Lichter als der Tag - Mirko Bonné - E-Book

Lichter als der Tag E-Book

Mirko Bonné

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Beschreibung

Raimund Merz kennt Moritz und Floriane von Kindheit an. Ihr Lebensmittelpunkt ist ein wilder Garten am Dorfrand. Als Inger zu ihnen stößt, die Tochter eines dänischen Künstlers, bilden die vier eine verschworene Gemeinschaft, bis sich beide Jungen in das Mädchen verlieben. Inger ent­scheidet sich für Moritz, Raimund und die ehrgeizige Floriane werden ebenfalls ein Paar. Jahre später kreuzen sich die Wege der vier erneut – für Raimund die Chance, sich der Leere seines Lebens ohne Inger zu vergegenwärtigen. Ver­zweifelt sucht er nach einem Weg zurück zu sich selbst und zu einer Aussöhnung mit der Vergangenheit. In einem furio­sen Finale bricht er auf nach Lyon zu einem Gemälde, das ihn in Bann zieht wie in der Kindheit der wilde Garten. Mirko Bonnés großer Liebesroman überträgt das Wahlverwandtschaften-­Thema in die heutige Zeit. Er fragt nach Gründen von Entzweiung und Entfremdung und zeichnet dabei das ergreifende Porträt eines Mannes, der die Kraft findet, aus dem Schatten über seinem Dasein hinauszutreten. "Lichter als der Tag" eröffnet ihm und dem Leser den Schatz einer verschütteten Welt.

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EPUB

Seitenzahl: 387

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Inhalt

[Cover]

Titel

Widmung

Zitat

I Regen, wenn er in die Bäume rauscht

II Facetten einer falschen Freundschaft

III Flucht nach Süden mit dem Elsternkind

Hinweis

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

[Leseprobe – Ein schönes Paar]

Für Ida und Klaus Schöffling.Für die, die’s angeht.Ja – für Dich.

Nacht, lichter als der Tag!Andreas Gryphius

IRegen, wenn er in die Bäume rauscht

Aus der Zeit, als er noch ein Junge gewesen war, kannte er ein Licht, das fand er später für sehr lange Zeit nur in der Bahnsteighalle seiner Stadt wieder, und auch nur an bestimmten Tagen. Er dachte oft darüber nach, woran es lag, dass etwa ein Tag Ende April dieses Leuchten hatte, aber einer Anfang Mai nicht. Doch er wartete auch einfach gern, und wenn er in der Mittagspause mit der U-Bahn vom Hafen zum Hauptbahnhof fuhr, dann war er umso froher, wenn das Licht überraschend da war.

Einmal hatte er als Gymnasiast ein ähnliches Leuchten auf einem alten Gemälde gesehen, vor dem in einer Ausstellung über Landschaftsmalerei seine Kunstlehrerin stehen geblieben war, um der Klasse etwas über den Impressionismus und seine Vorläufer zu erzählen. Das Bild, nicht sehr groß und eher unscheinbar, stammte von Camille Corot, spätsommerliche Bäume stellte es dar, Pappeln, Robinien, in der Ferne eine Hügelkette und im Vordergrund den Rand eines Feldes, an dem ein Landarbeiter Getreide schnitt und eine Frau mit Kleid, Schürze und einer Haube auf dem Kopf dem Mann zusah. Weizenfeld im Morvan – was das bedeutete, wusste niemand, bis Moritz, sein bester Freund, ihnen erklärte, der Morvan sei ein Landstrich im Burgund, ein mittelfranzösisches Granitmassiv. Auf Corots Gemälde schien alles in ein Licht getaucht, als würde man durch ein Fenster auf einen Sommertag blicken, der längst vergangen war und zugleich bis heute anhielt.

Der Himmel über der Stadt erschien Raimund Merz nie riesig oder gar endlos, selbst dann nicht, wenn er so hellblau war wie das Kleid der Frau am Rand des Weizenfeldes auf dem Bild. Am Horizont, Richtung Hafen und Elbe, war allerdings des Öfteren ein rosiger Schimmer zu sehen, und schon als Junge, wenn er mit den anderen Kindern über die Redder der Feldmark gelaufen war, hatte er sich an der Pracht des Hamburger Himmels gar nicht sattsehen können. Raimund Merz hatte nur wenig vermisst, als er nach dem Abi und dem Zivildienst für ein paar verschenkte Semester nach England ging, angeblich um Biologie zu studieren; aber dieses Heimweh, eigentlich ein Lichtweh, war nicht besser geworden, als er mit Mitte zwanzig zurückkam und für ein knappes Jahrzehnt nach Berlin zog, weil seine Frau es für ihren Werdegang und auch seinen vorteilhaft fand, wenn sie eine Zeit lang dort lebten, wo jeder lebte, der etwas aus sich und seinem Leben machen wollte. Merz hatte diesen um sich selbst kreisenden Ehrgeiz nicht.

Floriane hatte ihn nach England begleitet. Während er das Studium hinwarf und anfing, lustlos bei Zeitschriften zu jobben, studierte sie in Birmingham Zahnmedizin und auf Anraten ihrer Mutter dazu auch gleich Medizin. Von Anfang an sollte Flori Kieferchirurgin werden. Er blickte stattdessen in den Himmel und die Wolken an. Ab und zu wurde er gefeuert. Im Feuern waren die Briten Vorreiter.

Zum Leben brauchten Flori und er, die sich so lange schon kannten, nicht viel. Einer wie er untersagte sich jedes Vorwärtskommenwollen. Bloß das Licht vermisste er immer unbändiger, aber weder in den Midlands noch in Berlin gab es einen Fleck, an dem ein Strahlen am Himmel stand wie früher auf der Feldmark, nicht mal draußen am Müggelsee, wohin sie in ihren Berliner Jahren zum Wandern, Paddeln und Schwimmen fuhren und wo sie später, als Flori schon gut verdiente, ein Sommerhaus mieteten.

