Seeland Schneeland - Mirko Bonné - E-Book

Seeland Schneeland E-Book

Mirko Bonné

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Beschreibung

Wales im Jahr 1921: Der Erste Weltkrieg und die Spanische Grippe haben gewütet, Europa ist am Boden. Der junge Merce Blackboro ist dem Fronteinsatz in der Antarktis entgangen, leidet jedoch seit seiner Rückkehr von Shackletons gescheiterter Endurance-Expedition unter der heimischen Enge. Umso mehr, als Ennid Muldoon, die Liebe seines Lebens, eines Tages fluchtartig verschwindet, um ihr Glück in Amerika zu suchen. Mit ihr auf demselben Auswandererschiff reist inmitten der Elenden Europas der Tycoon und Trinker Diver Robey, der von einer Flugverbindung zwischen der alten und der neuen Welt träumt. Als der Dampfer in einen gewaltigen Schneesturm gerät und manövrierunfähig auf offener See treibt, scheinen sich die Hoffnungen aller – ob arm oder reich – zu zerschlagen. Merce muss einen Weg finden, Ennid und damit sich selbst zu retten. In seinem für den Alfred-Döblin-Preis nominierten großen neuen Roman erzählt Mirko Bonné kraftvoll und mitreißend von der verzweifelten Sehnsucht einer Zeit hundert Jahre vor unserer eigenen zerbrechlichen Gegenwart.

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Seitenzahl: 514

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Inhalt

[Cover]

Titel

Zitat

1. EIN HUNDEMÜDER SCHWIMMER

2. IM WOLKENMEER

3. DAS MUSEUM IN DER SKINNER STREET

4. MÖWEN ÜBER DEM EBBW

5. BEGEHREN, WOZU?

6. POST AUS PORTSMOUTH

7. TRIBUNAL

8. URTEILSVERKÜNDUNG

9. EINE SUITE IM MOND

10. DAIQUIRIS UND LÄUSE

11. REGENMORGEN IN DER AUTOMOBILWERKSTATT

12. GREAT WESTERN MAIN LINE

13. NIEMAND NEEMT AFSCHEID

14. DIE HOHE KUNST DER SELBSTHERRLICHEN AUSFLÜCHTE

15. VOM GLÜCK, ZU SPÄT ZU KOMMEN

16. BRIEF AN EINEN RIESEN

17. KRISTINA

18. SCHNEETREIBEN IN LONDON-PADDINGTON

19. EIN GÜRTEL AUS DREI STERNEN

20. DIE KATZE MISERY

21. MASKENBALL

22. TÜR ZU EINEM LEEREN ZIMMER

23. DAS VERSCHOLLENE TELEGRAMM

24. VIER UNERWARTETE BEGEGNUNGEN

25. DAS UNGEHEUER AUS CLEVELAND

26. AENIDE UND DANIELLE

27. DRECK IM OHR

28. SHIMIMURAS LÄCHELN

29. DIE NACHTIGALL AUS DEM KOFFER

30. SWONA UND STROMA

31. DAS ENDE DER ENGE

32. REISEVORBEREITUNGEN ZUR GEISTERSTUNDE

33. DAS MEETING IN BARMOUTH

34. DU WIRST SEHEN, DU WIRST SEHEN

35. GOLDRAUSCH

36. DIE WEISSE FLOTTE

37. OGILVY’S HOSTEL

38. DIE NIEMANDSINSEL

Zitatnachweis

Dank

Autorenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

Alle Menschen lieben, ohne sich der Einzigartigkeit ihrer Gefühle bewusst zu sein.

BORIS PASTERNAK

SEELAND SCHNEELAND

1

EIN HUNDEMÜDER SCHWIMMER

Dort, wo wir hingehen, gibt es Bäume, die höher sind als die allerhöchsten Häuser auf der Welt. 20 riesige Männer, die sich an den Händen halten, können um ihre Stämme nicht herumfassen. Meine Eltern erzählen mir alles über das Land, wo wir hingehen, und ich stelle es mir vor! Dort regnet es nicht immer, bloß manchmal, wenn die Blumen und das Gras Durst haben.

Und wir sind dort nicht mehr arm. Mein Vater hat Arbeit, meine Mutter einen Garten und ich ein Pferd, auf dem ich zur Schule reite, wo ich eine Lehrerin habe, die mich nach vorn an die Tafel ruft, damit ich allen zeige, woher ich komme und wie schön man dort lachen kann.

Aber ich werde nicht lachen.

Ich bin übers Meer gekommen, werde ich sagen, ich komme von der Niemandsinsel. Aber jetzt bin ich hier.

Der Ausguck seines Kontorzimmers lag weit oben in der Backsteinmauer, von dort überblickte Merce Blackboro die lebendige Welt. Wo Richtung Nordosten mit der Geschwindigkeit einer fliehenden Schnecke die Dunkelheit aufzog, endete die Reihe halb fertiger, halb schon wieder verfallener Gebäude, während in den letzten Flecken Helligkeit die hier und da unterspülte Kaistraße ins Hafenbecken überging, als würde sie abtauchen und dazu einladen, dasselbe zu tun, jedermann einladen, abzutauchen und zu verschwinden.

Drüben bei den früheren Alexandra Docks, in dem Dunst, den der Regen vom Fluss aufsteigen ließ, machte ein furchtbar rostiger Frachter fest.

Ich bin übers Meer gekommen, werde ich sagen, ich komme von der Niemandsinsel, aber jetzt bin ich hier …

Angestrengt blickte Merce hinüber. Einen Fuß auf dem Boden, den anderen auf dem Sims, saß er auf dem Fensterbrett, der Schriftzug am Bug des alten Kastens ließ sich jedoch nicht entziffern. Ein Weile beobachtete er das Manöver: Das Schiff drehte bei, im prasselnden Regen schwenkten die Ladebäume aus … Der letzte Schlepper der Fergusons, die Lilith, aus deren dickem hellblauem Schornstein Qualm quoll, bugsierte den Frachter an die Kaimauer.

Dann aber musste er eingeschlafen sein. Oder die Zeit an diesem Nachmittag des 21. Februar 1921 war stehen geblieben.

In seinem Innern war da wieder die merkwürdige Kinderstimme, die er seit einiger Zeit hörte, sobald er müde und traurig wurde – oder umgekehrt: sobald die Traurigkeit, die kaum noch nachließ, ihn so erschöpfte, dass er oft mitten am Tag die Augen zumachen musste und einschlief. Zumindest schien ihm das so. Denn zugleich war er wach – er hörte ja die Stimme.

Mit wem redete das Mädchen?

Es klang, als würde ihm eine Acht- oder Neunjährige in einem nicht sehr vollen, hallenden Laderaum etwas erzählen, unaufgeregt, erstaunt eher von dem, was ihr durch den Kopf ging, als von dem, was sie vor sich sah.

Dort, wo wir hingehen, ist der Wald so groß, darin können wir das ganze Leben verbringen, sagt Mommy, und nie werden wir uns fragen, wo der Wald aufhört.

Dort, wo wir hingehen, werden wir für immer bleiben. Da gibt es Flüsse, die geben den Ländern, die sie durchfließen, ihre Namen, und in den Flüssen leben riesige Fische, die von einem Meer zum anderen schwimmen, vom Eis im Norden in die Wärme der Tropen. Mommy weiß, was Tropen sind. Ich stelle sie mir golden vor, glitzernd, wie Inseln in der Sonne.

Ruhig und bedacht sprach das Kind jeden seiner Sätze. Es wirkte älter, wenn man genau hinhörte. Merce hatte keinen Zweifel daran, dass es sich an ihn wandte. Ja! Es war ein so lebendiger Eindruck, dass er sich gar nicht fragte, ob die Stimme bloß Einbildung war oder ob diese kindlichen Monologe von einem Land des Glücks seinen eigenen Wünschen und Träumen Ausdruck gaben, weil er diese vergessen oder verdrängt hatte.

Dort, wo wir hingehen, werden wir für immer bleiben …

Als er aufwachte und wieder hinaussah, lag der rostige Dampfer reglos und stumm im Zwielicht unter der Transporterbrücke. Kein Seemann war an Deck zu sehen. Auch das alte Ungetüm der Stahlbrücke bewegte sich nicht. Nur der endlose Regen rauschte weiter in den Usk, denn auch an diesem Tag strömte der sich durch Newport schlängelnde Fluss nicht Inseln in der Sonne entgegen, sondern war dunkel und unwirtlich wie der Meeresgrund.

Der Usk und der Ebbw, die zwei Nebenflüsse des Severn, in denen er als Kind mit seinem Bruder Dafydd und seiner Schwester Regyn im Sommer nach Krebsen getaucht hatte, waren reißende Ströme geworden. Schlierig grün trat der Ebbw über die Ufer und überschwemmte die Felder zwischen Caldoen und Mynyddislwyn. Von Mai bis August tummelten sich für gewöhnlich Forellen in der Strömung des Usk, den sein Vater so liebte. Leuchtend gepunktet versteckten sich die Fische hinter Steinen, und sobald der Schatten eines Menschen auf der Wasseroberfläche erschien – dem Himmel der Fische –, flitzten sie davon.

Jetzt aber spuckte der Usk schon seit Wochen öligen Morast in die Werften und auf die Kranstraßen.

MONSUN ÜBER DEM WINTERLICHEN SÜDWALES

Auf dem Schreibtisch lag das South Wales Echo. Das Blatt suchte sein Heil in Zynismus. Gefühlig, detailliert und unterhaltsam wurde von Alten und Kindern berichtet, die zwischen Merthyr Tydfil und Swansea in früheren Bächen oder Tümpeln ertrunken waren.

IST DIESER REGEN DIE RACHE DER DEUTSCHEN?

