von Kinderpornographie im Internet, aber nur selten fragt jemand nach den kleinen, unfreiwilligen Hauptdarstellern dieser widerlichen Filme.

Ulla Fröhling hat zu dem Thema umfassend recherchiert, und vor allem hat sie intensiv mit der im Buch beschriebenen jungen Frau gesprochen, über viele Jahre hin. Sie hat eine Geschichte erfahren, die für Leser, die noch nie gehört haben, dass es rituelle Gewalt gibt, ungeheuerlich klingt, aber leider sehr wahr ist.

Ihr gilt mein großer Dank.

Dieses Buch kann helfen, aufmerksamer zu sein, wenn ein Kind häufig verletzt ist, wenn das Kind verstört wirkt, sich Erziehern gegenüber verschlossen zeigt.

Ich freue mich, dass »Vater unser in der Hölle« wieder verfügbar ist und nun als aktualisiertes Taschenbuch auch einer größeren Leserschaft zugänglich gemacht werden kann.

Renate Rennebach, MdB 1990-2002 Stellvertretende Vorsitzende der Enquete-Kommission des Bundestages »Sog. Sekten und Psychogruppen« 1996–1998,

Einleitung

Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.1

Dieses ist die Geschichte einer Frau: Angela Lenz.

Angela Lenz ist eine Multiple Persönlichkeit. Multiple Persönlichkeitsstörung2 kann man als Selbsterhaltungssystem der Seele betrachten. Eine posttraumatische Stressreaktion, ausgelöst durch extreme Gewalt in früher Kindheit, Gewalt, die lang anhaltend ist, ausweglos und unerträglich. Folter.

Und es ist die exemplarische Geschichte vieler Menschen.

Denn Angela Lenz ist nicht die Einzige, die Inzest, Zwangsprostitution und Rituale einer satanistischen Sekte in Deutschland durchlebte. Alles, was Angela erzählt, wird durch Aussagen weiterer Opfer bestätigt. Ihre Berichte klingen ungeheuerlich, und man möchte ihnen nicht glauben.

Warum habe ich ihr geglaubt?

Angela Lenz wirkt weder versponnen noch verwirrt. Eher kühl, klar. Wenn sie sich an etwas nicht erinnerte, sagte sie es, und Irrtümer korrigierte sie. Die Widersprüchlichkeit ihrer Persönlichkeiten, deren unterschiedliche Gefühle und Ansichten ließ sie mich sehen.

Sektenberater, Kripobeamte und Mediziner bestätigten die Recherchen. Deutsche, niederländische, belgische, amerikanische, kanadische, englische, französische, spanische, dänische, norwegische, türkische, israelische, japanische und australische Fachleute, mit denen ich sprach und korrespondierte, beschreiben vergleichbare Ereignisse und Phänomene in ihren Ländern. Viele von ihnen blicken zurück auf mehr als 30 Jahre therapeutischer Arbeit mit Folteropfern wie Angela Lenz.

Aus Zeugnissen, Briefwechseln, Fotoalben, amtlichen Dokumenten, ärztlichen Berichten, Röntgenaufnahmen, Zeitungsartikeln und Zeugenaussagen habe ich versucht, ein Bild zu schaffen, das den wahren Ereignissen so nahe wie möglich kommt.

In Teilen ist Angelas Familiengeschichte nicht mehr rekonstruierbar. Der Vater ist tot. Über die Ursachen seiner pädosexuellen Entwicklung gibt es einige Anhaltspunkte, Weiteres aber kann man heute nur mutmaßen. Familiengeschichtlich bekannt sind die Gewalttätigkeit und Promiskuität des Großvaters wie auch das ausgeprägt pietistische Klima, in dem seine Familie seit Generationen lebte. Auch Angelas Vater war also in einer Familie aufgewachsen, die öffentliches und privates Leben extrem spaltete. Früh schon tauchte in der Familiengeschichte etwas auf, was damals als Schizophrenie diagnostiziert wurde.

 

Die Familie steht unter dem besonderen Schutz des Staates. Doch unter wessen Schutz stehen die Kinder in körperlich und seelisch misshandelnden, sexuell missbrauchenden oder vernachlässigenden Familien? Hinter verschlossenen Wohnungstüren wird die meiste Gewalt ausgeübt. Weltweit.

Inzest ist eine tiefe seelische Verletzung und eine frühe Prägung, die vielen Kindern die Entwicklung zu Autonomie und einem Gefühl für klare Grenzen verwehrt. Der Stress, unter dem kleine Kinder in Angst ständig stehen, beeinflusst die Vernetzungen der Nervenbahnen im Gehirn und die Biochemie ihres Körpers: Bei Gefahr produziert jeder von uns automatisch große Mengen eines »Hormoncocktails«, der uns zu Kampf oder Flucht befähigen und dann wieder beruhigen soll. Kehrt die Gefahr immer wieder, unberechenbar und unausweichlich, dann produziert der Körper seine eigene Drogenabhängigkeit. Ist der Täter auch der Beschützer – also der Vater –, so erlebt das Kind eine massive Konditionierung. Es wird ein anderes Kind, als es hätte werden können.

Welch ein bitterer Start ins Leben.

Inzest ist die Vorschule der Prostitution, sagt Francisco Orengo. Zuhälter wissen das, betont der spanische Psychiater, der in seiner Klinik vielen Frauen beim Ausstieg aus der Prostitution geholfen hat. Zuhälter, so Orengo, erkennen diese früh verletzten Frauen.3 Es sei ein Wissen, das vom Vater an den Sohn weitergegeben werde. Und eine Falle, der nur wenige entkommen.

Wie hat es Angela Lenz geschafft?

Ich habe ihren Lebensweg rekonstruiert, mir die Orte angesehen, an die sie sich erinnert. Die stille, feine Villenstraße ihrer Kindheit. Den privaten Kindergarten. Ich bin den Pfad hinter den Häusern hinabgestiegen und in den Wald gegangen, in dem Angela gequält wurde. Ich habe der Predigt eines der Täter gelauscht. Zu Beginn meiner Recherche war er noch im Amt.

Warum war er noch im Amt?

Angela hat ihn nicht angezeigt. Sie hat niemanden angezeigt.

Das ist der Deal mit den Tätern.

Wir kennen ihre Namen, wissen, wo sie leben. Immer wenn »Onkel Paul« wieder in ein anderes Bundesland umzieht, registriere ich es, denn er lässt seine Telefonnummer stets ordentlich eintragen. Von seinem letzten Wohnhaus aus konnte er den Blick über ein ehemaliges KZ schweifen lassen.

Angela hat die Namen der Täter, die Tatorte, alle Umstände ihrer Taten aufgeschrieben und hinterlegt. Nicht nur bei ihrer Anwältin. An vielen Orten. An Stellen, die das Material auch an Angela selbst nicht wieder herausgeben. Die es aber im Fall ihres Todes an die Staatsanwaltschaft weiterleiten. Auch wenn einem Familienmitglied, der Therapeutin, der Autorin oder Mitarbeitern an diesem Buch etwas zustößt. Auch wenn es wie ein »ganz normaler« Verkehrsunfall aussieht.

Das ist der Deal mit den Tätern.

Etwas, das sogar die Polizei akzeptiert.

Lange waren die Täter den Ermittlungsbehörden in technischer Hinsicht weit überlegen. Fotos sadistischer Sexszenen mit Fünf-, Drei-, Einjährigen, sogar mit Säuglingen werden über Hochgeschwindigkeitsleitungen der Daten-Highways in alle Welt verschickt, aber es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bevor Sonderkommissionen der Polizei mit entsprechender Hard- und Software ausgestattet wurden, um sie abfangen zu können. In den vergangenen zehn Jahren nahm die kriminelle Entwicklung noch mehr Fahrt auf. Zu Beginn der Recherchen an diesem Buch ahnten nur wenige, was heute polizeilich ermittelte Realität sein würde: Kindesmissbrauch im »Second Life«, einer virtuellen Welt im Internet4; Folter von Säuglingen und Kleinkindern online vor Webcams5; Morde mit deutlichen satanistischen Hinweisen in mehreren europäischen Ländern6: Vertuschungsversuche bei Aufdeckungen mafiöser Netzwerke von Politik, Wirtschaft und organisierter Kriminalität, bei denen häufig – wie 2007 in Sachsen – Kindesmissbrauch und Kinderbordelle erwähnt werden.7 Eine brisante Mischung. Als Angela diese dunkle Welt vor Jahrzehnten kennenlernte, glaubte niemand ihren Hinweisen. Das Tabu war intakt, die Täter sicher.

