Lese-/Rechtschreibstörung (LRS) - Gerd Schulte-Körne - E-Book

Lese-/Rechtschreibstörung (LRS) E-Book

Gerd Schulte-Körne

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Beschreibung

Der Leitfaden beschreibt praxisorientiert das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei Lese-/Rechtschreibstörungen (LRS). Zunächst wird ein Überblick über den Stand der Forschung bezüglich der Symptomatik, Klassifikation, Epidemiologie und Ätiologie, des Verlaufs sowie der Förderung und Früherkennung der Störung gegeben. Ausführlich werden Leitlinien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle, zur Behandlungsindikation und Intervention formuliert und ihre Umsetzung in die Praxis dargestellt. Das Vorgehen bei der familiären und schulischen Exploration sowie bei der Exploration des Betroffenen im Rahmen der klinischen Untersuchung wird geschildert. Testverfahren zur Erfassung der Lese- und/oder Rechtschreibleistungen sowie der Intelligenz werden beschrieben. Zudem wird auf die Diagnostik von psychischen Begleitstörungen sowie von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache eingegangen. Die Behandlungsleitlinien umfassen die familiäre, schulische und außerschulische Förderung, beschreiben wirksame Interventionsprogramme, gehen auf Ansätze zur Prävention und Frühförderung ein und nehmen auch Bezug auf die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Deutsch als Zweitsprache. Materialien, die zur Diagnostik und Therapie eingesetzt werden können, sowie ein Fallbeispiel runden den Leitfaden ab.

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Gerd Schulte-Körne

Katharina Galuschka

Lese-/Rechtschreibstörung (LRS)

Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie

Band 26

Lese-/Rechtschreibstörung (LRS)

Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne, Dr. Katharina Galuschka

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Manfred Döpfner, Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Prof. Dr. Franz Petermann

Begründer der Reihe:

Manfred Döpfner, Gerd Lehmkuhl, Franz Petermann

Prof. Dr. med. Gerd Schulte-Körne, geb. 1961. 1981-1988 Studium der Medizin in Aachen und Marburg. 1989-1994 Facharztausbildung in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Philipps-Universität Marburg. 1991 Promotion. 1999 Habilitation. Seit 2006 Inhaber des Lehrstuhls für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Klinikum der Universität München.

Dr. Katharina Galuschka, geb. 1986. 2007-2011 Studium der Pädagogik, Psychologie und Soziologie in München. Seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität München. 2015 Promotion.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar

Format: EPUB

1. Auflage 2019

© 2019 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2721-8; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2721-9)

ISBN 978-3-8017-2721-5

http://doi.org/10.1026/02721-000

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Anmerkung:

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Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

Der vorliegende Leitfaden bietet allen Berufsgruppen, die an der Diagnostik und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung beteiligt sind, eine umfassende Informationsgrundlage und hält konkrete Handlungsempfehlungen bereit. Ziel ist es, evidenzbasiertes Wissen in verständlicher Weise für die Praxis darzustellen und auf der Basis der aktuellen S3-Leitlinie die Umsetzung der Empfehlungen zur Diagnostik und Förderung anschaulich und übersichtlich zu präsentieren.

Der Leitfaden unterteilt sich in fünf Kapitel:

1 Zunächst werden die theoretischen Grundlagen vermittelt, die notwendig sind, um eine Diagnostik, Förderung und Beratung nach den Handlungsempfehlungen in Kapitel 2 durchzuführen. Hierzu gehören die Beschreibung der Symptomatik einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung, der Klassifikation, der Prävalenzen, der Ursachen sowie der Entwicklungsverläufe.

2 Kapitel 2 beginnt mit den Leitlinien zur Diagnostik. Neben der psychometrischen Diagnostik der Lese- und/oder Rechtschreibleistungen, der Intelligenz und möglicher Komorbiditäten beschreibt der Leitfaden die wichtige klinische Untersuchung und stellt einen Gesprächsleitfaden und einen Anamnesebogen bereit. Zusätzlich wird die Diagnostik von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache dargestellt. Handlungsempfehlungen zu Förderung von Kindern und Jugendlichen finden sich in Kapitel 2.3. Dabei wird neben wirksamer Förderansätze auch auf relevante Bedingungen im Förderumfeld (z. B. Beginn, Setting, Dauer) eingegangen.

3 Das dritte Kapitel beschreibt Verfahren, die zur Diagnostik und Verlaufskontrolle in der Praxis eingesetzt werden können. Es gibt zahlreiche Förderprogramme und Materialen, die versprechen, die schriftsprachlichen Fähigkeiten betroffener Kinder zu verbessern oder sogar eine „Heilung“ herbeizuführen. Hilfreiche und in ihrer Wirksamkeit bestätigte Förderprogramme sind in Kapitel 3.2 beschrieben.

