Liebe, M.A. - Lina Barold - E-Book

Liebe, M.A. E-Book

Lina Barold

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  • Herausgeber: Feelings
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

»Ich strecke meine Hand aus, warum auch immer, aber wortlos greift Silvan sie. Ein Moment, in dem alles möglich wäre, und ich weiß, dass das, was zwischen uns war, wirklich etwas war.« Als Sira nach einigen Monaten der Funkstille ihrem ehemaligen Professor Silvan Heinrich von Lengenfeld wieder begegnet, flammt die Affäre zwischen den beiden erneut auf. Doch welche Absichten verfolgt Silvan dieses Mal? Kann Sira ihm vertrauen? Und dann erscheint plötzlich jemand auf der Bildfläche, mit dem Sira nicht gerechnet hätte; jemand, mit dem so vieles einfacher erscheint als mit Silvan. Neben ihrem Studienabschluss und einem neuen Job muss Sira sich mit der Frage auseinandersetzen, was sie eigentlich vom Leben und der Liebe erwartet. Das Autorenduo Lina Barold erzählt in lakonisch-humorvoller Weise mit viel Wortwitz und Verve, bei der aber auch Gefühle, Sinnlichkeit und Dramatik nicht zu kurz kommen, die Geschichte von Sira und Silvan bis zum bittersüßen Ende und stellt dabei die Frage, welche Art von Beziehung überhaupt möglich ist, wenn man nicht mit- aber auch nicht ohneeinander kann. feelings-Skala (1=wenig, 3=viel): Gefühlvoll: 3, Witzig: 3, Erotisch: 2 Begeisterte Leserstimmen: »...äußerst gut gelungen.« »...herrlich humorvoll und voller Ironie und Sarkasmus.« »Die Autorinnen haben mich als Leser in ihre Welt gezogen und meine Nerven bis zum zerreißen gespannt.« »Liebe, M.A.« ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Der erste Teil »Studium Emotionale« wurde von den lovelybooks-Lesern unter die Top 20 des Leserpreises 2014 gewählt. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite: www.facebook.de/feelings.ebooks. Genieße jede Woche eine neue Liebesgeschichte - wir freuen uns auf Dich!

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Seitenzahl: 664

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Lina Barold

Liebe M.A.

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

»Ich strecke meine Hand aus, warum auch immer, aber wortlos greift Silvan sie. Ein Moment, in dem alles möglich wäre, und ich weiß, dass das, was zwischen uns war, wirklich etwas war.«

 

Als Sira nach einigen Monaten der Funkstille ihrem ehemaligen Professor Silvan Heinrich von Lengenfeld wieder begegnet, flammt die Affäre zwischen den beiden erneut auf. Doch welche Absichten verfolgt Silvan dieses Mal? Kann Sira ihm vertrauen? Und dann erscheint plötzlich jemand auf der Bildfläche, mit dem Sira nicht gerechnet hätte; jemand, mit dem so vieles einfacher erscheint als mit Silvan. Neben ihrem Studienabschluss und einem neuen Job muss Sira sich mit der Frage auseinandersetzen, was sie eigentlich vom Leben und von der Liebe erwartet.

Das Autorenduo Lina Barold erzählt in lakonisch-humorvoller Weise mit viel Wortwitz und Verve, bei der aber auch Gefühle, Sinnlichkeit und Dramatik nicht zu kurz kommen, die Geschichte von Sira und Silvan bis zum bittersüßen Ende und stellt dabei die Frage, welche Art von Beziehung überhaupt möglich ist, wenn man nicht mit-, aber auch nicht ohneeinander kann.

»Liebe, M.A.« ist ein E-Book von feelings* emotional eBooks. Der erste Teil »Studium Emotionale« wurde von den lovelybooks-Lesern unter die Top 20 des Leserpreises 2014 gewählt. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende E-Books findest Du auf unserer Facebook-Seite: www.facebook.de/feelings.ebooks

Inhaltsübersicht

Wir haben Alles wohl [...]PrologDenk’ ich bloß mich, [...]Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Er sagt eigentlich immer [...]Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Frei atmen macht das [...]Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Ich sage vom Gesetz [...]Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Mensch, sind noch die [...]EpilogDenn darin sind die [...]ENDE [...]Danksagung
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Wir haben Alles wohl anders geträumt mit unsern Büchern hinter der Mauer unsers Gartens, zwischen unsern Myrthen und Oleandern.

[Lena]

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Prolog

Es hat sich nichts geändert.

Selbst wenn man das Seminar eine Viertelstunde eher beendet, können sie es kaum erwarten, den Raum zu verlassen. »Bitte lesen Sie zur nächsten Woche den Werther …« Meine letzten Worte gehen im allgemeinen Papierrascheln und Stühlerücken unter. Ich weiß nicht, ob ich mich ärgern soll, entscheide mich dann aber doch für ein Schmunzeln.

Im Hinausgehen treffe ich Lara an der Tür. »Ein schönes Referat«, lobe ich sie.

Sie lächelt erfreut. »Danke. Es hat mir auch richtig Spaß gemacht, also, ich würde gerne meine Hausarbeit darüber schreiben. Soll ich dazu in Ihre Sprechstunde kommen?« Solange es immer noch in jedem Kurs ein paar motivierte, interessierte Teilnehmer gibt, muss ich die Hoffnung nicht aufgeben.

»Gern.«

Wir verabschieden uns. Lara geht in Richtung Cafeteria, ich zu meinem Büro. Ich muss mich beeilen. Ist doch immer wieder praktisch, wenn man seinen eigenen Vorteil gegenüber den Studenten als Großzügigkeit verkaufen kann.

Mia-Sophie schaut auf, als ich hereinkomme.

»Alles in Ordnung?«, frage ich und schaue als Erstes zum Buggy, der mit einem Tuch über dem Sonnenverdeck in der Zimmerecke steht.

»Ja. Alles bestens. Er hat fast die ganze Zeit geschlafen.«

»Schön. Danke fürs Aufpassen.«

»Kein Problem. War mal was anderes, als immer nur über Büchern hocken oder Skripte kopieren.« Mia-Sophie grinst.

Ich stelle den Seminarordner von Lesarten – Neue Perspektiven auf Goethe zurück auf seinen Platz im Regal. Wenigstens hier schaffe ich es, Ordnung zu halten. Aber mein Schreibtisch quillt mit Büchern, Klausuren und Schnellheftern voller Seminararbeiten über. In zehn Jahren habe ich wahrscheinlich Rosenbaum-Niveau erreicht.

Dann werfe ich einen Blick in den Kinderwagen. Johanns Augen sind geschlossen, und er atmet tief und ruhig. In seinen kleinen Fäusten hält er sein Schnuffeltuch fest. Er schläft diesen unstörbaren Schlaf, wie nur Babys ihn schlafen können. Unwillkürlich muss ich lächeln.

