Liebe den ersten Tag vom Rest deines Lebens - Johanna Klug - E-Book
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Liebe den ersten Tag vom Rest deines Lebens E-Book

Johanna Klug

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Beschreibung

Der Tod ist ein Thema, das viele Menschen möglichst weit von sich wegschieben wollen – und doch werden wir alle früher oder später damit konfrontiert. Die junge Trauer- und Sterbebegleiterin Johanna Klug hat während ihrer Arbeit auf der Palliativstation Menschen getroffen, die ganz unmittelbar mit ihrer eigenen Endlichkeit umgehen müssen. Ihre Geschichten sind anrührend und regen zum Nachdenken an – und sie offenbaren Einsichten über das Leben, die nur im Angesicht des Todes entstehen können. Was ist wirklich wichtig? Was bereuen die Sterbenden? Wie geht man am besten mit Trauer um? Auf all diese Fragen gibt Johanna Klug in diesem sensiblen und Mut machenden Buch Antworten und hilft uns dabei, das Leben mit anderen Augen zu sehen.

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Seitenzahl: 275

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Impressum

© eBook: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

Gräfe und Unzer ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Der Abdruck des Schmuckzitats auf > erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Diogenes Verlags. Quelle: Benedict Wells, Vom Ende der Einsamkeit. Zürich: Diogenes Verlag, 2021.

Projektleitung: Angela Gsell

Lektorat: Martin Kulik

Covergestaltung: Ki36 Editorial Design, München, Bettina Stickel

eBook-Herstellung: Lea Stroetmann

ISBN 978-3-8338-8694-2

1. Auflage 2022

Bildnachweis

Autorenfoto: Hendrik Nix

Syndication: www.seasons.agency

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„Begegnungen mit Sterbenden ermöglichen eine Tiefe und Vertrautheit, die außerhalb von diesem Setting niemals möglich wären. Jeder Mensch lebt anders, jeder Mensch stirbt anders. Am Anfang und am Ende unseres Lebens, bei unserer Geburt und unserem Tod, sind wir als Individuen diejenigen, die den Schritt ins Ungewisse gehen: behütet, begleitet und doch allein. Wir können nie wissen, wie unser Leben aussehen wird. Genauso wenig können wir die Umstände unseres Todes bestimmen. Was können wir also von der Auseinandersetzung mit dem Tod lernen?

Auf all den Reisen mit Sterbenden herrscht für mich das pure Leben in allen Facetten. Wenn ich diese Menschen begleite, erscheint mir das Leben reicher an Qualität und emotionaler Tiefe – reicher, als es mir in unserem normalen Alltag oft begegnet. Unverfälscht, echt und pur.“

Das Leben ist kein Nullsummenspiel. Es schuldet einem nichts und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt. Ich zog dem Schicksal die Maske vom Gesicht und fand darunter nur den Zufall.

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

Vorwort

Für viele Menschen sind Sterben, Tod und Trauer immer noch die großen Tabuthemen unserer Gesellschaft. Es ist schwer, mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert zu werden. Noch schwerer kann es sein, anzunehmen und zu akzeptieren, dass Freund*innen und Familienmitglieder nicht ewig leben werden. Mir stellt sich aber immer wieder die Frage: Wenn wir dem Tod nicht seinen rechtmäßigen Platz geben, wenn wir diese menschlichste aller Erfahrungen von uns wegschieben, leben wir dann nicht am Leben vorbei?

Um leben zu können, musste ich erst mal den Tod verstehen. Also habe ich die letzte Seite aufgeschlagen, um mich dort wiederzufinden, wo ich jetzt bin: mittendrin in meiner Geschichte.

Der Tod, die Auseinandersetzung mit dem Sterben und der Trauer hat mich nie geängstigt. Im Rückblick fühlt es sich fast so an, als wäre mein Weg auf die Palliativstation vorbestimmt gewesen. An der Seite der Sterbenden zu sein war so selbstverständlich für mich, dass ich wohl gar nicht anders konnte. Die Erfahrungen, die ich bei diesen Begleitungen gesammelt habe, veränderten mein Leben grundlegend. Es war ein Prozess, in den ich hineinwuchs, der sich entwickelte und der immer noch unaufhörlich fortschreitet. Seit vielen Jahren sind meine Besuche auf der Palliativstation, im Hospiz oder bei ambulanten Begleitungen zu meiner größten Herzensangelegenheit geworden.

Die Begegnungen mit Sterbenden ermöglichen eine Tiefe und Vertrautheit, die außerhalb von diesem Setting niemals möglich wären. Jeder Mensch lebt anders, jeder Mensch stirbt anders. Am Anfang und am Ende unseres Lebens, bei unserer Geburt und unserem Tod, sind wir als Individuen diejenigen, die den Schritt ins Ungewisse gehen: behütet, begleitet und doch allein. Wir können nie wissen, wie unser Leben aussehen wird. Genauso wenig können wir die Umstände unseres Todes bestimmen. Was können wir also von der Auseinandersetzung mit dem Tod lernen?