Heute beginnt das Tabu zu bröckeln. Manche Journalisten lassen sich nicht beirren. Manche Ärzte ebenfalls nicht: »Damals hielt man uns, die wir unseren Patientinnen glaubten, für verrückt«, sagt Prof. Dr. Luise Reddemann. »Heute hat sich all das Schreckliche, das Sie in Ihrem Buch beschrieben haben, leider voll bestätigt.«8 Das medizinische und therapeutische Wissen wird größer.9 Die Hirnforschung kann den Switch, den Wechsel von einer Persönlichkeit zur anderen, im Magnetresonanztomographen nachweisen. Und es gibt drei Untersuchungen zu ritueller Gewalt in Deutschland sowie eine Internetstudie mit Ergebnissen aus allen Kontinenten. Es mag sein, dass einige Erinnerungsbruchstücke von Angela Lenz auf Suggestion der Täter zurückgehen. Andere mögen Bilder für erlebte Qualen sein oder Deck­erinnerungen, vielleicht um sich vor dem Wissen um das volle Ausmaß der väterlichen Taten zu schützen. Ich bin jedoch auch nach 20 Jahren noch überzeugt, dass Angela Lenz extreme Gewalt, sadistische Folter und rituellen Missbrauch erlebt hat.

 

Um eine Identifikation von Angela, ihrer jetzigen und ihrer Herkunftsfamilie zu verhindern, wurden Namen, Daten, Orte, Berufe von Opfern und Tätern geändert. Dasselbe gilt für Hobbys und Sportarten. Auch die Namen der Therapeutinnen »Nina Temberg« und »Elisabeth Gebhard« sind Pseudonyme.

Die Namen und Zitate der erwähnten Wissenschaftler, Psychiater, Therapeuten (Prof. Dr. Onno van der Hart, Dipl.-Psych. Michaela Huber, Dipl.-Päd. Anne Jürgens, Dr. Richard Kluft, Dr. Catherine Fine, Dr. Arne Hofmann, Monika Veith, Thorsten Becker, Francisco Orengo und andere) sind authentisch. Interviews mit ihnen fanden statt.

Erinnerte Traumata, sogenannte Flashbacks, von Multiplen Persönlichkeiten haben oft eine zeitlose Qualität. Ein Gefühl wie ohne Zeit und Raum. Wer von einer traumatischen Erinnerung überfallen wird, weiß oft nicht, dass das Erlebnis vorbei ist. Wie eine Welle schlägt die schreckliche Erinnerung über dem Menschen zusammen. Sie oder er muss erst wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden. Das ist ganz wörtlich gemeint: »Schau, hier ist der Fußboden, du stehst ganz fest darauf, du bist in Sicherheit, es ist vorbei.« Aber auch im übertragenen Sinne: Diese Menschen erleiden oft den Verlust von zeitlicher Orientierung. Genau das wollen die Täter: Wer weder Ort noch Zeit des Verbrechens nennen kann, kann auch niemanden anzeigen.

Deshalb ist jedem Kapitel, das ein erinnertes Trauma erzählt, eine kurze Liste mit historischen Ereignissen vorangestellt, um das Trauma zu orten und in der Zeit festzumachen: Das ist passiert, als man »Sugar Baby Love« im Radio hörte, Helmut Kohl Kanzler wurde und Charles Manson wegen Ritualmordes ins Zuchthaus kam.

Einige Episoden sind den Erzählungen anderer Überlebender entnommen. Die Lebensläufe von Menschen, die in destruktiven Kulten aufgewachsen sind, haben eine vorgegebene Struktur. Dazu gehört das Weitergeben der Gewalt an die eigenen Kinder. Das kann bis zur Tötung gehen.

Wenigstens dies blieb ihr erspart.

Es war nicht sie.

Aber sie erlebte es mit.

Dieses Buch zu schreiben bedeutete, sich dem Unerträglichen anzunähern. So dicht, dass es spürbar wurde. Das Unerträgliche, das Angela geschehen war: Opfer sein. Das war schwer genug. Das Zweite war noch schwerer: Täter sein. Denn Angela war beides.

Gewalt ist wie eine Spirale, die sich immer weiter dreht. Ich habe versucht, eine Sprache zu finden, die das erneute Weitergeben von Gewalt vermeidet, dennoch musste ausgesprochen werden, was geschehen ist.

Denn es geschah wirklich. Und geschieht immer noch.

Manche Strategien, mit denen Kinderpornoringe und destruktive Kulte die Therapien von Aussteigern unterwandern, sind so ungeheuerlich, dass ich es zuerst nicht glauben wollte. Daher wurden derartige Psychotricks erst in das Buch aufgenommen, wenn sie mindestens drei Therapeuten unabhängig voneinander schilderten. Das gilt zum Beispiel für den perfiden Einsatz von Bild- und Tonaufnahmen der Therapeutin, um Abneigung oder Angst zu erzeugen.

Die Zeichnungen von Angela Lenz zeigen zwei Welten: eine helle, heitere, bunte und eine düstere, schwarz-braune, bedrohliche, voll Grausamkeit und Gewalt. Voll erlebter Gewalt. Einige Persönlichkeiten in Angela wollen Rache. Die meisten aber wollen nur, »dass die helle Welt endlich sieht, dass es die andere, die dunkle Welt wirklich gibt«.

Es gibt sie wirklich, hier bei uns, ganz in der Nähe. Nicht nur im belgischen Sars-la-Buissière, wo Marc Dutroux folterte und tötete. Oder in den Wäldern bei Mailand, wo die Heavy Metal Band »Beasts of Satan« in satanistischen Ritualen mordete. Oder im französischen Angier, wo 45 Kinder zwischen sechs Monaten und zwölf Jahren von 66 Erwachsenen – darunter ihre eigenen Eltern – vergewaltigt und zur Prostitution verkauft wurden. Oder in London, wo 2001 nach Angaben von Scotland Yard 300 farbige Jungen zwischen vier und sieben Jahren verschwanden. Oder in Portugal, wo über 600 Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder in der staatlichen Heimkette Casa Pia aufgedeckt wurden. Oder in Spanien, wo die Polizei im Juli 2007 bei der »Operation Bestrafung« 66 Verdächtige verhaftete und 50 Millionen (!) Bilder mit Kinderfolterbildern beschlagnahmte. Sondern auch hier bei uns.

Ob es gelingt, Licht in das Dunkel dieser geheimen Welt zu bringen?

Ulla Fröhling

1 »All that is necessary for the triumph of evil is that good men do nothing«, zugeschrieben Edmund Burke 1729-1797
2 Im DSM-IV, dem Diagnostischen und Statistischen Handbuch psychischer Störungen von 1994, wurde die Multiple Persönlichkeitsstörung in Dissoziative Identitätsstörung umbenannt, um zu einer Klärung und Versachlichung beizutragen. Da der ältere Ausdruck bei uns aber bekannter ist, wird er in diesem Buch weiterhin verwendet.
3 Persönliche Mitteilung, 14.06.2007
4 Focus online, 08.05.2007 http://www.focus.de/digital/games/second_life/second- life_aid_55693.html
5 »Kids the Light Of Our Lives« – »Kinder, das Licht unseres Lebens« war der zynische Name einer Internetseite, über welche 700 User weltweit sadistische Aufnahmen von Kinder- und Babyfolter tauschten.
6 Z.B. Deutschland 2001, Türkei 1998, Italien, Norwegen
7 MDR, 12.6.2007; Jürgen Roth über die Korruptionsaffäre in Sachsen, in: Roth, Jürgen/Nübel, Rainer/Fromm, Rainer: »Anklage unerwünscht – Korruption und Willkür in der deutschen Justiz«. Frankfurt 2007.
8 Persönliche Mitteilung 26.06.2007
9 Bahnbrechender Aufsatz: Gast, Ursula et al.: »Die dissoziative Identitätsstörung – häufig fehldiagnostiziert«. Deutsches Ärzteblatt 47/2006

Kapitel 1 Stimmen

Stefanie

»Ich weiß nicht, dass ich nichts weiß.«

Die fremde Wohnung

Es ist alles in Ordnung.

Sie war nur einen Augenblick eingeschlafen. Kein Grund zur Panik. Ruhig bleiben. Das war das Wichtigste. Nicht die Nerven verlieren. Irgendwann würde sie schon herausfinden, wo sie ist. In wessen Wohnung.

Das fand sie meistens heraus. War sehr geschickt darin. Nichts anmerken lassen, zuhören, genau beobachten. Und ruhig bleiben.