»Also, der Schlachtplan«, fahre ich zu Mia-Sophie gewandt fort. »Ich muss gleich zum Bahnhof. Wenn Johann aufwacht und Hunger hat, gibst du ihm einfach ein bisschen Obst.« Ich überprüfe noch einmal den Inhalt der Windeltasche und stelle beruhigt fest, dass sie mit Trinkfläschchen, Apfelschnitzen, Babykeksen und Windeln bestens ausgestattet ist. »Mein Mann hat jetzt noch eine Vorlesung, dann kommt er und holt ihn ab. Wenn irgendwas sein sollte, dann rufst du einfach bei ihm im Sekretariat an. Er kann ja in fünf Minuten hier sein.«

Mia-Sophie nickt beflissen. »Hast du deinen Vortrag noch fertig bekommen?«

Ich lache gequält. »Nicht ganz. Ich hoffe, ich kann ihm gleich im Zug noch den letzten Schliff verpassen.«

Was ist nur aus den guten alten Zeiten geworden, in denen mir eine Deadline noch Angst gemacht hat? In denen ich alle meine Aufgaben weit vor dem eigentlichen Termin fertig hatte? Die Angst ist der Realität mit Familie und einer Vollzeitstelle an der Uni gewichen.

»Ich drücke dir die Daumen, dass du nicht noch im Hotel weiterarbeiten musst, sondern auch noch was von der Stadt siehst. Heidelberg soll schön sein, hab ich gehört.«

»Wir sind etwas außerhalb untergebracht, mal sehen, ob ich überhaupt etwas von der Stadt mitbekomme.« Eigentlich bin ich mir schon ziemlich sicher, dass dem nicht so sein wird. Aber ich will Mia-Sophie auch nicht ihrer romantischen Symposien-Ideen berauben.

Drei Tage Heidelberg. Die anderen Mütter aus der Kita können nicht verstehen, dass ich meinen fünfzehn Monate alten Sohn so lange allein lasse. Aber ich kann auch nicht verstehen, wie man seine Zweijährigen zweimal in der Woche zu einem Englischkurs schleppen kann und im Kreis hockend mit ihnen »wan, tu, srie« singt, nur um danach zum Baby-Yoga und zur musikalischen Frühbildung zu hetzen. Und abgesehen davon ist Johann nicht allein. Er hat schließlich auch seinen Vater. Ohne ihn hätte ich Kind und Doktorarbeit nie unter einen Hut bekommen. Und ohne ihn könnte ich es mir jetzt nicht leisten, zu diesem Symposium zu fahren.

Mia-Sophie betrachtet für einen Moment das Familienfoto auf meinem Schreibtisch.

»Elisabeth ist deinem Mann wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagt sie und deutet auf die beiden. »Hier, die Nase, meine ich. Und erst ihr Gesichtsausdruck.«

Ich werfe ebenfalls einen Blick auf das Foto. Sie hat recht, auf diesem Bild ist die Ähnlichkeit ganz besonders deutlich. Es ist ein knappes Jahr alt. Aufgenommen im letzten Familienurlaub in Schweden. Wie sehr sich Elisabeth seitdem schon wieder verändert hat. Überhaupt kaum zu glauben, dass sie schon bald fünf wird. Meine Große … So anders als ich. Ein richtiges Koboldkind.

»Aber Johann nicht so«, fügt sie hinzu und blickt zum Buggy. »Ich glaube, er kommt eher nach dir. Die Haarfarbe und so …«

Ich lächle. »Ich muss los«, sage ich dann.

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Denk’ ich bloß mich, sind’s meine Wünsche bloß,

Die mich zurück aufs Feld der Schlachten rufen?

[Penthesilea]

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Kapitel 1

Acht Jahre früher

Ich betrete die riesige Bahnhofsvorhalle und gehe bis zur Mitte. Jeder meiner Schritte hallt von den hohen Mauern wider. Ich bleibe auf den glatten Bodenfliesen stehen, die in geraden Linien Rechtecke auf den Boden zeichnen. Kariert wie die Seiten meines Collegeblocks. Vor meinen Augen die riesige Uhr in der Mitte eines gläsernen Bogens, hinter dem die Bahnsteige beginnen. Unermüdlich ticken die Zeiger, drängen mich zu einer Entscheidung. Es ist nicht alles gesagt, aber alles gedacht worden. Es liegt nun an mir. Jetzt. Ich muss mich entscheiden. Es ist niemand da, der mir das abnimmt.

Ich wende meinen Blick von den mahnenden Zeigern ab und lasse meine Augen ziellos durch die große Bahnhofshalle schweifen. Die Ticketautomaten linker Hand, die Treppe zum Bahnsteig geradeaus. Und ich genau dazwischen.

 

Die Anzeigetafel verkündet mir, dass der Zug, der mich zu meinen Freundinnen bringen könnte, in zehn Minuten abfährt. Ich habe zehn Minuten, mich durch die Menüführung der Ticketautomaten zu wurschteln, eine überteuerte Fahrkarte ohne Sparpreis zu kaufen und dann meinen Trolley die Treppe hinaufzuwuchten, völlig außer Atem am Gleis anzukommen, um dann doch nur noch die Rücklichter des Zugs aus dem Bahnhof hinausfahren zu sehen.

Aber ich habe auch Professor Schreibers Umschlag in meiner Tasche, einen Umschlag mit einem Ticket. Für einen Zug, der erst in einer guten halben Stunde abfährt. Einen Zug, der mich aus Leipzig an einen Ort im Nirgendwo zum Treffen eines dubiosen Vereins bringen und mich so mit einem Schlag über zwei Monate in meinem Leben zurückkatapultieren würde. Mehr als zwei Monate. Fast zehn Wochen.

Reichen zehn Wochen aus, um ein gebrochenes Herz zu heilen? Kann ich nach nur zehn Wochen wirklich so tun, als hätte es Silvester nicht gegeben? Als würde es diesen schrägen Geheimclub nicht geben? Als hätte Silvan ihn mir nicht verschwiegen, während ich schon längst mittendrin steckte? Als hätte mir seine beschissene Verschwiegenheit nicht das Herz gebrochen? Was sind da schon zehn Wochen? Eine halbe Ewigkeit? Oder doch nur ein Wimpernschlag im Angesicht der Ewigkeit? Das hat zumindest Rüdiger, der kleine Vampir, gesagt, als ich in der dritten Klasse war. Da wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Und jetzt? Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide.

Zwei Wege, die ich gehen kann. Zwei Optionen. Zwei Möglichkeiten. Und immer wieder die gleiche Herausforderung: Entscheide dich, Sira. Meine Mädels oder Silvan mit seinem obskuren Verein. Freundschaft oder Freimaurer. Girltalk oder Geheimbund. Was würdest du tun? Los!

