Lese-/Rechtschreibstörung - Gerd Schulte-Körne - E-Book

Lese-/Rechtschreibstörung E-Book

Gerd Schulte-Körne

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Beschreibung

Eine Lese-/Rechtschreibstörung (LRS) hat für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen erhebliche Konsequenzen für die schulische und berufliche Entwicklung. Bei ca. 30 % führt die LRS auch zu psychischen Belastungen. Dieser Ratgeber bietet Betroffenen, Eltern, Lehrern und Therapeuten Antworten auf die wichtigsten Fragen zur LRS und wie man mit ihr umgehen kann. Das Buch erläutert zudem, wie eine zielgenaue Diagnostik und effektive Förderung und Behandlung der LRS durchgeführt werden kann. Fundiertes Wissen wird dabei anhand von zahlreichen Fallbeispielen anschaulich und leicht vermittelt und um konkrete Empfehlungen zur Diagnostik und Förderung für die Praxis ergänzt.

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Der Autor

Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der LMU München und Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, LMU Klinikum. Prof. Schulte-Körne forscht seit über 30 Jahren zu den Ursachen, zu wirksamen Präventions- und Fördermethoden sowie zu diagnostischen Leitlinien der Lese-Rechtschreibstörung. Er ist Autor von über 100 Fachartikeln zum Thema LRS und hat mehrere LRS-Förderprogramme entwickelt. Seine Arbeiten wurden mit mehreren Wissenschaftspreisen ausgezeichnet. Als Arzt und Wissenschaftler unterstützt, berät und behandelt er Kinder, Jugendliche, Erwachsene und ihre Familien mit einer LRS. Er koordiniert die S3-Leitlinie zur Diagnostik- und Behandlung bei der LRS, berät Lehrkräfte im Umgang mit Schüler*innen mit einer LRS.

Gerd Schulte-Körne

Lese-/Rechtschreibstörung

Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit LRS wirksam unterstützen und fördern

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-038366-1

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-038367-8

epub:     ISBN 978-3-17-038368-5

mobi:     ISBN 978-3-17-038369-2

Inhalt

 

 

1   Lesestörung, Rechtschreibstörung, Leeschwäche, Rechtschreibschwäche, LRS, besondere Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben, Legasthenie! Viele Namen für ein Problem?

1.1   Hintergrund zu den Begriffen

1.2   Fallbeispiel

1.3   Praxistipps

2   Gibt es schon im Kindergarten Hinweise für ein Risiko für Lese- und oder Rechtschreibschwierigkeiten?

2.1   Hintergrund

2.2   Fallbeispiel

2.3   Praxistipps

3   Woran erkenne ich eine Lesestörung?

3.1   Hintergrund

3.2   Fallbeispiel

3.3   Praxistipps

4   Lesestörung bei Erwachsenen

4.1   Hintergrund

4.2   Fallbeispiel

4.3   Praxistipps

5   Woran erkenne ich eine Rechtschreibstörung?

5.1   Hintergrund

5.2   Fallbeispiel

5.3   Praxistipps

5.4   Rechtschreibstörung bei Erwachsenen

6   Psychische Belastungen bei einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung

6.1   Angststörung/Schulangst

6.2   Traurige Stimmung, Depression

6.3   ADHS, Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsprobleme

6.4   Kopf- und Bauchschmerzen vor der Schule

7   Wie wird eine Lesestörung festgestellt?

7.1   Hintergrund

7.2   Fallbeispiel

7.3   Praxistipps

8   Wann liegt eine Lesestörung vor?

8.1   Hintergrund

8.2   Fallbeispiel

8.3   Praxistipps

9   Wie wird eine Rechtschreibstörung festgestellt und wann liegt eine Rechtschreibstörung vor?

9.1   Hintergrund

9.2   Fallbeispiel

9.3   Praxistipps

10 Was kann ich als Eltern tun, wenn bei meinem Kind eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung festgestellt wurde?