Unter dem Stahl-und-Glas-Dach des Hamburger Hauptbahnhofs stand das ersehnte Licht vielleicht an acht oder zehn Tagen im Monat, dann aber so, als hätte es sich des notorischen Schmuddelwetters wegen in die Halle zurückgezogen und würde nun dort aufbewahrt werden. Es schien zu warten, nicht bloß auf Reisende, die aus dem Zug stiegen und verblüfft waren von der Helligkeit, der Herrlichkeit, mit der die Hansestadt sie willkommen hieß; das Licht war eine Wohltat gerade für Einheimische wie ihn, die morgens vor dem Büro oder nach Feierabend über die Bahnsteige schlenderten, als wären sie Bahnangestellte in Zivil.

Merz spürte in dem Licht, dass es für einen wie ihn anscheinend nur weniges gab, für das sich zu leben wirklich lohnte. Kinder, ja. Freundschaft, ja. Und vielleicht Liebe, und vielleicht Erinnerungen. In dem Leuchten lag eine rätselhafte, warme Zuneigung, und vieles, was er erlebt hatte, war ihm nur verständlich, weil es in diesem Licht geschehen war.

Ein paar Tage, nachdem seine jüngere Tochter elf geworden war, fuhr er am Morgen mit ihr in die Innenstadt und brachte sie zum Zug. Lindas Klasse ging auf Klassenfahrt in den Schwarzwald, in ein Schullandheim im Kinzigtal. 23 Kinder und drei Lehrerinnen, dazu jede Menge aufgeregte Eltern, zumeist Mütter, warteten auf dem überfüllten Bahnsteig auf die Einfahrt des ICE, in dem für die Kids und ihre Aufpasser ein halber Waggon reserviert war. Es war ein Montagmorgen Anfang September, aber noch immer war das Ende des Hochsommers nicht in Sicht. Auf eine weitere drückend schwüle Woche sollten erneut lange Tage mit fast unerträglich heißen Temperaturen folgen.

Als der Zug schließlich kam, musste alles sehr schnell gehen. Merz hatte Mühe, Linda in dem bunten Gewimmel noch einmal kurz festhalten und umarmen zu können. Doch als sie dann im Einstieg stand, verloren wirkte und die Tränen ihr in die Augen stiegen, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und küsste ihn, auch wenn das auf der Stelle von drinnen mit höhnischem Johlen quittiert wurde. Lindy hatte es nicht leicht in der Schule. Sie wurde von Mitschülern und deren Eltern angefeindet, weil sie einige Diebstähle begangen und man sie dabei erwischt hatte. Keiner konnte sich den kleptomanischen Zug an der kleinen und zarten Linda Annabella Merz erklären, sogar die Schulpsychologin schien hilflos und riet vorläufig zu Gelassenheit und Abwarten.

Merz winkte Lindy zu und lief, weil sie das liebte, Grimassen schneidend neben dem anfahrenden Zug her. Sofort brach ihm der Schweiß aus, aber er lief weiter, und obwohl das traurige Mädchen hinter den verdunkelten Scheiben längst nicht mehr zu sehen war, lief er und lief und lief und lief und lief neben dem Zug her hinaus ins Freie.

Außer Atem blieb er stehen. Er sah dem Zug nach, bis der letzte Wagen am Berliner Tor verschwunden war, dann zog er sein Telefon aus der Tasche und schrieb Floriane, dass alles in Ordnung war und die Kleine unterwegs.

Eine ganze Weile stand er noch in der Morgensonne auf dem Bahnsteig, blickte zu den reglos in der Windstille hängenden Plakaten an der Museumsfassade hinauf und wartete auf Floris Rückmeldung. Aber es kam keine Antwort. Er spürte Lindys kleinen Kuss auf den Lippen und vermisste sie mit einem Mal sehr. Er stellte sich vor, wie Floriane in der vormittäglichen Hektik der Praxis seine Nachricht las und die drei Sätze Sekunden später über dem aufgesperrten Rachen des nächsten Patienten schon vergessen hatte. Linda tat ihm leid. Irgendetwas musste es in ihrem Gemüt geben, das sie peinigte und immer öfter dazu nötigte, Dinge an sich zu bringen, die ihr nicht gehörten. Die Jungs und Mädchen, denen sie ein Stickeralbum, einen Füller oder zuletzt den Chip für eine Spielekonsole gestohlen hatte, taten ihm nicht leid. Das Elsternkind nannten sie Lindy in der Klasse. So wie das Kind tat er sich auch selbst leid. Er spürte, wie der alte Kummer, von dem keiner wusste, ihm in der Kehle aufstieg. Und im Grunde bloß deshalb setzte er sich in Bewegung, und nur um sich von dem Traurigsein abzulenken, ging er an diesem Vormittag noch einmal in die Bahnsteighalle und das Licht.

Ein Autoreisezug voller großer Wohnmobile mit skandinavischem Kennzeichen donnerte durch den Bahnhof und weiter Richtung Altona, um dort entladen zu werden. Der Lärm des Monstrums war unfassbar, er setzte Merz so zu, dass er sich abwandte und die Ohren zuhielt.

So stand er eine Zeit lang am Fuß einer Rolltreppe, die zur Wandelhalle hinaufführte. Unaufhörlich strömten Menschen an ihm vorüber; hunderte fuhren hinauf, hunderte kamen herab, als wären es dieselben. Keiner von ihnen schien das Licht wahrzunehmen, und auch er schloss irgendwann die Augen, tauchte in das Schwarz und öffnete sie erst wieder, als der Zementboden nicht länger bebte.