Manches allerdings fand sie nie heraus: Wie sie an die fremden Orte gekommen war. Was vorher geschehen war. Aber danach fragte sie sich schon längst nicht mehr. Sie hakte die Vergangenheit ab, sammelte ein paar lose Fäden auf und machte weiter.

Diesmal lag sie auf einer Couch. Einer fremden Couch. Rauer Stoff, Leinen vielleicht, braun mit grauen Streifen. Ein paar Kissen. Nicht ihr Geschmack. Ein Aquarium, ein Bücherregal. Vier Fenster, alle zu. Nur eine Tür, auch die geschlossen.

Keinen Fehler machen.

Sie blieb reglos liegen und lauschte. Stille hinter der Tür. Offenbar war sie allein. Gut. Das ließ ihr Zeit, sich umzuschauen, sich vertraut zu machen. Nach Erinnerungen suchen, einen Halt finden. Manchmal, das kannte sie schon, wurde sie ohnmächtig und wachte an einem anderen Ort wieder auf. Zu Hause, wenn sie Glück hatte. Irgendwo auf der Straße, nachts, ohne Hausschlüssel, wenn sie Pech hatte. Auf alle Fälle war es besser erst einmal allein zu sein. Dann musste man nichts erklären, nicht lügen.

Sie streckte die Beine aus. Vorsichtig. Bewegte die Arme, die Finger. Nein, keine Schmerzen. Gut.

Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Aber das war überhaupt nicht ihre; diese Uhr hatte sie noch nie gesehen, eigentlich war das gar keine richtige Uhr, es gab kein Zifferblatt, keine Zeiger, sondern nur eine Reihe Zahlen: 15:35:23 stand da, die letzten Zahlen veränderten sich ständig. Sie hatte so eine neumodische Uhr vor Kurzem in einem Schaufenster betrachtet, und am Arm eines Geschäftsfreundes von ihrem Vater war auch mal eine gewesen. Aber sie selbst besaß so etwas nicht. Außerdem wäre ihr Bruder der Erste, der solch ein Geschenk bekäme. Und nicht sie.

Auch dies hakte sie ab, wie die meisten Überraschungen in ihrem Leben.

Weitermachen.

Sie setzte sich auf. Legte ihre Hand auf den Tisch und trommelte mit den Fingerspitzen auf das Holz. Ein niedriger, schwerer Couchtisch, darauf ein Aschenbecher mit einer halbgerauchten, glimmenden Zigarette.

... glimmenden Zigarette!

Ihr wurde heiß vor Panik: Jemand hatte hier vor kurzem geraucht. Es war doch noch einer in der Wohnung!

Leise stand sie auf, strich sich die kurzen Haare aus dem Gesicht, ging zur Tür und drückte langsam die Klinke herunter. Hinter der Tür ein langer Flur, schmal und dunkel. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Nein, besser kein Licht. Im Halbdunkel sah sie sechs Türen, zwei standen offen. Gegenüber vermutlich die Wohnungstür, der Schlüssel steckte im Schloss. Sie rannte los, drehte den Schlüssel herum, drückte die Klinke herunter. Die Tür blieb verschlossen. Raus! Ich will raus hier! Sie rüttelte an der Klinke, riss an ihr, warf sich gegen den Holzrahmen, schlug mit den Fäusten gegen die Milchglasscheiben, mit dem Kopf.

»Zweimal aufschließen«, sagte eine Stimme. Sie fuhr herum, aber da war niemand. Als sie wieder nach dem Schlüssel griff, zitterte ihre Hand so sehr, dass er ihr aus dem Schloss rutschte und das Schlüsselbund auf den Holzboden knallte.

Es klang wie ein Schuss.

Sie hatte das Gefühl, innerlich wegzusacken.

Jetzt ganz ruhig bleiben.

Sie ließ sich langsam mit dem Rücken an der Wand herunter, griff nach dem Schlüssel und schob sich wieder hoch. Aber welcher Schlüssel war es? Sie betrachtete alle. »Der«, sagte eine Stimme, und sie hätte das Bund beinahe wieder fallen gelassen. Sie schaute sich nicht um, stieß den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn zweimal herum, die Tür öffnete sich, und sie raste das Treppenhaus hinunter, drei, vier Stufen überspringend. Bitte, bitte, keine verschlossene Haustür!

Sie stand auf der Straße und schaute sich um. Hier war sie noch nie gewesen. Kopfsteinpflaster, und ein Trecker tuckerte vorbei. In der Ferne eine Weide, ein paar Kühe. Es roch feucht, nach Regen und Stall. Ein Dorf war das, und sie kam aus der Großstadt. Also war sie weit weg von zu Hause. Sie ging den Weg entlang, fand ein Straßenschild, aber den Namen kannte sie nicht.

Große alte Ahornbäume überschatteten den Fußweg mit dichtem Laub. Einige hatten ihre Früchte schon abgeworfen, der Weg war voll kleiner Ahorn-Flügel. Sie nahm einen davon auf und setzte ihn sich auf die Nase. Wieso tragen die Ahornbäume jetzt schon Früchte? Das war ungewöhnlich, das wusste sie genau.

Und alle Bäume voller Blätter. Gestern waren sie noch kahl gewesen. Ziemlich warm für März war es außerdem. Gestern hatte ein kalter Wind geweht. War sie etwa im Süden? Gestern schien zwar die Sonne, aber es war so kühl, dass ihre Mutter anordnete, sie müsse einen Wintermantel tragen. Sie hatte gehorcht. Das war klüger so, das wusste sie genau. Wenn sie gehorchte, hatte sie bessere Chancen, nicht schon wieder einige Stunden zu verlieren. So viel hatte sie inzwischen herausgekriegt.

Sie schaute an sich herunter und erschrak. Zerfetzte Jeans, wenn ihre Mutter das merkte! Lauter Einschnitte, wie mit Absicht. Man konnte die Haut darunter sehen. Wessen Jeans waren das überhaupt? Ihre mit Sicherheit nicht. Sie griff in die Hosentaschen, fand aber nichts. Auch die Schuhe gehörten ihr nicht. Merkwürdige bunte Turnschuhe, ein Name stand darauf, Reebok, ihrer war das nicht.

Einfach weitergehen.

Ein Auto hupte, jemand, den sie nicht kannte, winkte und fuhr vorüber. Wieso hat der gehupt?, fragte sie sich. Aber nur einen Moment.

Autokennzeichen, dachte sie dann, daran erkennt man, wo man ist. Sie lief zu drei parkenden Wagen. FL, Flensburg. Das war im Norden, jedenfalls nicht in der Umgebung von Köln. Wie war sie hierhergekommen? Nein, nicht die falschen Fragen stellen. Wie kam sie wieder nach Hause? Das war die richtige Frage.

Weiter vorn eilte ihr auf ihrer Straßenseite ein Mann entgegen: groß, hager, sehr schnelle Schritte. Er trug einen Hut, so dass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte.

Angst.

Sie drehte sich um und rannte zurück zu dem Haus, aus dem sie gekommen war. Die Haustür stand immer noch offen, sie lief hinein und zog sie hinter sich zu. Hatte er sie gesehen? Sich gemerkt, wohin sie rannte? Wenn er nun kam?

Wovor hatte sie eigentlich Angst? Sie wusste keine Antwort. Kannte sie den Mann? Nein. Oder doch? Bestimmt nicht. Warum war sie dann weggerannt? Sie wusste es nicht. Und warum wieder hierher? Wohin denn sonst?

Sie musste wieder in die fremde Wohnung, um einen Faden zu finden. Irgendwo musste sie ja anfangen. So machte sie es immer. Und wenn sie draußen auch Angst hatte, konnte sie genauso gut drinnen bleiben. Langsam stieg sie die Treppe wieder hoch. Die Wohnungstür war noch angelehnt. Sie klingelte. Zweimal. Niemand kam. Neben der Klingel stand ein Name: »Lenz«. Sie kannte keinen, der so hieß. »Hallo«, rief sie laut und klingelte noch einmal.

Nichts.

Sie betrat die Wohnung, ließ die Tür jedoch offen und schob die Fußmatte halb darunter, damit sie nicht zufiel. Im Flur war eine Garderobe mit dem lebensgroßen Foto einer Frau. Entfernt sah sie ihr ähnlich, hatte aber lange Haare und war viel älter. Eine Tante, von der sie nichts wusste? Waren sie vielleicht in diese Wohnung gefahren, um hier zu übernachten? Gestern, nach der Beerdigung? Vielleicht waren ihre Mutter und ihr Bruder nur für kurze Zeit fortgegangen, und gleich kämen sie wieder. Genau, so musste es sein: Gleich stehen sie vor der Tür, und alles klärt sich auf.