 

Abgehetzt, aber unendlich befreit, lasse ich mich im ICE in den weichen Sitz fallen. Kaum am Platz fährt der Zug auch schon an. Meine Wangen fühlen sich heiß und wund an, als ich mich auf die Seite drehe und an das raue Polster schmiege. Mein Studium emotionale gestern Nacht hat mich ausgelaugt. Draußen rauschen die Häuserzeilen an mir vorbei, und ich schaffe es kaum, mit meinen Augen einen Punkt zu fixieren. Wie nach meinem ersten Leipzig-Besuch. Damals, als ich noch keine Ahnung hatte, wohin das mit Silvan alles führen sollte. Als ich noch mit Daniel zusammen war. Daniel … Die Normalität in Person. Und dann Silvan – die Extravaganz in Person. Daniel mit seinem Handballverein. Silvan mit seinem Geheimverein. Bei Daniel musste ich immerhin nur auf der Tribüne hocken, aber bei Silvan wäre ich auf dem Spielfeld. Unwillkürlich lache ich auf. Mein Sitznachbar gegenüber guckt mich sparsam an und hält sich dann schnell sein Buch vor die Nase. Jaja, einen Verrückten, neben dem niemand sitzen will, gibt es in jedem Bus.

»Herzlich willkommen im ICE 1640 von Dresden nach Frankfurt über Weimar, Erfurt, Fulda …«

Hat der gerade Weimar gesagt? Eine Horde Adrenalin-Ameisen macht sich in meinem Bauch breit. Natürlich, von Leipzig aus kann ich immer obenrum oder untenrum nach Hause fahren. Aber niemals durch das mitteldeutsche Herz. Der zaubertolle Blocksberg bleibt unangetastet, unberührt von Eisenbahnschienen das norddeutsche Mittelgebirge. Ich suche unter einer liegengelassenen Bild-Zeitung und zwei zerfledderten Mobil-Heften nach dem Reiseplan. Endlich finde ich das Faltblatt und vergewissere mich, obwohl ich es eigentlich schon weiß: Das ist der ICE nach Weimar. Nein, über Weimar. Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte darauf achten müssen. Habe ich aber nicht. Unwillkürlich seufze ich laut. Mein Gegenüber zückt einen MP3-Player und verschließt seine Ohren vor meinen verrückten Geräuschen. Hervorragende Idee – Ablenkung. Da ich in der Eile kein Buch eingepackt habe, bleibt mir nichts, als mein Notebook aus der Tasche zu holen, aber das Dokument Masterarbeit_Version3.docx, das prominent auf dem Desktop platziert ist, bedeutet alles andere als Ablenkung, erinnert es mich doch nur wieder an das Gespräch mit Schreiber gestern. Und Schreiber ist das Stichwort, das augenblicklich das komplette Silvan-Programm lädt:

Schreiber gehört zu Silvans Geheimverein.

Die große Frage: Warum hat mir Silvan den Verein verschwiegen? Diente alles, was zwischen uns war, nur diesem blöden Club? Dann Silvans überraschender Brief nach Monaten der Funkstille. War da also vielleicht doch mehr zwischen uns? Es kommt mir alles so unglaublich absurd vor. Und gerade weil es so absurd ist, fühlt es sich so fremd an, als hätte es nichts mit mir zu tun, als wäre es weit weg. Aber es ist nicht weit weg. Ein Teil der Geschichte spielte in Weimar, und eine mögliche Fortsetzung steckt in meiner Tasche.

Ich klappe das Notebook zu, als könnte ich mir damit den nötigen Abstand verschaffen, und hole mein Handy heraus. Ich sollte Vicka endlich antworten, sie will bestimmt langsam wissen, ob ich nun komme oder nicht. Für einige Sekunden blicke ich auf das Display, aber dann lege ich das Handy wieder zurück auf den Tisch. Zu stark sind die Bilder von gestern Nacht: meine Pro-und-Kontra-Liste, »Silvan mag mich/Silvan mag mich nicht«, bei der alle Argumente auf allen Seiten funktioniert hätten, ich – kotzend über dem Klo und dieser widersinnige Wunsch, den ich nie, nicht, kaum wahrgenommen habe, dass Silvan mich … Bin ich doch nur ein Mädchen, das vor einem Jungen steht und ihn bittet, es zu lieben? Ich will nicht darum bitten müssen. Damals auf der Fahrt nach Weimar war ich nervös, weil ich nicht wusste, was mich erwartet. Und wenn ich es gewusst hätte? Wenn er von Anfang die Wahrheit gesagt hätte? Wäre ich dann nie nach Weimar gefahren? Was, wenn ich am Salonabend gemeinsam mit Vicka nach Hause gegangen wäre? Aber ich bin geblieben. Ich bin nach Weimar gefahren. Und ich fahre schon wieder darauf zu.

 

Wir verlassen gerade den Bahnhof in Naumburg, als der Zug abrupt anhält. Der freundliche Schaffner verrät uns per Lautsprecherdurchsage, dass es wegen umfangreicher Erneuerungsarbeiten am Gleisbett zu einer kurzen Verzögerung kommt. Nach zwanzig Minuten werde ich unruhig. Ich habe in Frankfurt nur eine Viertelstunde Zeit zum Umsteigen. Wenn ich meinen Anschlusszug verpasse … Ach, am besten überrasche ich Vicka doch einfach und stehe unangekündigt bei ihr vor der Tür. Dann muss ich die Pferde nicht scheu machen, Prosecco gibt’s auch im Büdchen, und Dirty Dancing oder Bridget Jones haben wir eh immer vorrätig.

Trotzdem will ich in Frankfurt nicht warten müssen. Ich habe das Gefühl, dass mich jedes Hindernis, jede Verzögerung auf der Strecke nur von meinem Ziel entfernt. In diesem Augenblick rauscht der Schaffner an mir vorbei. Ich stehe auf und laufe ihm nach.

»Ähm, Entschuldigung?« Er dreht sich um. Der arme Mann sieht gestresst aus. »Es tut mir leid, aber wissen Sie schon etwas wegen der Anschlusszüge in Frankfurt?«, frage ich schuldbewusst, weil ich ihm noch mehr Stress mache.

»Das können wir noch nicht sagen. Nach Fulda wissen wir mehr.« Er will weitergehen.

»Und Ihrer Erfahrung nach? Meinen Sie, wir können die Verspätung wieder reinholen?«

»Wir tun unser Möglichstes. Sie sind bestimmt nicht die Einzige, die in Frankfurt umsteigen will.« Ich ernte einen zornigen Blick.

»Okay, danke«, sage ich kleinlaut und gehe zurück zu meinem Platz. Mein Sitznachbar hat die Gelegenheit, dass ich ihm den Rücken zugedreht habe, genutzt und sich offensichtlich einen neuen Sitzplatz gesucht. Zumindest ist er verschwunden. Gott sei Dank steht mein Notebook noch da.

Der Zug setzt sich im Schritttempo wieder in Bewegung. Ich gucke aus dem Fenster, um nach der umfangreichen Baustelle Ausschau zu halten, die mich davon abhält, meinem Ziel näher zu kommen. Nach einigen Metern sehe ich zwei Männer mit orangen Helmen und Warnwesten neben einem Eimer voller Werkzeug abseits der Gleise stehen. Sie pinkeln parallel in die Böschung. Mir fallen die kleinen zartgrünen Blätter an den Büschen auf. Ich glaube, es wird wirklich Frühling.