4 In Kapitel 4 werden hilfreiche Materialien zusammenfassend dargestellt.

5 Das Buch schließt im fünften Kapitel mit einem Fallbeispiel, anhand dessen der Ablauf der Diagnostik bis zur Förderung beispielhaft beschrieben wird.

Der Leitfaden plädiert insgesamt für eine enge Zusammenarbeit zwischen der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Schule, Elternhaus und außerschulischen Fördereinrichtungen. Gemeinsam können auf der Basis einer evidenzbasierten Diagnostik und Förderung die vorhandenen Ressourcen optimal aufeinander abgestimmt und dafür eingesetzt werden, für Kinder mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung einen erfolgreichen Lese- und Rechtschreiberwerb zu ermöglichen.

Dieser Leitfaden wird durch einen kompakten Ratgeber für Betroffene, Eltern und Lehrer (Schulte-Körne & Galuschka, 2019) ergänzt. Der Ratgeber bietet wichtige Basis|VI|informationen zur Lese- und/oder Rechtschreibstörung und gibt konkrete Empfehlungen zur Hilfe und Unterstützung betroffener Kinder und Jugendlicher zu Hause, in der Schule und bei der außerschulischen Lernförderung.

München, September 2018

Gerd Schulte-Körne und Katharina Galuschka

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

1 Stand der Forschung

1.1 Symptomatik

1.2 Klassifikation nach ICD-10 und DSM-5

1.3 Prävalenz

1.4 Ätiologie

1.4.1 Genetik

1.4.2 Neurobiologische und neuropsychologische Korrelate

1.4.3 Psychosoziale Einflussfaktoren

1.5 Verlauf

1.6 Förderung

2 Leitlinien

2.1 Leitlinien zur Diagnostik

2.1.1 Diagnostische Kriterien

2.1.2 Klinische Untersuchung

2.1.3 Körperliche Untersuchung

2.1.4 Psychometrische/testpsychologische Untersuchung

2.1.5 Diagnostischer Entscheidungsbaum

2.1.6 Verlaufskontrolle

2.1.7 Früherkennung von Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben

2.1.8 LRS-Diagnostik von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache

2.2 Beratung betroffener Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien

2.3 Leitlinie zur Behandlungsindikation

2.4 Leitlinien zur Förderung bei der Lese- und/oder Rechtschreibstörung

2.4.1 Evidenzbasierte Förderansätze

2.4.2 Förderbeginn

2.4.3 Förderdauer

2.4.4 Fördersetting

2.4.5 Schriftliches Material und Fördermaterial

2.4.6 Schulische Förderung

2.4.7 Nachteilsausgleich und Notenschutz

2.4.8 Außerschulische (ambulante) Therapie

2.4.9 Eingliederungshilfe

2.4.10 Familiäre Unterstützung

2.4.11 Interdisziplinäre Kooperation

2.4.12 Integrative Behandlung von Komorbiditäten und psychische Auffälligkeiten in der Lernförderung

2.4.13 Förderung von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache

2.4.14 Prävention und Frühförderung im Kindergarten- und Vorschulalter

2.4.15 Förderung – eine Zusammenfassung

3 Verfahren zur Diagnostik und Therapie

3.1 Verfahren zur Diagnostik

3.1.1 DERET 1-2+ und DERET 3-4+: Deutscher Rechtschreibtest für das erste und zweite bzw. für das dritte und vierte Schuljahr

3.1.2 DERET 5-6+: Deutscher Rechtschreibtest für das fünfte und sechste Schuljahr

3.1.3 DRT 4 und DRT 5: Diagnostischer Rechtschreibtest für 4. Klassen bzw. für 5. Klassen

3.1.4 ELFE II: Ein Leseverständnistest für Erst- bis Siebtklässler

3.1.5 LESEN 6-7 und 8-9: Lesetestbatterie für die Klassenstufen 6 – 7 und 8 – 9

3.1.6 RST-ARR: Rechtschreibtest – Neue Rechtschreibregelung

3.1.7 SLRT-II: Lese- und Rechtschreibtest

3.1.8 WLLP-R: Würzburger Leise Leseprobe – Revision

3.2 Verfahren zur Therapie

3.2.1 Flüssig lesen lernen

3.2.2 Kieler Leseaufbau

3.2.3 Lautgetreue Lese-Rechtschreibförderung

3.2.4 Lesespiele mit Elfe und Mathis

3.2.5 Das Marburger Rechtschreibtraining

4 Materialien

5 Fallbeispiel

5.1 Angaben zur aktuellen Symptomatik

5.2 Anamnese

5.3 Untersuchungsbefunde

5.4 Diagnose

5.5 Behandlungs- und Förderplan

5.6 Therapieverlauf

6 Literatur

|1|1 Stand der Forschung

1.1 Symptomatik

Eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung bezeichnet anhaltende und bedeutsame Schwächen im Erlernen des Lesens und/oder Rechtschreibens, wenn diese nicht auf das Entwicklungsalter, eine weit unterdurchschnittliche Intelligenz, eine nicht ausreichende Beschulung, unzureichende Beherrschung der Unterrichtssprache, widrige psychosoziale Umstände, unkorrigierte Seh- oder Hörstörungen, neurologische oder psychische Erkrankungen zurückzuführen sind. Eine Lesestörung äußert sich durch sehr viele Fehler beim lauten Vorlesen sowie durch eine deutlich herabgesetzte Lesegeschwindigkeit von Wörtern und Texten. Dadurch ist auch das Leseverständnis beeinträchtigt und alle Alltagsanforderungen, für die entsprechend Lesefähigkeiten erforderlich sind.