Aber wieso kam ihr dann überhaupt nichts bekannt vor? Sie musste sich doch umgeschaut haben, bevor sie einschlief. Ihr Mantel musste an der Garderobe hängen, Kleidung, Sachen, vielleicht ein Koffer von ihrer Mutter, ihrem Bruder mussten hier irgendwo sein.

Egal.

Nicht darüber nachdenken.

Langsam öffnete sie alle Türen der Wohnung. Viel Spielzeug und Kinderkleidung, hier gab es also auch Kinder. Zwei Zimmer schienen einem großen und einem kleinen Kind zu gehören, wildes Durcheinander in beiden. Das sollte ihre Mutter mal sehen.

In einer Ecke bewegte sich etwas. Ein Hund! Sie rannte zur Tür, wollte wieder flüchten. Im Treppenhaus wurde ihr bewusst, dass der Hund sehr ruhig war. Er hatte nur kurz hochgeschaut, als sie das Zimmer betrat, geschnauft und die Schnauze wieder auf die Pfoten gelegt. Zaghaft ging sie zurück, spähte um die Ecke und begegnete seinem Blick. Es war ein junger Boxer, er wedelte mit seinem kurzen Schwanz, stand auf, gähnte, reckte sich und kam auf sie zu. Sie hielt ihm die Hand hin, und er leckte daran. Toller Wachhund, dachte sie, kennt mich nicht und schließt gleich Freundschaft.

Als sie sich überzeugt hatte, dass außer dem Hund und ihr niemand in der Wohnung war, verschloss sie die Wohnungstür und richtete sich ein. Öffnete Schränke, zog Schubladen auf, nahm Bücher in die Hand.

Es war, als versuchte sie, Pflöcke einzuschlagen in die Wirklichkeit. Aber die Wirklichkeit sackte weg wie Treibsand.

Nichts trug.

Im Schlafzimmer fand sie einen Umschlag mit Fotos, Familienaufnahmen. Eine Frau mit langen blonden Haaren – war es die vom Poster im Flur? Drei Kinder, eines davon eigentlich zu alt, um ein Kind der Frau zu sein. Hinter ihnen ein älterer Mann, die Ärmel hochge­krempelt. Zupackend, beschützend sah er aus. Alle vollkommen fremd. Die Panik kam wieder.

»Papi«, dachte sie, »hilf mir doch.« Er hatte ihr immer geholfen. Gegen die Mutter, den Bruder. Sie hatte ihn so lieb gehabt. Gestern war er beerdigt worden. Das war das Ende ihrer wunderbaren Kindheit. Jetzt musste sie allein mit der Mutter und dem Bruder zurechtkommen. War einer Frau ausgeliefert, die sie schikanierte, und einem Bruder, der sich immer mit der Mutter verbündete. Ihr Vater hatte sie im Stich gelassen, und sie war doch gerade erst dreizehn.

Er war tot. Jetzt sah sie wieder den Sarg vor sich und das Grab, in das sie gestern geschaut hatte, spürte Einsamkeit, Angst, Verzweiflung. Sie stand in der fremden Wohnung, und die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Eine Hand drückte ihr die Kehle zu. Sie ließ sich auf das Bett fallen und weinte ihre Trauer in die fremden Kissen. Denn nun war niemand mehr da, der sagte, reiß dich zusammen. Wie gestern, am Grab. Da hatte sie nicht weinen dürfen.

Gestern: Unter der Erde

Schwarze, nasse Erde poltert auf den polierten Eichensarg. Das Geräusch dröhnt in ihrem Kopf nach. Es ist, als würde man ihr die Erde auf den Kopf werfen. »Jetzt bin ich dran«, denkt sie. Nun soll sie ihre rosa Babyröschen hinterherwerfen. »Ich kann nicht. Will weg.« Sie schaut in die kahlen Äste der Bäume und versucht, sich fortzudenken.

Fort von der Mutter, deren vorgetragenen Kummer sie nicht glaubt, weil sie es besser weiß. Mutter, wie sie neben ihr steht, gramgebeugt und damenhaft zugleich. Wie sie weint, weil sich das eben so gehört bei der Beerdigung des eigenen Mannes. Mutter, die immer alles gerade so tut, wie es sich gehört. Draußen, wo man sie sehen kann.

Fort von dem Bruder, der neben ihr steht und Leid heuchelt, aber froh ist über den Tod des Vaters. Nun ist er das Oberhaupt der Familie, jetzt muss man ihm gehorchen.

Fort von dem Pastor, wie er dort steht in seiner schwarzen ­Kutte und über das junge Leben redet, das von uns genommen wird – 45 Jahre ist der Papi nur geworden – und über Gottes Ratschluss, dass der manchmal unbegreiflich ist, dass wir ihn aber annehmen müssen. Salbungsvolles Zeug, denkt sie, der hat ja keine Ahnung.

Nun zitiert er noch aus der Bibel: »In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.« Das kann man wohl sagen, denkt sie, und jetzt liegt Papi da unten, hat mich im Stich gelassen. Und ich bin doch erst dreizehn. Er ist weg, weg in seinem Sarg, Deckel zu, er ist ganz sicher, niemand kann ihm etwas tun. Und wieder versucht sie sich fortzudenken von ihrer Angst.

Wie gelähmt hatte sie zugesehen, als der Vater in das dunkle Loch hinuntergelassen wurde, aus dem es feucht und erdig riecht. »Er ist da gar nicht drin«, hatte sie gedacht, »deshalb haben sie mich auch nicht in den Sarg gucken lassen. Er ist gar nicht tot. Es ist nur eine Strafe. Vielleicht hat er etwas verraten. Nachher holen sie ihn wieder raus und lachen und tun, als wäre nichts gewesen. Gleich steht er neben mir, nimmt mich in den Arm, ich habe keine Angst mehr, und alles wird gut.«

Aber nichts wird gut, sie wirft ihre Blumen, und ihre Angst nimmt zu. Dann stehen sie in einer Reihe, die Familie, während die Männer an ihnen vorbeigehen, ihnen die Hände schütteln oder sie auch umarmen. Etwa 200 sind es, eine lange dunkle Kette, die an ihnen vorüberzieht. Viele von denen kennt sie von Besuchen, Feiern oder von Urlaubsfotos aus Dutzenden von Alben, die ihre Mutter mit penibler Sorgfalt angelegt hat – an die Urlaube selbst kann sie sich kaum erinnern. Und sie kennt sie von Geburtstagen, besonders von ihrem eigenen. Es war immer etwas Besonderes, wenn sie kamen, ihr Vater freute sich, und ihre Mutter machte Schnittchen.

Das Merkwürdige war nur, dass sie sich nie erinnern konnte, was die Männer ihr zum Geburtstag schenkten. Wie oft hatte sie sich darüber den Kopf zermartert. Und die Spiele, die sie spielten. Sie hatte sie immer vergessen. Aber sie waren bestimmt sehr schön gewesen, denn der Papi war guter Laune und sagte stets, was für ein toller Geburtstag das doch wieder gewesen sei. Und der sagte immer die Wahrheit.

Natürlich ist es ihre Schuld, dass sie sich nicht erinnern kann. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Das hatte sie schon oft bemerkt. Und ihre Mutter sagt das ja auch. Vielleicht hat sie ja recht. Etwas fehlt. Sie macht etwas falsch. Wahrscheinlich muss sie sich einfach noch mehr zusammennehmen. Noch mehr anstrengen. Noch mehr aufpassen.

Aber immerhin weiß sie ganz genau, dass einige der Männer, die hier am Grab ihres Vaters stehen, mit ihr Geburtstag gefeiert haben. Früher. Als sie klein war. In den letzten Jahren dann nicht mehr.

Oder doch?

Wie war ihr letzter Geburtstag eigentlich gewesen? Unwichtig, beschließt sie, denn es fällt ihr nicht ein.

Aber an ihren sechsten Geburtstag kann sie sich noch genau erinnern. Warum, weiß sie nicht. Es musste etwas Besonderes geschehen sein. Vielleicht war ihr damals zum ersten Mal aufgegangen, dass sie sich nie merken konnte, was man ihr zum Geburtstag schenkte. Wenn sie das bloß rauskriegen könnte, hatte sie gedacht. Was das war, was ihr die Männer immer zum Geburtstag schenkten. Denn es musste etwas richtig Tolles sein. Jedenfalls behaupteten die Männer das.

Damals, am sechsten Geburtstag, hatte sie sich vorgenommen ganz genau aufzupassen.