Keinem Reeder, keinem Kapitän, waren sie halbwegs bei Verstand, könne man es verdenken, wenn sich nur noch selten ein Frachtschiff aus Irland oder Übersee den Severn stromaufwärts nach Newport verirre – düster, mit zuckenden Lidern, hatte das sein Vater Emyr gesagt und dabei den weißen Schopf geschüttelt.

Die von Schiffbau und Seehandel lebenden Firmen des alten Blackboro und der anderen Newporter Patriarchen hatten mitgeholfen, die Deutschen in die Knie zu zwingen. Sie hatten den Großen Krieg überstanden, der seit fast zweieinhalb Jahren Geschichte war. In fast jeder Familie hatte in den Jahren seit 1918 die Spanische Grippe gewütet und nicht selten den Firmeneigner oder seinen Erben getötet. Die Dörfer rings um Newport und an der Küste bis Cardiff verwaisten und verfielen, seit immer mehr junge Leute in den Städten Arbeit suchten oder, weil sie nicht fündig wurden, nach Amerika, Kanada und Australien auswanderten. Die Dempseys, Blackboros, Fergusons und Frazers hatten sich allen Widerständen zum Trotz behauptet und hätten nie für möglich gehalten, nach Krieg, Seuche und Landflucht sich Wind und Wetter geschlagen geben zu müssen. Nach drei Monaten fast ununterbrochener Regenfälle waren viele alteingesessene Betriebe mit ihrer Weisheit genauso am Ende wie das Echo.

KAPITULATION VOR WOLKENBRÜCHEN

Immer mehr Herren mit Frack überm Overall zogen sich in ihr Ledersesselkontor zurück, um dem Stammhalter im feinen Zwirn die Abwicklung der Pleite wegen Dauerregens, Überschwemmungen und Wasserschäden zu überlassen.

So weit aber war es noch nicht mit Blackboro & Son, Schiffszimmerer seit 1743. Merce hob das Knie vom Fensterbrett und humpelte, weil ihm das Bein eingeschlafen war, zum Schreibtisch. Er sah auf den Chronometer, den sein Großvater in eine Verdickung der Kirschholzplatte eingelassen hatte: Tisch, Uhr und Opa waren 1865, nachdem die Unabhängigkeitsbewegung gescheitert und das Walisische als Unterrichtssprache verboten worden war, an Bord der Mimosa nach Patagonien gesegelt, um den übervölkerten Kohlebergwerkstälern zu entkommen. 75 Kolonistenfamilien aus Südwales hofften, einen von den Engländern noch unabgesteckten Flecken Erde zu finden. »Biddmyrd os syrfeddod« lautete, nach einem Choral der Mystikerin Anne Griffith, ihr Wahlspruch: »Der Wunder viele werden geschehen.« Und tatsächlich, die Großeltern kehrten zwei Jahre später nach Casnewydd, wie sie Newport noch nannten, zurück, mit ihnen der Tisch aus Kirschholz und mit dem Tisch der darin eingelassene Chronometer.

Der Minutenzeiger zitterte seit 56 Jahren, bevor er auf die nächste Ziffer sprang. Merce konnte sich das Verstreichen der Zeit gar nicht anders vorstellen: Es war kein Verfließen oder Verlöschen, denn immer, am Ende jeder einzelnen Minute, gab es einen Punkt, an dem die Zeit zitterte, als würde sie zögern und aufbegehren, ein kurzes, rebellisches Beben, ehe dann doch alles, was vergehen musste, sich fügte und unwiederbringlich verging.

Er warf einen Blick auf den Brief, den er am Mittag begonnen und irgendwann am Nachmittag liegen gelassen hatte. Er bestand aus einem knappen, freundlichen Schreiben an einen Reeder aus Swansea, von dem bekannt war, dass er vor dem Ruin stand, sowie einer tabellarischen Kostenauflistung. Der Brief schloss ab mit einem Strichmännchen, das einen Vogelkopf hatte und an einer großen Blume schnupperte – die Unterschrift eines offenbar Verrücktgewordenen.

Er trat wieder ans Fenster. Nichts hatte sich getan. Das Kind in seinem Inneren schwieg. Ebenso stumm lag der namenlose Frachter im prasselnden Regen am Kai. Boyo Ferguson, Thronerbe des betagten Schlepperkönigs von Newport, Boyo, das Mensch gewordene Schleppschiff, hatte Woche um Woche einen weiteren Bugsierdampfer aus der Schleppdampfschiffflotte seines Vaters stillgelegt, bis einzig die Lilith übrig geblieben war. Merce war mit Boyo zur Schule gegangen. Der junge Ferguson und er hätten unterschiedlicher nicht sein können. Auf Schultern und Rücken hatte Boyo mehr Haare als er selber am ganzen Körper. Boyo wurde Geschützmatrose auf einem Panzerschiff, Merce dagegen hatte vor dem Krieg Reißaus genommen und war vor sieben Jahren mit Shackleton ins ewige Eis gesegelt.

Verglichen mit den Stürmen, die er auf Elephant Island in der Subantarktis erlebt hatte, war das Windbrausen über Newport ein Lufthauch. Und das ganze Wasser, das seit Monaten aus dem Himmel rauschte, würde kaum mehr als den See füllen, der bei Trelech-a’r-Ryddws unmittelbar an der Küste lag und dessen Wasser schwarz war, auch weil eine Unmenge Aale darin lebten. Als wollte er sich seine Fische zurückholen, rollte der Atlantik gegen die Deiche. Früher, an öden Herbstsonntagen, wenn sie mit Eisenbahn und Fahrrädern nach Trelech-a hinausfuhren, ergriff Regyn immer irgendwann die Panik, die See könnte ausgerechnet in diesem Moment den schmalen Küstenwall durchbrechen und sich die dahinter Schutz suchende Pfütze voller Glasaale einverleiben – eine Angst, die er seiner Schwester nie ganz hatte nehmen können, obwohl er sie besser verstand, als Reg es ahnte. Er fragte sie einmal, wovon sie sich eigentlich derart bedroht fühle. Wer oder was, wollte er wissen, könne ihr so gefährlich werden wie das Meer einer Küste?

»Was wohl?«, erwiderte sie. »Manchmal bist du so ein Idiot.«

Sie trat kräftig in die Pedale und war dann zwei Stunden lang, ohne ein weiteres Wort mit ihm zu reden, vor ihm her gefahren, fast bis zum Stadtrand, während er, einfältig, aber ihr Bruder, überlegte, was oder wen sie mit »Was wohl?« meinen könnte.

War das Mädchen, dessen Stimme er hörte, Regyn?

Apokalyptische Bilder verfinsterten ihm seit Längerem die Bürowochen. Allein saß er im Kontor, kritzelte Vogelfiguren, von denen er nicht wusste, was sie zu bedeuten hatten, auf unabschließbare Geschäftsbriefe, zerknüllte die Blätter, warf sie ins Zimmer und grübelte, ob es gut war, von einem Einsatz auf einem Panzerkreuzer oder in den Schützengräben an der Marne verschont geblieben zu sein.

Regyns erster Mann Herman war nach Frankreich verschifft worden und von der Front nie zurückgekehrt. Ihn dagegen hatten bei Kriegsausbruch der Zufall und der Trotz seiner damals siebzehn Jahre ans vergletscherte Ende der Welt geführt. Er war mit Ernest Shackleton auf der Endurance gefahren, im Packeis war der Dampfsegler zerdrückt worden und gesunken, und etwas tief in seinem Innern, das er niemandem je gezeigt hatte, aber das ihn lange hatte begierig sein lassen auf die Weite und die Fremde jenseits von Südwales, war offenbar in der Antarktis geblieben und dort mit ihrer Dreimastbark verloren gegangen.

Shackletons Ruhm gründete darauf, dass er alle 27 Männer, die 1914 zusammen mit ihm ins ewige Eis aufbrachen, nach 635 Tagen Unauffindbarkeit rettete und zurück in die zivilisierte Welt brachte – wo einige schon nach wenigen Monaten in dem Krieg, der die zivilisierte Welt verheerte, elend zugrunde gingen.

An Shackletons Ruhm änderte das nichts. Und dennoch beschlich Merce – der erst sein Küchenjunge, dann sein Steward und Adjutant, schließlich sein Assistent gewesen war – immer öfter der Verdacht, dass von seiner in so jungen Jahren in Stücke gegangenen Person nicht alles aus der Antarktis zurückgekehrt war. Irgendein bedeutsames Bauteil seines Gemüts musste im Packeis des Weddellmeers, auf der felsigen Elefanteninsel oder den Gletschern von Südgeorgien zurückgeblieben sein.

An seinem Kontorzimmerfenster sitzend fragte er sich einmal mehr, was es sein konnte – Selbstvertrauen, Selbstsicherheit, Lebensantrieb, ein Lebensziel? Nur Shackleton war der Lösung dieses Rätsels nahegekommen, und auch bloß einmal. Im vergangenen Jahr hatte Sir Ernest auf einer Vortragsreise Newport besucht und während eines Small Talks an seinem Wagen zu ihm gesagt, er solle nicht vergessen, wer ihn gerettet habe: Niemand habe Merce Blackboro gerettet außer Merce Blackboro selbst.

Selbst dem ruhmreichen Sir nahm er das nicht ab. Nur dass sie zusammenhielten und nicht aufgaben, hatte ihn und die anderen vor dem sicheren Erfrieren bewahrt – der Rest war eine aberwitzige Aneinanderreihung absurdester Zufälle.

Er hatte seine Schwester nie danach gefragt, irgendwann aber war er überzeugt gewesen, dass Reg mit ihrem »Was wohl?« in Trelech-a’r-Ryddws nur das Leben gemeint haben konnte.