Auf all den Reisen mit Sterbenden herrscht für mich das pure Leben in allen Facetten. Wenn ich diese Menschen begleite, erscheint mir das Leben reicher an Qualität und emotionaler Tiefe – reicher, als es mir in unserem normalen Alltag oft begegnet. Unverfälscht, echt und pur. Gefühle wie Wut, Trauer und Freude dürfen einfach da sein. Ich zeige mich, so wie ich bin. Und diese Verletzlichkeit ist es auch, die Beziehung erst zulässt. Natürlich erfordert es Mut, sich zu öffnen. Aber es lohnt sich. Immer dann, wenn wir uns auf unsere Intuition besinnen.

Wir leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft, die oberflächliche Werte priorisiert und Menschen in Schubladen packt. Durch diese Lebensrealität haben wir eine ambivalente Haltung zum Leben selbst entwickelt. Diese Einstellung macht mich müde. Auf der Palli kann ich all das für ein paar Stunden hinter mir lassen, auch wenn ich weiß, dass meine eigentliche Realität nicht hier stattfindet. Aber mich stärken die menschlichen Begegnungen und machen mein Leben vollkommener. Denn ich habe darin das gefunden, was die meisten Menschen wohl ihr ganzes Leben suchen: die Sinnhaftigkeit in unserem Leben.

Solange uns die Angst vor dem Tod begleitet, solange wir vor der Konfrontation mit unserer eigenen Endlichkeit und der unserer Zugehörigen zurückschrecken, wird diese uns früher oder später in unserem Leben einholen. Wir scheuen die Konfrontation und schauen lieber weg. „Doch wenn ich mich für das Leben entscheide, dann entscheide ich mich auch für den Tod“, so schreibt Jostein Gaarder. Unser ganzes Leben hindurch sterben wir viele kleine Tode – vielleicht ist das die große Vorbereitung auf das Ende in diesem Körper? In dieser Welt? Was wird danach sein? Sehen wir uns alle wieder? Eine bessere Vorbereitung auf das Sterben als das Leben selbst kann es doch gar nicht geben.

Unser Leben ist nicht mehr und nicht weniger als eine endliche Geschichte. Sich dem Thema Sterben und Tod zu widmen bedeutet, nicht nur seiner eigenen Endlichkeit einen Platz zu geben, sondern auch den Blick auf das Leben zu verändern. Dabei gilt es, Sterbenden unsere Zeit zu schenken. Für das Leben. Für das Sterben. Für die Menschen. Denn was mich verändert hat ist unumkehrbar: Seit ich den Tod in mein Leben gelassen habe, lebe ich erst wirklich.

Dieses Buch ist kein praktischer Ratgeber für den Umgang mit Sterben und Trauer – und doch hoffe ich, dass es vielen Menschen helfen wird, sich damit auseinanderzusetzen. Ich möchte in dieser Form Geschichten erzählen, die das Leben geschrieben hat. Geschichten, die mich tief geprägt haben. Als ich an meinem ersten Buch Mehr vom Leben saß, war das Schreiben mein Halt in einer sich für mich auflösenden Realität. Dieses Buch hier hat mich wahrhaft durch mein Leben geführt und mich mit all den Menschen verbunden, die ich begleiten durfte. Beim Schreiben ist man allein, doch nie einsam. Zumindest war ich es nicht. Ich war umgeben und wurde getragen. In all meinen Begleitungen offenbare ich auch ein Stück von mir, damit mache ich mich verletzlich. Das ist an einigen Stellen schmerzhaft und traurig, an anderen zeigt sich die ganze Fülle des Lebens. Das ist die Kunst der Begegnung.

Was erwartet dich also? Ich möchte dir zehn Geschichten von Menschen erzählen, die ich begleitet habe. Manche leben noch, viele sind aber bereits verstorben. Um deren Privatsphäre und Persönlichkeitsrechte zu schützen, habe ich die Namen verändert, habe bei den Protagonist*innen oder den Zugehörigen um Erlaubnis gebeten und zu intime Details leicht verändert.

Gemeinsam mit meiner Schwester Elisabeth habe ich für dieses Projekt Bilder aus Kohle angefertigt. Jedes Bild ist ein Unikat, keines gleicht dem anderen. Die Endlichkeit findet sich auch hier: denn das Gewicht des menschlichen Körpers besteht zu knapp 20 Prozent aus Kohlenstoff. Was sind wir und zu was werden wir wieder?

Mein großer Wunsch wäre es, wenn du dir in diesen Geschichten selbst begegnest, wenn du aus diesen Geschichten eigene Einsichten für dein Leben ziehen kannst, wenn diese Geschichten in dir etwas auslösen.