Vorgestern: Fabelhafte Geburtstagsfeste

»Ich hab dir wieder was Wunderhübsches mitgebracht, mein Engelchen«, sagt der große Mann in dem kratzigen Mantel, als er sich zu ihr herunterbeugt, sie mit einer Hand hochhebt und auf der anderen reiten lässt. »Hoppe, hoppe, Reiter, wenn sie fällt, dann schreit sie«, singt er dabei.

Sie bekommt gerade noch mit, wie ihre Mutter sich den Persianer überzieht, vor dem Spiegel lächelnd die frische Dauerwelle zurechtzupft, etwas Parfum aus dem funkelnden Flakon hinter beide Ohren tupft, »schönen Abend, noch« sagt und die Haustür hinter sich zuzieht.

Dann ist die Mutter verschwunden und dieser Geburtstag auch schon wieder vorüber, und sie erfährt nicht, was die Männer ihr diesmal Tolles mitgebracht haben.

So ist es immer.

Dabei hatte der Tag so schön angefangen. Papi hatte sich freigenommen, um den sechsten Geburtstag mit ihr zu feiern. Er hatte ihr ein Märchenbuch geschenkt und ein Schottenkleid mit einem ganz weiten kurzen Röckchen. Das musste sie gleich anprobieren und sich auf dem Tisch vor ihm drehen.

»Mein Engelchen«, sagte er, und da ärgerte sich die Mutter. Dann haben sie die Mutter noch mehr geärgert. Das ist immer das Tollste.

Vor der Mutter hat sie viel Angst, die schlägt sofort zu, wenn ihr irgendetwas nicht passt. Manchmal haut sie auch ganz ohne Grund. Dann muss man schnell sein und ausweichen. Das hat sie inzwischen gelernt. Denn die Mutter schlägt immer nur einmal. Wenn man flink ist und geschickt ausweicht, hat man Glück gehabt. Und Pech zugleich, denn dann vergeht die Zeit meist wieder so schrecklich sprunghaft, plötzlich ist es Abend, ohne dass man es gemerkt hat.

Aber wenn Papi dabei ist, traut sich die Mutter meist gar nicht erst. Der hat keine Angst vor ihr. Der macht sich sogar über sie lustig. Bei der Mutter muss immer alles perfekt sein. Das gehört sich so in einer Bankdirektorsfamilie, sagt sie. Das ist schließlich etwas Besonderes, und da muss man sich auch standesgemäß benehmen. Messer und Gabel müssen rechts und links vom Teller liegen und zwar so, dass die Enden der Griffe exakt mit der Tischkante abschließen, wenn man genau senkrecht von oben daraufschaut. Am besten hält man das große, lange, biegsame Lineal gegen den Tisch und schiebt Messer und Gabel so lange zurecht, bis sie richtig liegen. Weder dürfen sie über die Tischkante hinausragen, noch darf man ein Stückchen vom weißen Tischtuch sehen. Oder es setzt was.

Aber eben nur einmal.

Die Löffel müssen oben vor den Tellern liegen, die Griffe nach rechts. Der Abstand zwischen Teller und Löffel muss genauso groß sein wie der vom Teller zur Gabel und zum Messer. Da kann man kein Lineal zu Hilfe nehmen, sondern muss schätzen. Meistens verschätzt man sich. Das erfährt man dann schon. Eier darf man auf keinen Fall, niemals, unter keinen Umständen, mit dem Messer öffnen, sondern muss sie vorsichtig mit dem Eierlöffel aufklopfen.

Heute ist nicht nur Geburtstag, sondern auch Karfreitag. Das ist besonders schön, hat die Mutter gesagt. Warum, hat sie aber nicht gesagt. Und der Papi war heute Morgen schon richtig fröhlich, er griff sich das Ei und haute ihm mit dem Messer den Kopf ab. Dabei tröpfelte Eigelb auf das Tischtuch. Das war klasse! Die Mutter tobte natürlich, schimpfte und nörgelte schließlich so lange an ihm herum, bis seine gute Laune verschwand, seine schwarzen Brauen sich zusammenzogen und sein hageres Gesicht dunkel wurde. Als sie ihn so weit hatte, schmiss er seine Serviette auf den Tisch, so dass ein Zipfel davon in das Milchkännchen fiel, und sagte: »Komm, Angela, Angelina, mein Engelchen, wir gehen.«

Und seine Tochter lachte aufgeregt, griff nach seiner Hand und freute sich, dass sie ihren wundervollen Papi jetzt ganz für sich allein haben konnte. Denn wenn er Angelina zu ihr sagte, wollte er immer mit ihr allein sein. Das war schön, denn er war der beste Vater der Welt.

Und sie haben bestimmt etwas Großartiges gemacht. Leider weiß sie nicht mehr, was es gewesen ist. Aber das macht nichts, denn jetzt sind sie ja wieder zu Hause, und gleich sollen ihre Geburtstagsgäste kommen. Da wird es Geschenke und spannende Spiele geben. Hoffentlich kann sie sich diesmal merken, was für Spiele das sind. Die Mutter hat in der Küche schon die Schnittchen fertiggemacht, Wein und Bier kalt gestellt, und jetzt schlägt sie im Wohnzimmer die Sofakissen zurecht.

»Komm, Engelchen«, sagt der Papi, »wir naschen.« Gemeinsam schleichen sie in die Küche, schließen leise die Tür hinter sich, stibitzen die Deckel von den mit Fleischsalat gefüllten Tomaten und zupfen Käse vom Käseigel. Als sie sich beide gerade eine dicke Spargelstange in den Mund stopfen, die mit Mayonnaise bestrichen und in gekochten Schinken gewickelt ist, reißt die Mutter die Küchentür auf, haut ihrer Tochter eine runter – so schnell, dass diese nicht mehr ausweichen kann – und keift auf den Papi ein. Ein Waschlappen sei er, ein weichlicher Schlappschwanz, ein jämmerlicher Versager, ein pubertärer Nichtsnutz. Ein schwaches Weib. Und noch mehr. Aber das stimmt natürlich alles überhaupt nicht, denn in Wirklichkeit ist er der beste Papi der Welt.

Aber da stehen auf einmal ihre Geburtstagsgäste im Flur. Woher sind die nur so plötzlich gekommen? Es hat doch gar nicht geklingelt.

Und die Mutter kommt aus dem Bad – dabei war sie doch eben noch in der Küche – und als sie aus dem Bad kommt, sind Lippenstift, Rouge, Wimperntusche und vor allem ihre Stimme wieder wie neu. Liebenswürdig empfängt sie die Geschäftsfreunde ihres Mannes, nimmt ihnen die Mäntel ab, erkundigt sich nach ihrem Befinden, plaudert ein wenig, zeigt ihnen die Schnittchen, holt das Silbertablett, auf dem ein feines besticktes Deckchen liegt, stellt vier gefüllte Sherrygläser aus Bleikristall darauf und bietet sie mit freundlichem Lächeln ihren Gästen an.

Dann wählt sie noch eine Schallplatte aus, legt sie auf den Plattenteller und reguliert die Lautstärke, bis Paul Kuhn nicht zu laut, aber auch nicht zu leise, eben gerade richtig, mit seiner weichen Stimme singt: »Jeden Tag, da lieb ich dich ein kleines bisschen mehr.«

Schließlich verabschiedet sie sich mit Wärme und Herzlichkeit. Alle sind beeindruckt von ihrer Mutter, sie sei eine echte Dame, eine vollendete Gastgeberin, sagen alle.

Das sagen sie immer.

Als sie schon im Flur steht, klingelt es noch einmal, Mutter öffnet die Tür, und der große Mann mit dem rauen Mantel tritt ein, beugt sich über Mutters Hand zu einem Handkuss, ohne die Hand mit dem Mund zu berühren.

»Ach, mein Engelchen«, ruft er, als er wieder hochkommt, über die Schulter der Mutter, die ein wenig, kaum merklich, zusammenzuckt, denn er hat das Geburtstagskind entdeckt, das schüchtern hinter der Küchentür hervorschaut, mit einem Auge nur. Verlegen und etwas ängstlich.

Aber das ist wohl in Ordnung. Wenn man so viele erwachsene Gäste zum Geburtstag hat, wie sie immer, da kann man schon ein bisschen verlegen sein. Im Kindergarten hat sie gehört, dass das bei einigen anderen Kindern anders ist, die bekommen Kinderbesuch. Aber sie ist eben etwas ganz Besonderes, und ihre Familie ist eine bessere Familie als die anderen, die sich mit Kinderbesuch begnügen müssen.