Er holte tief Luft. Und das war der Augenblick … gerade als das Dröhnen und Rattern des nur wenige Schritte entfernt vorbeirollenden Zuges nachließ und er das Licht wiedersah und den alten Abschiedsschmerz spürte und den Kummer darüber, dass sich das Verlassenheitsgefühl durch nichts lindern ließ als Ablenkung, Weitergehen, Weitermachen … in diesem Augenblick kam Inger die Rolltreppe herunter. Er sah sie, aber sie blickte nicht in seine Richtung, sondern zur Seite, über die Gleise, in die Halle. Er erkannte sie sofort, war jedoch so geistesgegenwärtig, sich wegzudrehen, weiterzugehen, an der Rolltreppe vorbei und in den Tunnelbereich unter der Wandelhalle. Er eilte in eine Richtung, die eine Sackgasse war, ohne Ausgang, ohne Eingang. Ihm wurde klar, dass er sich auffällig verhielt, keiner hatte etwas verloren in dieser finsteren Unterführung; darum blieb er stehen, als würde ein Film angehalten.

Sie folgte ihm nicht. Er stand im Halbdunkel und blickte ihr nach. Sie war es ohne Zweifel. Sie ging weiter zur Bahnsteigmitte, wandte sich nicht nach ihm um, schien sich nicht zu fragen, ob sie sich geirrt haben könnte. Inger hatte ihn nicht erkannt, anscheinend nicht mal bemerkt.

Kein Koffer, kein Rucksack, sie war ohne Gepäck. Nur eine schmale rote Handtasche in genau der Farbe ihres Nagellacks trug sie über der Schulter. Und ein helles Sommerkleid hatte sie an, übergroße, seltsam blasse Mohnblumenblüten sah man darauf. Ihr Haar war noch wie in Berlin, lang und offen, nur etwas weniger blond kam es ihm vor, nicht mehr ganz so vollkommen blond. Sie war älter geworden, Ingers Angst vor dem Altern hatte es nicht verhindern können.

In sicherer Entfernung folgte er ihr. Da war ein Funkeln auf ihren Haaren, an das er sich gut zu erinnern meinte – bis er sah, sie hatte sich eine Sonnenbrille auf den Scheitel geschoben, die das Licht reflektierte. Er schüttelte den Kopf über sich selbst, lächelte, und er fühlte sich dadurch sicher, als wäre das Lächeln das Visier eines Helms.

Allmählich ließ seine Nervosität nach, die Anspannung wich einer Neugier, die er so heftig lange nicht verspürt hatte. Er genoss es, nicht von ihr gesehen zu werden, sie aber genau im Blick zu haben. Und zum ersten Mal fragte er sich, auf welchen Zug sie wartete, wohin sie reisen wollte. Inger verschwand in einen Bahnsteigkiosk.

Merz blieb stehen und zog, es kam ihm selber vor wie einstudiert, ohne zu zögern, das Handy aus der Tasche. Von Flori keine Antwort. Er brachte sich hinter einer Fahrplantafel in Sicherheit, und dort tat er so, als würde er nachlesen, wann montagmorgens der ICE nach Stuttgart fuhr, den Bruno und er nächste Woche würden nehmen müssen. Warteminuten, in denen er nichts weiter als die abenteuerliche Absurdität seines Verhaltens wahrnahm.

Sein Blick fiel auf die Anzeigetafel. Von dem Bahnsteig fuhr überhaupt kein Zug ab, hier kam demnächst einer an, der verspätete Nachtzug aus Budapest.

Budapest – Wien – Prag – Berlin – Hamburg.

Erst da ließ er es zu. Zum ersten Mal seit Wochen, seit Monaten, dachte er an Moritz, ohne den Gedanken sogleich zu verscheuchen. Er wusste nicht, ob sie noch verheiratet waren; aber falls ja, war davon auszugehen, dass Inger ihren Mann vom Zug abholte. Merz kam der Gedanke, auf der Stelle Reißaus zu nehmen … nur nicht mitansehen müssen, wie sie Moritz begrüßte, so wie damals im Dorf, wenn sie getrennt zum Garten kamen, oder später in Weißensee und draußen in Köpenick, wenn Inger im Atelier gemalt hatte und nachkam zum Baden.

Im Schutz der Fahrplantafel warf er den Kopf in den Nacken, starrte in das Licht, das durch das verglaste Dach auf die Züge, die Gleise, die Reisenden auf den Bahnsteigen fiel. Er fühlte, wie ihn Panik ergriff, und so floh er vor dem, was er nicht sehen wollte, und der Angst davor. Er hastete davon, zurück zu der Rolltreppe und unter die Leute, wo er sich sicher fühlte. Ein Trugschluss.

Durch eine Schaufenstergasse, deren silberner und goldener Flitter ihn blendete, kam er in die Wandelhalle und merkte sofort, etwas stimmte nicht. Die Lautsprechermusik, die dort seit Jahren gespielt wurde, immer dieselbe, immer dieselbe, war an diesem Morgen eine völlig andere.

Wie es hieß, diente die Wandelhallenmusik dazu, die Aggressionen der Drogensüchtigen zu lindern und die Junkies dadurch von Geschäften und Bahnsteigen fernzuhalten. Aber das hatte ihm nie eingeleuchtet. Immer empfand er die stumpfsinnige Berieselung als an ihn gerichtet, unzufriedene, aufmüpfige, reizbare Existenzen sollten durch die Musik, die eine Nichtmusik war, beruhigt werden, und nicht selten gelang das sogar und fühlte sich einer wie er seiner Aufgebrachtheit beraubt und ruhiggestellt. An diesem Vormittag nicht. Die Musik war eine andere, war wirklich Musik, auch lauter, fast unangenehm laut; beruhigen oder besänftigen konnte sie keinen, und noch etwas anderes war nicht wie sonst, doch was, darauf kam er nicht, während ihn sein Weg zwischen Kiosken, Essensständen, einem Tabakladen und Blumengeschäften hindurch zum Ausgang führte. In der Mönckebergstraße fuhr der Bus zur Hafencity. Wenn er den nächsten erwischte, würde er pünktlich zur Vormittagskonferenz in der Redaktion sein, alles würde seinen gewohnten Gang gehen, und am Abend konnte er den Schock, Inger begegnet zu sein, vor Floriane herunterspielen oder am besten gar nicht erwähnen und dann insgeheim bei einer Flasche Weißwein dabei zusehen, wie er sich in Luft auflöste und schließlich auch von ihm selber vergessen wurde.