Weil das verbindende Element all dieser Lebensgeschichten mein eigenes Leben ist, ist das Buch auch grob an meiner eigenen Biografie orientiert. Mit 16 Jahren habe ich neben der Schule im Altenheim gearbeitet, und mit 20 fing ich schließlich auf der Palliativstation an. Ich lernte Menschen kennen und verabschieden: Marlen, die Angst vor dem Leben hatte, oder Lukas, der gerne ein ganz normaler Jugendlicher gewesen wäre. Dann begegnete ich Sarah mit der Kinderdemenz und ging bald darauf nach Südafrika ins Hospiz. Mein Opa starb in heißen Sommermonaten, in der ich viel Zeit auf der Palliativstation verbrachte. Parallel kam ich mit Eilyn und ihrer Familie in Kontakt, ein damals 8-jähriges Mädchen, das um seine verstorbene Schwester trauerte.

In all diesen Geschichten steht die Begegnung mit Menschen im Vordergrund – und wie ich mich an diese Begegnung erinnere. Denn die Erinnerung ist es, was Menschen auch nach ihrem Tod lebendig hält. Ich glaube fest daran, dass die Menschen, die wir lieben, uns nie ganz verlassen.

1 | Johanna und der Tod

Johanna und der Tod

Über Nacht hatte es gefroren und die vereinzelten Regentropfen hatten den Boden in eine rutschige Fläche verwandelt. Eiskristalle hingen in den Sträuchern und Gräsern, wie kleine Gondeln, die sich aufmachten für eine letzte Fahrt ins Ungewisse, bevor der Winter kam. Ein Postauto bremste scharf, eilig wurden Päckchen und Briefe verteilt. Ich schreckte kurz hoch. Dann wieder Stille, bis mein Wecker um halb sechs klingelte. Schlaftrunken griff ich ins Leere. Der Alarm piepste unerbittlich weiter. Mit einem Stöhnen richtete ich mich auf und strich mir durch meine langen Haare. Ich gähnte, rieb mir die Augen und befreite mich aus meiner Bettdecke. Dann steuerte ich Richtung Bad. Zähne putzen, Wasser ins Gesicht, Haare kämmen – all das geschah so automatisch und routiniert, dass ich in Gedanken weiterschlafen konnte.

Auf dem Badewannenrand lagen eine alte, ausgebeulte graue Jeans und ein Shirt mit einem großen Zebraprint. Früher hatte ich die Sachen gerne angezogen, jetzt waren sie ausgewaschen und verblichen. „Für die Arbeit reichen sie noch aus“, dachte ich mir immer wieder, wenn meine Mutter verständnislos über meine Kleidungswahl den Kopf schüttelte. Ich schlüpfte in die steife Jeans und verschwand dabei in den viel zu großen Klamotten. 

Manchmal fuhr mich mein Vater zur Arbeit ins Pflegeheim. Doch an diesem Tag düste ich mit meinem Fahrrad den Berg hinunter. Meine Eltern schliefen noch – es war schließlich Wochenende. Die kalte Winterluft strich mir ums Gesicht, betäubte Nase und Hände. Das Rad parkte ich vor einem bedrohlich wirkenden grauen Bunker: das Pflegeheim, in dem ich neben der Schule arbeitete. Die automatisierten Glastüren glitten zu beiden Seiten auseinander, als ich mich ihnen näherte. Sofort prallte ich gegen eine Wand aus Desinfektionsmitteln und allerlei Gerüchen: Urin, verkochtes Gemüse und ein Hauch von Tod. Die Neonlampen warfen mit ihrem grellen Licht einen bedrohlichen Schatten auf mich. Ich eilte die Treppenstufen hinauf in den zweiten Stock. Das Licht der Neonröhren verfolgte mich. 

Den Speiseraum der Station 2 erreichte ich gerade noch rechtzeitig kurz vor Beginn meiner Schicht um halb sieben. Meinen kleinen Rucksack warf ich auf die Wasserkästen in der Ecke, dann band ich mir die Haare ordentlich zu einem Zopf und griff nach einer Schürze, die bereits an einem Haken hinter der Tür hing. Ich stemmte die Hände in die Hüften, atmete tief durch und schloss dabei kurz meine Augen.

Mit einem kleinen silbernen Essenswagen polterte ich durch die Gänge zum Fahrstuhl, um das Frühstück zu holen. Die Küche befand sich im Keller des Gebäudes. Braune Fließen aus den 60er-Jahren zierten die Wände und schienen mich mit jedem weiteren Schritt zu verschlucken. Auf einem kleinen Tisch stapelte sich schon das labbrig weiße Toastbrot, jede Scheibe akribisch abgezählt. Daneben ein Eimer mit Marmelade und drei Pack Butter. Manchmal sah ich Mitarbeitende aus der Küche umherflitzen, aber meistens war es hier unten ruhig. Einmal traf ich den Koch, der mir lachend auf die Schulter klopfte und sagte: „In der Kühlkammer lagern wir nicht nur das Essen, sondern auch die Toten.“ Ich sah ihn mit großen Augen an und drehte mich wortlos um. „Das war doch nur ein Spaß Mädchen“, rief er mir hinterher, aber ich wechselte kein Wort mehr mit ihm. Lieber tot in der Kühlkammer als lebendig vegetierend auf den Stationen der Pflegeheime, dachte ich mir, als ich mich wieder im Aufzug nach oben befand.