»Komm doch mal her«, ruft der Mann, und seine Stimme ist laut. »Ich hab dir wieder was Wunderhübsches mitgebracht, mein Engelchen.«

Dann beugt er sich zu ihr herunter, hebt sie mit einer Hand hoch und lässt sie auf den gespreizten Fingern der anderen Hand reiten. »Hoppe, hoppe, Reiter, wenn sie fällt, dann schreit sie«, singt er dazu mit lauter Stimme.

Die anderen Männer lachen, und die Tür fällt hinter ihrer Mutter ins Schloss.

Alles ist sehr lustig.

Wenn sie bloß noch rauskriegen könnte, was die Männer ihr immer zum Geburtstag schenken.

Gestern: Begraben und vergessen

Und hier stehen sie wieder vor ihr. Am Grab. Auch Nachbarn sind heute da, angereist aus der Stadt, in der sie mit ihren Eltern und dem Bruder gelebt hat. Sie sieht Geschäftsfreunde ihres Vaters, Kollegen, Manager, Bankmenschen, Ärzte, Firmenbesitzer aus anderen Städten. Viele sind per Flugzeug gekommen, einer sogar mit dem Privatflieger, andere im Auto. So viele Daimler auf einem Platz hat sie noch nie gesehen. Auch ein Richter ist hier, Anwälte, ein Pastor, ein Politiker sogar, Landtagsabgeordneter heißt das, hat ihre Mutter ihr mehrfach erklärt. Und sie hat gemerkt, dass die Mutter sich schämt, weil ihre Familie nicht so fein ist. Lauter solche Leute sind gekommen. Geachtet, angesehen. Wie ihr Vater. Sie stehen da in ihren schweren dunklen Mänteln, schweigend.

Erst trösten sie ihre weinende Mutter, dann kommen sie auch zu ihr, einer nach dem anderen. Der Erste, ein Bankdirektor, der heute Morgen extra aus Berlin nach München geflogen ist, streichelt ihr liebevoll über den Kopf, glättet sorgfältig ihre kurzen Haare, beugt sich zu ihr herunter, nimmt sie so fest in den Arm, dass sein schwerer Mantel sie am Hals kratzt, und sagt: »Wenn du redest, bist du tot.«

Er flüstert nicht. Warum auch? Jeder hier kann hören, was er sagt.

Sie spürt ein Vibrieren in ihrem Körper, etwas kommt von weit hinten auf sie zu. Sie schaut fort von dem Mann, in die Bäume, auf die ordentliche Reihe kleiner Häuser in der Ferne. Wie adrette Schachteln stehen sie dort, schmiegen sich aneinander. Das Vibrieren kommt näher. Sie versucht sich abzulenken, versucht den Wind in den Bäumen wahrzunehmen – durch das Rauschen in ihren Ohren hindurch. Hart zieht sie ein Taschentuch zwischen Daumen und Zeigefinger hindurch, um den Saum an den Fingerspitzen zu spüren. Doch das Vibrieren wird stärker. Sie blickt an den Männern vorbei in das Grab ihres Vaters und wünscht sich, dass sie bei ihm ist. Sie möchte fliehen, aber sie kann keinen Fuß bewegen. Sie ist so schwach, dass sie meint, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Vielleicht fällt sie dann ins Grab zu ihrem Vater. Das wäre schön.

 

Die machen mir doch keine Angst! Das sollen die bloß nicht denken. Dass die mir Angst machen! Geht mir doch am Arsch vorbei. Ich bin stark, viel stärker als die anderen, ich bin ein Junge, bin mutig und kein Feigling.

 

Sie fühlt das Rauschen in den Ohren anschwellen, pochende Kopfschmerzen, ein Nebel zieht vor ihre Augen und verschwindet wieder. Sie ist fast gelähmt vor Angst. Das Zittern breitet sich in ihr aus. Da kommt schon wieder einer auf sie zu. Er greift nach ihrer Hand.

 

Der soll ruhig sagen, was er will. Interessiert mich nicht die Bohne. So geht das doch schon seit Tagen. Das härtet ab.

 

Und mit dem Mann kommt mehr Angst. Aber wovor hat sie nur Angst? Er hat ihr doch nichts getan. Starr blickt sie in das Grab. Kommt es nicht auf sie zu? Dies alles ist gar nicht wahr. Sie träumt bestimmt nur. Einen ihrer vielen schrecklichen Träume. Niemand träumt so grausam wie sie. Auch das hat sie inzwischen herausgefunden. Unauffällig. Mit vielen vorsichtigen Fragen. Immer mal bei jemand anderem aus ihrer Klasse. Mit langen Pausen dazwischen. Was für schöne einfache Träume die anderen haben. Von Sachen, die sie sich wünschen oder vom Urlaub, vom Fliegen, manchmal von einer Klassenarbeit, die danebengeht. Niemand sonst träumt von Folter und Qual und Schreien und Blut.

Nur sie.

Schon wieder steht einer vor ihr und sieht sie an.

 

Tagelang geht das so. Gleich als die anderen vom Training kamen und uns gesagt wurde, dass der Papi tot ist, ging das los. Wir dürfen nie was Schlechtes über den Papi reden, hat die Mutter gesagt. Nicht zu mir, zu Tamara hat sie das gesagt. Aber die ist gleich gegangen, weil sie den Papi so lieb hatte. Ich auch, aber ich hab die Mutter nicht lieb, die ist mir egal, und was die zu meckern hat, ist mir auch egal. Dann stand Stefanie da und wollte weinen, aber das durfte sie nicht, und der Bruder sagte, dass er mich umbringen würde, wenn ich Probleme mache. Dann kamen ein paar Onkels und Tanten, um die blöde Kuh von Mutter zu trösten, und sagten, es sei kein Problem, mich so umzulegen, dass es nach Selbstmord aussieht und dass keiner was dagegen hätte, auch die Mutter nicht. Ich soll nur immer schön tun, was sie sagen. Die können mir doch den Arsch lecken. Mir machen die keine Angst, die Idioten, ist mir doch egal, was die sagen.

Ich sag jedem ins Gesicht, was ich von ihm denke, auch der blöden Lehrerin, die uns verraten hat, weshalb Kathy und Senta halbtot geprügelt wurden und tagelang im Schrank sitzen mussten.

 

»Angela!«, zischt die Mutter und packt sie am Arm. Was ist denn passiert? Alle schauen sie an. Ihren anderen Arm hält der Pastor. Wie kommt der hierher? Eben stand er doch noch am Grab. Auch vor ihm hat sie Angst. Warum nur? Sie kennt ihn seit vielen Jahren. Bald wird er sie konfirmieren, aber immer, wenn sie an seinem Haus vorbeigeht, ist da eine Furcht. Wovor nur?

 

Dass er mich reinholt.

 

Aber sie war doch noch nie in seinem Haus. Was soll denn da schon sein?

»Angela!« Alle sehen sie an. Was hat sie getan? Ich hab doch nichts getan, denkt sie. Aber so etwas sagt sie schon lange nicht mehr. Denn dann wird alles immer nur schlimmer. »Auch noch lügen«, schimpfen sie dann, »das muss noch strenger bestraft werden.« Sie muss aufpassen, sich zusammennehmen. Noch mehr zusammennehmen. Tun, was die anderen erwarten. Was erwarten sie? Jetzt erst sieht sie den Mann, der vor ihr steht. Wie lange steht der schon da? Seine Hand ist ausgestreckt. Auf sie zu. Sie soll ihm die Hand geben. Sie gibt ihm die Hand. Er zieht sie zu sich heran und nimmt sie in den Arm. Hält sie. Dann lockert er den Griff, behält aber ihre Hand in seiner. Er blickt ihr in die Augen und sagt: »Mach das noch einmal, und du bist tot.«

Da sehnt sie sich wieder nach ihrem Vater. Will bei ihm sein. Will neben ihm im Sarg liegen. Will, dass er sie festhält und vor der Welt beschützt. Denn er ist der Einzige, der das kann. Der Einzige, der immer gut zu ihr war. Sie schaut in das Grab und sieht, wie es größer wird. Tiefer. Es kommt auf sie zu. »Wenn Papi wirklich da unten ist«, denkt sie, »will ich bei ihm sein.« Es ist eine Sehnsucht, die sich anfühlt wie ein Sog. Sie stellt sich vor, jetzt einfach neben ihm zu liegen, ganz nah, ganz sicher.

Und so geschieht es.

Heute: Die fremde Frau

Sie öffnete die Augen. Ihre Lider fühlten sich dick an. Dick und heiß. Vom Weinen. Sie schaute sich um. Immer noch war sie in der fremden Wohnung. Lag auf dem Bett. Sie sah zum Fenster. Draußen war es dunkel. War es Abend?