Eine Rechtschreibstörung zeigt sich durch eine deutlich erhöhte Fehleranzahl beim Wort- oder Textschreiben. Die Art der Rechtschreibfehler erlaubt keinen Rückschluss darauf, ob eine Rechtschreibstörung vorliegt. Die Rechtschreibstörung zeigt sich auch in der Verschriftlichung der Fremdsprachen.

Im Laufe der schulischen Entwicklung tritt nicht selten eine Abnahme der Symptomatik auf, meist bleiben jedoch deutliche Unsicherheiten im Rechtschreiben und eine geringe Lesegeschwindigkeit bestehen.

Die Symptome der Lesestörung äußern sich häufig bereits in den ersten Wochen des Erstleseunterrichts. Betroffene Kinder zeigen meist große Unsicherheiten bei der Unterscheidung und dem Erkennen von Graphemen1- und Phonemen2 und demnach auch große Schwierigkeiten beim Einprägen der Graphem-Phonem-Korrespondenzen. Durch die fehlende Verinnerlichung der Graphem-Phonem-Korrespondenz lesen die Kinder häufig sehr stockend und fehlerhaft. Im weiteren Verlauf der Leseentwicklung ist das automatisierte Lesen durch mangelnde Gedächtnisrepräsentationen und einen verzögerten Abruf von Wörtern und Wortteilen aus dem Gedächtnis oftmals verlangsamt und fehlerhaft. Durch das langsame und ungenaue Lesen erreichen die Betroffenen häufig auch kein altersgerechtes Leseverständnis und aus dem Gelesenen können nur schwer Zusammenhänge erkannt werden.

|2|Zusammenfassend können folgende Probleme auf eine Lesestörung hinweisen:

Hinweise für eine Lesestörung

Schwierigkeiten beim „Zusammenlauten“ zu Wörtern (Laute werden fehlerhaft verbunden oder einzelne ausgelassen.

Nennen des ersten Buchstabens, dann Raten eines Wortes.

Auslassen, Ersetzen oder Hinzufügen von Wörtern oder Wortteilen (z. B. Fahrten statt Fahrkarten).

Ersetzen von Wörtern durch ein in der Bedeutung ähnliches Wort (z. B. durch den Zusammenhang wird „farbig“ zu „bunt“).

Sehr niedrige Lesegeschwindigkeit.

Startschwierigkeiten beim Vorlesen, langes Zögern oder Verlieren der Zeile.

Nicht sinnhaftes Betonen beim Vorlesen.

Sinnhafte Wiedergabe von Gelesenem nicht möglich.

Schwierigkeiten des Erkennens von Zusammenhängen aus dem Gelesenen.

Eine Rechtschreibstörung tritt ebenfalls häufig gleich mit Beginn des Schriftspracherwerbs auf und kann sich zunächst durch Schwierigkeiten bei der Unterscheidung von Phonemen und Graphemen, der Graphem- und Phonemerkennung sowie der Segmentierung der Sprechwörter in einzelne Phoneme zeigen. Das Erlernen und Einprägen der Phonem-Graphem-Beziehungen ist oftmals erschwert und so kann es zu Schreibungen kommen, die in keinem oder nur geringem lautlichen Zusammenhang mit dem gesprochenen Zielwort stehen.

Im weiteren Verlauf sind Schwierigkeiten im Einprägen der korrekten Schreibweise von Wortbestandteilen und Wörtern zu beobachten. Die betroffenen Kinder haben große Schwierigkeiten, orthografische Regelmäßigkeiten implizit zu verinnerlichen und Wörter regelkonform zu schreiben.

Zusammenfassend können folgende Probleme auf eine Rechtschreibstörung hinweisen:

Hinweise für eine Rechtschreibstörung

Probleme im Segmentieren ganzer Wörtern in einzelne Phoneme (Einzellaute können nicht herausgehört werden).

Schwierigkeiten in der Zuordnung von Phonemen zu Graphemen (z. B.: Wortruinen wie Rs statt Rose oder Ban statt Baum).

Verschriftlichte Buchstaben stehen in keinem lautlichen Zusammenhang mit dem zu schreibenden Wort (z. B. Los statt Esel).

Buchstabenauslassungen, -umstellungen, -hinzufügungen (z. B. Tefle statt Telefon).

Schwierigkeiten in der Verschriftlichung von Konsonantenhäufungen (z. B. Kone statt Krone).