Wenn es ein Meer war, dieses Leben – unergründlich, unbeherrschbar, das Reich der Kraken, Seeleoparden und Haie, das gefräßig Schiffe und Küsten verschlang, wie es sich auch selbst verschlang und dabei doch das blieb, was es seit Urzeiten war, der Hort allen Werdens und Vergehens –, dann konnte er in diesem Albtraumatlantik nur ein hundemüder Schwimmer sein. Der Labrador Checker, der durch den Ärmelkanal schwamm, dürfte, als man ihn an einem Strand bei Calais aus dem Wasser zog, nicht so müde gewesen sein. Merce war 24, ein blasser junger Mann ohne besondere Merkmale außer den Narben von Frostbeulen. Er blickte in den Regenhimmel. Er würde eine der ältesten Firmen in einer versinkenden Stadt erben. Er war der letzte Blackboro.

So wie die Fische in den Flüssen ziehen am Himmel die Wolken dahin, unendlich viele riesig große Wolken, lauter Schwärme aus Wolken, sagt Mommy. Hast du so was schon gesehen?

Ja, solche unerklärlich lebendig wirkenden Wolkenschwärme hatte er über dem Weddellmeer gesehen und nie mehr vergessen.

Zwischen den Wolken silbern glänzend tauchte eine Dreipropellermaschine auf und verschwand dann wieder, wie ein Fisch in der Strömung.

Er habe Liebeskummer, hieß es, und höchstwahrscheinlich stimmte, was seine Mutter und seine Schwester, die Erfahrung in Liebesdingen hatten, behaupteten. Ja, er gab es zu: Er hatte immer nur sie geliebt, das eine Mädchen, das jetzt eine Frau war und mindestens so unglücklich wie er. Kummer, das wusste er, konnte keine Grundlage für das sein, was zwei Menschen miteinander verband, zumal wenn es in Wahrheit eine Schwermut war, der nicht mal er selber über den Weg traute. Keiner in seiner Familie war schwermütig. Warum er? Wieso hörte er dieses Kind?

2

IM WOLKENMEER

Durch dichte graue Wolken stieg die Dreipropellermaschine höher und höher. Lautlos zogen die Wasserdampfschwaden an den Fenstern vorbei, hüllten das Flugzeug ein und staffelten sich unbegreiflich breit, tief und hoch übereinander. Jeden Moment würde das Gewölk auseinanderreißen, den Blick freigeben auf das Himmelsblau, das unverändert darüberliegen musste.

Doch nichts geschah. Auf Wolken folgten noch mehr Wolken, zwischen ihnen der Dunst verband sie mal lockerer, mal zäher, dann erneut Schwaden, wieder dichte, milchweiße Wolkenbänke, Wolkeninseln, eine Dünung aus langsam auf und nieder wogendem Nebel.

Sie waren zu dritt in der zwar niedrigen, doch hellen und nicht engen Kabine. Ein Pluspunkt. In den vier Doppelsitzreihen konnte jeder von ihnen an einem Fenster sitzen, und diese Gelegenheit hatte sich keiner entgehen lassen, weder Bryn noch er, und auch die junge Stewardess nicht, die eigens für solche Rundflugtermine mit amerikanischen Kaufinteressenten ausgebildet war, hieß es. Davon, dass das Mädchen ungewohnt nervös sei, hatte kurz vor dem Start der kaum ältere Pilot seine beiden Passagiere in Kenntnis gesetzt, wohl ein lokaler Scherz, denn die übers Flugfeld herbeieilende junge Frau unter dem Regenschirm war zwar etwas außer Atem, doch die Ruhe selbst. In ihrem rosafarbenen Wollmantel erinnerte sie an einen Flamingo, als sie die alberne kleine Gangway heraufhüpfte und Wangenküsse mit dem Piloten tauschte. Unter dem anbrausenden Geknatter der Motoren waren sie zu ihren Sitzen gegangen.

Sie saß hinter Bryn, und der hagere große Junge mit dem gewinnenden Lächeln hockte vorn in der Kanzel, wo er hingehörte. Robey sah von seiner Sitzreihe aus nur eine Schulter und den Hinterkopf mit der Lederkappe, während vor den Cockpitfenstern der Bugpropeller Wolken zerhäckselte.

»Irgendwer hier oben muss mächtig Hunger auf Milchsuppe haben«, sagte er hinüber zu Bryn, der mit seinem Bryn-Meeks-Nicken antwortete, devot und ironisch zugleich.

Er fragte sich, ob Bryn nervös war, ob er selbst es war, und warf einen Blick über die Schulter auf ihre junge Begleiterin. Hinter ihrem Landsmann Meeks zu sitzen schien ihr sympathischer zu sein, weniger riskant jedenfalls. Sie hatte dickes blondes, fast golden schimmerndes Haar, die Frisur einer Kartenabreißerin am Broadway.

Nein, nervös war sie nicht. Sie sah aus dem Fenster, auf die Wolken, wie Bryn und wie er selbst. Währenddessen achtete er mit allen Fasern seines Körpers auf jedes Klopfen, Surren, Brummen oder noch so leise Klirren, das das Flugzeug von sich gab.

Sie war stark geschminkt. An einer Wange auf Höhe der Nase glitzerte was. Wahrscheinlich war sie ohne dieses Hautfresko blass. Manchmal lächelte sie, er fragte sich, worüber, als sie sich plötzlich zu ihm wandte und ihn ansah, frontal, mit einem so offenen Blick, wie ihn in ganz Manhattan schon seit Jahren niemand mehr hatte.

»Alles in Ordnung bei Ihnen, Sir?«, fragte sie und lächelte.

Die langen Wimpern, die Propeller ihrer Augen.

Er hob eine Hand zum Dank und sah hinter dem Fenster das durch die Lüfte treibende Watteweiß der Wolke, die sie soeben durchflogen.

»Und bei Ihnen, Mr. Meeks«, hörte er, »alles in Ordnung?«

»Irgendwer da unten muss ziemlichen Hunger auf Milchsuppe haben, Miss«, antwortete Bryn mit dem unüberhörbar walisischen Akzent, den er sich seit der Ausschiffung in Cardiff wieder zugelegt hatte.

Diese Bemerkung war auf ihn gemünzt, er beschloss aber, nicht in der Stimmung zu sein, seinen Assistenten zur Schnecke zu machen. Nach ein paar weiteren Minuten Blindflug riss von einer zur anderen Sekunde der Himmel auf, und umgeben von strahlender Bläue ging die Harper Airrant mit den drei schweren Liberty-Motoren in den Horizontalflug über, legte sich auf die Luft und, so schien es, verschnaufte von den überstandenen Strapazen.

Eindeutiger Minuspunkt. Er schnallte sich ab. Auch die Gurte, die einem ins Fleisch schnitten und die Luft abdrückten – nicht zu gebrauchen. Aber das waren Kleinigkeiten. Er stand auf und gab acht, sich nicht den Kopf zu stoßen – er war zwar kein Lulatsch oder Hüne, jedoch zu groß für dieses fliegende Zigarettenetui.

Bryn sah wieder hinaus. Sein kleines Gespräch mit der jungen Miss hatte keine Fortsetzung gefunden, und nun blickte sie erneut ihn an, lächelte so mitleidsvoll zu ihm herauf, als flögen sie schon seit einem Tag und einer Nacht über eine Wüste oder ein Meer. Sie fragte, ob er ein Aspirin wünsche.

»Ich habe alles zur Hand, Mr. Robey.«

»Nein«, sagte er, das Danke verschluckend, »nicht nötig.«

»Oder ein halbes Nembutal, Sir, oder vielleicht ein Viertel?«

Er legte eine Hand auf die freie Lehne ihrer Sitzreihe, quasi die gepolsterte Verlängerung ihrer Schulter. »Hören Sie, junge Madam … Ich bin hier, um dieses Flugzeug entweder zu kaufen oder nicht zu kaufen. Ich habe nicht vor, mich zu betäuben, im Gegenteil. Dieser Flug über Ihr schönes Land dient …«

»… der Entscheidungsfindung, ich verstehe«, unterbrach sie ihn. »Es tut mir leid, Sir.« Sie verschränkte die Hände auf ihrem Mantel, und er bemerkte ihre rot lackierten Fingernägel, die wohl mit ihrem Lippenstift und dem Mantel zu korrespondieren hatten, ob sie wollten oder nicht.

»Was verstehen Sie, Schätzchen? Erklären Sie’s mir.«

Sie lachte auf. Ihr Oberkörper bebte. Er konnte sich vorstellen, was ihn wo in solcher Form hielt, und das war gut. Ihre Augen, ihre Blicke, ihre Lippen und ihre Worte, alles bewahrte die Form. Was sie dachte, blieb verborgen.

»Sie sind auf einer wichtigen Geschäftsreise. Es geht um viel Geld, Sir.«

Er lachte (es fühlte sich an wie eine Berührung mit ihrem Lachen) und sah den Kabinenkorridor entlang. Alles bebte vor seinen Augen – kaum merklich, aber es vibrierte.

»Soll Mr. Meeks es Ihnen erklären, vielleicht in Ihrer Sprache?«

»Wenn Mr. Meeks möchte, gern. Aber es ist nicht nötig, Mr. Robey. Dieses Flugzeug kostet Sie viel Geld – falls Sie sich dafür entscheiden, es zu kaufen. Sie müssen prüfen und abwägen. Ich werde Sie nicht wieder belästigen, Sir.«

»Sie machen Ihren Job am besten, wenn Sie sich so verhalten wie Ihr junger Freund und Kollege der Pilot, zu dem ich gerade unterwegs bin: Halten Sie sich bereit, seien Sie gefasst auf alle Eventualitäten.«

»Ja, danke, Sir. Ich werde es beherzigen.«

Eine Weile stand er schwankend zwischen den Sitzreihen und blickte stumm an Meeks vorbei aus dessen Assistentenfenster. Er hatte sich getäuscht – immer noch ging es aufwärts. Die Airrant kämpfte, kraftvoll, souverän erschien sie ihm in diesem Augenblick, und er versuchte sich zu erinnern, bei welchem Probeflug er zuletzt ähnlich enthusiastisch gewesen war.