10.1 Hintergrund

10.2 Hausaufgaben

10.3 Häusliche Hilfen und Förderung

10.4 Kontakt zur Schule

10.5 Wer bietet Hilfen an?

11 Was kann ich als Lehrkraft tun, wenn ein Kind in meiner Klasse eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung hat?

11.1 Erkennen von anhaltenden Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben

11.2 Entwicklungsstufen des Lesens und Rechtschreibens

11.3 Schultests zur Überprüfung der Lese- und Rechtschreibfähigkeit

11.4 Unterstützen und Fördern in der Klasse

11.5 Empfehlungen für die Unterrichtspraxis

11.6 Schulrechtlicher Rahmen

11.6.1 Formen des Nachteilsausgleich

11.6.2 Notenschutz

12 Welche Methoden sind bei der Förderung und Behandlung einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung zu empfehlen?

12.1 Was bedeutet wirksam?

12.2 Förderung bei der Lesestörung

12.3 Förderung bei der Rechtschreibstörung

13 Hilfen bei psychischen Problemen

13.1 Lerntherapie bei Ängsten und trauriger Stimmung

13.2 Hilfen bei Lernblockaden

13.3 Hilfen für Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen

13.4 Was nicht hilft!

14 Was sind die Ursachen für eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung?

14.1 Gibt es genetische Ursachen?

14.2 Wie arbeitet das Gehirn beim Lesen

14.3 Veränderungen im Lesenetzwerk: Untersuchungsergebnisse zur Lesestörung

14.4 Phonologische Bewusstheit: Was ist damit gemeint und warum ist diese so wichtig?

14.5 Bewusstheit für Orthografie: Warum das Erkennen von Rechtschreib-Regelmäßigkeiten hilfreich für das Schreiben ist!

14.6 Fakten und Mythen zu den Ursachen

15 Leben mit einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung

15.1 Lese- und Rechtschreibstörung und Schule

15.1.1 Fremdsprachenauswahl

15.1.2 Schulabschluss

15.2 Berufsausbildung

15.3 Ist LRS eine Behinderung?

15.4 Kostenübernahme der Förderung/Behandlung

15.5 Unterstützung im Rahmen der Jugendhilfemaßnahmen

16 Prävention

16.1 Hintergrund

16.2 Inhalte von Präventionsprogrammen zur Vorbereitung auf das Lesen und Rechtschreiben

16.3 Praxistipps

17 Weitere Informationen

17.1 Selbsthilfekontakte

17.2 Beratungsstellen

17.3 Angebote für Diagnostik

17.4 Therapieangebote

18 Schulrechtliche Regelungen der Bundesländer

19 Übersicht über die Förderprogramme

20 Erläuterung von Fachbegriffen

Literatur

Weiterführende Literatur

Leitlinien

Zitierte Förderprogramme

Stichwortverzeichnis

1          Lesestörung, Rechtschreibstörung, Leeschwäche, Rechtschreibschwäche, LRS, besondere Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben, Legasthenie! Viele Namen für ein Problem?

 

 

Viele unterschiedliche Begriffe werden verwendet, um die Schwierigkeiten beim Lesen und beim Rechtschreiben zu benennen. Sie bezeichnen aber nicht das Gleiche! Zunächst müssen wir zwischen den Problemen im Lesen und den Problemen im Rechtschreiben unterscheiden. Hierfür verwenden wir zwei unterschiedliche Begriffe: die Lese- und die Rechtschreibstörung. Dies bedeutet, dass manche Kinder »nur« eine Lesestörung haben, manche »nur« eine Rechtschreibstörung. Dann gibt es Kinder, die in beiden Lernbereichen erhebliche Probleme haben, diese andauernden Schwierigkeiten bezeichnen wir als Lese- und Rechtschreibstörung. Tabelle 1.1 stellt in der linken Spalte den Begriff da, in der rechten Spalte sind die Begriffe erklärt.