Jeden Moment konnte die Mutter zurückkommen. Auf keinen Fall durfte die sie so sehen. Sie musste ruhig werden. Sich zusammennehmen. Den Überblick gewinnen. Die Kontrolle. Sie hörte auf zu weinen. Richtete sich auf und schüttelte das Kopfkissen zurecht. Drehte es um, damit die Tränenspuren nicht zu sehen waren. Ein Taschentuch. Hier musste sich doch irgendwo ein Taschentuch finden lassen.

Sie war jetzt ziemlich sicher, dass sie bei der Beerdigung das Bewusstsein verloren hatte. Natürlich, sie war wieder mal zusammengeklappt. War ja auch ganz verständlich. Aber so verheult durfte sie trotzdem nicht aussehen, wenn die Mutter zurückkehrte. Mit der Frau musste sie jetzt auskommen.

Sie öffnete den Kleiderschrank und fand ein Männertaschentuch. Ging ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen. Ließ das Wasser laufen, bis es ganz kalt war. Hielt die Handgelenke darunter, bis sie fror. Beugte sich hinab und ließ den Strahl über das Gesicht laufen. Lange. Richtete sich auf und erstarrte vor dem Spiegel: Da war eine Frau im Spiegel.

Aber das war nicht sie. Das war eine erwachsene Frau. Die war alt. Viel älter als sie. Mindestens dreißig oder vierzig Jahre war die alt. Lange Haare hatte sie und sah genauso aus wie die auf dem Bild im Flur.

Sie rannte zurück auf den Flur zum Poster. Aber das war gar kein Poster, das war auch ein Spiegel, das war dieselbe Frau wie im Bad. Langhaarig. Das war nicht sie. Sie hatte kurze Haare. Sie starrte in den Spiegel. Das Bild flackerte, einen Moment sah sie wieder sich selbst, jung, kurzhaarig. Sie griff sich in die Haare. Die Frau im Spiegel machte dasselbe. Beide hatten sie lange Haare. Die Frau im Spiegel trug dieselben zerschnittenen Jeans, sie machte genau dieselben Bewegungen, und dann öffnete sie den Mund.

»Nein«, sagte sie, »das ist nicht wahr.«

Sie wusste, dass sie manchmal für ein paar Stunden ohnmächtig wurde und dass es hinterher oft Schwierigkeiten gab, aber das waren ein paar Stunden oder ein Tag, höchstens mal drei. Oder auch vier. Fünf. Dies hier konnte nicht sein.

Sie lief durch die Wohnung und fand eine Zeitung. »Donnerstag, 9. September 1993« stand da. Auf jedem Blatt. In der Küche hing ein Kalender mit demselben Datum. Dabei war es doch 1975. Der 12. März 1975. Am 11. März war der Papi beerdigt worden. Gestern. Merkwürdige Leute mussten das sein, die hier wohnten. Aber darüber wollte sie nicht nachdenken. Das war unwichtig. Wichtig war: Wie kam sie aus diesem Alptraum heraus? Und aus diesem alten Körper? Wie kam sie wieder in ihre eigene Welt zurück?

Zu Hause anrufen, dachte sie plötzlich und begann, ein Telefon zu suchen. Es stand im Wohnzimmer und sah ganz anders aus als alle Telefone, die sie kannte. Dieses hatte keine Wählscheibe. Zuerst wusste sie nicht, was sie machen sollte, dann drückte sie schließlich auf die Tasten und wählte die Nummer ihrer Mutter. Eine Männerstimme meldete sich. Eine unbekannte Stimme. Sie erschrak und legte auf. Was bedeutete das? Dann fiel es ihr ein: Sie war ja in einer ganz anderen Stadt. Sie hatte die Vorwahl vergessen. Sie wählte erneut. Diesmal meldete sich eine fremde Frau. Wieder wollte sie auflegen, nahm sich dann aber zusammen, fragte: »Könnte ich bitte Frau Bahr sprechen?«

Und hörte, was sie befürchtet hatte: Keine Frau Bahr. Unbekannt. Nie gehört. Stimmt denn die Adresse? Ja, sagte die Stimme auf der anderen Seite. Außerdem wohne man hier schon seit ein paar Jahren.

Wo sind denn dann wir?, fragte sie sich. Sie, die Mutter, der Bruder? So was gibt es nicht. Das passiert im Märchen, nicht im wirklichen Leben. Bei den Heinzelmännchen. Ein Handwerker war das in Köln, der sich mit den Heinzelmännchen eingelassen hatte. Und Dornröschen. Die man gestochen hatte. Aber hier gab es keine Heinzelmännchen, mit denen sie tanzte, während die Jahre vergingen, ohne dass sie es merkte, und schon gar keinen Prinzen, der sie wach küssen könnte. Sie schlief ja noch nicht einmal. Das wäre schön gewesen, aber inzwischen hatte sie sich die Arme schon blau gekniffen und war nicht davon aufgewacht. Offenbar war sie wach. Und offenbar musste sie sich wieder einmal ganz allein zurechtfinden.

Ganz allein.

Ruhig bleiben, dachte sie in ihre Panik hinein. Denn das war das Wichtigste. Wenn sie ruhig blieb, würde alles wieder vorübergehen. So wie immer. Auch wenn etwas weh tat. Oder blutete. Denn auch das ging vorbei.

Über dem Telefon hing ein Zettel an der Wand, den sie jetzt zum ersten Mal sah: »Notfallnummer für alle, die dringend Hilfe brauchen« stand da. Konnte sie dort anrufen? Bei fremden Leuten? Lieber nicht. Oder doch? Aber wenn einer Hilfe brauchte, dann doch sie: eingeschlossen in einen fremden Körper in einer fremden Welt. Etwas ließ sie zögern, aber was hatte sie denn noch zu verlieren? Sie wählte. Eine Stimme meldete sich: »Temberg.« Eine Frauenstimme, freundlich, weich.

»Hallo«, sagte sie zaghaft zu der fremden Stimme, räusperte sich und schwieg. Was sollte sie sagen? Manchmal, das wusste sie schon, kannten Menschen sie, an die sie sich nicht erinnerte. So fragte sie: »Kennen Sie mich?«

Die Frau auf der anderen Seite zögerte, dann erwiderte sie: »Ich glaube ja, aber ich bin nicht ganz sicher.«

Was war das für eine Antwort?

Dann fragte die Frau: »Wer bist du denn?«

»Ich bin Stefanie«, dachte sie, aber sie wusste auch, dass sie sich niemals so nennen durfte. So sagte sie ihren offiziellen Namen: Angela Bahr. Aber die fremde Frau ließ nicht locker. Ob es nicht vielleicht doch noch einen anderen Namen gäbe, wollte sie wissen, einen, den sonst niemand kenne. Einen, den sie nur für sich selbst habe. Sie zögerte, ihr Name war geheim, noch nie hatte sie ihn ausgesprochen. Ein starkes Gefühl warnte sie davor, so als hätte jemand es ihr bei schwerer Strafe verboten. Aber gleichzeitig war da etwas in dieser unbekannten Stimme, dem sie traute. Deshalb verriet sie es ihr schließlich: »Ich heiße Stefanie.«

»Stefanie«, sagte die Stimme, und ihr wurde so wohl, als sie sie hörte, »Stefanie, du brauchst keine Angst zu haben. Sei ganz ruhig, du bist in Sicherheit.«

»In Sicherheit? Aber ich weiß doch überhaupt nicht, wo ich bin. Hier war ich noch nie. Hier ist nur dieser Zettel über dem Telefon, Notrufnummer, deshalb habe ich Sie angerufen. Das ist eine ganz fremde Wohnung. Die gehört irgendwelchen anderen Leuten, die ich noch nie gesehen habe. Ich weiß nicht, wie ich hergekommen bin. Ich kenne die ganze Gegend nicht, das ist ein blödes Dorf hier. Ich wohne in Köln. Ich will nach Hause. Ich will zu meinem Papi. Können Sie mir nicht sagen, wo mein Papi ist?« Sie fing wieder an zu weinen. »Und gleich kommt meine Mutter zurück, dann darf ich nicht weinen.«

»Stefanie, deine Mutter kommt nicht zurück. Du brauchst keine Angst zu haben. Sei ganz ruhig.«

Und irgendwie wurde sie wirklich ruhig bei der Stimme, obwohl sie die Frau überhaupt nicht kannte. Und was die erzählte, war auch eher beunruhigend als beruhigend. Wieso kam ihre Mutter nicht zurück? Und woher konnte diese fremde Frau das wissen?