 

Minute um Minute, Meter um Meter, den wir uns Weimar nähern, werde ich unruhiger. Verflucht, wieso habe ich beim Fahrkartenkauf nicht besser aufgepasst? Oh Gott, wie gestört bist du eigentlich, Sira? Ich kann doch jetzt nicht für den Rest meines Lebens einen großen Bogen um alle Silvan-Orte, Weimar, Riemersberg und Schloss Wendlitz machen. Die Nirgendwo-Orte lassen sich vielleicht meiden. Aber die Steinallee, die Mensa, der Seminarraum, Raum 314, die Institutsbibliothek? Tja, aus keinem anderen Grund bin ich in Leipzig gelandet.

»In wenigen Minuten erreichen wir Weimar. Wir verabschieden uns von allen Fahrgästen, die dort aussteigen, und bedanken …«

»Scheiße«, murmele ich halblaut. Mein Herz schlägt so eindringlich wie Kirchenglocken zur Osternacht, damit ich mich ja daran erinnere, dieser Stadt nicht gleichgültig gegenüberzustehen. Wie könnte ich es wagen …

Der Zug bremst zaghaft, aber stetig. »Kulturbahnhof Weimar« lese ich auf dem ersten Bahnhofsschild, während wir immer langsamer werden. Auch ohne Novembernebel und ohne Abschiedsschmerz ist es derselbe Bahnhof. Nur die Jahreszeit und die Art des Schmerzes haben sich geändert. Ich gucke mich um, aber niemand rührt sich. Ist Weimar kein spannendes Reiseziel mehr? Das kann doch nicht sein, dass niemand in diesem Zug nach Weimar will. Irgendjemand muss da doch aussteigen. Droht Weimar sonst nicht der Ausschluss vom Schnellzug-Netz? Ich sehe die Pflastersteine auf dem Gleis, die Anzeigentafeln, die Mülleimer. Es ist fast so, als könnte ich Silvan dort stehen sehen. Fast so, als könnte ich seine Umarmung zum Abschied noch einmal spüren. Fast so, als würde er mich wieder küssen.

»Hab Vertrauen, Sira«, hallt es durch meinen Kopf.

Der Zug hält. Ich reiße meinen Mantel vom Haken, schnappe mir Notebook, Tasche und Trolley und stürze hektisch den Gang entlang. Ich erreiche die Zugtür, verheddere mich mit meinem Trolley, fluche laut. Ich muss hier raus. Ich bin diejenige, die hier aussteigen muss. Ich zerre am Griff meines Trolleys. Jemand befreit ihn.

»Wollten Sie nicht in Frankfurt umsteigen?« Ich gucke in das Gesicht des gestressten Schaffners.

»Was? Wie? Ja, eigentlich …«, antworte ich mit einem gehetzten Blick auf die Tür.

»Also, das hier ist nicht Frankfurt.«

Auf diesem Weg wär ich zu weit vom Ziel. »Danke. Ich habe mich umentschieden!«

Dann stehe ich auf dem Bahnsteig in Weimar und sehe den ICE nach Frankfurt abfahren. Ich bin still, aber die Vöglein im Walde schweigen nicht, denn es ist Frühling. Sie singen und zwitschern, damit es jeder mitbekommt. Lasset uns singen, tanzen und springen …

 

Etwas unschlüssig stehe ich auf der weißen Linie, hinter die man treten soll, damit man nicht von einem Zug mitgerissen wird. Offensichtlich habe ich mich mehr von der Haltestelle mitreißen lassen. Bin ausgestiegen. Habe ein paar Kapitel zurückgeblättert und bin hier wieder an dem Punkt der Geschichte, an dem ich wusste, dass sich etwas verändern würde. Wenn Weimar nicht gewesen wäre … Wenn der Salon nicht gewesen wäre … Würde ich dann noch immer in meinem danielgemachten Schneckenhaus sitzen und lesen? Daniel – ganz war mein Herz an deiner Seite. Aber Silvan – jeder Atemzug für dich. Ich zweifle, du verdienst es nicht. Ich zweifle.

Wenn der Pfad sacht in die Büsche gleitet, so denket nicht, dass es ein Irrtum sei; wir wollen doch, wenn wir genug geklommen, zur rechten Zeit dem Ziele näher kommen.

Aber wann ist das? Und welches Ziel?

 

Ich schließe meinen Trolley ein und verlasse den Bahnhof. Ich muss es noch mal sehen. Ohne ihn. Ohne seine Anwesenheit, die mich nicht klar denken lässt. Zielstrebig gehe ich Richtung Zentrum, während mir eine laue Märzsonne über die Wange streichelt. Im Vorbeigehen nicke ich Schiller und Goethe auf dem Theaterplatz zu. Die beiden haben sich auch nicht verändert. Ob ich die Statue Lengenfeld in der Landhausküche genauso unverändert vorfinde? Nein, er wird nicht da sein. Hat Sophia nicht gesagt, er wäre in Wien? Aber ich will da sein. Damals hat er mich wahnsinnig gemacht, ich hätte am liebsten mit sämtlichen Töpfen und Pfannen nach ihm geschmissen. Fast muss ich bei dem Gedanken daran lächeln. Wenn es doch einmal entspannt mit ihm gewesen wäre, aber entspannt war es mit ihm eigentlich nur … Ja, wenn wir miteinander geschlafen haben. Wenn Sex im Verein keine große Sache ist: Was war mehr zwischen uns als Sex? »Verdammt«, flüstert Silvans Stimme in meinem Ohr.

Hupen, Bremsen quietschen. Abrupt bleibe ich stehen und rette mich zurück auf die Bordsteinkante.

»Pass doch auf, blöde Schlampe«, schreit mich der Autofahrer an, dem ich gerade beinahe unter die Reifen gekommen wäre.

Dann stehe ich endlich wieder vor der Gründerzeitvilla, dem Weimarer Lustschlösschen. Ich versuche, von der Straße aus einen Blick durch die Fenster zu werfen. Alles unbeleuchtet, keine Bewegung zu erkennen. Trotzdem drücke ich die Klingel, auf die aber, wie erwartet, niemand reagiert. Ich drücke die Klinke des Gartentors nach unten. Es ist verschlossen. Für einen Moment lehne ich mich an den Zaun und betrachte das Meer von Schneeglöckchen, das sich aus vertrockneten Buchenblättern erhebt. Hier hätte im Herbst eigentlich mal jemand durchkehren müssen. Ob Silvan und ich die Letzten des Vereins waren, die das Haus genutzt haben? Noch einmal drücke ich die Klinke hinunter, und wie ich so auf das verschlossene Tor starre, bleibt mein Blick am sechseckigen Klingelschild im Pfeiler des Gartentors hängen. Wenigstens haben sie ein schlichtes Symbol gewählt, aber ein Auge in einer Pyramide wäre vielleicht etwas ambitioniert gewesen. Dass sie überhaupt so was wie ein Logo haben, das macht es irgendwie – gewöhnlich. Ob es auch T-Shirts und Fanschals gibt? Verein bleibt eben Verein.