Tab. 1.1: Begriffe und Erklärung für die verschiedenen Formen der Lese- und Rechtschreibprobleme

BegriffErklärung

Eine weitere Unterscheidung liegt in den Begriffen Störung und Schwäche. Mit Störung wird eine Erkrankung bezeichnet, die durch genetische Faktoren und Funktionsstörungen im Gehirn verursacht wird. Bei der Schwäche hingegen liegen andere Gründe vor, die zu einer Lese- und/oder Rechtschreibschwäche führen können. Hierzu gehört der fehlende Schulbesuch, verursacht z. B. durch eine längere Erkrankung oder eine Unterrichtung, die nicht angemessen für die individuellen Voraussetzungen eines Kindes im Lesen und/oder Rechtschreiben ist. Da die Schwäche meist vorübergehend ist, bedeutet dies, wenn die Ursache behoben ist, holt das Kind den Lernrückstand schnell auf und die Schwäche liegt nicht mehr vor. Dies ist bei der Störung anders. Bedingt durch die biologischen Ursachen bleiben Beeinträchtigungen, abhängig davon, wie wirksam eine Förderung und Behandlung ist, bis ins Erwachsenenalter bestehen.

Dann gibt es noch die Begriffe Legasthenie und Dyslexie. Legasthenie ist ein recht alter Begriff, der die Unfähigkeit, das Gelesene zu erkennen und zu verstehen, bezeichnet. Er wird auch als Wortblindheit übersetzt. Im Englischen entspricht diesem Begriff das Wort Dyslexia, das auch mittlerweile in Deutschland häufiger als Dyslexie verwendet wird.

Der Begriff »Besondere Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben« wird hauptsächlich in den Schulen verwendet, vor allem in den Erlassen der Kultusministerien ( Kap. 18) zu dieser Problematik.

Oft wird auch nur die Abkürzung LRS verwendet, ohne das genau beschrieben ist, ob es sich um eine Schwäche oder Störung im Lesen und/oder Rechtschreiben handelt. In diesem Buch wird die Abkürzung LRS für die drei Störungen, die Lese-, die Rechtschreib- und die Lese- und Rechtschreibstörung verwendet.

Ein häufig in der Fachliteratur und in der Medizin verwendeter Begriff ist die Teilleistungsstörung. Mit diesem Begriff ist ein bestimmtes Konzept der Entwicklungsstörung gemeint. Es geht davon aus, dass nur in einem bestimmten Teilbereich des Lernens, im Lesen- oder Rechtschreiben, eine Störung vorliegt und z. B. keine Probleme im Rechnen oder allgemeine Lernschwierigkeiten. Aufgrund von Forschungsergebnissen, die wiederholt gezeigt haben, dass Kinder mit einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung auch in anderen Lernbereichen, wie z. B. dem Rechnen erhebliche Probleme haben können, sollte dieses Konzept nicht mehr verwendet werden.

1.1       Hintergrund zu den Begriffen

Die Verwendung der unterschiedlichen Begriffe und Konzepte hängt häufig mit den unterschiedlichen Professionen zusammen, die sich mit der Diagnostik und Therapie bei der Lese- und/oder Rechtschreibstörung beschäftigen.

In der Medizin werden Erkrankungen genau beschrieben und dargelegt, was genau die Symptomatik und wie sie zu erkennen ist, was die Ursachen sind, wie die Erkrankung häufig verläuft und welche Formen der Behandlung zu empfehlen ist. Diese Information ist in einem sogenannten Klassifikationssystem zusammenfassend dargelegt, das international abgestimmt ist und von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben wird. Diese Klassifikation wird regelmäßig überarbeitet und auf der Basis der aktuellen Befunde aus der Forschung und Praxis aktualisiert. Sie erscheint als Buch und ist auch online verfügbar. In Deutschland ist die »Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, aktuell die 10. Revision (ICD-10), die 11. Revision wird in Kürze in Kraft treten, gültig. Dieses Klassifikationssystem ist wichtig, da hier die in der Medizin und für die Krankenkassen wichtigen diagnostischen Kriterien für die Erkrankungen aufgeführt werden. Jedoch gibt es bei der Kostenerstattung der Behandlung durch die Krankenkassen auch Ausschlüsse, die auf die Lese- und/oder Rechtschreibstörung angewandt werden ( Kap. 15.4).