Junkers’ neue Maschine, so stellte er sie sich vor, nur geräumiger, größer, weniger wendig, dafür stabiler und ruhiger.

Jetzt knetete sie ihre Hände. Er hatte sie getroffen. In der Kälte blieben auf ihrer blassen Haut die Daumenabdrücke lange sichtbar.

»Etwas zappelig, nicht wahr, das sind Sie, oder?«

»Nein, Sir, ich denke nicht. Aber ich danke Ihnen für die Fürsorge.«

Bestürzung, da war sie also doch in ihrem Blick.

»Aber doch, aber doch.« Er lächelte freundlich. »Vor Ihnen in dem Sitz« – er rüttelte daran – »der nette Mr. Meeks, das ist mein Helferlein. Falls Sie ein Versuchskaninchen suchen für Ihre Bordapotheke, steht er Ihnen gern zur Verfügung. Ich bezahle ihn für so was, wissen Sie. Er tut, was ich ihm sage. Wenn ich ihm sage, er soll mir in 2000 Metern Höhe ein Spiegelei braten, dann wird er das zumindest versuchen. Und wenn er es nicht hinbekommt und ich deshalb sauer werde und ihm sage, er soll aus dem Flugzeug springen, runter zu Ihrem schönen Wales, so tut Mr. Meeks das.«

»Ein bemerkenswertes Arbeitsverhältnis«, sagte sie lächelnd, frei von Spott, wie aus aufrichtigem Interesse. »Ich werde es mir merken, Sir.«

»Brynnybryn?«

»Ja, Diver, Mr. Robey, absolut.« Bryn sah ihn nicht an, nur wenn sie unter sich waren, sah er ihn an. »Wenn Sie sagen: Brate! – brat ich. Und wenn Sie sagen: Spring! – spring ich. Miss Simms war sich darüber nicht im Klaren.«

»Ein halbes Nembutal, Bryn, wie wär’s? Oder gleich ein ganzes?«

»Danke, verzichte. Ich meine … so Sie einverstanden sind, Mr. Robey.«

»Er verzichtet. Ich will ihm das durchgehen lassen. Ihr Name, Miss, wie schreibt sich der? Mit Ypsilon? Symms?«

»Mit i, Mr. Robey. Ich heiße Simms.«

»Das hörte ich. Und weiter?«

»Und weiter, Sir? Ich beantworte Ihnen ja gern alle Fragen, dazu bin ich da, aber ich muss Sie schon verstehen. Meinen Sie meinen Vornamen?«

»Haben Sie einen? Oder sogar zwei, vielleicht drei?«

»Mari, Sir. Auch Mari mit i – etwas ungewöhnlich, aber so ist es bei uns, vieles ungewöhnlich. Mari Simms. Ich freue mich, Sie begleiten zu dürfen, Mr. Robey.« Sie hielt ihm eine Hand hin.

»Diver. Nennen Sie mich Diver. Diver mit i.«

Mit einem Mal konnte er frei stehen. Kein Schwanken mehr. Ruhiger Geradeausflug. Endlich hatten sie ihre Flughöhe erreicht.

Pluspunkt.

Schluss! Ihr trat ja schon der Schweiß auf die Stirn. Aber immer noch lag kein Hauch Ironie oder gar Spott in ihrer Stimme.

Er nahm die Hand nicht, sah ihr bloß in die Augen, und Mari Simms lächelte, schloss wie zum Einverständnis die dicht bewimperten Lider und ließ die Hand sinken.

»Gut, Mari Simms. Ich gehe meine Arbeit machen, vorn bei dem jungen Mann, der uns hier durch die Gegend gondelt. Seien Sie nett und verraten Sie mir auch, wie er heißt. Damit haben Sie dann gleich die erste Eventualität.«

»Der Pilot, Diver, Sir?«

»Himmel, ja! Ihren Namen kenne ich jetzt, meinen schon seit fast vierzig Jahren und den dieses Herrn hier mindestens ebenso lang.« Er gab Meeks’ Lehne einen Klaps. Sie wackelte. Minuspunkt.

Kurz, aber durchdringend blickte sie ihn an, als würde sie in seiner Miene zu lesen versuchen, was ihn derart aufbrachte. Sie würde es noch weit bringen, wenn nicht mal ein Satansbraten wie er sie dazu brachte, in Tränen auszubrechen oder ihn anzukeifen.

»Edwyn«, sagte sie mit ihrem über jeden Zweifel erhabenen Akzent, und würdevoll fügte sie hinzu: »Anderson, Sir. Eddy ist der beste Flieger in ganz Merthyr Tydfil.«

»Davon bin ich überzeugt, sweetheart. Danke.«

So gut es ging, hielt er sich an den Wackellehnen fest und machte sich auf den Weg nach vorn zur Kanzel. Er spürte den Groll in sich aufsteigen und tastete nach der Flasche an seiner Brust. Diese Zerknirschung, wie ekelte sie ihn an.

»Diver!«, sagte Miss Simms hinter ihm. Er drehte sich um und sah, dass sie Bryn ein Stück Papier gab, einen zusammengefalteten Zettel. Meeks schnallte sich ab, er kam durch die Sitzreihen nach vorn und reichte ihm das Papier.

»Von der jungen Lady, Diver. Bitte, seien Sie nett zu ihr.«

Er zog eine Grimasse und trat in die Kanzel.

Er steckte den Zettel ein und genoss es, nicht zu wissen, was darauf stand. Den Namen des Piloten hatte er schon wieder vergessen. Andy Edison, oder wie immer er hieß, war Waliser wie Bryn, so viel war sicher, man hörte es, sobald er den Mund aufmachte. Er war noch keine 25, hatte die Airrant aber gut im Griff. Der junge Flieger war nicht das Problem.

500 Meter über den Wolken spürte man nichts mehr von dem Monsun über dem Flugplatz mit dem unaussprechlichen Namen. Die Böen waren abgeflaut, der Wind hatte es aufgegeben, den Rumpf hin und her zu werfen und die Tragflächen flattern zu lassen wie bei einem silbernen Riesenschmetterling.

Laut war es in jedem Cockpit gewesen, das er sich in der Luft angesehen hatte, lauter zumindest als in der Passagierkabine. Hier in diesem Vogel allerdings musste er sich fragen, wie der Jüngling, der ihn steuerte, es in der Kanzel überhaupt aushielt. Alles zitterte, rappelte, wummerte. Vor lauter Dröhnen schienen die Dinge zu schreien, weil sie es nicht fassen konnten, fliegen zu sollen. Sie wollten nicht durch die Luft katapultiert werden.

Wenn es stimmte, was der Junge ihm zurief, hatten die Leute, die dort unten lebten, seit Monaten die Sonne nicht gesehen. In dem schmalen Durchgang stehend registrierte er, dass es dort zugig war. Er nickte. So war ganz Europa – ein Schlamassel aus schlechtem Wetter, überkommenen Staatsformen, zusammengestohlenen Museen und hochtrabenden Plänen. Nirgends ließ es sich aushalten. In Paris gab es wenigstens Frauen, die tranken. Aber sonst? London war ein Witz, Rom ein Müllhaufen, Berlin eine lachhafte Bühne. Die einzigen Orte, an denen einer wie er nicht erstickte, waren drei, vier Hotels am Genfersee, die er nur deshalb noch nicht hatte kaufen lassen, weil ihn alles, was er besaß, nach zwei Wochen tödlich langweilte. Warum etwas kaufen, wenn es dann nichts mehr gab, wo er sich eine Nacht lang zerstreuen und am Morgen etwas Schlaf finden konnte. Es war kein Wunder, dass sich ein junges Luftfahrtgenie wie Sikorski in die Staaten absetzte. In Russland musste man erfrieren oder sich duellieren und über den Haufen schießen lassen, um bewundert zu werden. Europa hatte das Schafott für seine Verbrecher erfunden und stattdessen seine Könige damit geköpft. In Europa führte man jahrzehntelang Krieg, flüchtete sich in eine Revolution, errichtete jubelnd Ungetüme wie den Eiffelturm. Man baute Schiffe, die mit voller Kraft gegen Eisberge dampften oder sich gegenseitig versenkten. Was nützte es, wenn die Prachtbauten der Metropolen noch immer so protzig wirkten wie im Athen von Aristoteles. Von Europa war nichts zu erwarten. Europa blieb, wie es immer war. Er hätte nicht auf Bryn hören sollen, diesen ausgemachten, unverbesserlichen Europa-Idioten. Seine Einflüsterungen hatten immer dasselbe Ziel: Meeks wollte seine Heimat sehen, es zog ihn nach Wales, wie es die halbe Welt nach Venedig zog – warum eigentlich? Alle zwei Jahre ging das so. Venedig kaufen, das wäre ein Plan! Venedig kaufen und es versenken.

»Ziehen Sie sie mal hoch, die Ente, dann eine Linkskurve!«, rief er dem Piloten ins Ohr, der ihn daraufhin über die Schulter hinweg ansah wie ein Gymnasiast, den man aufforderte, von einem Aquädukt zu springen.

»Na los! Dazu sind Sie schließlich hier! Ich verlange ja nicht, dass Sie einen Looping fliegen oder so was.«

Er gehorchte, er sprang. Als die Harper die Nase hob und die Motoren aufheulten, spreizte Robey die Beine, um sicher zu stehen, er hielt sich am Türrahmen fest. Er zog den Flachmann aus der Innentasche und trank einen kräftigen Schluck Gin.