Allerdings bemerkte er jetzt, wie viele junge Leute, nicht nur Jugendliche, sogar Kinder sich in der Wandelhalle aufhielten, obwohl die Sommerferien lange vorbei waren. Ein lautes Raunen, fast ein Lärmen erfüllte den großen und hohen Raum unter dem Walmdach. Ein Gewimmel ist das hier!, dachte er. Und gerade fragte er sich, ob dieses Durcheinander wohl auf mehrere Schulklassen zurückzuführen war, die die Kunsthalle oder eine Ausstellung in der Galerie der Gegenwart besuchen sollten und eben aus der S-Bahn gestiegen sein mussten, da änderte sich schlagartig alles.

Denn die Musik verstummte mitten in einem Takt, und unmittelbar vor ihm, sodass er nur mit Mühe nicht in sie hineinrannte, blieb eine Schülergruppe einfach stehen, so als hätte jemand die Zeit und mit ihr auch alles andere angehalten. Er wich den schlaksigen Jungs und Mädchen aus, die fast alle schwarze Klamotten trugen, wunderte sich zwar, aber schritt weiter durch die Menge, bis rechts, links, vor ihm und hinter ihm, überall schwarzgekleidete Jugendliche, wie mitten in ihren Bewegungen eingefroren, in dem Augenblick stehen geblieben sein mussten, als die Musik aussetzte.

In Wirklichkeit, das erkannte er jetzt, war er einer der wenigen, die sich überhaupt noch bewegten. Und alle diese zehn, zwölf Staunenden und noch ein paar Schritte Weiterstolpernden, zu denen er sich dazurechnete, waren älter als diejenigen, die auf einmal stocksteif dastanden mit Gesichtern ohne Ausdruck und erstarrten Gliedern.

Wer sich noch bewegte, war alt, wer nicht, war jung. So sah es aus. Doch wurde schnell klar, dass das Spiel anders ging. Nur wer nicht mitspielte, bewegte sich noch. Wer die Regeln kannte, stand still.

Da waren auch Erwachsene, die sich nicht rührten. Sie verharrten am Rand, vor den Läden, und anders als die Kinder wirkten sie wie Statuen, weiße und bunte Aus-Stein-Gehauene, die aber ebenso genau zu wissen schienen, was hier vor sich ging. Eine dieser offenkundig Eingeweihten war die Frau seines früher engsten Freundes Moritz und ehemalige Freundin seiner eigenen Frau. Inger.

Im Sommerkleid mit großen, blassen Mohnblumenblüten stand sie vor einem Blumenladen: Es hatte noch keinen Hintergrund gegeben, aus dem sie nicht herausstach. Etwas an ihr regte sich – die Augen. Ihre Blicke folgen mir, meinte Merz, während er sich durch die stillstehende Menge schlängelte, bis mit einem Mal die Musik weiterging und alles sich wieder bewegte, als wäre nie etwas gewesen.

Über dem Ausgang zum Glockengießerwall entrollten im selben Moment mehrere Jungs und Mädchen ein schwarzes Transparent; in großen weißen Lettern war darauf zu lesen: Schatten, Staub und Wind. Was sollte das bedeuten? Ein hoch aufgeschossenes, auffallend dünnes Mädchen mit einem langen blonden Pferdeschwanz löste sich aus der kleinen Gruppe und stürzte Inger in die Arme.

Alles war vorbei. Der Flashmob war zu Ende, und dieser Teenager, der mit dutzenden Klassenkameradinnen und Mitschülern daran teilgenommen hatte, konnte nur Pippa sein. Am Müggelsee, in Köpenick, war Inger bereits schwanger gewesen, über vierzehn Jahre war es her, dass sie alle sich zuletzt gesehen hatten.

»Du siehst aus, als wärst du mit einem Gespenst Fahrstuhl gefahren«, sagte Bruno zu ihm im Treppenhaus, als sie nach der Konferenz zusammen in die Mittagspause gingen. »Du solltest an die frische Luft.«

Eigentlich hatte Merz in den klimatisierten Redaktionsräumen bleiben und das am Vormittag Versäumte nachholen wollen. Doch er merkte, wie sehr ihm die Begegnung mit Inger zusetzte, und so erschöpft er sich fühlte, war er froh, mit dem Kollegen und Freund über Dinge zu reden, die ihn auf andere Gedanken brachten.

»Wieso bist du so finster, hast du den HSV-Vereinsbus gesehen? Ich hoffe, du weißt, dass wir nächste Woche zusammen runter zu diesen Menschen fahren, die nur Schwäbisch sprechen. Bitte, lass mich nicht allein!«

Bruno brachte ihn zum Lachen, wann immer er konnte, am liebsten mit Witzen über den Fußball des chronisch dem Abstieg entgegentrudelnden Hamburger SV.

»Außerdem weht unten am Hafen eine Brise, im Ernst! Bei der Hitze tut ein kleiner Wind gut. Also los!«

Sie schlenderten den Baumwall entlang und weiter ins Portugiesenviertel. Die Leute lagen im ausgeblichenen Gras auf den Michelwiesen oder saßen im gleißenden Septemberlicht an den Straßentischen. Fast alle waren sie sonnengebräunt vom zurückliegenden Urlaub, hatten dunkle Brillen auf, waren nur mit dem Nötigsten bekleidet und unterhielten sich. Viele lachten. Merz schien der Einzige zu sein, der düsteren Gedanken nachhing, so kam es ihm vor, während sie auf zwei Sandwiches und die bestellten Getränke warteten. Ja, zum Teufel, er hatte ein Gespenst gesehen!

»Schatten, Staub und Wind«, sagte er tonlos, ohne etwas damit zu bezwecken, und blickte über die Straße zu den vollbesetzten Tischreihen dort auf dem Bürgersteig, die wie ein Spiegelbild wirkten, in dem er zwar vorkam, aber genauso hätte fehlen können. Es war auch ohne ihn vollständig.