Die Begriffe Lese- und/oder Rechtschreibschwäche und besondere Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben finden sich in dem Internationalen Klassifikationssystem (ICD-10) nicht. In der Pädagogik und damit in den Schulen wird überwiegend von Schwierigkeiten und Schwächen gesprochen, der Begriff Störung im Sinne einer Erkrankung wird vermieden. Ein Grund hierfür ist, dass in der pädagogischen Sichtweise es sich bei der LRS nicht um eine Erkrankung handelt. Eine häufig vertretende Meinung in der Schule ist, dass die Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben nicht auf biologische Ursachen wie z. B. familiäre Probleme oder falsche Unterrichtspraxis zurückgeführt werden. Obwohl Forschungsbefunde diese Einschätzung nicht unterstützen, wird seit langem daran festgehalten ( Kap. 14). Auch die Auffassung in den Kultusministerien der Bundesländer zur Frage, was besondere Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben sind und wie schulischerseits damit umgegangen wird, ist sehr unterschiedlich ( Kap. 18).

1.2       Fallbeispiel

Die Mutter von Max beobachtet bereits in der ersten Klasse, dass ihr Sohn, anders als seine älteren Brüder, erheblich langsamer das Lesen lernt und dabei auch viele Fehler macht. Das Lesen ist für ihn insgesamt sehr anstrengend. Bereits am Ende des ersten Schuljahres hat er die Lust am Lesen verloren, trotz ermutigender Unterstützung. Die Mutter wendet sich an die Deutschlehrerin, die aber wiegelt ab und sagt, die Mutter möge noch etwas Geduld mit Max haben, er wird dies schon aufholen. Es gäbe noch weitere Kinder in der Klasse, die so wie Max lesen würden. Max Mutter ist aber doch in Sorge, dass die Frustration in der Schule bei Max sich auf die anderen Fächer ausweiten könnte. Eine befreundete Mutter rät ihr, Max doch mal bei einer Kinder- und Jugendpsychiaterin untersuchen zu lassen. Trotz einer gewissen Unsicherheit, ob dieser Schritt notwendig ist, macht Max Mutter in der Praxis einen Termin aus. Nach mehreren Untersuchungen stellt die Ärztin bei Max eine Lesestörung gemäß den diagnostischen Kriterien des ICD-10 fest und schreibt ein Attest für die Schule. Sie empfiehlt eine spezifische Förderung zur Verbesserung der Lesegeschwindigkeit. Damit geht Max Mutter zur Deutschlehrerin, die das Attest zur Kenntnis nimmt, aber der Mutter erklärt, dass es sich hier um eine schulische Problematik handelt und dass die Entwicklungsverzögerung im Lesen von Max durch zusätzliche Hilfen und Lernmaterial, das sie Max geben würde, sich mit der Zeit bessern wird. Eine spezifische Behandlung sei nicht notwendig.

Dieses Fallbeispiel verdeutlicht die unterschiedlichen Perspektiven, die die verschiedenen Professionalitäten in Bezug auf die Lese- und/oder Rechtschreibstörung einnehmen. Dies führt jedoch zu unterschiedlichen Empfehlungen, in diesem Fall ist die abwartende Haltung der Lehrkraft nicht zu empfehlen, da bereits in der ersten Klasse durch Förderung das Entwicklungsrisiko für eine Lesestörung verringert werden kann.

1.3       Praxistipps

Schauen Sie sich die Darlegungen in dem Klassifikationssystem ICD-10 an (www.icd-code.de/icd/code/F81.0.html). Dort sind die diagnostischen Kriterien beschrieben, nach denen die Lese- und/oder Rechtschreibstörung festgestellt werden soll. Außerdem sind die diagnostischen Kriterien in Kapitel 7 und 9 ausführlich beschrieben.