Auch wenn ich den ganzen Weg vom Bahnhof gelaufen bin, fühle ich mich, als würde ich auf der Stelle treten. Ich weiß, dass Weimar nicht die Antwort auf meine Fragen bereithält. Aber wo, wenn nicht hier, sollte mir bewusst sein, wie schwierig es mit Silvan ist. Und wie schön es mit ihm sein kann. In dieser Hinsicht ist Weimar ein Klassiker. Hier hat er mir Kakao mitgebracht. Für mich gekocht. Den Frühstückstisch gedeckt. Mich angeschwiegen. Mich tagsüber mir selbst überlassen. Mich in meinem Schäfchenpyjama geküsst. Ich sitze zwischen zwei Stühlen, zumindest mental. Real setze ich mich auf die schmalen Stufen vor dem Gartentor. Zwischen den Steinritzen sprießt das erste Unkraut, das ich Blättchen für Blättchen herauszupfe.

Was war für mich, was für den Verein? Dieser Gedanke, dass zwischen Silvan und mir doch etwas war, was nichts mit dem Verein zu tun hatte, nur der hat mich hierhin getrieben. Ich schmeiße die Blättchen auf den Gehsteig vor meinen Füßen. Sie segeln langsam nach unten und bleiben auf meinen Schuhspitzen und Hosenbeinen liegen. Hätte Silvan sich überhaupt für mich interessiert, wenn Schreiber ihn nicht auf mich angesetzt hätte? Und hätte ich mich für Silvan interessiert, wenn er sich nicht für mich interessiert hätte? Warum hätte ich mich für ihn interessieren sollen? Sein Aussehen? Als ob mir das wichtig wäre. Die Liebe zur Literatur? Dann hätte ich genauso gut mit Rosenbaum anbändeln können.

Ich habe alles, was zu Silvan und mir gehörte, tief vergraben und mich dabei gleich mit. Wäre es nicht gesünder, meine Gefühle für ihn, die gestern Nacht ihre Winterstarre beendet haben, wieder auf Eis zu legen? So ungeklärt kann es nicht weitergehen. Und nur, weil wir uns wiedersähen, hieße das noch lange nicht, dass es einen zweiten Band unserer Geschichte gibt. Es wäre einfach eine Chance, die offenen Fragen aus Teil eins zu klären, nicht für ihn, sondern für mich, damit ich damit abschließen kann, ohne einen Teil von mir permanent verleugnen zu müssen. Wenn er nichts von mir will und nie was von mir wollte, dann ist das so. Aber dann sollte ich es von ihm hören. Nicht von Schreiber. Nicht von Bräuer oder Sophia. Oder Vicka oder Ama. Dann soll er mir ins Gesicht sagen, dass ich ihm nichts bedeute. Dann schreibe ich meine Masterarbeit bei Schreiber, und wenn ich damit fertig bin, ist dieses ganze Kapitel um Silvan herum endgültig abgeschlossen.

Aber solange diese Fragen offen sind, kann ich kein dickes, fettes ENDE unter meine Geschichte mit Silvan schreiben. Weil ich einen richtigen Schluss brauche und kein beschissenes offenes Ende.

 

Ich schüttele die Unkrautschnipsel von meiner Hose und hole Schreibers Umschlag aus meiner Tasche. Der nächste logische Schritt – und der unangenehmste. Ich tippe eine SMS an Vicka in mein Handy, dass ich mich auf mein Tutorium vorbereiten muss und es daher nicht schaffe. Also, wohin geht meine Reise? Die Fahrkarte ist natürlich passé. Ich kann mich nur noch grob erinnern, dass ich in Leipzig heute Morgen den IC nach Braunschweig hätte nehmen müssen. Ich werfe einen Blick auf den Plan. Bis nach Goslar mit dem Zug. Dann zum Gutshof Willdenau. Aha. Hätte ich ein Smartphone, könnte ich das googeln. Aber so bleibt mir nichts anderes übrig, als wieder zum Bahnhof zurückzulaufen. Und ich muss endlich etwas essen. Ich laufe die Straße am alten Friedhof entlang und kann mir einen Abstecher über den Frauenplan nicht verkneifen. Fast so wie der Samstag im November. Nur dieses Mal scheint die Sonne. Zumindest am Himmel.

Ich kaufe mir fünf Rosinenbrötchen, weil ich keine Ahnung habe, wie lange ich unterwegs sein werde, und stürze gierig eine Flasche Kakao hinunter. Abgefüllt wie ein Hamster im Kornsilo betrete ich das DB-Servicezentrum und habe Glück, sofort einen freien Schalter zu erwischen.

So viel Glück vielleicht auch nicht. Die Servicetante schaut mich an, als würde nicht Computer, sondern sie »Nein« sagen.

»Guten Tag, können Sie mir bitte diese Verbindung von hier aus raussuchen?«

Sie wirft einen Blick auf den Zettel. »Also, wenn Sie von hier aus nach Goslar wollen, dann müssen Sie um den ganzen Harz rum.« Sie studiert den Plan weiter. »Da werden Sie aber lange unterwegs sein. Weimar ist in Richtung Harz sehr schlecht angebunden. Das geht immer nur über Erfurt oder Jena. Die rückläufigen Passagierzahlen, wissen Sie.« Ich nicke verständnisvoll, und schon wird ihr Gesichtsausdruck freundlicher. »Also, Ihren Gutshof als Adresse erreichen Sie sowieso nur mit dem Taxi.« War ja klar. »Das können Sie aber auch von Osterode aus, in einer halben Stunde geht der Zug. Das wäre insgesamt etwas günstiger, als wenn ich Sie jetzt um den gesamten Harz herumschicke, aber Sie wären knapp vier Stunden unterwegs«, erklärt sie hilfsbereit.

»Dann Osterode.« Wenn alle Entscheidungen so einfach wären.

Ich habe mich wirklich entschieden. Mein Herz klopft beim Gedanken, dass ich Silvan in wenigen Stunden wiedersehe. Ob Schreiber ihm erzählt hat, dass er mich eingeladen hat? Hat Silvan Schreiber vielleicht sogar gebeten, mich einzuladen? Oder eher versucht, es ihm auszureden? Stopp, Sira. Mach dich nicht schon wieder verrückt!

 

Mit zitternden Knien betrete ich gute vier Stunden später die Lobby des Landhotels »Gutshof Willdenau«. Angespannt blicke ich nach links und rechts. Aber außer mir und dem Portier ist niemand in Sicht. Bei einem Landhotel hätte ich eher an rustikale Bauernmöbel gedacht. Aber hier sieht es wieder mal ziemlich nobel aus. In diesem Verein scheint wirklich viel Kohle zu stecken, wenn die ihren Mitgliedern immer solch exklusive Aufenthalte spendieren. Oder zahlt man am Ende doch alles selbst, und nur ich war bisher immer eingeladen? Investition in den Nachwuchs oder so. Man muss sie kriegen, wenn sie noch klein sind. In meinem Bauch rumort die Abneigung gegen dieses ganze elitäre Getue. Und jede Menge Silvan-Panik.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt mich der junge Mann an der Rezeption. Er mustert mich abschätzig. Klar, ich sehe bestimmt alles andere als schick aus. Wenigstens ein Beweis für mich selber, dass ich Schreibers Werben nicht sofort nachgegeben habe. Ich trete an seinen Tresen heran.