Er fragte Bruno: »Kommt dir das bekannt vor: ›Schatten, Staub und Wind‹?«

Der portugiesische Kellner stellte zwei Gläser und eine amphorenförmige Flasche Wasser auf den Tisch. Lauter Bläschen standen perlend außen an dem hellblauen Glas, und wo einige der Tropfen auf die Tischdecke hinuntergeronnen waren und sich ein kleiner Mineralwassersee sammelte, saß ein geflügeltes Tier, das man leicht für eine Wespe halten konnte. Es war aber keine, auch wenn so eine Schwirrfliege zu ihrem eigenen Schutz vorgab, eine Wespe zu sein.

Der Freund überlegte. »Wusste gar nicht, dass du dich für Barockdichter interessierst.«

»Klingt das nach Barockdichtung für dich, du elendig belesener Schlaumeier?« Ein Teller mit zwei Toastsandwiches stand auf dem Tisch. »Hat der Kellner die gebracht?«, fragte Merz und blickte sich um: Ein Kellner war nirgends zu sehen. Er schenkte ihnen ein, und die Schwirrfliege, eine Zweiband-Wespenschwebfliege, schwirrte davon, er spürte den Handteller kühl und nass werden.

»Deswegen will ich immer in dieses Lokal, hier passieren kuriose Dinge«, sagte Bruno mit einem Sommerlachen. »›Schatten, Staub und‹ … Ich hab’s! Das ist das Vereinsmotto dieses Hamburger Rasenschachklubs, wie hieß er gleich?«

»Haha SV.«

»Richtig!«

Eine Frau ging vorbei und grüßte Bruno. Sie trug kaum etwas am Körper, hatte dafür aber goldene Sandalen an.

»Hallo Elfi«, sagte er. »Also, ich glaube, das ist aus einem Gedicht von … Fleming, vielleicht auch Gryphius. Jedenfalls – lass es dir schmecken, mein Lieber – klingt es ziemlich alt. Paar hundert Jahre. Wie kommst du darauf?«

»Elfi?«, fragte Merz und schüttelte lächelnd den Kopf.

Bruno drehte sich um und sah der brünetten Frau nach, und Merz sah, dass auch sie sich umdrehte und Bruno lächelnd und mit einer vertrauten Geste kurz zuwinkte.

»Sie ist einsam, reizend und sehr klug,« sagte Bruno ernst. »Geld hat sie auch. Ich werde nicht schlau aus ihr.«

»Vielleicht möchte sie geheiratet werden«, sagte Merz. »Möchte Familie haben und ein Haus im Grünen und eins am Meer.«

»Meinst du?« Bruno drehte sich um. Aber die Frau war schon verschwunden.

Als Bruno vor einigen Jahren eingestellt und zu ihm ins Zimmer gesetzt worden war, hatte Raimund Merz in Gesprächen mit seinem neuen Kollegen noch lange das Blaue vom Himmel gelogen, sobald Bruno nach seinen Wochenendplänen, seiner Frau, seinen Kindern, seiner Freizeit fragte. Lange Zeit hatte er das Gefühl gehabt, diesem DeWitt ebenso wenig etwas anvertrauen zu können wie dem Rest der Redaktion des Tag. Und dem Rest der Welt.

Aber das war ganz anders geworden.

Irgendwann hatte er begriffen, dass entgegen aller Erwartung Bruno tatsächlich sein Freund geworden war, ein kritischer zwar – kritisch zu sein war Brunos Beruf –, aber ein aufrichtiger. Und als sie dann schließlich offen miteinander zu reden anfingen, hatte er nur unter Mühen die ganzen alten Lügen so zurechtzubiegen vermocht, dass sie sich einigermaßen mit den Fakten vereinen ließen. Floriane, die er vor Bruno in Marianne umgetauft und zur Osteopathin gemacht hatte, war auf diese Weise eine Zeit lang Orthopädin gewesen, ehe Merz sich sicher war, sie ungefährdet als Kieferchirurgin bezeichnen zu können.

»Wie kommst du auf Marianne? Meine Frau heißt Floriane. So heißt sie schon immer, glaub mir, ich kenne sie lange.«

Es war nicht wirklich schlimm, Kieferchirurgin zu sein. Auf einem Erdball, der anscheinend nicht um die Sonne rotieren konnte, ohne dass unzählige seiner Bewohner unter grässlichen Schmerzen litten, hatten Kieferchirurgen eine sicherlich wichtige, mitunter sogar tröstliche Funktion. Doch eine solche banale Feststellung oder überhaupt das, was gemeinhin unter Wahrheit verstanden wurde, erschien einem wie ihm oft seltsam anfechtbar, sobald man es offen aussprach. Immer wieder gab er deshalb dem Bedürfnis nach, eine Tatsache entweder ganz zu verheimlichen oder sie immerhin leicht abzuändern und damit zu schützen.

Schützen wovor? Darüber dachte er täglich nach.

Das ganze Lügen hing ihm furchtbar zum Hals heraus. Es machte das Leben so anstrengend. Merz war heilfroh, als Bruno ihm eines Tages riet, ihm endlich reinen Wein einzuschenken. Hatte er zwei Frauen, hatte er eine, zwei, drei oder mehr Töchter? Merz wusste selbst nicht, was er Bruno alles erzählt hatte. Damals nutzte er die Gelegenheit und bat den Kollegen, der Übergewicht, kurze Beine und dünnes Haar hatte, der die Frauen aber wie magnetisch anzog und auch ihm auf unerklärliche Weise ans Herz gewachsen war, um Verzeihung.

»Vertrauen, schon mal davon gehört? Könnte auch dir gefallen, Herr Merz!« Bruno boxte ihn mitten im Konferenzraum lachend auf den Oberarm. Es tat lange weh.