Er hatte keine Angst. Angst hatte er zuletzt gehabt, als er acht oder neun gewesen war. Woher kommt die Luft, fragte er sich, wo ist die Kiste so undicht? Er wandte sich um, und jenseits des Vorhangs, der jetzt in die Kabine hineinhing, sah er Meeks hochrot im Gesicht Rachegedanken hinter einer aufgeschwemmten Maske aus britischer Schockiertheit verbergen. Zeternd ging die Harper in Schräglage, klagend kippte sie nach links, schreiend raste sie hinab durch die blaue Leere auf das Wolkenmeer zu, bis der Junge – Eddy, so hieß er, ja – sie auffing und mit dem wiedergefundenen Horizont beschwichtigte.

Pluspunkt für ihn, Minus, Minus, Minus für die Flugzeugbaukunst von Mr. Meeks’ Landsleuten.

Was hatten sie von Wales gesehen? Die grauen walisischen Felder im Regen, die tristen walisischen Käffer im Dunst und von hier oben, aus dem Blechschmetterling, Wolken, Wolken, Wolken.

Er las Maris Zettel. Auf die Ecke eines Blattes mit dem roten Schriftzug HARPE (R BROTHERS war abgerissen, quer durch ein kleines Flugzeug) hatte sie ihm ein lächelndes Gesicht gezeichnet und darunter geschrieben: »Das Leben ist schön.«

Rührend. Als er zu seinem Platz zurückging, nickte er ihr zu. Sie freute sich.

Eingeschnürt von dem Gurt und verfolgt von der Furie seiner Enttäuschung, war er restlos überzeugt, dass nicht der junge Flieger das Problem war, sondern das unausgereifte Fluggerät, die Harper Airrant 3, die um einiges zu leicht war für drei Liberty-Motoren, um Motoren, Tragflächen, Rumpf und vor allem Insassen wohlbehalten über den großen Teich zu befördern. Nein, die Harper-Konstrukteure brauchten gar nicht erst nach New York zu kommen.

Eine schlechte Maschine war das nicht. Vor wenigen Wochen in Halifax bei Glenn Curtiss und im Herbst 1919 bei Blériot in Suresnes hatte er Pläne für drei größere Flugzeuge geprüft, die alle in den Atlantik gestürzt wären. Unerfindlich worüber, lachte Blériot unablässig. Junkers, der angeblich an einem »Ganzmetalllangstreckenpassagierflieger« tüftelte, ließ verlauten, er antworte nicht auf Briefe eines Hotel-Tycoons. Und von Sikorski hieß es, er sei den Schergen Lenins knapp entronnen und irgendwo in Amerika untergetaucht, ausgerechnet. Gut möglich, dass er in Wirklichkeit gar nicht mehr auf Erden weilte. Womöglich hatte ihn die rote Bande an die Wand gestellt und in einem karelischen Moor verscharrt.

Aber auch diese walisische, mittlerweile neunzehnte Maschine, mit der er flog, würde keine Passagiere lebend von New York nach Paris oder London befördern. Ob es an den Motoren lag, die zu schwer oder stark waren, an den Nieten oder dem Stahlblech, das die Harper-Brüder bei ihrer Airrant verwendet hatten, konnte er nicht sagen. Er war ein Laie, der Deutsche hatte recht. Spielte das eine Rolle? Er hatte genug Geld, um sieben so selbstherrliche Fritzen wie Hugo Junkers bis ans Ende ihrer Tage Flugzeuge bauen zu lassen. Wenn der nicht wollte, würde er einen anderen finden, vielleicht doch Igor Sikorski, wenn der noch lebte. Aber Diver Robey – und der war er, noch immer – hatte nicht bloß Geld, sondern auch Ohren. Er hörte, wie hier alles zunächst summte, dann sang, dann dröhnte und schrie, und er spürte ein Vibrieren, das sich auf seinen Körper übertrug und sein Herz rasen ließ.

Angst war das keine, und wer, bitte, wäre man, würde man jedem die Erregungszustände zeigen, die man von früh bis spät mit sich herumtrug. Spring von dem Aquädukt, oder schlag den zu Boden, der solchen Unfug von dir verlangt. Wie herrlich war es zu fliegen! Nur das zählte – höchstpersönlich der archimedische Punkt zu sein, von dem aus man das eigene Leben wie von außen, als Gast, als Fremder, und zugleich aufs Innigste betrachten konnte. Er liebte jede Sekunde dieses Abenteuers, weil dann stimmte, was auf dem Zettel stand und was im Gesicht der jungen Miss zu lesen war. Zu leben war dann schön.

Bis sie landeten, würde er sich die Wirkung von einem Viertel Nembutal, aufgelöst in Gin, ausmalen und an Bryn Meeks vorbei scheinbar unbeteiligt aus dem Fenster sehen – auf die unbekannte Hafenstadt dort unten mit der auffälligen Transporterbrücke, auf ein Flüsschen, das aus dem Landesinnern geschlängelt kam, auf die Küste und ihre Strände, die grau und verlassen wirkten, und auf die Wolkenschwaden, durch die die Maschine mal beinahe stumm und mal schreiend hindurchstieß, aufwärts und abwärts, Schwaden, so kalt, weiß und endlos wie das ungemachte Bett Gottes.

3

DAS MUSEUM IN DER SKINNER STREET

Hatte er wirklich Liebeskummer, so wie seine Eltern, seine Geschwister und sein Schwager und bester Freund Bakewell behaupteten? Ihm wäre nie eingefallen, seine Traurigkeit so zu nennen. Er liebte Ennid. Vielleicht also hatte er Ennid-Muldoon-Kummer. Doch stärker als der war in jeder Sekunde die Liebe zu ihr.

Wenn er gegen Mitternacht das Licht löschte und sein Kopf auf das Kissen sank, lauschte er noch eine Weile auf die Geräusche des nahen Hafens. Sie drangen durch den schmalen Fensterspalt, aber es dauerte nie lange, bis pochende Stille das ferne Tuten eines Nebelhorns und das Gehämmer von Dockarbeitern überlagerte. Ab da war er allein mit dem Dunkel, allein mit den Gedanken, die ihn an diesem Tag umgetrieben hatten, und nur wenn er die Lider schloss, tanzten noch, wie Schwärme von Tiefseefischen, bunte Bilder an seinen Augen vorüber, so lange, bis er sich auf etwas konzentrierte, das ihren Ansturm abwehrte.

Zwei Zimmer, das eine mit Bett, Stuhl und Schrank, das andere mit Tisch, drei weiteren Stühlen und einer Waschgelegenheit, auf dem Korridor die Abseite mit dem Klosett, das er sich mit seiner Wirtin teilte, die Witwe war und ihm die Wäsche wusch … er hatte diese erste eigene Bleibe von dem Moment an gemocht, seit er letzten Sommer in Pillgwenlly ausgezogen war und Dafydd ihn und seine Habseligkeiten mit einem so riesigen Automobil hier abgesetzt hatte, dass es die ganze Skinner Street verstopfte.

Immer wieder musste er sich klarmachen, dass sie keine Zufälle waren, diese Zimmer, dieses Bett und seit einem halben Jahr des Nachts auch er selber hinter einem Fenster hier, das auf die uralte Gasse hinaussah. Kopfsteinbepflastert, baumlos und farblos bis auf ein verblichenes Wappen überm Hauseingang schräg gegenüber, führte die Straße zum Hafen hinunter. Das Wappen zierte Newports ältesten Pub, der nach Lord Gruffydd ap Rhys hieß, angeblich weil der 1176, als Südwales noch Königreich war und Deheubarth hieß, dort mal übernachtet hatte. Aber »Skinner«? Hatten früher Kürschner in der Straße ihre Werkstatt gehabt, oder war hier ein Abdecker gewesen? Am Ende der Skinner Street, wo sie auf den von Platanen bestandenen Cardigan Place mündete, hatte der alte Muldoon gewohnt und sein Geschäft betrieben, bis der Schiffsausrüster kurz nach dem Krieg an der Spanischen Grippe starb. Er hatte in Quiltyn Muldoons Laden dessen Tochter kennengelernt, und im ersten Stock des ganz mit grünen Blechplättchen beschlagenen Hauses oben auf dem Platz, nur einen Steinwurf entfernt, wohnte Ennid noch immer.

Das kleine Mädchen, das er manchmal hörte und das ihm immer wieder überraschend etwas von sich und einer ungewissen Zukunft, von Enttäuschungen, Wünschen und Träumen erzählte – war das Ennid als Kind?

»Mach eine Liste«, sagte er sich, um die herbeischwirrenden Bilder von ihr zu vertreiben. »Sag dir in Gedanken, was du außerdem liebst.« Denn sie konnte jeden Moment durch die Skinner Street gehinkt kommen – sie zog ein Bein leicht nach, jeder zweite Schritt klang verzögert –, noch spätnachts, weil sie Freunde hatte und viel unterwegs war. Schon klappte er im Dunkeln die Lider auf wie ein seit 100 Jahren nicht mehr lebendiger, ebenso wenig aber toter Vampir, vor dessen Fenster die Lichtkegel eines Wagens vorbeistrichen, Indiz dafür, dass ein Mensch aus Fleisch und Blut am Steuer saß.

Eng war es in den zwei Räumen. Die alten Tapeten warfen Blasen, die Durchgangstür ließ sich nicht richtig schließen, und so roch es in Mrs. Splaines Haus beständig leicht muffig, seit Wind und Regen das Lüften verhinderten. Mrs. Cyprian Splaine schien das nicht zu stören. Sie hatte ihren Mann gepflegt, bis er an seinem Zucker zugrunde ging, und teilte sich nun mit ihrer Kartäuserkatze den Rest der Wohnung, in dem ein noch weitaus schlimmerer Geruch herrschte.