Zurück auf der Station wurden schon die ersten alten Menschen in den Speiseraum gefahren und dort von den Pflegekräften stehen gelassen. Sie wirkten verloren in diesem Raum, der mit drei achteckigen Holztischen ausgestattet war. Ein großer Fernseher in der Ecke, mehr Einrichtungsgegenstände gab es nicht. Ich spürte die Einsamkeit der alten Menschen, die den ganzen Raum ausfüllte. Schlaftrunken und verwirrt starrten sie an leere weiße Wände und träumten wohl von einer Zeit, in der sie noch frei und selbstständig lebten. Aber waren wir das jemals? Auf einmal ertönte laute Schlagermusik aus den Musikboxen und ich schrak zusammen. Pflegerin Anke hatte den Musikknopf gedrückt, grinste und schlenkerte dabei mit den Armen. Die Senior*innen starrten weiter an die Wand, völlig unbeeindruckt waren sie in ihrer ganz eigenen Welt versunken.

Der Toast fiel fast von allein aus der Plastiktüte. Ich bestrich die brotähnliche Substanz mit weicher Margarine und verteilte darauf einen Löffel Erdbeermarmelade. Dabei vermischte sich beides zu einer gelbroten Masse. Ich musste daran denken, wie wütend es mich als Kind gemacht hatte, wenn diese Ebenen sich miteinander vermischten. Damals. Jetzt war es mir egal.

Vier diagonale Schnitte und aus einer Scheibe waren mehrere kleine Stücke geworden. Die Namensschilder der Bewohner*innen standen auf der Fensterbank. Jede*r hatte eigene Wünsche und Bedürfnisse für das Frühstück. Viele konnten nur noch Häppchen essen. Andere wiederum bekamen ihr Frühstück mit einem Tablett auf ihr Zimmer gebracht und durften ihre Brote eigenhändig bestreichen. War das bereits der letzte Akt von Selbstbestimmung: das eigene Essen zu essen? 

Ich dickte den Milchkaffee in kleinen Schnabeltassen an und in der milchig-braunen Flüssigkeit bildeten sich schnell Klumpen, die ich dann wieder zu einer glatten Masse rührte. Eine halbe Stunde stand die ganze Küche voller Marmeladenbrote und angedicktem Kaffee. Die Pflegekräfte hatten fürs Erste ihre Arbeit erledigt. Alle Senior*innen waren aus ihrem Schlafanzug in frische Klamotten gesteckt und in dieser Montur in den Speiseraum gebracht worden.

„Also mal ganz ehrlich, Luise hat sich heute mal wieder benommen. Ständig zieht sie sich wieder aus und hält einfach nicht still. Nervig.“ Anke verdrehte die Augen, schnappte sich eine Tasse und schüttete sich mehr Milch als Kaffee hinein. Mit einem großen Zug ließ sie die Flüssigkeit in ihren gierigen Mund laufen, stellte mit einem leisen Rülpser die Tasse auf die Fensterbank, drehte sich um und verließ die Stationsküche, ohne mir Beachtung zu schenken. Ich blickte ihr verwundert hinterher. Hatte sie gerade mit mir gesprochen? Ich strich meine verklebten Hände an der Schürze ab und bemerkte erst jetzt die roten Marmeladenflecken.

Anke war eine der Pflegekräfte, die zu allem eine Meinung hatte und gern redete – am liebsten über ihre Senior*innen. Sie quasselte, wenn es ihr passte, ohne ihrem Gegenpart Beachtung zu schenken. Es floss einfach aus ihr raus und wenn sie sich gedanklich entleert hatte, war sie so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war. Anke war eine gute Pflegekraft, zumindest war sie davon fest überzeugt, wenn sie die Senior*innen fütterte, wusch und umzog. Diese Routine hatte sie so verinnerlicht, dass sie auf mich so wirkte, als folgte sie nicht länger ihrem Gespür, sondern einer inneren Checkliste.

Als ich von meiner kleinen Zimmertour zurückkam und allen Bewohner*innen die Frühstückstabletts gebracht hatte, saß Trude bereits auf ihrem Stuhl und schaute mich neugierig an. Die Augen hatte sie etwas zusammengekniffen und den Kopf seitlich gelegt. Aufmerksam verfolgte sie jede meiner Bewegung. „Na Trude, hast du gut geschlafen?“, fragte ich sie und strich ihr sanft über den Handrücken. „Hijaaaaaa“, quakte sie und ihre Stimme klang dabei wie ein kleines Entlein. Ich stellte ihr einen Schnabelbecher mit Kaffee und ein geschnittenes Marmeladenbrot auf den Tisch. Hungrig griff sie nach einem Toaststück, packte dabei aber mitten in die Marmelade hinein. Sie grinste und leckte sich die roten Finger. „Das ging daneben Trude“, schmunzelte ich und schob ihr sanft ein Stück in den weit geöffneten Mund. Genüsslich kauend tätschelte sie meine Hand und hielt sie plötzlich ganz fest. „Nicht doch“, sagte ich und kniete mich zu ihr, „ich muss jetzt noch weiterarbeiten.“ Ihre strahlend blauen Augen in ihrem faltigen Gesicht blickten mich lange an. Sie sagte kein Wort. Dann ließ sie los und ich flitzte weiter. 