»Ja. Ich suche … Ich wollte zu …« Wie heißt diese Gemeinschaft eigentlich? Als was haben die sich hier im Hotel eingemietet? Professor Schreibers lonely academics club? »Also, eine, äh, zu der Tagung.«

Der junge Mann nickt und deutet auf eine Glastür am gegenüberliegenden Ende der Lobby. »Die Herrschaften speisen bereits zu Abend.« Prima, kann ich wenigstens in Ruhe ankommen. »Die Konferenzräume befinden sich im Souterrain. Dort erhalten Sie alles Weitere.«

Ich bedanke mich und ziehe meinen Koffer in die gewiesene Richtung. Durch die Tür kann ich ein Treppenhaus erkennen. Daneben befindet sich ein Lift. Ich drücke auf den Knopf und sofort öffnet sich die Fahrstuhltür mit einem kaum wahrnehmbaren Surren. In der verspiegelten Kabine schaue ich mich an. Ich sehe blass aus, die Haare hängen mir kraft- und formlos auf die Schultern, weil ich heute Morgen keine Zeit für eine ordentliche Frisur hatte. Mein Shirt ist zerknittert, meine Schuhe ungeputzt. Ich gehöre hier so was von nicht hin. Ich wende mich von meinem Spiegelbild ab und senke den Blick. Dann höre ich, wie sich die Fahrstuhltüren wieder öffnen. Jetzt bloß nicht durchdrehen. Ich wage es, den Kopf zu heben. Aber auch hier ist niemand. Wie ausgestorben liegt das Forum im Souterrain vor mir. Auf der linken Seite neben einem leise plätschernden, futuristisch anmutenden Springbrunnen steht ein Tisch, auf dem einige wenige Namensschilder liegen. Es macht keine große Mühe, meins zu finden. Es liegt ganz rechts. Und als ich es in die Hand nehme, klimpert darunter der Schlüssel für mein Hotelzimmer. Ich stecke beides zusammen in meine Jackentasche. Dann fällt mein Blick auf die beiden anderen Schilder, die noch auf dem Tisch liegen. Wer außer mir verspätet sich noch? Ich zögere einen Augenblick, aber dann schaue ich doch genauer hin und bin unglaublich erleichtert. »Sophia Markovics« wird heute fehlen. Sehr gut, der cellospielende Arwen-Abklatsch ist nicht da. Eine Antagonistin weniger. Wenn das andere Schild jetzt Bräuer ist, dann meint das Schicksal es verdammt gut mit mir. Aber nein, es ist nicht Bräuers Schild. Es ist Silvans.

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Kapitel 2

Ich sitze in meinem Zimmer und fühle mich verarscht. Es fehlt nicht nur Silvan, der einzige Grund, warum ich hier bin, sondern ausgerechnet auch noch Sophia. Sophia und Silvan … Machen sie da weiter, wo das Silvesterfeuerwerk sie unterbrochen hat? Zweisame Stunden in der Steinallee oder in Wien? Ich schleudere die Schuhe von meinen Füßen. Warum muss ich mir diesen Gedanken immer wieder antun? Dabei weiß ich nicht mal, ob er der Wahrheit entspricht. Und hätte Silvan mir in dieser Version der Wahrheit noch hinterhergeschrieben? Am 20. Januar. Und noch viel wichtiger: Für diese Version der Wahrheit hätte ich einfach nicht herfahren müssen. Dieser Verdacht sagt viel mehr etwas über meine Unsicherheit gegenüber Silvan aus als über das, was Silvester geschehen ist. Und das Einzige, was wirklich geschehen ist: Silvan hat mir nicht gesagt, was es mit dem Verein auf sich hat.

Langsam knöpfe ich meinen Mantel auf und versuche, Verdächtigungen durch Fakten zu ersetzen. Auch wenn es mich wurmt, die beiden Schilder unten auf dem Tisch haben gar nichts zu bedeuten. Es kann genauso gut sein, dass beide später kommen. Zusammen oder getrennt. Ob gar nicht oder noch nicht, jetzt sind sie einfach nicht hier. Wenn Silvan immer noch in Wien ist, ist es kein Wunder, dass er noch später anreist als ich. Vielleicht checkt er just in diesem Moment unten ein und sucht nach seinem Schild. Würde er auch nach meinem Schild Ausschau halten? Für einen kurzen Augenblick lasse ich diesen Gedanken auf mich wirken und fühle mich merkwürdig ruhig. Und dabei weiß ich nicht, was es ist, was mich ruhiger werden lässt: die Nähe – nur wenige Treppenstufen, die uns trennen – oder die Distanz – hunderte Kilometer – zu ihm. Vielleicht ist es auch einfach die Sicherheit des Unwissens, das alles und nichts möglich macht und mich wieder die Spur von Freiheit erahnen lässt, nach der ich mich eine Zeit lang so gesehnt habe. Ich stehe vom Bett auf und öffne das Fenster. Mich umweht ein kühler Nachtwind aus den ruhigen Gipfeln des Harzes.

 

Als ich am nächsten Morgen aufwache, fühle ich mich besser als erwartet. Ich reibe mir den bröseligen Schlaf aus den Augen, während ich noch für ein paar Atemzüge im Hotelbett liegen bleibe.

Was mache ich, wenn Silvan nicht auftaucht? Ich könnte einfach wieder abreisen. Nur wenn jemand gestern noch die Namensschilder kontrolliert hat, dann werden sie wissen, dass ich dagewesen bin. Dann könnte ich mir auch gleich »Ich bin nur wegen Silvan hier« auf ein T-Shirt drucken lassen. Das werden dann schöne nächste Monate mit Schreiber. ›Liebe Frau Thanen, was heißt es denn, wenn du einfach von unserem Symposium abhaust, nur weil Silvan nicht da ist? Na, Sira, wie stehen Sie denn zu unserem lieben gemeinsamen Freund, hm?‹ Also kein bedrucktes T-Shirt, sondern eine weiße Weste. Ich tue einfach so, als hätte ich nichts zu verbergen. Ich schlage die Decke zurück und schwinge mich aus dem Bett.

Als ich mich frisch geduscht und überdies frisiert auf den Weg ins Erdgeschoss mache, ist mir doch etwas flau. Nicht wegen Silvan. Ihn jetzt zu sehen, wäre … erwartungsgemäß. Ein kleiner Teil von mir ist sogar recht erwartungsfreudig. Nein, mir ist flau, weil ich außer fünf Rosinenbrötchen gestern nichts gegessen habe und ich nicht weiß, ob ich die Muße habe, auf nüchternen Magen mit den ganzen Vereinsfritzen zusammenzutreffen. In der Hoffnung auf kleine Brötchen zum Frühstück fahre ich mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss. Auf in den Kampf, Karriero. Die Hungerspiele haben begonnen.

An der Rezeption erwartet mich diesmal eine junge Frau.

»Entschuldigung, wo gibt es denn das Frühstück?«, frage ich sie. »Äh, für die Tagung.«

Sie lächelt mich etwas verwundert an. »Der Speisesaal ist gleich hier rechts. Ich weiß leider nicht genau, was Sie mit Tagung meinen. Aber Sie gehören doch auch zu der geschlossenen Gesellschaft?« Dazugehören ist gut. Ich nicke knapp. Soso, als geschlossene Gesellschaft haben sie sich eingemietet. Natürlich. Die Hölle sind die anderen da draußen in der normalen Welt. Wir machen uns den Himmel auf Erden und mieten einfach mal das komplette Hotel.