Probleme im Einprägen der korrekten Schreibweise eines Wortes (z. B. nathürlich statt natürlich).

|3|Hohe Fehlerzahl beim Schreiben von Wörtern, Sätzen und Texten in Diktaten und beim Anschreiben.

Grammatik- und Interpunktionsfehler.

Unleserliche Handschrift.

Die beschriebenen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben sind bereits zu Beginn des Schriftspracherwerbs zu beobachten. Die Art der Rechtschreibfehler erlaubt keinen Rückschluss darauf, ob eine Rechtschreibstörung vorliegt. Entscheidend ist die Häufigkeit der Rechtschreibfehler, die trotz intensiver Bemühungen im Lernen bestehen bleiben. Allerdings ermöglicht die Analyse der Rechtschreibfehler, die Rechtschreibförderung auf die spezifischen Fehlerschwerpunkte des Kindes zu fokussieren. Kindern mit einer Rechtschreibstörung fällt auch der Umgang mit gut geübtem Wortmaterial außerordentlich schwer. Die gleichen Wörter werden immer wieder auf die unterschiedlichsten Arten falsch geschrieben. Lernfortschritte sind nur durch intensive Förderung, großes Durchhaltevermögen und Ausdauer zu erzielen. Die Lese- und/oder Rechtschreibstörung zeigt sich nicht nur im Deutschen, sondern auch in Fremdsprachen beim Lesen und/oder Schreiben sowie in der Mathematik und allen anderen Unterrichtsfächern, wenn Lesefähigkeiten gefordert sind (z. B. bei Textaufgaben, dem Verinnerlichen von Tafelbildern, schriftlichen Aufgabenstellungen etc.).

Kinder mit einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung versuchen häufig, ihre Schwierigkeiten zu verbergen und entwickeln aufwendige Kompensationsstrategien. Einige Kinder lernen ganze angekündigte Diktate oder Lesetexte auswendig und schaffen es so, manchmal sogar über mehrere Jahrgangsstufen hinweg, ihre Lese- und Rechtschreibleistungen im durchschnittlichen Bereich zu halten. Bei zunehmendem Anforderungsniveau in höheren Klassen gelingt dies häufig nicht mehr, die Schulleistungen der Kinder nehmen rapide ab und die Lese- und/oder Rechtschreibstörung wird erkennbar.

Schüler und Schülerinnen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörungen sehen sich häufig kaum zu bewältigenden Leistungsanforderungen ausgesetzt. Betroffene erleben, wie ihren Klassenkameraden der Schriftspracherwerb deutlich besser gelingt. Sie selbst sind jedoch kontinuierlich Misserfolgen ausgesetzt, die zu gravierenden Versagensängsten und negativen Fähigkeitsselbstkonzepten führen können. Die Komorbidität externalisierender und internalisierender Störungen ist dementsprechend sehr hoch.

Merke

Die Lesestörung äußert sich durch ausgeprägte Schwierigkeiten in der Lesegenauigkeit, Lesegeschwindigkeit und im Leseverständnis.

Die Rechtschreibstörung tritt durch eine außerordentlich hohe Anzahl an Rechtschreibfehlern in Erscheinung.

|4|Es gibt keine charakteristische Fehlertypologie bei der Lese- und/oder Rechtschreibstörung. Alleine durch die Art der Fehler lässt sich die Diagnose nicht ableiten.

Betroffene Kinder versuchen, ihre Schwierigkeiten so gut es geht zu verbergen und vielen gelingt dies auch über einen längeren Zeitraum.

Die schulische Überforderung kann bei einigen Kindern zu psychiatrischen Erkrankungen führen oder diese verstärken.

1.2 Klassifikation nach ICD-10 und DSM-5

Für die Klassifikation der Lese- und/oder Rechtschreibstörung wird die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) verwendet. In Deutschland steht für die Klassifikation psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter das auf der ICD-10 basierende Multiaxiale Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters (Remschmidt, Schmidt & Poustka, 2012) zur Verfügung. Im deutschen Gesundheitswesen Tätige sind nach §§ 295 und 301 SGB V zur Diagnoseverschlüsselung nach ICD-10 verpflichtet. In den USA kommt in der Forschung überwiegend das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM-5) der American Psychiatric Association zur Anwendung.

Die diagnostischen Kriterien und Merkmale für die Lese- und/oder Rechtschreibstörung sind in der ICD-10 und dem DSM-5 ähnlich, unterscheiden sich jedoch in einigen Punkten (Schulte-Körne, 2014). In der ICD-10 wird lediglich zwischen der Lese-Rechtschreibstörung (F81.0) und der isolierten Rechtschreibstörung (F81.1) unterschieden, die zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten gehören.