Seither machte er dem Freund nichts mehr oder kaum noch etwas vor. Bruno erfuhr entweder alles oder nichts von ihm. Sie redeten viel miteinander, am meisten über Fußball und Musik. Merz erzählte ihm von dem Licht und davon, was es ihm bedeutete. Er erzählte von der Feldmark und dem wilden Garten. Sogar von Moritz und Inger erzählte er. Bruno schilderte dafür ihm, was er an dieser oder jener Frau mochte und wie er sie erobert hatte oder von ihr erobert worden war – was gar nicht selten passierte. Nie äußerte er sich abfällig über eine Liebschaft.

Sie flachsten, sie schwiegen, sie lachten und betranken sich miteinander, aber sie konnten auch ernst sein, über Filme reden, alte oder neue, den unüberwindbaren Graben, der die späten von den frühen Genesis trennte, den Irrsinn der Sportler, den Irrsinn der Politik, den Irrsinn der Leute, und manchmal wusste Merz: Gab es einen Mann, mit dem er zusammen weinen könnte, weinen über den Irrsinn der Welt oder den Irrsinn des eigenen Lebens, dann war es dieser so lebendige Bruno, der unverheiratet war und keine Kinder hatte, der in einem klimatisierten Dreizimmerappartement in einem Hochhaus mit Portier am Elbufer wohnte und dort von einer Liaison zur nächsten schlitterte.

An den Landungsbrücken lag die Kruzenshtern. Merz traute zunächst seinen Augen nicht, aber dann erkannte er am Heck den Namen des russischen Viermasters, schwarzweiß hob sich der Rumpf der alten Padua vom Blau der Elbe ab. Als Junge hatte er ein großes Plastikmodell des Segelschulschiffs zusammengebaut und bemalt, viele Monate lang hatte der Windjammer seine Fantasie beschäftigt, aber das wirkliche Schiff gesehen hatte er nie. Mit einem Mal, vierzig Jahre später, lag es vor ihm.

Als sie durch die Speicherstadt zum Tag zurückgingen, jeder sein Sakko überm Arm und im gleißenden Licht die Augen zusammengekniffen, erzählte er von dem vormittäglichen Flashmob und sagte, wenn er sich nicht täusche, habe er eine früher mal ziemlich enge Freundin im Hauptbahnhof gesehen.

»Hm. Wie eng?«, fragte Bruno.

»Sehr eng«, sagte Merz.

»So eng?« Bruno presste Daumen- und Zeigefingerkuppe fest aufeinander.

»Enger«, sagte Merz.

Ingers Namen gab er lieber nicht preis, und das Mädchen verschwieg er ganz.

Die vier Wörter auf dem Transparent stammten tatsächlich aus einem 375 Jahre alten Sonett aus dem Barock. »Es ist alles eitel« hieß das Gedicht von Andreas Gryphius, und auf der Kopie, die ihm Bruno auf den Schreibtisch legte, las Merz noch am selben Nachmittag den ganzen Vers: »Ach! was ist alles dies, was wir für köstlich achten, / Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind.«

Am Abend nahm er seinen Mut zusammen und erzählte Floriane gleich beim Nachhausekommen von der morgendlichen Begegnung. Ihre ältere Tochter Priska deckte im Esszimmer den Tisch, Flori verschloss ihm mit dem Zeigefinger die Lippen, aber kaum waren sie in der Küche allein, forderte sie ihn auf zu erzählen, und er beschrieb ihr sogar die Blicke, mit denen Inger ihn, wie er meinte, in der Hauptbahnhofwandelhalle verfolgt hatte.

Floriane fragte: »Du bist aber nicht zu ihr hin und hast mit ihr geredet, oder doch?«

Merz tat und war ja auch entrüstet: »Natürlich nicht!«

Dann kam Priska in die Küche zurück, und sie unterhielten sich über Lindas Klassenreise, über seine berufliche Fahrt mit Bruno DeWitt in der folgenden Woche und darüber, dass es von Stuttgart ins Kinzigtal gar nicht weit war. Er könne, sagte Merz, die kleine Maus glatt besuchen fahren.

Die Johannisbeerbüsche litten furchtbar unter der Hitze, meinte Floriane. Sie hielt es für besser, wenn der Rasensprenger über Nacht anblieb. Merz fragte, wann mit einer Nachricht von Lindys Klassenlehrerin zu rechnen sei, bekam aber keine Antwort.

»Wie groß Pippa geworden ist«, sagte er, sobald Priska wieder im Flur verschwunden war.

Von Floriane kam bloß ein Atemgeräusch.

»Ich hab sie zuerst gar nicht erkannt.«

Von Flori kam nichts mehr.

Erst nach einer ganzen Weile sagte sie, und er hörte an ihrer dunklen Stimme, dass sie aufgebracht war: »Bitte Themenwechsel. Ich kann, ich will, ich werde mich damit nicht abgeben. Gott! Du glaubst ja nicht, wie ich juble, sollte es jemals wieder kühler werden.«

Sie aßen. Während Priska von ihrem aufregenden Tag erzählte – ihre und die Parallelklasse hatten offenbar den Flughafen besichtigt –, sah Merz in den Garten hinaus, wo Hecken, Sträucher und die Pergola in ein fast goldenes Licht getaucht waren. Noch abends lag das hochsommerliche Flirren der Hitzenachmittage in der Luft, und auch heute wieder sah man nirgends einen Vogel, ganz als wären sie alle längst verdurstet, die Tauben, die Meisen, die Amseln. Wo waren die Johannisbeeren? Rot wie roter Nagellack, dachte Merz. Und die Blätter alle welk, ausnahmslos. Es wird nichts mehr jemals wieder gut. Man kann es aushalten, ich kann es aushalten. Aber gut, gut wird es nie wieder, alles kaputt, alles vor langer Zeit kaputtgegangen, und das Einzige, was ich machen kann, ist, es zu vergessen und so zu tun, als wäre es anders.