Im Speisesaal sitzt noch nicht mal eine Handvoll Leute. Die meisten Tische sind noch komplett eingedeckt. Offenbar schläft man gern länger. Einige Gesichter wenden sich mir Neuankömmling zu. Ich werde mit einem kurzen Nicken bedacht, aber dann vertiefen sie sich gleich wieder in ihre Gespräche oder die Zeitung. Keines der Gesichter kommt mir bekannt vor. Seltsam, irgendwie hätte ich eine herzlichere Begrüßung erwartet, wo doch Schreiber immer so einen auf Gemeinschaft macht. Aber diese Unverbindlichkeit gefällt mir besser.

Ich verziehe mich mit einem großen Glas Orangensaft, einem Croissant und Rühreiern an einen Tisch, neben dem eine große Yuccapalme steht. So bin ich nicht sofort zu sehen, kann aber das Geschehen im Speisesaal gut überblicken. Ich beiße vom Croissant ab und beschließe, mich anzupassen, indem ich Zeitung lese. Hin und wieder schiele ich über den Papierrand, aber im Raum bleibt es ruhig. Im Gegensatz zu meinem Inneren, denn ohne Silvan habe ich wirklich keine Ahnung, wie der Laden läuft. Wenn er so was wie eine Einführung übernehmen, mich mit den Gepflogenheiten des Vereins vertraut machen sollte, dann hat er seine Aufgabe nicht besonders gut erfüllt. Silvan und ich waren fast die ganze Zeit über zusammen. Dadurch hatten wir kaum etwas vom Programm, aber viel voneinander. So viel … Ob es Silvan gestört hätte, wenn ich an Silvester mit Bräuer abgezogen wäre? Hatten er und Bräuer vielleicht sogar eine Art Vereinbarung? Oder war er sich sicher, dass ich mich nicht auf jemand anderen eingelassen hätte? Ich stecke mir schnell ein großes Stück Rührei in den Mund. In dem Moment bemerke ich, dass jemand auf meinen Tisch zukommt. Schwarze Haare, zarte Statur und eine Ausstrahlung wie frisch aus Bruchtal angereist. Sophia. Mit Mantel und Reisetasche. Ihr sonst so akkurater Kurzhaarschnitt sieht ein wenig zerzaust aus. Unwillkürlich suche ich den Raum hinter ihr ab, in der Erwartung, Silvan zu sehen, aber sie ist allein. Ich bin gleichermaßen enttäuscht wie erleichtert.

»Sira, was für eine Überraschung«, höre ich Sophias klare, kräftige Stimme schon drei Meter vor meinem Tisch. Schnell schlucke ich das Rührei hinunter, das sich in meinem Hals in einen Stahlschwamm verwandelt.

»Darf ich?« Sie fragt zwar, setzt sich aber, ohne meine Antwort abzuwarten. »Wie geht’s dir?«

»Gut«, nuschele ich in sozialer Erwünschtheit.

»Ja? Das ist schön. Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, sahst du irgendwie so fertig aus. Sorry, dass ich das einfach so sage, aber wir sind ja unter uns.« Sie knöpft ihren Mantel auf, streift ihn sich ab und lässt ihn nach hinten über die Stuhllehne fallen. »Aber heute … Du strahlst so. Hattest du einen schönen Abend?« Sie kichert. Ich nicht. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht strahle.

»Ähm, also, hallo Sophia«, sage ich bemüht höflich. »Doch, es geht mir gut.« Zumindest besser. Sie guckt mich einen Moment an, als würde sie überlegen, ob sie mir glaubt. Also lege ich nach: »Ich bin gestern erst spät angereist, aber früh schlafen gegangen.« Sehr logisch, aber egal. Ihr scheint es zu reichen. Sie dreht sich kurz um und lässt ihren Blick suchend durch den Raum schweifen.

»Gibt’s hier eigentlich keine Kellner? Ich brauch unbedingt Kaffee. So eine Fahrt im Nachtzug schlaucht ganz schön.« Nachtzug … Von wo? Unwillkürlich beiße ich die Zähne zusammen.

»Da vorne am Büfett gibt’s welchen.«

»Ah, danke.« Sie steht auf, dreht sich aber noch mal zu mir um. »Und lauf nicht weg, Sira, ja?«

Wie kommt sie bloß auf den Gedanken? Und was will sie überhaupt von mir? Oder besser: Warum gehe ich nicht einfach?! Weil sie Teil des Silvesterkapitels ist und es gar nicht so blöd wäre, mir anzuhören, was sie zu sagen hat. Schlimmer als mein Verdacht kann es sowieso nicht werden.

Sie stellt ihre Tasse auf den Tisch, daneben einen Teller mit zwei Croissants. Interessantes Frühstück für eine derangierte Cello-Elfe. Sie zupft ein Stück Croissant ab, tunkt es in den Kaffee und steckt es sich in den Mund. Dann seufzt sie leicht.

»Kaffee, viel besser. Und Croissants. Die perfekte Dosis Fett und Weißmehl.« Sie lächelt mich an. Versucht sie jetzt, einen auf Frauensolidarität zu machen? Mit mir kann man Spaß haben, ich esse kurzkettige Kohlenhydrate und ungesättigte Fettsäuren, sogar zusammen. Ich spieße mir noch ein Stück Rührei auf. Mit vollem Mund redet man ja nicht. Muss ich auch nicht, denn die Cello-Elfe ist kein Morgenmuffel und plappert munter drauflos: »Ich bin so fertig, ich weiß gar nicht, ob ich es gleich zum Vortrag schaffe. Ich fürchte, da schlafe ich ein. Interessiert dich das Thema?«

Jetzt müsste ich zugeben, dass ich immer noch keinen Blick ins Programm geworfen habe. »Öh, nicht so richtig. Aber es kommt ja immer auf den Grad der Auseinandersetzung an. Die Diskurse, die man so einbezieht«, sauge ich mir spontan aus den Fingern. Fünf Euro ins Phrasen-Schweinchen …

Sophia lacht kurz auf. »Meinst du wirklich, dass es da einen weitläufigen und pluralistischen Diskurs gibt? Das scheint mir doch ein ziemliches Elfenbeinthema zu sein.« Prima, Sira, wärst du mal beim Rührei geblieben. Ich nippe an meinen Orangensaft.

»Ach, das tut mir ganz gut, mal über den Tellerrand zu blicken«, nuschele ich.