Schauen Sie sich die schulrechtlichen Bestimmungen und Empfehlungen des jeweiligen Bundeslandes zur Diagnostik und Förderung von Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben an. Entsprechende Links zu den Seiten im Internet finden Sie am Ende des Ratgebers ( Kap. 18).

2          Gibt es schon im Kindergarten Hinweise für ein Risiko für Lese- und oder Rechtschreibschwierigkeiten?

 

 

Frühzeitig ein Risiko für eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung zu erkennen, kann von großer Bedeutung sein, um durch Frühförderung die Folgen eines Entwicklungsrisikos abzumildern. Allerdings ist es nicht einfach, ein Risiko zu erkennen. Außerdem gibt es Vorbehalte gegenüber einer frühen Identifikation eines Risikos. Die Befürchtung ist, dass dies zu einer Verunsicherung oder sogar zur Stigmatisierung eines Kindes führen kann, wenn fälschlicherweise ein Entwicklungsrisiko festgestellt wird. Daher werden Programme zur Frühförderung im Kindergarten nicht selten mit der ganzen Kindergartengruppe durchgeführt, da Studien gezeigt haben, dass zusätzlich zu den Kindern mit einem Risiko für eine Lese- und Rechtschreibstörung auch die Kinder ohne ein Entwicklungsrisiko von der Frühförderung profitieren können.

2.1       Hintergrund

Es gibt Risikofaktoren für eine LRS, die vermutlich genetisch bedingt sind. Daher gehört ein familiär gehäuftes Auftreten einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung auch zu den bedeutsamen Risikofaktoren. Hinweise aus Familienstudien legen nahe, dass, wenn ein Elternteil an einer dieser Störungen leidet, das Risiko für ein Kind bei ungefähr 50 % liegt. Dies ist zwar ein recht hohes Risiko, bedeutet aber nicht, dass diese Zahl auf jede Familie zutrifft. Ein häufiges Missverständnis ist, dass genetisch bedingt bedeutet, dass die Erkrankung nicht behandelbar ist. Wie wirksam eine Behandlung sein kann, hängt nach unserem heutigen Wissen nicht davon ab, welche Ursachen der Lese- und/oder Rechtschreibstörung zugrunde liegen.

Ein weiteres Entwicklungsrisiko für eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung liegt in einer verzögerten Sprachentwicklung. Die Sprachentwicklung verläuft in verschiedenen Stadien, beginnend im ersten Lebensjahr und wird in eine Sprech- und Sprachentwicklung unterschieden. Die Sprechentwicklung umfasst die Artikulation, die Fähigkeit, verschiedene Laute zu bilden und zu verbinden. Im Bereich der Sprachentwicklung wird die Sprachwahrnehmung und das Sprachverständnis unterschieden. Zur Sprachwahrnehmung gehört die Unterscheidung von Lauten, z. B. von dem Laut /b/ vom Laut /p/. Diese Unterscheidung ist für die Rechtschreibfähigkeit besonders wichtig. Kann ein Kind die Laute voneinander unterscheiden, so sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, den Lauten den jeweils richtigen Buchstaben zuzuordnen. Auch die Zergliederung der Sprache in größere sprachliche Strukturen, wie z. B. in Silben (z. B. Gü-ter-wa-gen), ist eine wichtige Vorläuferfertigkeit für den Schriftspracherwerb.