Die Traurigkeit hatte seit dem Morgen auf der Lauer gelegen, jetzt witterte sie ihre Gelegenheit und kam heran; er schenkte sich Wein nach.

Seine Frau und seine Tochter unterhielten sich. Er war in Gedanken, hörte nicht zu, verstand daher nicht, wovon sie redeten.

»… und dann habt ihr alle angefangen zu tanzen, einfach so?«, fragte Floriane. »Auch die Jungs?«

Prissy strahlte. Sie spießte eine Nudel auf, drehte die Gabel in der Luft und ließ die Nudel ein paar Mal hin und her tanzen und Kreise beschreiben.

»Ja! Alle!«, sagte sie begeistert. »Erst standen wir nur so im Terminal rum und taten, als würden wir einchecken oder jemanden abholen. Ein paar von uns hatten sogar Rollkoffer oder Rucksäcke mit. Und die Lehrer einen CD-Player. Pünktlich um zehn stellten sie ihn an. Sehr laut! Mitten im Terminal. Dazu hatten wir die Erlaubnis. Und alle haben wir losgetanzt, wild durcheinander, einige das, was sie in der Tanzschule lernen, die meisten so wie ich einfach nur so. Und alle Fluggäste an den Schaltern und die Stewardessen, die vorbeikamen, alle kriegten sie solche Augen!«

»Was ihr euch ausdenkt«, sagte Floriane. »So was wäre uns nie eingefallen. Oder?« Sie sah ihn an; sie lächelte, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen. Es war kein wirkliches Lächeln, sondern die Maske, die Frau Dr. Lepsius täglich acht Stunden lang in ihrer Praxis trug, damit niemand ihr Gesicht sah, ihre Müdigkeit und ihr Befremden.

Stumm schüttelte er den Kopf. Was Flori gesagt hatte, ergab keinen Sinn. Doch er war zu erschöpft für ein Wortgefecht. So manches war ihnen eingefallen, gerade Flori, die sich von Lehrern oder Profs nie hatte etwas vorschreiben lassen, und so lange her war das alles noch gar nicht. Allerdings hatten auch sie zum Glück nicht in die Zukunft sehen können.

Priska sprach aus, was ihr Vater dachte: »Früher gab es nun mal keine Flashmobs. Da gab es andere Aktionen in der Öffentlichkeit. Demos, klar. Aber auch von Künstlern organisierte Happenings zum Beispiel. Oder politische Sit-ins.«

»Und jede Menge anderen Kram«, sagte Floriane.

Selbst schuld, wenn du eine Zahnärztintochter heiratest, dachte Merz und trank. Engagement und menschliches Miteinander hatten für Flori einherzugehen mit ordentlichen Einkünften, deshalb war es für sie ausgemacht, dass beide Mädchen, Priska Marie und Linda Annabella, nach dem Abi Medizin, Zahnmedizin studieren würden, wie ihre Mutter, wie ihre Großmutter. Etwas anderes kam gar nicht infrage.

»Ich wäre ja gern mal bei so einem Die-in dabei«, sagte Merz trotzig und stellte sich vor, Bruno und er ließen sich in der Mittagspause an den Magellan-Terrassen mitten unter den ganzen Büromenschen aufs Pflaster fallen, als hätte sie der Schlag getroffen.

»Tot! Zwei Mitarbeiter des Tag in der Hafencity zusammengebrochen«, würde die Schlagzeile lauten.

»Nice«, sagte Priska. »Bei einem Die-in hätte ich am Flughafen auch gern mitgemacht, aber das haben die Lehrer natürlich abgeblockt. Gähn! Zu makaber. Abstürze und so. Nine-Eleven. Nicht mal einen Freeze haben die Sicherheitsmenschen vom Flughafen erlaubt. Gähn. Awkward.«

»Einen Fries?« Flori kniff die Augen zusammen, verständnislos schüttelte sie den Kopf.

Hilfesuchend sah Prissy ihn an und verdrehte die Augen.

Merz sagte: »Bei einem Freeze bleiben alle wie eingefroren stehen und bewegen sich nicht mehr. Der Freeze ist das Gegenteil vom Tanz-Flashmob. Stimmt doch, oder?«

Priska nickte. Sie hatte einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, deshalb beugte sie sich zu ihrer Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Love you«, sagte sie.

»Danke, wieder was gelernt«, sagte Floriane.

Merz beobachtete seine Frau: ihre Zerknirschung, weil sie sich ausgeschlossen fühlte. So war sie schon als junges Mädchen gewesen. In Floris Augen waren Kinder eine eigene Spezies, auch ihre: »Neandertalernachwuchs«. Sie verstand Kinder nicht, und aus kindlichem Trotz wollte sie sie auch gar nicht verstehen, schließlich hatte sie früher auch keiner verstehen wollen. Kinder waren die Zukunft, aber sonst? Sie machten ihr Angst; über Linda, ihr Elsternkind, sagte Floriane oft, sie sei verrückt.

»Ich finde ja tanzen besser als sterben«, lachte sie. »Wie lang hat das Ganze denn gedauert? So ein Flashmob ist doch meistens eher kurz, dachte ich.«

»Na ja, halbe Minute. Dann kam das Transparent. Und dann war Schluss, und alle haben so getan, als wäre nichts gewesen. Das war noch mal echt krass.«

»Und dieses Transparent«, fragte Merz, »was stand da drauf?«

»Ein kurzer Satz von Wolfgang Borchert«, sagte Priska. Sie zuckte mit den Achseln und stand vom Tisch auf. »Das war nun mal – huhu! – die Vorgabe für den Flashmob-Tag. Heinrich-Heine-Gymnasium: zwei, drei berühmte Worte von Heini Heine. Wolfgang-Borchert-Schule: zwei, drei berühmte Worte von Wolfgang Amadeus Borchert. Gezeichnet: die Schubladenbehörde. Gähn. Awkward.«

»Ordnung ist das halbe Leben«, sagte er überflüssigerweise.