Peter

Ein Tablett auf dem Wagen war noch übrig. Ein Kaffee, zwei Roggenbrote, Butter und Marmelade warteten darauf, von Peter verspeist zu werden. Er war immer der Letzte. Der Gang, auf dem Peter wohnte, wirkte auf mich bedrückend, nahezu unheimlich. Kurz hinter seiner Zimmertür hinten waren der Abstellraum und die Putzkammer, wo oft geraucht wurde. Das Licht flackerte wild vor sich hin.

Die Zimmertür war nur leicht angelehnt. Ich klopfte zaghaft und trat ein. „Guten Morgen“, sagte ich und setzte dabei mein strahlendstes Lächeln auf. In dem Zimmer war es düster und muffig. Die Vorhänge waren zugezogen, nur das Sauerstoffgerät gluckste munter vor sich hin. Peter ignorierte mich. „Wo soll ich das Frühstück hinstellen?“ Wieder keine Antwort. Ich fühlte mich auf einmal fehl am Platz, wusste nicht wohin mit meinen Händen, obwohl die ja fest am Tablett klebten, und überhaupt wäre ich gerade vor Scham am liebsten im Boden versunken. Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand, aber irgendwann konnte ich endlich meine Hände und Füße wieder spüren. Abrupt stellte ich das Tablett auf den kleinen Tisch, drehte mich und verließ – ja, eigentlich rannte ich aus dem Zimmer. Mein Herz pochte laut. Ich spürte es in der Brust, es dröhnte in meinen Ohren, meine Fingerspitzen kribbelten. „Ich geh da nie wieder rein“, dachte ich mir und wusste gleichzeitig, dass ich es doch tun musste. Wem sollte ich denn erzählen, dass ich Angst vor Peter hatte? Und wie sollte ich es überhaupt erklären: Hatte ich Angst vor Peters Schweigen, seinem dahinsiechenden, fast leblosen und trotzdem lebendigen Körper, der sich vom Bett zum Rollstuhl bewegte, mich komplett ignorierte und mir ganz klar zu verstehen gab, dass ich in seiner Umgebung nicht willkommen war? „Das ist eben Teil deines Jobs. Manchmal muss man Dinge machen, die einem nicht so viel Spaß machen“, hörte ich in meinen Gedanken meinen Vater sagen. Aber für mich passte das alles nicht so recht zusammen. Manchmal, wenn Peter in der Putzkammer mit anderen Pflegekräften saß und rauchte, lachte er. Ein lautes, kehliges Lachen, aber monoton und leer. Eine Unterhaltung mit ihm anzufangen war aber für mich unmöglich. Er wies mich ab, egal wie oft ich es auch versuchte.

Peter hatte dünnes, strähniges Haar, das seitlich an seinem Kopf klebte. Seine Haut wirkte gräulich und die Augen lagen so tief in ihren Höhlen, dass sie fast zu verschwinden schienen. Wie um dem Rest seines gezeichneten Gesichts zu trotzen, trug er einen ordentlich geschnittenen Schnurrbart, den er mit einem kleinen Kamm auf seinem Nachttisch frisierte. Neben ihm immer ein oder zwei Schachteln Zigaretten. 

Peter kam ins Altenheim, da war er gerade einmal 50 Jahre alt. Sein Leben war geprägt von Alkohol und Drogenexzessen. Irgendwann war er auf einen Rollstuhl angewiesen und benötigte ein Sauerstoffgerät. Er wurde zum Pflegefall und landete hier. Familie oder Bekannte hatte er keine, und falls doch, ließen sie sich nie blicken. Seine Geschichte habe ich nie im Detail erzählt bekommen, aber das war in dem Fall für mich auch nicht von Bedeutung.

Luise und ihr Husky

Zurück auf dem Weg in die Küche stolperte mir Luise, die Bewohnerin, über die sich Pflegekraft Anke vorher beschwert hatte, entgegen. Ein zaghaftes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, das sich schnell wieder verflüchtigte. Luise hatte kurze, graue Haare, die in alle Richtungen abstanden und sie trug einen hellblauen Pulli mit weißen Streifen. Unter ihrem linken Arm steckte ein gewaltiger Plüsch-Husky, den sie immer mit sich herumtrug. In der anderen Hand hielten ihre verklebten Finger noch ein Stück Marmeladenbrot. „Luise“, lachte ich und sie sah mich mit einem erstaunten Blick an. „Was machst du denn hier? Komm, wir gehen wieder in den Speisesaal und frühstücken in Ruhe.“ Und bereitwillig ließ sie sich von mir zurück zu ihrem Platz führen.