Als Hauptmerkmal der Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0) nennt die ICD-10

[…] eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wieder zu erkennen, vorzulesen und Leistungen, für welche Lesefähigkeit nötig ist, können sämtlich betroffen sein. Bei umschriebenen Lesestörungen sind Rechtschreibstörungen häufig und persistieren oft bis in die Adoleszenz, auch wenn einige Fortschritte im Lesen gemacht werden […] (Dilling, Mombour & Schmidt, 2015, S. 334).

|5|Das Hauptmerkmal der isolierten Rechtschreibstörung (F81.1) besteht laut ICD-10

[…] in einer umschriebenen und eindeutigen Beeinträchtigung in der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeiten, ohne Vorgeschichte einer Lesestörung. Sie ist nicht allein durch ein zu niedriges Intelligenzalter, durch Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar. Die Fähigkeiten, mündlich zu buchstabieren und Wörter korrekt zu schreiben, sind beide betroffen. […] (Dilling et al., 2015, S. 337).

Das von der American Psychiatric Asociation herausgegebene Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (DSM-5, APA/Falkai et al., 2015) fasst die schulischen Entwicklungsstörungen der ICD-10 zu den spezifischen Lernstörungen zusammen, mit den verschiedenen spezifischen Ausprägungen im Bereich des Lesens, Rechtschreibens und Rechnens.

Das DSM-5 klassifiziert im Unterschied zur ICD-10 auch eine isolierte Lesestörung. Zudem werden die Schwierigkeiten beim Schreiben deutlich umfassender beschrieben, da nicht nur die Rechtschreibschwierigkeiten eingeschlossen, sondern auch Schwierigkeiten beim schriftlichen Ausdruck, die sich durch Fehler in der Grammatik und Zeichensetzung sowie bei der strukturellen und inhaltlichen Textproduktion äußern.

Unterschiede zwischen den beiden Klassifikationssystemen ergeben sich ebenfalls in den Angaben zum diagnostischen Kriterium. In der ICD-10 wird die Anwendung des dreifachen Diskrepanzkriteriums empfohlen. Das bedeutet, die Leistungen müssen sich unterhalb des Niveaus, das aufgrund des chronologischen Alters, der Klassenstufe und der allgemeinen Intelligenz zu erwarten wäre, befinden. Das DSM-5 hingegen verzichtet auf eine IQ-Diskrepanz und empfiehlt die Anwendung eines Altersdiskrepanzkriteriums. Die Erfassung der Leistungen soll durch individual angewandte, standardisierte Tests erfolgen und die Schwierigkeiten sollen trotz angemessener Förderung seit mindestens 6 Monaten bestehen. Zudem betont das DSM-5 neben der Anwendung standardisierter Leistungstests die klinische Diagnose. Diese basiert auf einer Entwicklungs- und Familienanamnese, klinischem Interview, Schulbericht und einer psychiatrischen Differenzialdiagnostik.

Einen Überblick über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der diagnostischen Kriterien gibt Tabelle 1.

Die Zweckmäßigkeit der Einbeziehung der Intelligenz bei der Diagnose einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung ist höchst umstritten. Es existieren einige Veröffentlichungen, die Kinder und Jugendliche, deren Diagnosestellung der Lese- und/oder Rechtschreibstörung auf dem IQ-Diskrepanzkriterium beruht, mit Kindern und Jugendlichen vergleichen, |6|deren Diagnose auf Grundlage einer Altersabweichung gestellt wurde. Diese Studien vergleichen die beiden Gruppen hauptsächlich anhand neuropsychologischer Verhaltensdaten (Hoskyn & Swanson, 2000; Stuebing et al., 2002), der Therapierbarkeit (Jiménez et al., 2003; Weber, Marx & Schneider, 2002), des Störungsverlaufs (Francis, Shaywitz, Stuebing, Shaywitz & Fletcher, 1996; Wright & Cashdan, 1991) und der Genetik (Pennington, Gilger, Olson & DeFries, 1992; Remschmidt, Hennighausen, Schulte-Körne, Deimel & Warnke, 1999; Schulte-Körne, Deimel, Müller, Gutenbrunner & Remschmidt, 1996), können aber keine eindeutigen Unterschiede zwischen den beiden Diagnosegruppen feststellen. Das Kriterium der IQ-Diskrepanz diagnostiziert demnach nicht grundsätzlich eine eindeutig andere Gruppe an Betroffenen.

Tabelle 1: Vergleich der diagnostischen Kriterien nach ICD-10 und DSM-5

Klassifikation

ICD-10

DSM-5

Einordnung

Zweite Achse: Umschriebene Entwicklungsrückstände

Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung

F81 Umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten

Spezifische Lernstörung

F81.0 Lese-Rechtschreibstörung

F81.1 isolierte Rechtschreibstörung

F81.0 Mit Beeinträchtigung beim Lesen

F81.81 Mit Beeinträchtigung beim schriftlichen Ausdruck

Diagnostische Kriterien: Betroffene Fertigkeiten

Lesegenauigkeit

Lesegenauigkeit

Lesegeschwindigkeit/-flüssigkeit

Leseverständnis

Leseverständnis

Rechtschreibung

Rechtschreibung

Grammatik und der Zeichensetzung

Schriftlicher Ausdruck

Fertigkeiten liegen mindestens zwei Standardabweichungen unterhalb des Niveaus, das aufgrund des chronologischen Alters, der Beschulung und der allgemeinen Intelligenz zu erwarten wäre.