Priskas unerbittlicher Kommentar lautete: »… und die andere Hälfte Arbeit, klar, Papa.«

»Was stand denn nun drauf?«, fragte Floriane.

Ihre Tochter war schon im Flur, als sie noch rief: »Was wohl? ›Sag nein!‹ Gähn. Say no.« Prissy lachte spöttisch, und kurz darauf flog oben ihre Tür zu.

Am Tisch fragte Floriane, als wären sie im Fernsehen: »Noch Salat?« Dabei sah sie ihn an, hob die Hände und flüsterte: »Was ist los mit dir? Muss ich mir Sorgen machen?«

Es lag vielleicht an der Monotonie einer täglich vierundzwanzig Stunden lang abgesicherten Existenz, eher aber an der festgefahrenen Lage, ja der einzementierten Schieflage der späten mittleren Jahre, wenn ein Ehemann und Vater, ein erfahrener Mann wie Raimund Merz praktisch stündlich damit rechnete, dass alles in sich zusammenstürzte und die Trümmer wie Schaumstoff den Bach runtergingen.

Nie beglichene, uralte Rechnungen mussten dafür verantwortlich sein, wenn er drei Tage nach dem ersten Wiedersehen alle Vorsicht über den Haufen warf und auf die Suche nach Inger ging. Bei vollem Bewusstsein und doch wie von Sinnen stürzte er sich kopfüber in ein Wagnis, das ihn von Anfang an zugleich berauschte und verzweifeln ließ.

Hatten sie sich wirklich in Berlin zuletzt getroffen?

An ihrem letzten Abend am Müggelsee war es gewesen, im Garten ihres gemeinsam gemieteten Ferienhauses ein paar Kilometer südlich von Köpenick. Seither hatte es keinerlei Kontakt mehr zwischen Moritz und Inger und Flori und ihm gegeben, und er war all die Jahre standhaft geblieben und hatte nie auch nur den leisesten Versuch unternommen, etwas über Rauchs in Erfahrung zu bringen.

Es gab von früher keine Freunde mehr, die einmal Moritz’ und auch seine gewesen waren, und so war der einzige Mensch in seinem Umfeld, der sich an Rauchs noch erinnerte, Floriane, der aber noch weniger als ihm daran lag, über den Verbleib der einstigen Freunde und des Kindes informiert zu sein. Flori war nie gut auf Pippa zu sprechen gewesen, und in ihren Augen hatte sie mehr als triftige Gründe dafür. Wie sollte die Tochter anders sein als die Mutter?

Als Merz an diesem Donnerstag zum allerersten Mal ihre Namen in die Maske der Suchmaschine eingab, war er verblüfft; denn nichts kam dabei heraus. Sie hatten keine Firma, kein Büro oder Atelier. Der große Architekt, der Moritz immer hatte sein wollen, war nicht mal ein kleiner, wie es schien. Und auch Inger war anscheinend weder als Künstlerin oder sonstwie freiberuflich tätig noch irgendwo angestellt. Beide waren sie in fast fünfzehn Jahren nie in Erscheinung getreten, sie waren weder Mitglieder eines Vereins noch bei einem sozialen Netzwerk registriert.

Als Niemand aufzutauchen und als Niemand wieder zu verschwinden war respektabel. Nur konnte man dazwischen wenigstens versuchen, auch für andere da zu sein, jemandem zu helfen oder zuzuhören. Aber wer tat das schon, er selber so wenig wie seine Frau, Flori so wenig wie Inger, die sich genauso stets nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert hatte.

Ihre Malerei, ihre Adoptivtante, ihren Mann und später das Kind.

Und Moritz? Was gab er nicht immer an mit der Erfolgsgeschichte seines Vaters, erst recht, als der Tanke-Rauch längst alles verloren hatte! Moritz sah darin die Gelegenheit, jede ihm angeblich aufgepfropfte Unternehmerambition abzuschütteln, und brüstete sich fortan mit erfolgreichem Aufbegehren. Im Internet aber fand Merz kein einziges Foto von ihm und von den einstigen Tankstellen nichts als ein paar grobkörnige Aufnahmen verblasster, halb zerborstener Leuchtstofftafelsammlerstücke, auf denen der lange vergessene Firmenname zu lesen war: Rauch & Kossleck.

Wo wohnte man, wenn man niemand war?

Allem Anschein nach waren zumindest Inger und Pippa irgendwann aus Berlin zurückgekehrt und in den Hamburger Nordosten gezogen, denn weshalb sollte das Mädchen sonst auf eine Schule am Alsterlauf gehen?

Pippa war die Einzige, über die sich etwas herausfinden ließ. Offenbar war sie eine Zeit lang Kunstrad gefahren. Sie hatte ihre Plüschhundesammlung fotografiert und alle Bilder sorgfältig untertitelt und nach Größe und Farbe sortiert auf die Webseite einer Stofftierbörse geladen. Hatte Moritz ihr dabei geholfen? Es war wirklich rührend. Zumal man auf mehreren der süßen Fotos im Hintergrund die Mutter der kleinen Hundenärrin sah. Die Frau mit den lachenden Augen, über denen noch immer der alte schöne Schatten lag, war eindeutig Inger.

Aufgewühlt und reizbar, seit er am Morgen die Fotos im Netz gefunden hatte, aß Merz an diesem quälend heißen Donnerstag mit Bruno DeWitt in der Hafencity zu Mittag. Er ärgerte sich, ohne das Bruno zu sagen, über einen Aschenbecher vor ihnen, der unter seinem Deckel offenbar vor sich hin kokelte und einen üblen Geruch verbreitete. Es war dieser stinkende Ascher, mit dem kurz darauf ein abenteuerlicher Nachmittag begann.

Bruno berichtete von der Reportage, an der er schon seit Wochen schrieb. Die Landschaftsmalerei der Schule von Barbizon, zum Verzweifeln. Viel zu lange hatte er die notwendigen Recherchen vor sich hergeschoben.