Luise kannte ich schon eine ganze Weile, aber ich wusste wenig über sie. Eines Tages war sie einfach da gewesen und begrüßte mich mit diesem hellen, erstaunten Blick, als ich gerade zu meiner Mittagsschicht ankam. Der Schnee-Husky war schon damals ihr ständiger Begleiter. Keine Sekunde ließ sie ihn aus den Augen. Denn Luise wusste sehr wohl, wie kraftvoll solche Hunde sind und wie schnell sie auf dumme Gedanken kommen. „Ich muss immer gut auf Husky aufpassen“, sagte sie oft und tätschelte dabei den kleinen Plüschkopf. „Ja, das machst du auch gut“, erwiderte ich und legte meinen Kopf schief, um Husky besser betrachten zu können. Seine schwarzen Knopfaugen schauten mich durchdringend an und sein Fell wirkte zerzaust von dem vielen Gekuschel mit Luise. Ihm selbst schien das nichts auszumachen. Denn der treue Husky hatte immer ganz viel Geduld mit Luise.

Ich musste grinsen, als ich daran dachte, wie Luise erst letzte Woche Husky mit Kartoffelbrei und Tomatensauce füttern wollte. Niemand von den Pflegekräften hatte etwas bemerkt. Ich hatte Luise den Teller hingestellt, denn sie konnte noch selbstständig essen. Irgendwann fing Trude an zu lachen. Erst dachte ich, sie hätte sich verschluckt, aber dann fiel mein Blick auf Luises blauen Pulli voller roter Tomatenflecken. Huskys Schnauze war nun nicht mehr schwarz, sondern rot, und auch sein weißes Bauchfell hatte Tomatensauce abbekommen. „Luise, ach je“, sagte ich, stand da und fing an zu glucksen. Luise hob gedankenverloren ihren Kopf: wer hatte da gerade ihren Namen gesagt? Und noch ein Löffel für den braven Husky und dabei verschmierte sie die Tomatensauce gleichmäßig auf seiner Schnauze hin und her. 

Auf einmal war Anke, die Pflegekraft, zur Stelle, packte Luise grob am Arm, legte den Hund auf den Tisch und schob den Teller beiseite. „Immer so eine Sauerei, die du da machst. Kannst du dich nicht einfach mal normal verhalten?“, sagte sie während Luise ihren Ellenbogen auf der Armlehne abstützte und Anke ansah. Alle Fröhlichkeit war auf einmal verflogen, plötzlich war es still und kühl geworden. „Das ist doch nicht so schlimm“, flüsterte ich. „Nicht so schlimm?“, grunzte Anke, „na ja du musst sie ja auch nicht ständig sauber machen. Dafür ist einfach keine Zeit“, sagte Anke und zog Luise den Pulli über den Kopf. Jetzt saß Luise nur noch in einem weißen Langarmshirt da und fuhr sich mit den Tomatenfingern über den Bauch. „Nicht auch das noch“, fluchte Anke und wackelte davon, um einen neuen Pullover zu holen. „Mach sie mal sauber“, rief sie in meine Richtung, während sie den Gang runterging. Ich holte einen feuchten Lappen und wusch Luises Gesicht und Finger ab. „Husky mach ich auch mal sauber?“, fragte ich Luise und sie nickte. Ihre grauen Augen ruhten auf Husky und meinen Versuchen, die Sauce aus seinem Fell zu entfernen. Die Tomatenfarbe blieb, wenn auch in abgeschwächter Form. Diese kleinen rosa Tupfer auf dem Fell des Plüschtiers sind es, die mich immer wieder schmunzeln lassen, wenn Luise mit ihrem Husky um die Ecke kommt.

Als ich um die Mittagszeit nach Hause kam, hatte meine Familie schon gegessen. Es roch nach gebratenen Zwiebeln und Knoblauch. Viel intensivere und lebendigere Gerüche als das verkochte Gemüse im Altenheim. „Na, wie war es?“, fragte mich meine Mutter, die mit meinem Vater noch auf einen Kaffee in der Küche saß. Ich tat mir eine Portion Kartoffelauflauf auf den Teller und setzte mich dazu. „Ganz gut“, erwiderte ich und separierte den geschmolzenen Käse von Kartoffeln und Gemüse. „Das Beste immer zum Schluss, was?“, grinste mein Vater und ich nickte. „Luise hat sich heute mit Tomatensauce vollgeschmiert und eine Pflegekraft ist richtig böse geworden. Wir sind einfach ständig unterbesetzt. Und alle sind so wahnsinnig gestresst“, sagte ich. „Ja, gerade vorhin kam tatsächlich wieder ein Anruf aus dem Pflegeheim, ob du nicht morgen wieder arbeiten könntest“, setzte meine Mutter an. Mir entwich ein Seufzer. Aber warum nicht?

Wozu das alles?