Fertigkeiten liegen mindestens 1,5 Standardabweichungen unter dem Niveau, das aufgrund des chronologischen Alters der Person zu erwarten wäre.

|7|Einschluss

Schwierigkeiten bestehen seit mindestens 6 Monaten

Wenn die klinische Einschätzung den Eindruck bestätigt, kann bei Leistungen ab 1,0 SD unter dem Durchschnitt der Altersgruppe in der Normierungsstichprobe die Diagnose gestellt werden.

Ab 17 Jahren kann eine dokumentierte Vorgeschichte von beeinträchtigenden Lernschwierigkeiten die standardisierte Untersuchung ersetzen.

Schwierigkeiten behindern die Schulausbildung oder alltägliche Tätigkeit, die Lese- oder Rechtschreibfertigkeiten erfordern.

Schwierigkeiten führen zu einer deutlichen Beeinträchtigung der schulischen oder beruflichen Leistung oder von Aktivitäten des täglichen Lebens.

Beeinträchtigung liegt mit Beginn des Schriftspracherwerbs vor und wurde nicht in der späteren Schullaufbahn erworben.

Die Lernschwierigkeiten beginnen im Schulalter, aber es kommt vor, dass sie sich erst dann vollständig manifestieren, wenn die Anforderungen an die betroffenen schulischen Fertigkeiten die individuelle Leistungskapazität der Person überschreiten.

Ausschluss

Schwierigkeiten bedingt durch eine neurologische Krankheit

Andere neurologische Störungen

Schwierigkeiten sind bedingt durch Seh- oder Hörstörungen

Unkorrigierte Seh- oder Hörminderungen

Nonverbaler IQ < 70

Intellektuelle Beeinträchtigungen

Erworbene Alexie und Dyslexie (R48.0)

|8|Erworbene Leseverzögerung infolge emotionaler Störung (F93.-)

Andere psychische Störungen

Unzulänglichkeiten in der Beschulung

Unzureichende Beschulung und Unterrichtung

Unzureichende Beherrschung der Unterrichtssprache

Extreme Unzulänglichkeiten in der Erziehung

Widrige psychosoziale Umstände

Schweregrad

Leicht: Einzelne Schwierigkeiten erkennbar; Kompensation durch Modifikation von Aufgabenstellungen und angemessene Unterstützung möglich.

Mittel: Deutliche Schwierigkeiten erkennbar, intensive und spezielle Förderung während der Schulzeit phasenweise nötig, Aufgabenmodifikation und Unterstützung zu Hause und am Arbeitsplatz kann nötig sein, um Aufgaben erledigen zu können.

Schwer: Stark ausgeprägte Schwierigkeiten erkennbar; intensive, individuelle und spezielle Förderung während der Schulzeit dauerhaft nötig, trotz Aufgabenmodifikation und Unterstützung zu Hause und am Arbeitsplatz keine effiziente Erledigung der täglichen Aufgaben möglich.

Das leitliniengerechte Vorgehen zur Diagnosestellung einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung wird in Kapitel 2 vorgestellt.

|9|Merke

Für die Klassifikation in Deutschland wird die ICD-10 verwendet.

In der ICD-10 wird zwischen der Lese-Rechtschreibstörung (F81.0) und der isolierten Rechtschreibstörung (F81.1) unterschieden.

International kommt das DSM-5 zum Einsatz, das spezifische Lernstörungen mit den verschiedenen Ausprägungen im Bereich des Lesens, Rechtschreibens und Rechnens klassifiziert.

1.3 Prävalenz

In der ICD-10 wird betont, dass die Lesestörung meist gemeinsam mit einer Rechtschreibstörung auftritt. Aktuelle Forschungen konnten jedoch belegen, dass bei 4 bis 7 % einer Schulpopulation isolierte Lesestörungen auftreten, ohne dass gravierende Schwächen im Rechtschreiben zu beobachten sind (Fischbach et al., 2013; Landerl & Moll, 2010; Moll et al., 2014; Wimmer & Mayringer, 2002).

Für die isolierte Rechtschreibstörung geben Studien Prävalenzzahlen von 2 % bis 9 % an. Die kombinierte Lese-Rechtschreibstörung zeigt sich zu 2 bis 6 % der Fälle (siehe Tabelle 2).