Doch gerade diese Enge mochte er an den zwei Zimmern, ja war es nicht sogar so, dass ihm sein Refugium umso besser gefiel, je weniger Platz er darin hatte? Mit kaum mehr als zwei Koffern voller Wäsche, einem Overall und Manchesteranzug, dem Fahrrad, einem Bücherpaket und der Nachttischleuchte, die seinem Schwager Herman gehört und die Regyn ihm überlassen hatte, war er bei Mrs. Splaine eingezogen. An dem zum Möbelwagen umfunktionierten Ungetüm von Cabriolet hatte Dafydd nicht mal das Verdeck öffnen müssen.

In den acht Monaten seither hatten sich die Zimmer gefüllt. Von seinen sonntäglichen Besuchen in Pillgwenlly kehrte er nie mit leeren Händen in seine Bude zurück – obwohl er noch immer über fast jeden Gegenstand, den er aus dem Elternhaus abtransportierte, gleichgültig, wie alt oder winzig das begehrte Objekt war, seiner Mutter Rechenschaft abzulegen hatte. »Wozu das?«, fragte sie, »und für wie lange?« – ehe sich Gwen Blackboro »das Ding aus dem Leib schnitt«, wie sie es nannte, und ihn zähneknirschend damit ziehen ließ.

Für sie lagen seine Motive auf der Hand: Wieso sollte ihr Jüngster die Mumie eines Hirschkäfers mitnehmen wollen, die er als Siebenjähriger bei einem Ausflug an den Ebbw gefunden hatte und die sie seither, als wäre das abscheuliche Insekt ein altägyptischer Skarabäus-Glücksbringer, auf dem Kaminsims aufbewahrte? Wozu brauchte er die Luftpumpe seines Vaters, die nur noch asthmatisch keuchte, und warum das Zelt, das, in lange vergangenen Vorkriegssommernächten im Garten unter der Kastanie aufgebaut, nun so mottenzerfressen war, dass man darin hätte duschen können? Warum, wenn nicht deshalb, weil es nun diese alte Schachtel gab, die ihm – »Ach, Merce, tu doch nicht so!« – vorgaukelte, eine bessere Mutter zu sein.

Im Gegensatz zu seiner Mutter Gwendolyn kam es ihm nie in den Sinn, seine Vermieterin mit ihr zu vergleichen, egal in welcher Hinsicht. Eher verglich er sich selbst mit Agatha Splaines Katze, und das nicht nur wegen ihres Namens. Anders als er wurde Misery von keinem gezwungen, das Haus zu verlassen. Sie schlief täglich 22 Stunden lang. Wollte sie liebkost werden, wurde sie liebkost. Misery war zufrieden mit den Dingen, die sie umgaben, genauso wie mit denen, die sie nicht umgaben – von ihnen wusste sie ja nicht. Verschwand ein Gegenstand oder lag plötzlich irgendwo ein neuer, so staunte sie gleichermaßen oder schien bloß unbeteiligt zu registrieren, dass es etwas weniger zu bestaunen gab.

Nein, Gleichmut war keine seiner ausgeprägten Eigenschaften. Nur sein Staunen war grenzenlos wie Miserys.

Für seine Sammelwut hatte er keine plausible Erklärung. Manchmal war er allerdings überzeugt, dass er den alten Plunder nur deshalb in die Skinner Street schaffte, damit er nachts, wenn er im Bett lag, von Dingen umgeben war, die er auflisten konnte, um nicht an Ennid zu denken.

2 Bücherborde,

57 Bücher, zumeist antarktisch oder poetisch,

6 gerahmte Photographien – Shackleton, Amundsen, die Nimrod, die Fram, die Endurance (aufgenommen von ihrem Expeditionsphotographen Hurley in Buenos Aires), Bakewell und er mit zwei Hunden (Sailor und Shakespeare) vor Packeisgebirgen,

1 alter Holzpropeller – Antrieb der ausgemusterten Sopwith Triplan von William Bishop, mit der Dafydd beim einzigen Flug seines Lebens über Newport und Pillgwenlly gekreist war,

1 mumifizierter Käfer (lucanus cervus),

3 ausgestopfte Seevögel – Möwe, Riesensturmvogel, Skua (der ein Auge fehlte, weshalb er zärtliche Gefühle für sie hegte),

1 Stapel Ansichtskarten, darunter eine von Shackleton, auf der auch Crean unterschrieben hatte, und eine andere – eine Rarität – von Tom Crean allein, beide abgestempelt in Annascaul, wo der Antarktiker, den jeder nur den »Irischen Riesen« nannte, heute einen Pub betrieb,

1 Sicherheitsnadel (diese und vier andere hatten Creans zerfetzte Hose zusammengehalten, als Shackleton, Crean und er selbst nach drei Tagen Fußmarsch über die Gletscher von Südgeorgien zur Stromnesser Walfängerstation gelangt waren),

1 Fahrradgepäckträger (Hermans),

1 Fahrradluftpumpe (Dads), inzwischen repariert,

1 Stück eines Wirbelknochens, faustgroß, Wal (Blauwal), mitgenommen aus Stromness,

1 Speerspitze, vielleicht indianisch (bestimmt indianisch), gefunden in einem Straßengraben von Valparaiso,

1 alter Seesack, auch der aus Valparaiso (und doch walisisch), Geschenk eines skorbutkranken Waliser Matrosen,

1 Spange, eingraviert die Initialen RB (und unverändert seit über 20 Jahren duftend nach Regyns Haar).

Von der Endurance hätte er gern eine Planke gehabt, Orde-Lees’ Grammophon, einen Topf aus Greens Kombüse, ein Stück einer Leine oder nur den Fetzen eines ihrer Klüversegel. Aber mit dem Schiff war alles untergegangen, was sie mit den drei Beibooten nicht mehr übers Eis hatten schleppen können.

So starrte er ins Dunkel des Zimmers, froh, wenigstens die Photographie zu besitzen, die den kleinen Dreimaster am Kai von La Boca zeigte, wenige Tage, bevor sie Buenos Aires Richtung Eis verlassen hatten – eine von 100 Aufnahmen, die Frank Hurley retten konnte und mit Shackletons Erlaubnis mitnehmen durfte.

Mehr besaß er auch von Sir Ernest nicht: eine Photographie und zwei Bücher, die er sich aber erst nach seiner Rückkehr in Newport gekauft hatte. Shackleton hatte dafür gesorgt, dass keiner von ihnen Persönliches aus dem Eis mitnahm. Selbst einen Brief, einen Kamm, eine Haarlocke befand er für »viel zu schwer«.

Erst vor ein paar Wochen hatte er einen Kamm seiner Mutter aus Pillgwenlly mitgehen lassen, der ihn auf unerklärliche Weise an seine Kindheit erinnerte. Im Dunkeln sah er die an die Tapete geklebten Zeichnungen seines Neffen leuchten. Er hatte Regyn ein Dutzend von Willie-Merce’ Buntstiftgemälden abgetrotzt. Briefe von Bakewell, die der ihm von Geschäftsreisen nach Südamerika schrieb, oder Postkarten von Tom Crean aus Annascaul verwahrte er in einer Schatulle, die ihrerseits ein Andenken war: Sein Großvater hatte sie getischlert und mit Intarsien versehen, während er selbst, vier oder fünf Jahre alt, staunend dabeistand und dem alten Mann mit den langen weißen Haaren auf den Fingern die Holzplättchen reichte.

Offenbar war er ein hoffnungsloser Nostalgiker, ein durch und durch sentimentaler Memorabilienjäger, jemand, o Gott, der nicht in sich selbst ruhte, sondern sich verstreute auf Orte, Gegenstände und Menschen, die ihn umgaben. Er drehte sich zur Wand, schloss die Augen und kniff sie fest zusammen. Schluss mit Listen. Schlafen, träumen, aufwachen, weitermachen! Er hörte den gegen die Fenster trommelnden Regen und fragte sich, ob es wirklich so war, dass er von allen Menschen, die ihm etwas bedeuteten, Andenken sammelte und Dinge hortete, als wäre er der einzige Wärter und zugleich einzige Besucher eines Merce-Blackboro-Gedächtnismuseums.

Falls es so war – was besaß er von Ennid?

Nichts! Nicht den kleinsten Gegenstand, keinen Knopf ihres Regenmantels, keine Wimper, die ihr ausgefallen und auf seinem Jackenärmel liegen geblieben wäre. Er drehte sich zurück, mit einem Mal war er wieder hellwach. Nichts von ihr zu besitzen bedeutete keinesfalls, dass sie ihm unwichtig war, im Gegenteil!

Was weiß ich von ihr, fragte er sich im Stillen, warum liebe ich sie … wieso ausgerechnet sie? Was hat sie an sich, das sie so einzigartig macht?

Er überlegte sehr lange.

Dann sagte er sich: »Mach eine Liste …«

Was er von ihr wusste, hatte ihm fast alles Regyn verraten.

Seine Schwester war etwas älter als Ennid, doch weil beide Mari Simms und Gonryl Frazer kannten, wurden auch sie Freundinnen und verloren sich schon aufgrund der Geschäftsbeziehungen ihrer Väter nie aus den Augen.

Sie kannten sich lange (»sind liebe Freundinnen«, würde Ennid es nennen), im Grunde aber mochte Regyn Ennid nicht sehr (was Ennid nicht glauben würde), denn Reg hielt ihre Freundin für großspurig und allürenhaft (»Im Ernst?«, würde Ennid wahrscheinlich sagen. »Dann wird wohl was dran sein …«).

Wenn er nachrechnete – und das tat er immer wieder, ohne je einzusehen, dass stets dasselbe dabei herauskam –, so hatte er sich in den siebeneinhalb Jahren, die auch er sie kannte, zusammengenommen eine gute Stunde lang mit Ennid Muldoon unterhalten – was grotesk war und ihn daran zweifeln ließ, dass Arithmetik irgendetwas über das Leben aussagte.