»Dir geschieht nichts«, fuhr die fort, und Stefanie wollte am liebsten immer nur diese Stimme hören. »Du bist in Sicherheit. Haben dir die anderen das nicht erzählt?«

Das war schon wieder beängstigend: »Welche anderen? Hier sind keine anderen. Ich bin ganz allein in der Wohnung. Hier ist niemand. Nur ein doofer Hund.«

Dann traute sie sich, die gefährliche Frage zu stellen, die sie sonst immer vermied: »Woher kennen Sie mich eigentlich?«

Die Frau machte eine Pause, Stefanie hörte, wie sie Luft holte. Hätte sie das nicht fragen dürfen? Sie spürte eine kleine Unsicherheit in der Stimme der Frau, als die sagte: »Ich kenne dich noch nicht persönlich, Stefanie, aber die anderen haben mir schon sehr viel von dir erzählt. Sie machen eine Therapie bei mir. Ich bin Therapeutin.«

Schon wieder die anderen! Das war jetzt richtig unheimlich, es kannte sie doch keiner. Niemand wusste, dass es Stefanie gab. Niemand durfte es wissen. Sie zögerte, dann wagte sie, nach ihnen zu fragen: »Welche anderen denn bloß?«

»Du wirst sie alle kennenlernen. Sarah und Traute, Martha, Miranda und Magda. Und die anderen. Sie haben dich vermisst. Sie haben sich sehr gewünscht, dass du wiederkommst.«

Das wurde hier immer verrückter. Wie konnte jemand sie vermissen, den sie gar nicht kannte? Die Frau redete wirres Zeug. Sie konnte ihr nicht glauben. Aber sie hatte so eine schöne Stimme, sie sollte weiterreden.

Als ob sie das gehört hätte, fuhr die Frau fort: »Am besten setzt du dich auf einen bequemen Stuhl, Stefanie, und entspannst dich. Du musst ruhig werden.«

Das sagte sie sich ja selbst schon immer. Aber jeden Moment konnten hier fremde Leute reinkommen, und dann musste sie doch wissen, wo sie war. »Hier ist alles so komisch«, fiel ihr wieder ein, »ich versteh das nicht. Zeitungen liegen rum mit dem falschen Datum. Ich hab Sachen an, die ich nicht kenne. Meine sind das bestimmt nicht. Im Spiegel hab ich lange Haare, dabei sind meine Haare doch ganz kurz. Alles ist so unwirklich. Ich hab solche Angst.«

Die Frau machte eine lange Pause. Stefanie wurde schwach vor Panik: »Sind Sie noch da?«

»Ja, Stefanie, und ich lege nicht auf, bevor du beruhigt bist. Kennst du das nicht, dass manchmal Zeit vergeht, ohne dass du es merkst? Diesmal ist eben etwas mehr Zeit vergangen.«

Und ob sie das kannte. Aber bisher hatte sie geglaubt, nur ihr passierte so was. Hin und wieder hatte sie vorsichtig danach gefragt. In ihrer Klasse, bei Freundinnen. Aber die konnten alle wie aus der Pistole geschossen erzählen, was sie gestern Abend gemacht hatten oder am vorigen Wochenende; und ganz genau wussten alle, wo sie in den letzten Ferien gewesen waren. Nur Stefanie hatte keine Ahnung. Aber das durfte niemand wissen. Kannte die fremde Frau das etwa auch?

»Du wirst das alles verstehen, Stefanie. Ich verspreche dir, dass ich dir alles erkläre, wenn wir uns sehen. Aber jetzt musst du dahin zurückgehen, wo du hergekommen bist.«

Was sollte denn das nun wieder? Wo sie hergekommen war? Stefanie war vollkommen verwirrt: »Ich weiß nicht, woher ich gekommen bin. Ich war zuletzt am Grab von meinem Vater. Da soll ich wieder hin?«

Die Frau seufzte ganz leicht. Stefanie erschrak: War das jetzt wieder falsch gewesen?

»Stefanie«, sagte die Stimme im Telefon dann, sanft und ernst, »ich möchte jetzt gern mit Sarah sprechen. Das geht aber nur, wenn du ruhig und entspannt bist.«

»Aber hier ist keine Sarah! Hier ist niemand. Hab ich Ihnen doch gesagt! Nur ich. Ich hab jeden Raum durchsucht.« Sie spürte, wie ihr wieder die Tränen in die Augen stiegen. Was wollte diese Frau?

»Mach einfach mal die Augen zu, und dann stell dir vor, dass du dich umdrehst. Was siehst du dann?«

»Die Wand! Hinter mir ist die Wand.«

»Bitte vertrau mir, Stefanie, ich will dir wirklich helfen. Wenn du die Augen schließt und dir vorstellst, dass du ganz nach innen gehst, an einen sicheren Ort, wo dir nichts passieren kann, dann kannst du dich erst eine Weile ausruhen, und später sprechen wir wieder miteinander. Ist das in Ordnung?«

Sie verstand kein Wort, aber sie wollte der Frau so gern vertrauen. Sie machte einen Versuch und schloss die Augen.

Riss sie aber sofort wieder auf. »Nein! Ich bin doch nicht verrückt. Immer wenn ich die Augen zumache, passiert was. Dann verschwinde ich wieder, und wer weiß, wie viel Zeit vergeht, und dann tauche ich irgendwo auf, bin eine alte Frau und mein Leben ist vorbei.«

»Ich verspreche dir, dass das nicht geschieht, Stefanie. Ich werde dir alles erklären, wenn wir uns sehen. Dann werde ich dich zurückholen, damit wir uns kennenlernen können.«

»Hm.«

»In Ordnung?«

»Wann denn?«

»In vier Tagen.«

»Wann ganz genau?«

»Am nächsten Montag, das ist der 13. September. Genau um zwanzig Minuten nach fünf am Nachmittag.«

»Hm.«

»In Ordnung?«

»Hm.«

»Ja?«

»Ja.«

»Gut, Stefanie«, sagte die Stimme, auf der man sich so wunderbar ausruhen konnte, obwohl sie komisches Zeug redete. »Nun schließe die Augen und geh nach innen. Dann kannst du dir erst mal alles aus der Ferne anschauen. Von einem sicheren Ort aus. Sarah wird dir helfen. Jetzt wirst du ganz ruhig und gehst nach innen. Du drehst dich um, und dann gehst du langsam den Weg zurück, den du gekommen bist. Und meine Stimme begleitet dich dabei.«

Stefanie schloss die Augen. Da war es dunkel, sie sah nichts. Nach innen sollte sie gehen. Nach innen? Wie denn? Was war das für ein sicherer Ort? Wenn es so etwas gab. Der Sarg von Papi war ihr gestern sicher erschienen. Doch jetzt sah sie ja, wohin das geführt hatte. Nichts war sicher. Aber ein bisschen ausruhen konnte sie vielleicht. War anstrengend genug.

Ganz schön, dass es so dunkel war. Und warm. Gemütlich. Aus der Ferne hörte sie die Stimme der Frau. Auch das war angenehm. Schöne Stimme.

»Sarah«, sagte die Stimme, leise, aus der Ferne. »Ich möchte nun gern mit Sarah sprechen. Wenn es möglich ist, dass Sarah kommt, möchte ich gern mit Sarah sprechen.«

Alles blieb still.

Die Frau sprach ruhig weiter, es fühlte sich an, als ob eine leichte, weiche Decke Stefanie einhüllte, warm und sicher. Oder wie Sonnenstrahlen, die die Haut wärmen, wenn man irgendwo auf einer einsamen sicheren Insel sitzt. So wie Stefanie jetzt. Kaum hörte sie noch, was die Frau sagte: »Ich bleibe einfach so lange am Telefon, bis Sarah zu mir kommt. Wenn Sarah da ist, wird sie mit mir sprechen.«

Aber da war keine Sarah.

Da war niemand mehr.

Minutenlang wiederholte die Frau am Telefon ihre Bitte. Gelassen, zuversichtlich und geduldig: »Wo auch immer Sarah jetzt ist, sie wird mich hören und meiner Stimme folgen und zu mir kommen. So lange bleibe ich hier und warte auf sie.«

Nichts.

»Ich spreche einfach so lange weiter, bis Sarah mich hört. Ich weiß, dass Sarah mich hört. Sie wird zu mir kommen und mir antworten.«

Auf einmal hörte Stefanie aus der Ferne eine Stimme, besonnen und gleichmäßig. Gleichmütig. Hörte, wie die beiden Stimmen miteinander sprachen, wie ein Gemurmel, ohne dass sie den Sinn der Worte verstand.