Für alle Studien variieren die Prävalenzzahlen sehr stark. Dies hängt mit den heterogenen diagnostischen Vorgehensweisen und -kriterien zusammen. Je nach Studie werden andere Kriterien (IQ-Diskrepanzkriterium oder reine Abweichung zur Klassennorm), Testmaße (nur Leseflüssigkeit oder Leseflüssigkeit und Leseverständnis) und Abweichungen vom mittleren Lese- und Rechtschreibniveau für die Diagnose einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung verwendet. Neben den Kriterien beeinflusst das Ausmaß der Minderleistung die Prävalenzangabe maßgeblich. Dieses Ausmaß wird mit Minderleistungen von 1 bis 2 Standardabweichungen unter dem Durchschnitt angegeben. Je höher die Standardabweichung ist desto geringer ist die Prävalenzangabe.

Merke

Zur Häufigkeit der Lese- und/oder Rechtschreibstörung geben Studien

2 % bis 9 % für die isolierte Rechtschreibstörung,

4 bis 7 % für die isolierte Lesestörung und

2 bis 6 % für die kombinierte Lese-Rechtschreibstörung an.

|10|Tabelle 2: Prävalenz der Lese- und/oder Rechtschreibstörung

Studie

N

Kriterium

LS isoliert

RS isoliert

Kombiniert

Rutter et al. (2004)

5 752

PR 15

5.1 %

von Aster, Schweiter, Weinhold-Zulauf (2007)

337

1.5 SD

2.4 %

3.3 %

Dirks, Spyer, van Lieshout & de Sonneville (2008)

799

PR 25

19.9 %

14.5 %

PR 10

8.0 %

Landerl & Moll (2010)

2 586

1.5 SD

7.0 %

8.8 %

5.6 %

Fischbach et al. (2013)

2 195

1.0 SD

4.6 %

5.7 %

3.8 %

Moll, Kunze, Neuhoff, Bruder & Schulte-Körne (2014)

1 633

1.0 SD

6.49 %

6.67 %

3.74 %

1.25 SD

5.14 %

6.86 %

2.33 %

1.5 SD

3.80 %

5.02 %

1.78 %

Fortes, Paula, Oliveira, Bordin, de Jesus Mari & Rohde (2016)

1 618

1,5 SD

7,5 %

5,4 %

|11|1.4 Ätiologie

Genauso heterogen wie das Störungsbild selbst zeigen sich auch die vermuteten Ursachen hinter der Lese- und/oder Rechtschreibstörung. Im Folgenden werden die bedeutsamen Erkenntnisse zur Ursachenklärung aus den letzten Jahren beschrieben. Bis heute sind die Ursachen kaum verstanden, die meisten Studien beschreiben Gruppenunterschiede zwischen Kindern mit und ohne Lese- und/oder Rechtschreibstörung. Einzelne Modelle für einen Pathomechanismus der Lese- und/oder Rechtschreibstörung wurden vorgeschlagen und basieren im Wesentlichen auf molekulargenetischen Befunden.

1.4.1 Genetik

Studien zur familiären Häufigkeit konnten bestätigen, dass Lese- und/oder Rechtschreibstörungen nicht zufällig innerhalb einer Population auftreten. Ziegler et al. (2005) erfassten durch eine Untersuchung von 287 Familien ein um das 3,5-fache erhöhtes Risiko einer Lese-Rechtschreibstörung, wenn bereits ein Geschwisterteil davon betroffen war. Schulte-Körne et al. (2007) untersuchten 574 Geschwister und stellten eine innerfamiliäre Korrelation der Rechtschreibfähigkeiten von 0,63 fest. Insgesamt wird das Wiederholungsrisiko der Lese- und/oder Rechtschreibstörung bei betroffenen Geschwistern zwischen 43 % und 60 % geschätzt (Scerri & Schulte-Körne, 2010).

Um den Anteil der genetischen und nichtgenetischen Varianz der Lese-Rechtschreibleistungen aufzudecken, wurden in Zwillingsuntersuchungen eineiige mit zweieiigen Zwillingen verglichen. Ist die Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen höher als die der zweieiigen Zwillinge, spricht dies für genetische Faktoren, die neben Umweltfaktoren die Merkmalsausprägung beeinflussen. Dies konnte durchweg bestätigt werden und die Heritabilitätsschätzungen belaufen sich bei der Lesefähigkeit auf circa 50 % und bei der Rechtschreibfähigkeit auf circa 60 % (Davis et al., 2001; Harlaar, Spinath, Dale & Plomin, 2005).

Die molekulargenetische Forschung kann trotz der hohen Heritabilität bisher nur wenige Kandidatengene beschreiben, die jeweils weniger als 2 % der Varianz des der jeweiligen Störung bzw. Merkmalsvarianz erklären können. Bisher wurden neun Kandidatengenregionen (DYX1 – 9) identifiziert. Mehrfach bestätigt durch Kopplungs- und Assoziationsuntersuchungen wurden DYX1C1 auf DYX1, KIAA0319 und DCDC2 auf DYX2, MRPL19 und C2ORF3 nahe DYX3, ROBO1 auf DYX5 und KIAA0319L auf DYX8 (Scerri & Schulte-Körne, 2010). Diese Gene sind an der neuronalen Migration während früher Entwicklungsphasen des Gehirns beteiligt (Schulte-Körne, Warnke & Remschmidt, 2006). Als mögliche Folge dieser Migrationsstö|12|rung werden in bildgebenden Studien sowie in einzelnen neuroanatomischen Untersuchungen sog. Zellnester beschrieben, die sich u. a. auch in Gehirnregionen fanden, die funktional bedeutend für die Sprachwahrnehmung und visuelle Unterscheidungsfähigkeit sind (Giraud & Ramus, 2013). Ob diese Befunde einen kausalen Zusammenhang mit der Lese- und/oder Rechtschreibstörung haben, ist noch ungeklärt.