Von Regyn wusste er, dass Ennid, wenn sie allein war, sich gern vorstellte, was keiner sehen konnte: das Fortleben der Toten. Dabei glaubte sie nicht an Geister (wenngleich die Gespenstergeschichte ihrer gemeinsamen Freundin Mari Simms von dem blonden Mann, der angeblich jeden Sonntagmorgen durch ihr Spiegelbild ging, wenn sie am Frisiertisch saß, auch Ennid verstörte). Sie glaubte vielmehr an die Kraft der Erinnerung, die in ihren Augen die Lebendigkeit bewahrte oder sogar erst stiftete, weshalb sie sich oft ihre verstorbenen Eltern vorstellte, wie sie bei Tisch saßen und lachten.

Sie dachte an die Schiffe, die sie gemeinsam mit ihrem Vater ausgerüstet hatte und die auf den Severn hinausgefahren und nie nach Newport zurückgekehrt, sondern in irgendeinem Sturm auf irgendeinem Ozean gekentert und auf den Meeresgrund hinuntergesegelt waren.

Und natürlich erzählte sie Reg oft von ihrem Flieger-Ass, von Mickie Mannock, davon, wie sie ihn sich ausmalte, im Luftkampf über Paris, mit einem knatternden MG, das Regyns erster Mann Herman entwickelt und eigenhändig an Mickies Dreidecker montiert hatte. Das Maschinengewehr spuckte Funkenblitze, die am Himmel über der Seine davonschossen (»wie brennende Vögel im Traum«, sagte Ennid) und im Leeren verloschen. Manchmal meinte Ennid, Mickies Hand zu spüren, wie sie in ihr Haar fasste und ihren Hinterkopf umfing, und mit geschlossenen Augen hörte sie ihn immer noch flüstern: »Komm her, süßer Schatz« – ehe er sanft ihren Kopf zu sich heranzog, um sie zu küssen.

Laut Regyn existierte angeblich ein Buch, in das Ennid Briefe an Mickie Mannock schrieb, das legendäre Buch an Mick – aber selbst Reg wusste davon nur vom Hörensagen. Ihre gemeinsame Freundin Gonryl Frazer, die Vierte im Bund, behauptete, das Buch gesehen, sogar darin geblättert zu haben. Reg bezweifelte das. Er aber, ihr kleiner Bruder, konnte sich so ein Buch gut vorstellen – und sah bei dem Gedanken sogleich das akribisch von Ennid geführte Auftragsbuch des alten Muldoon vor sich.

Während eines Spaziergangs am Ebbw kurz nach Kriegsende unterhielt sich Ennid mit seiner Schwester einmal über Turmsegler. Dass diese Vögel im Flug schliefen, erzählte sie Reg, und dass sie deshalb im Herbst oft an Turmsegler denke, schlafend in der Luft überm Atlantik, unterwegs nach Afrika.

Ennid war nie weiter gereist als bis nach Irland, einmal nach Gloucestershire und einmal nach Kent. Vielleicht deshalb las sie viel, mehr als er selbst, und lieh Regyn Bücher, um sich mit ihr darüber austauschen zu können, Bücher, die Reg auf dem Marketerietischchen im Kaminzimmer in Pillgwenlly liegen ließ und nicht weiter beachtete, denn Lesen gehörte für Regyn Bakewell zu den verzichtbaren Beschäftigungen.

Ennids Bücher waren für ihn schwierig zu lesen, denn da sie voller Unterstreichungen waren, erinnerten sie ihn an ihre Finger, Hände, Augen und damit ihre Art, die Dinge zu sehen. Er erinnerte sich weniger daran, was er in Ennids Büchern gelesen, als daran, was sie beim Lesen angestrichen hatte.

Er las Blackwoods schaurige Darstellung der Weidenbäume in den Donausümpfen (»eine ungeheure Meute lebendiger Geschöpfe«), er las Bonds Schilderung der Ringe des Saturn und in Einsteins Relativitätstheorien, las Beschreibungen der Dschunken von Hongkong und der Märkte in Timbuktu, und verblüfft erfuhr er (weil Ennid es an den Rand geschrieben hatte), dass John Keats vor 100 Jahren ein Exemplar seines Versromans Endymion einem Sahara-Reisenden mitgab, damit der das Buch in die Wüste warf.

Alle Bücher, die sie Reg lieh, warf auch Ennid in die Wüste, ohne es zu ahnen. Alle waren sie versehen mit Ausrufezeichen, Fragezeichen und Kürzeln, die ihm rätselhaft blieben und keiner erklären konnte, da sich außer ihm niemand für die Lektüren von Quiltyn Muldoons humpelnder Tochter interessierte. Ohnehin war ein paar Wochen später, wenn sich Regyn mit Ennid zum Tee oder Spazierengehen traf (»Ist es schon wieder so weit?«, fragte Reg), jedes Buch für ihn viel zu schnell verschwunden.

Seine Schwester las keine Zeile im Endymion (»Erstickt unter Rosen«, hatte Ennid in das Buch gekritzelt), und Hopkins’ Gedicht »Das Wrack der Deutschland« nötigte Regyn nur ein »blabla, blabla« ab (immerhin jambisch). Dabei war Reg durchaus redegewandt. Um eloquente Ausweichmanöver war seine große Schwester nie verlegen.

Napoleon Bonaparte!

Einmal hatte es in Pillgwenlly Streit über Napoleon gegeben.

Nach einem Nachmittagstee mit Ennid erzählte Regyn, »eine Freundin« behaupte, Bonaparte sei kurz vor seiner Verfrachtung nach St. Helena in Portsmouth gewesen, allerdings könne sie – »die Freundin« – sich nicht entsinnen, von wem sie das gehört, wo sie davon gelesen habe: im Tatler, in der Times?

Dafydd fand die Vorstellung lachhaft – Napoleon in Hampshire! Eine Erfindung. Was sollte das?

Ausgerechnet ihr Vater, beileibe kein Franzosenfreund, verteidigte die Geschichte. Emyr Blackboro sagte, auch er habe davon gehört – nur von wem? Vergessen … Er glaube, die Sache sei wahr, egal, wie abwegig die Vorstellung sei.

Dafydd lachte und wurde wütend. »Dad! Nie und nimmer …!«

Aber ihr Vater beharrte darauf: »Ich hab davon gehört!«

Er selbst hatte dazu keine Meinung. Von heißen Schaudern überlaufen, saß er am Tisch, stocherte in seinem Essen, verfolgte wie aus weiter Ferne das Scharmützel und behielt so schuldbewusst wie sehnsuchtsvoll das Wissen für sich, dass er es gewesen war, der Ennid davon erzählte: Bonaparte, perplex in Portsmouth. Sie könne es ihm glauben: Die Fregatte, die den gestürzten Kaiser zu seiner Gefängnisinsel bringen würde, lag für ein paar Tage vor Portsmouth auf Reede. Ob Napoleon britischen Boden betreten hatte? Warum nicht. Gut möglich. Wahrscheinlich!

Sieben Jahre war es her, dass er sich mit dieser haarsträubenden Geschichte für immer in ihre Erinnerung hatte einschreiben wollen. Und Ennid hatte die Sache offenbar tatsächlich nicht vergessen, sondern nur den Schöpfer des Märchens (das keines war) aus ihrem Gedächtnis getilgt.

In einem dicken Roman von Henry James, den Ennid Regyn lieh (damit das nächste Buch einstauben konnte), war ein einziges Wort unterstrichen gewesen: »Komplementärmenschen«.

Wochenlang hatte ihn dieser Ausdruck beschäftigt – zumal Reg ihn einmal zitiert hatte. An einem Sommertag vor vier oder fünf Jahren war die königliche Familie nach Newport gekommen. Die ganze Stadt war auf den Beinen, um König George, Königin Mary, dem Prinzen von Wales, dessen Schwester und dreien seiner Brüder zuzuwinken, die in einem Automobilkorso nach Caldoen hinausfuhren, wo zu Ehren der Royals eine Flugschau mit neuen Gebrüder-Harper-Maschinen stattfand. Es fehlte nur Prinz John. Der jüngste Königsspross, Epileptiker und Autist, nach Ansicht seiner Geschwister ein Monstrum, die Schande der Familie, hatte wie fast immer in Schloss Sandringham bleiben müssen.

Regyn begleitete Gonryl und Mari nach Caldoen, während er von seinem Ausguck aus dem Jahrmarkttreiben in den Straßen zusah und keine Lust verspürte, sich dem Rummel auszusetzen. Er dachte an Prinz John und erklärte sich auf diese Weise solidarisch mit ihm. Beschwipst und aufgekratzt holte Reg ihn am Abend im Kontor ab, spöttelnd berichtete sie von Ennids neuestem, einer Brombeere ähnelndem Hut und ihrem jüngsten Spleen: dem Liebesleben der Windsors.

In Regyns Augen war alles zu ertragen, aber das, über die Intimsphäre des Königspaars herzuziehen – das ging zu weit, es war lachhaft, und es war »shocking«.

Ennid frage sich ernsthaft, sagte sie, wie der König es angestellt habe, mit der Königin so viele Nachkommen zu zeugen: Wie oft schlief König George mit Königin Mary?

Ein bohrender Schmerz hatte sich in ihm breitgemacht, eine absurde Eifersucht auf den König, als Reg erzählte, Ennid habe genug von ihrem selbstverordneten Witwendasein und wünsche sich Kinder, viele, mindestens so viele wie Königin Mary.

Über den Wiesen von Caldoen wurde ein Feuerwerk gezündet, mit Regyn stand er am Fenster, sah den Harper-Doppeldeckern dabei zu, wie sie aufstiegen, über dem Stadtrand kreisten und Kondensstreifenlettern an den abendlichen Himmel schrieben … und da hatte es seine Schwester gesagt.

»Komplementärmenschen.«

So weltfremd, so verkopft und verstiegen sie auch sei (»entsetzlich!«) – in einem Punkt habe Ennid recht: Den Kindern gehöre die Zukunft.