Nachdem ich am nächsten Morgen das Frühstückschaos in der Küche des Pflegeheims beseitigt hatte, drehte ich wieder meine Runde, um die restlichen Tabletts aus den Zimmern abzuholen. Als ich an der Tür von Bewohnerin Marianne klopfte, wurde diese mit einem Ruck die Tür aufgerissen. „Da bist du ja endlich“, sagte sie und eilte zurück in ihr Zimmer. „Du musst mir unbedingt helfen, mich umzuziehen und aufzuräumen“, säuselte sie. Bei Marianne hatte ich immer den Eindruck, dass für sie jeder einzelne Mensch der allerwichtigste war. Auf jeden Fall, solange man sich Zeit für sie nahm. „Ich habe solch ein Durcheinander hinterlassen. Herrje“, sagte sie, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und setzte sich auf ihr Bett. Verwundert starrte ich auf das Tablett, auf dem alles fein säuberlich gestapelt war. Nicht mal ein Krümel oder ein Marmeladenfleck war zu sehen. „Aber du hast da sehr gut wieder Ordnung reingebracht“, sagte ich, nahm das Tablett in die Hände und drehte mich um. „Ach, geh doch jetzt nicht gleich wieder. Ich muss noch so viel erledigen und weiß gar nicht, wie ich das alles schaffen soll“, hielt mich Marianna zurück. Plötzlich fing sie an zu weinen. Ich war hin- und hergerissen. Einerseits musste ich mich wirklich beeilen. Bald war schon wieder Mittagessenszeit und ich hatte noch nicht mal die Wägen gedeckt. Andererseits saß vor mir die weinende Marianne und schluchzte leise vor sich hin. 

Ich setzte mich zu ihr. „Das kriegen wir doch alles hin. Was muss noch erledigt werden?“ Nach ein paar Sekunden tätschelte Marianne mein Bein. „Nichts, nichts. Alles nicht so wichtig.“ Also saßen wir noch einen Moment länger zusammen auf ihrem Bett. Ich schaute auf das leere Geschirr und wiederholte in Gedanken Mariannes Satz „Alles nicht so wichtig.“

„Ich bring dich noch zur Tür“, sagte Marianne plötzlich und war auf einmal ganz aufgeregt. „Und bring mir noch einen Pudding mit“, während sie mich zur Tür schob. Ich nickte und im gleichen Moment schloss sie diese vor meiner Nase.

Nach dem Mittagessen endete meine Schicht. Als Vorspeise gab es Gemüsebrühe mit Leberknödeln. Früher war das meine Lieblingssuppe, bis ich verstand, aus was Leberknödel gemacht sind. Nämlich aus Leber. Seitdem schreckt es mich ab, wenn ich diese grauen Knödel in der bunten Brühe schwimmen sehe. Doch der Geruch ist für mich auch ein Stück Kindheit.

Ich wischte über die Arbeitsflächen in der Küche, über die achteckigen Holztische im Speisesaal, an dem jetzt nur noch vereinzelt Menschen in ihren Rollstühlen saßen. Die meisten waren schon eingeschlafen und schnarchten leise vor sich hin. Der schlafenden Trude nahm ich die Schnabeltasse aus der Hand, die sie fest umklammerte. Karl von der gegenüberliegenden Tischseite grunzte laut und Trude schreckte zusammen. „Alles gut“, beruhigte ich sie und legte meine Hand kurz auf ihre Schulter. 

Zurück in der Stationsküche brummte die Spülmaschine eine leise Melodie. Das restliche Geschirr zum Spülen stand neben dem randvoll gefüllten Eimer mit den Essensabfällen. Ich drückte einen Deckel drauf und stelle ihn an die Tür. Die Schürze zog ich über meinen Kopf und hängte sie zurück an den Haken. Morgen hatte ich wieder Frühschicht. 

Schal und Mantel hatte ich schnell übergezogen, schnappte mir meinen Rucksack und ließ die Station für heute hinter mir. Im Foyer begegnete mir der Sohn von Trude. Wir grüßten uns, doch ich wusste, dass er mich nicht erkannte – denn immer wenn er zu Besuch war, war er ganz auf seine Mutter fokussiert. 

Ich ging nach Hause, und ließ damit auch alle Menschen hinter mir, die gerade im Pflegeheim wohnten. Ich ging hinaus in meine Realität und die anderen verblieben in ihrer. Auf einmal fühlte ich mich schrecklich einsam. Während ich mein Fahrrad den Berg hinunter zur Hauptstraße schob, wurde mir die Ausweglosigkeit der alten Menschen bewusst. War das der Preis für das Leben? Lohnt sich das alles überhaupt mit dem Blick auf ein solches Ende?

Zehn Minuten später war ich zu Hause. In unserem Hausflur roch es immer noch nach gebratenen Zwiebeln. Leise verschwand ich die Treppe hinauf ins Badezimmer. Meine Klamotten rochen jetzt auch nach Desinfektionsmittel und verkochtem Gemüse. Unter der Dusche versuchte ich mit den Wassertropfen auch all meine Gedanken wegzuspülen. Ich schloss die Augen, dachte an Trude und Marianne und die verträumte Luise mit ihrem Husky. „Morgen auf ein Neues“, sagte ich mir in Gedanken, während ich langsam wieder in meiner Realität aufwachte. 