Bei der Lese- und/oder Rechtschreibstörung wird eine kausale Verbindung zwischen Gen- und Hirnfunktion vermutet. Die genetisch bedingte Prädisposition führt demnach zu den beobachtbaren neurobiologischen und neuropsychologischen Korrelaten, die im Folgenden beschrieben werden. Anhand einer genomweiten Untersuchung konnten erste Hinweise für einen möglichen Pathomechanismus der Lese-Rechtschreibstörung gefunden werden. Hierbei handelt sich um die regulatorische Funktion eines genetischen Markers, einem single nucleotid polymorphismus (SNP), der die Genexpression des SCL2A3-Gen steuert, das für den Glucosemetabolismus in den Neuronen in der frühen Hirnentwicklung von Bedeutung ist. Homozygote und heterozygote Träger des T-Allels mit einer Lese-Rechtschreibstörung haben bei der neurophysiologischen Untersuchung der Sprachperzeption eine geringere Aktivierung der sprachverarbeitenden kortikalen Areale (Roeske et al., 2011). Somit könnte es eine Risikopopulation für die Lese-Rechtschreibstörung geben, die durch das Vorhandensein dieses T-Allels gekennzeichnet. Allerdings ist eine verminderte Sprachperzeption allein nicht ausreichend erklärend für die komplexe Störung einer Lese-Rechtschreibstörung.

1.4.2 Neurobiologische und neuropsychologische Korrelate

Eine ausreichende Lese- und Rechtschreibfähigkeit benötigt ein funktionsfähiges neuronales System, das die Verarbeitung orthografischer, phonologischer und semantisch-lexikaler Merkmale von Wörtern integriert. Dieses System umfasst im Wesentlichen zwei Subsysteme der grauen Substanz der linken Hemisphäre, den ventralen okzipito-temporalen Kortex und den dorsalen temporo-parietalen Kortex, sowie eine dritte Region, den Gyrus frontalis inferior (Sandak, Mencl, Frost & Pugh, 2004). Studien mit bildgebenden Verfahren konnten in den letzten Jahren funktionelle Veränderungen vor allem in der linken Hemisphäre bei Betroffenen mit einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung feststellen. Die Veränderungen zeigten sich durch eine verzögerte und geringere Aktivierung der ventralen okzipito-temporalen und dorsalen temporo-parietalen Region bei Aufgaben, die phonologische Informationsverarbeitungsprozesse und die Assoziation von phonologischer mit visueller Information erfordern. Zusätzlich wurde vereinzelt eine kompensatorische Überaktivierung inferior frontaler Regi|13|onen der linken Hemisphäre identifiziert, die möglicherweise durch ineffiziente Dekodierprozesse beim Lesen zustande kommt und dadurch erklärt wird (Brambati et al., 2004; Richlan, Kronbichler & Wimmer, 2009; Sandak et al., 2004; Schlaggar & McCandliss, 2007).

Es wird diskutiert, ob die veränderten Hirnfunktionen in einer Kausalverbindung zu der auf der Verhaltensebene beobachteten verminderten visuellen und auditiven Reizwahrnehmung und -verarbeitung von schriftsprachlichem Material stehen, die bei Betroffenen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung vermehrt beobachtet wurden (Schlaggar & McCandliss, 2007).

Ob es ein visuelles Wahrnehmungsdefizit bei Betroffenen der Lese- und/oder Rechtschreibstörung gibt, ist umstritten. Widersprüchliche Befunde zur Verarbeitung von schnellen, kontrastarmen und bewegten Reizen, die vom magno-zellulären visuellen System verarbeitet werden, unterstützen die Hypothese nur bedingt (Schulte-Körne & Bruder, 2010; Skottun, 2000; Stein, 2001). Das visuelle Informationsverarbeitungsdefizit könnte die Fähigkeit der Graphem-Phonem-Zuordnung beeinflussen, jedoch ist unklar, wie basale Perzeptionsprozesse, gemessen anhand von Bewegungserkennen von Elementgruppen die Wahrnehmung von Wörtern und Buchstabenposition innerhalb eines Wortes beeinflussen und zu Defiziten im orthografischen Wissen führen können (Boden & Giaschi, 2007; Solan, Shelley-Tremblay, Hansen & Larson, 2007; Talcott et al., 2000).