2.2       Fallbeispiel

Die Erzieherin im Kindergarten beobachtet, dass Marie, die ein waches und sehr interessiertes Kind ist, bei den Singspielen, bei denen die Kinder Reime finden sollen, sehr große Probleme hat. Marie ist im letzten Kindergartenjahr und in der Vorbereitungsgruppe auf die Schule. In ihrer Gruppe werden Spiele durchgeführt, bei denen man genau hinhören, Wörter sich merken, Reime finden und Laute unterscheiden muss. Diese Spiele finden fast täglich in der Gruppe statt. Marie machen diese Spiele keinen Spaß, da sie große Schwierigkeiten bei den Aufgaben hat. Marie, die sonst immer genau zuhört, ist in der Gruppe unruhig, springt häufig auf und möchte was anderes machen. Die Erzieherin bespricht ihre Beobachtungen mit den Eltern und fragt, ob es in der Sprachentwicklung bisher Auffälligkeiten gab. Nachdem die Eltern dies verneinen, überlegen sie gemeinsam, ob bei Marie vielleicht eine Hörstörung vorliegt, weshalb sie die Sprache und Laute schlechter unterscheiden kann als die anderen Kinder. Obwohl die Eltern beschreiben, dass Marie alles, was sie sagen, gut versteht, lassen sie eine Untersuchung beim Hals-Nasen-Ohrenarzt durchführen. Die Überprüfung der Hörfähigkeit war unauffällig, allerdings sieht der HNO-Arzt einen Zusammenhang mit den früher, länger andauernden Mittelohrentzündungen von Marie und ihren aktuellen Schwierigkeiten, Laute zu unterscheiden. Er rät dazu, die Sing- und Sprachspiele weiterzuführen, allerdings bräuchte Marie mehr Zeit dafür. Er empfiehlt, dass die Erzieherin die Spiele nur zum Teil mit Marie in der Gruppe durchführen sollte und zum Teil lieber einzeln. Auch die Eltern könnten Marie bei dieser Entwicklung unterstützen, es gebe wissenschaftlich untersuchte Programme, die Eltern mit ihrem Kind zur Förderung der sprachlichen Fähigkeiten als Vorbereitung für das Lesen und Rechtschreiben durchführen können ( Kap. 16).

2.3       Praxistipps

Im Vorschulalter kann eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung nicht diagnostiziert werden, da entsprechende Lese- und Rechtschreibfertigkeiten noch nicht gelernt wurden. Daher ist bei Vorliegen der folgenden Risiken eine Frühförderung sehr empfehlenswert ( Kap. 16). Zu den Risiken gehören eine familiäre Häufung von Lese- und/oder Rechtschreibproblemen und spezifische Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung. Sind Eltern oder ein Geschwister von einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung betroffen, zeigen sich Sprachschwierigkeiten im Bereich Reime, Silben und Laute zu unterscheiden oder beim Benennen von Buchstaben, ist eine Förderung der Sprachfertigkeiten in den letzten Monaten vor der Einschulung empfehlenswert. Falls das Kind bei der Sprachunterscheidung Probleme hat, die länger andauern, sollte eine entsprechende Diagnostik beim HNO-Arzt1 oder Fachärzten, die speziell sich mit dem Hören bei Kindern auskennen (Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie), durchgeführt werden.

Um sich nicht allein auf die Beobachtung des Kindes bei Sprachaufgaben zu verlassen, werden auch Testverfahren durchgeführt, die ermöglichen, das individuelle Risiko eines Kindes für Probleme beim Lesen und Schreibenlernen vorherzusagen. Diese Tests werden einzeln mit dem Kind durch Personen durchgeführt, die dafür ausgebildet sind. Die Tests sind unterschiedlich lang und erfordern meist eine gute Aufmerksamkeitspanne und Konzentrationsfähigkeit des Kindes. Die Vorhersage eines Risikos ist allerdings ungenau, abhängig vom Testverfahren werden ca. 20–50 % der Kinder, die ein Entwicklungsrisiko im Lesen und Rechtschreiben haben, nicht erkannt. Daher ist die Anwendung nur bedingt zu empfehlen.

1     Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in der Regel die neutrale bzw. männliche Form verwendet. Diese gilt für alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers).

3          Woran erkenne ich eine Lesestörung?

 

 

Eine Lesestörung sollte erst ab Mitte der zweiten Klasse diagnostiziert werden, aber bereits in der ersten Klasse lassen sich Hinweise für eine Lesestörung finden. Diese Anzeichen erlauben, bereits frühzeitig den Bedarf an spezifischen Hilfen und Unterstützung zu erkennen.