Das Gefühl, gebraucht zu werden

Ich arbeitete noch nicht lange in diesem Altenheim. Eigentlich wollte ich einfach neben der Schule ein bisschen Geld verdienen. Aber schnell merkte ich, dass ich diesen Job nicht wegen des Geldes machen konnte. Doch zu Beginn war mir der Ort und der Geruch von alten Menschen beinahe verhasst. Ich konnte kaum mit der bedrückenden Situation umgehen: Überall saßen sie regungslos in ihren Stühlen und starrten in die Luft. Manchen tropfte der Speichel aus dem Mund und erst das „Babylätzchen“ fing den Faden auf. Der körperliche und geistige Verfall erschrak mich, machte mich traurig und gleichzeitig floss die Sorge aus mir heraus, für diese Menschen da zu sein, die so verlassen dasaßen. 

Dabei hatte ich mit meiner Schulausbildung eigentlich genug zu tun. Nach meinem Realschulabschluss wechselte ich die Schule, um mein Fachabitur zu machen. Und wahrscheinlich war es deshalb auch so anstrengend, weil ich viel zu bemüht war, neue Freund*innen zu finden. Ich wollte unbedingt dazugehören, war lieb und nett und passte doch nirgends rein. Zu der Zeit dachte ich noch, dass Freund*innen in dem gleichen Alter sein müssten, wie man selbst. Dass es gut wäre, angepasst zu sein und nirgends anzuecken. Dann fing ich im Pflegeheim an und vergaß damit auch, in welcher Welt ich eigentlich zu Hause war. Tagsüber ging ich in die Schule, am Nachmittag lernte ich oder arbeitete auf der Station. Für das Wochenende trug ich mich meist zweimal ein, um eine Beschäftigung zu haben und mich abzulenken. Und je mehr ich gab, desto mehr wurde ich beansprucht: „Hallo, ist Johanna da? Könnte sie für die Schicht heute einspringen?“ Diese Anrufe kamen alle paar Tage und natürlich war ich da, ich dachte doch, ich wäre unabkömmlich. Man brauchte mich. Endlich brauchte mich jemand. 

Was für eine Zeit, in der man erwachsen werden soll. Was für eine Zeit, in der so viele gesellschaftliche Erwartungen über einen hereinbrechen. Was für eine Zeit, in der man selbst nicht weiß, wohin mit sich.

Meine erste Erfahrung mit dem Tod

Ich schreckte hoch und saß kerzengerade in meinem Bett. An diesem Tag war es noch dunkler als am vorherigen und ich musste meine Nachttischlampe anknipsen, um mich in der Finsternis zurechtzufinden. Mit nackten Füßen ging ich ins Bad und stellte mich an die warme Heizung. Während ich Zähne putzte, legte ich meine Klamotten auf die Wärmestäbe und starrte aus dem Fenster. Unten in der Küche war bereits das Licht angegangen. Warum waren meine Eltern so früh schon wach? Ich zog mein Morgenritual in die Länge, um den Moment hinauszuzögern meinen Eltern gegenüberzutreten. So früh wollte ich immer für mich sein und am liebsten niemandem begegnen. 

Vom Himmel tanzten kleine Schneeflocken, die für ein paar Sekunden eine weiße Decke bildeten, bis sie die Straße verschluckte. Heute fuhr mich mein Vater zum Pflegeheim. Still saßen wir im Auto und schauten nach vorne. „Viel Freude“, murmelte er und ich grinste zaghaft, als ich aus dem Auto kletterte. Wehmütig blickte ich dem Auto und den Reifenspuren im Schnee hinterher. Aus irgendeinem Grund war ich traurig, ich wälzte etwas in meiner Erinnerung umher.

Ich nahm zwei Stufen auf einmal und meine Träumerei wurde durch Luise beendet, die mit ihrem Husky auf der Couch im Flur saß. „Wau wau“, machte Luise und schaute mich fragend an. „Jaja Luise, ich weiß, es schneit ein bisschen“, sagte ich und lächelte. 

Wie jeden Morgen holte ich das Frühstück aus dem Keller, dickte Milchkaffee an, schnitt die Marmeladenbrote in gleich große Stücke und verteilte die Teller. Diese Routine wiederholte sich immer wieder. Jeder Tag wurde bestimmt von den Mahlzeiten, die für die Bewohner*innen oft der einzige Lichtblick in einem tristen Alltag waren. Doch was ist das für ein Leben, von Essen zu Essen zu existieren?

Das letzte Tablett stand noch auf dem Wagen und wartete auf Peter. Der Kaffee war bestimmt schon kalt, oder lauwarm, aber nach meinem gestrigen Erlebnis mit ihm war mir das egal. Peter wahrscheinlich auch. Mit jedem meiner Schritte wurde ich kleiner, die Angst breitete sich in mir aus und ich suchte nach einem Grund, den Moment noch weiter hinauszuzögern. Aber dann stand ich vor seiner Tür und klopfte. Keine Antwort. Wahrscheinlich ist er rauchen, dachte ich mir und war froh, dem abweisenden Mann für diesen Moment aus dem Weg gehen zu können. Ich balancierte das Tablett in beiden Händen durch den schmalen Zimmerflur, vorbei an dem kleinen Bad, das lediglich von einem Vorhang abgetrennt wurde, in Peters Zimmer.