»Vielleicht fliegen dein Sohn und mein Sohn irgendwann mit Raumschiffen zum Mars«, sagte Ennid in Caldoen zu Reg. »Oder sie erforschen unter Glaskuppeln den Meeresgrund. Egal, welche Musik sie hören und wie sie tanzen werden, auch 2021, in 100 Jahren, werden Leute glücklich sein, wenn sie ihrem Komplementärmenschen in die Augen blicken.«

In dem dunklen Zimmer in der Skinner Street trieb ihm das die Tränen in die Augen. Aller Gedanken müde lag er reglos im Bett. Er horchte auf Mrs. Splaines durch die Wand dringendes Schnarchen, wartete, dass der Ansturm aus Bildern und Wortfetzen weiterging, und er war schon fast eingeschlafen, als ihm etwas einfiel.

Sogar woran Ennid dachte, wenn sie selbst im Bett lag und nicht einschlafen konnte, hatte ihm Regyn erzählt – und ihn seiner betrübten Miene wegen ausgelacht: »An dich leider nicht!«

Ennid versuche vielmehr sich zu erinnern, was sie von ihrem Vater gelernt hatte.

Dass Regen nie schlecht war.

Dass zwischen zu faltenden Segeln und zu faltenden Hemden bloß ein Größenunterschied bestand.

Dass ein namenloses Schiff kein Schiff und ein betrunkener Kapitän kein Kapitän war.

Ebenso wenig war ein Streit ein Gewitter – nichts entlud sich dadurch, denn wozu führten denn schwarze Gedanken? Einzig zu noch schwärzeren.

Als ihr Komplementärmensch verstand er das sofort. Streitigkeiten glichen Bränden in Kohleflözen: Das Feuer schwelte im Verborgenen, oft jahrzehntelang (so war es in einem ihrer Bücher angestrichen gewesen). Daher musste man sich von Menschen abwenden, in denen so ein Schwelbrand wütete – sie verzehrten sich selbst. Ennid, sagte Regyn, glaube oft, ein solcher Mensch, der sich verzehrte und in nicht enden wollendem Streit mit sich und dem Leben lag, so einer sei sie selbst.

Manchmal liege sie wach und versuche sich zu vergegenwärtigen, was sie so lange schon quälte. Hätte sie drei Wünsche frei, sagte sie zu Reg, keiner davon wäre, dass der Schmerz aus ihrem Bein verschwand. Er war ja ein Teil von ihr. Nur dass sie selber bestimmen könnte, wann er kam und ging, würde sie sich wünschen.

Regyn hatte sie gefragt, was sie sich außerdem wünschen würde, und Ennid antwortete, zuerst würde sie ihre Eltern und Mickie auferstehen lassen. Sie lachte, warf den Kopf in den Nacken (Reg hasste es) und sagte, als drittes würde sie sich neun weitere Wünsche wünschen.

War sie wirklich, wie ihre Mutter behauptet hatte, eine »Pragmatikerin vor dem Herrn«? Ennid war überzeugt, dass man den wahren Zustand eines Schiffs weder an Deck noch im Maschinenraum oder in den Laderäumen feststellte – nur die Einstellung der Mannschaft verriet, wie es um das Schiff bestellt war.

Sie war überzeugt, dass man Geld machte, indem man kaufte, und nicht, indem man verkaufte. Und sie war sich sicher, dass immerzu gegen den Strom zu schwimmen zu nichts führte. Man musste den Rand des Stromes suchen, von dort aus die Strömung einschätzen lernen. Liebe und Vernunft, in ihren Augen waren sie ein und dasselbe.

Sie erzählte Regyn, was sie liebte: Möwen, je größer, desto besser. Ihr Geschrei klang wie das Quietschen von Türen, mit denen sich die Ferne auftat. Sie liebte das Jaulen der Pontons, das von den Werften herüberdrang. Und Bücher, besonders Gedichte und Romane über den Wind und die See, Shelleys »Ode an den Westwind«, Conrads Lord Jim, am meisten aber Moby-Dick (zwei Monate lang rührte Reg das Buch nicht an), auch deshalb, weil das einzige weibliche Geschöpf darin Ahabs Schiff war, die Pequod, die alle über das Meer trug und zu allerletzt besiegt wurde von dem von Herman Melville erfundenen weißen Wal.

»Für sie lebt alles, was sie da liest«, sagte Regyn halb spöttisch, halb bewundernd und zuckte mit den Achseln.

Doch ebenso sehr mochte sie es, wenn es still war im Hafen, wenn die Stahlpontons nicht sangen und keine Möwengeschwader auf Beutezug über den Usk und den Severn zogen. Bücher, die ihr nicht gefielen, legte sie weg und rührte sie nicht wieder an. Auch von Büchern sollte man sich keine Unverschämtheit gefallen lassen! Und Dummheit war unverschämt, wenn man nichts dagegen unternahm.

Wann immer möglich, laufe sie barfuß, sagte sie zu Reg eines Sonntags am Ebbw, umgeben von Spaziergängern (von denen sie viele Leute kannten, seit sie auf der Welt waren), und zog Stiefel und Strümpfe aus, obwohl schon fast November war und jeder ihre Beinschiene sehen konnte.

Und einmal sagte sie, dass sie manchmal wegrennen wolle vor lauter Zorn und Kummer, vor dieser Angst, die keinen Namen hatte. Weg, einfach nur weg wolle sie dann, und nie mehr wiederkommen.

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MÖWEN ÜBER DEM EBBW

Unter dem Regenschirm eilte sie übers Kopfsteinpflaster die Skinner Street hinunter und zog dabei ihr Bein nach wie einen Hund, der sich an ihr festklammerte. Oder sie fuhr an der Seite eines jungen Kerls, den er nicht kannte, in einem Speedster an ihm vorbei. Ihr Sommerhut, den sie ab und zu noch immer aufhatte, sah wirklich wie eine Brombeere aus, wenn auch eine sehr große.

Ein Morgen, an dem er sie zufällig sah, war ein im Keim erstickter, im Voraus vergeudeter Tag. Wenn er an so einem verlorenen Morgen im Kontor saß und über Papiergebirge hinweg aus dem Fenster starrte, fiel sein Blick auf die Reihe halb fertiggestellter Bauten gegenüber. Junge Spekulanten in Knickerbockern und Gamaschen hatten seinem Vater und anderen Stadtvätern weisgemacht, für Newport sei es an der Zeit, Cardiff den Rang abzulaufen. Ihre Duesenbergs und Pierce-Arrows kurvten durch den Morast der abgetragenen Victoria-Docks. Meterhoch spritzte der nach Öl stinkende Schlick weg hinter den aufjaulenden Automobilen, denen eine sumpfungeheuerartige Meute Kinder nachjagte.

Seit Kriegsende war überall im Hafen gebaut worden. In den eisigen Regengüssen rotteten die Rohbauten vor sich hin. Zuletzt hatte er Anfang November ein paar Maurerlehrlinge auf den Gerüsten gesehen – Mörtel verstreichend in blinden Fenstern, noch scheibenlosen, Mäulern gleichenden Löchern. Geisterhaftes Dunkel lag dort, wo längst erhellte Zimmer hätten sein sollen, für Sekretärinnen hinter Schreibmaschinen, Schreiber und Prokuristen, wie er selber einer war, Menschen an polierten Tischen voller Rechnungen, Listen und stapelweise unbeantworteten Briefe neben unverständlichen Geräten.

Wenn er so in diese Tristesse blickte, hörte er sie zumeist – die Stimme. Unvermittelt hob das Mädchen zu sprechen an, womöglich um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Erfand er das Kind, um seine Niedergeschlagenheit ertragen zu können?

Da, wo wir hingehen, wollen wir ein besseres Leben haben. Wir wollen nicht mehr nur durch alles durchgucken, sondern wieder anfangen zu sehen. Und miteinander und mit allen Dingen irgendwie wieder reden!

»Und wie soll das gehen?«, fragte er, weniger aus wirklichem Interesse denn aus Neugier, ob das Mädchen etwas erwiderte.

Aber wie erwartet kam keine Antwort.

Wenn er am frühen Abend im Regen durch die Dunkelheit nach Hause ging, waren die Kaianlagen übersät mit Sacktüchern. Wie tote Ratten nach einer ausgestandenen Seuche lagen sie auf dem nassen Pflaster, das im Gaslaternenlicht glänzte. Und wenn er dann den Kopf hob und unter dem Schirm hervor ein letztes Mal hinauf zu den Gerüsten sah, schienen ihm die Neubauten bereits den Schatten ihrer Zerstörung vorauszuwerfen.

Kein Leben würde je in das Kontorhausviertel einkehren und daher auch nie eines in die Gebäude zurückkehren. Erinnerung bewahrte nichts Lebendiges, wie Ennid glaubte. Erinnerung nannte man die tröstliche Beschönigung der Vergänglichkeit. Die Häuser waren wie er, leer und verlassen, egal, wie lange schon oder wie lange noch. Für ihn waren sie ein steinernes Menetekel, und wohl deshalb hatte er irgendwann in diesem Winter eingesehen, dass sie nicht einfach hässlich waren, sondern gerade aufgrund ihrer abscheulichen Sinnlosigkeit irgendwie auch liebenswert.

Jeder musste etwas lieben, da bildete nicht mal er eine Ausnahme. Wer von keinem geliebt wurde, den liebten die Gegenstände. Auf ihre stumme, eigenbrötlerische Weise erwiderten sie die ihnen entgegengebrachte Zuneigung. So war der Blumen- und Kräutergarten in Pillgwenlly nicht nur deshalb eine Pracht, weil ihn seine Mutter neun Monate im Jahr hegte. Schönheit war eine Antwort. Die Endurance und das Packeis waren gütig zu ihm und den 27 anderen Antarktikern gewesen. Die Gegenstände fragten nicht nach wer, wie lang, wie sehr, warum.