»Auch wieder wahr. So trocken sind die Naturwissenschaften ja auch gar nicht.« Na, wenigstens das weiß ich jetzt. »In Bern, wo ich gerade einen Meisterkurs besuche, da nennen sie die Naturwissenschaften exakte Wissenschaften. Als würde das für andere Disziplinen nicht gelten. Wenn ich meine Finger nicht exakt an die richtigen Stellen setzen würde, wäre das kein Genuss.«

»Das ist wohl wahr.«

Auf einmal prustet sie los. »Gilt übrigens auch fürs Cello.«

»Hä?«

Sie winkt lachend ab. »Sorry, ich bin nur albern. Die Fahrt aus Bern hat mich einfach geschlaucht.«

Aus Bern? YES! Ob aus Bern, Bernsdorf oder Bremen. Nicht aus Wien, alles ist besser als Wien. Sophia ist nicht aus Wien gekommen. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Der erste aus diesem Steinbruch in meiner Brust, der darauf wartet, abgetragen zu werden. Ein Anfang.

»Ach, Sira, ist das nett, endlich sitzen wir mal zusammen und plaudern. Schön, dass du wieder mal dabei bist.« Sophias Augen glänzen in einem solch herzlichen Ausdruck, dass es mir unheimlich schwerfällt, sie nicht zu mögen, aber trotzdem … »Sag mal, kann es eigentlich sein, dass du im Januar irgendwie sauer auf mich warst?« Eine Frage wie eine Ohrfeige. »Und auf Konstantin auch, oder? Er hat so was gesagt.« Ach ja, die andere Wange soll man auch noch hinhalten, bitte schön.

»Äh«, quetsche ich mir mühsam hervor. Menno, gerade war es ja schon fast gemütlich. »Ich war nicht sauer auf Konstantin.« Dieses dumme Bräuer-Arschloch. »Auf dich auch nicht. Warum auch?« Mein Unterbewusstsein kriegt einen Keuchhustenanfall.

»Keine Ahnung, ich dachte nur, weil du Silvester so an Silvan und mir vorbeigezischt bist.«

»Ich … also, mir war nicht gut. Deswegen musste ich da raus.«

»Ja, wir haben dich beim Feuerwerk vermisst. Und dabei hatte Silvan doch extra unsere Besprechung abgebrochen, damit er wieder pünktlich bei der Feier ist.« Mein Unterbewusstsein hört augenblicklich auf zu husten und ich mit dem Atmen.

»Was?«, krächze ich.

»Ja, wir hatten diese total nervige Besprechung wegen der Stiftung. Ausgerechnet an Silvester. Ich gehöre ja eigentlich nicht zu unseren Workaholics, ich war einfach total aufgelöst wegen meines Abschlusskonzertes. Weißt du, ich habe auch so meine Momente mit meiner zarten Künstlerseele …« Sie gluckst fröhlich.

»Ihr hattet eine Besprechung? Silvan und du?«

»Ja, Silvan, ich und Friedrich.« Friedrich. Der alte Mann, der Silvan von mir weggeholt hat? »Jedenfalls hat Silvan dann irgendwann gesagt, jetzt würde es reichen und wir sollten wieder zu den anderen gehen. Ich fand das ja total süß, normalerweise legt er immer so viel Wert darauf, alles bis ins letzte Detail zu klären.« Davon habe ich bisher noch nicht viel mitbekommen.

»Und ihr seid dann zur Feier?«

»Ja, klar, war ja schon kurz vor Mitternacht.« Sophia runzelt kurz ihre Alabasterstirn und kaut dann weiter an ihrem Croissant.

Wenn Sophia mich nicht anlügt … dann hatten sie und Silvan an Silvester nichts miteinander. Und damit fällt mir der zweite Stein vom Herzen. Bleibt nur noch der Brocken mit der Vereinslüge. Aber wir sind hier im Harz, da gehört der Brocken ja auch hin. Trotzdem fühle ich mich plötzlich so leicht, so unbelastet. Ich atme tief ein und habe das Gefühl, dass ich in den letzten Monaten kein einziges Mal so tief Luft holen konnte. Danke, Sophia, für diese Information. Aber das sage ich nicht laut.

»Ja, also, keine Ahnung. Ich war nicht sauer auf dich.« Hust, hust. »Ich hatte nur ein komisches Gespräch mit Konstantin.« Habe ich damit vielleicht schon zu viel gesagt? Aber Sophia ist mit den Leuten hier vertraut, vielleicht weiß sie sowieso schon, was die Lästerschwester Richard Schreiber so über Silvan und mich tratscht. Und wer weiß, was Konstantin über die prüde Neue berichtet.

Sophia rollt kurz mit den Augen und schüttelt den Kopf. »Also, davon solltest du dir nicht die Laune verderben lassen. Ich glaube, jedes meiner Gespräche mit Konstantin ist komisch. Deswegen habe ich mich darauf beschränkt, so wenig wie möglich mit ihm zu reden.«

Ich nicke nachdrücklich. »Sicher eine gute Entscheidung.«

»Ich profitiere lieber von seinen anderen Qualitäten«, sagt sie und zwinkert mir zu. Was sie damit meint, kann ich mir bildlich vorstellen. Will ich aber nicht. Aber Sophia ist noch nicht fertig: »Wirklich, in Gesprächen ertrage ich Konstantin nur, wenn Silvan dabei ist. Das heißt dieses Wochenende dann wieder Tauchstation für mich während des Essens. Hey, wir könnten doch immer zusammen zum Essen gehen, oder? Oh, bitte, das wäre super!«

»Äh, ja … Aber wieso musst du dich vor Konstantin verstecken?«

»Nicht generell, aber da Silvan dieses Wochenende nicht da ist, wird er sich beim Essen an seine Stiftungsleute halten. Darauf habe ich keine Lust.« Scheiße. Silvan kommt nicht mehr. Ganz egal, woher sie das weiß, ich bin enttäuscht. Und ich brauche einen neuen Plan.

»Können wir vielleicht später weiterreden, Sophia?«

»Ja, klar. Aber wegen der Essen kann ich auf dich zählen?« Ich nicke. »Super, du bist ein Engel. Na, ich denke, ich lege mich jetzt noch mal hin«, antwortet sie mit einem unterdrückten Gähnen. »Ich will ja fit für den Abend sein.« Du bist so was von kein Engel.

 

Ich fühle mich so aufgewühlt, dass ich es kaum erwarten kann, mich meinem Gedankenkarussell zu widmen. Ich drücke auf den Fahrstuhlknopf und warte. Ach, wozu warten? Also, Fakt 1: Sophia ist doch irgendwie nett. Wahrscheinlich nur wegen Fakt 2: An Silvester lief nichts zwischen den beiden. Auch wenn es dabei bleibt, dass Silvan mir den Verein verheimlicht hat, wenigstens hat er mich nicht mit Bräuer allein gelassen, während er mit Sophia … Mit einem Pling öffnet sich die Fahrstuhltür. Bühne frei für Professor Schreiber, der mich mit seinem unvergleichlich undurchschaubaren Lächeln ansieht. Dahinter ausgerechnet Bräuer, die alte Hackfresse.

Dreimal tief durchatmen, Sira. Das war ja zu erwarten. Du konntest nicht zum Verein fahren, ohne jemandem vom Triumvirat des Bösen zu begegnen. Unfair ist nur, dass es mich schon so schnell ereilt. Bella musste sich schließlich erst am Ende von Band zwei mit den Volturi abplagen.

»Frau Thanen, Sira, wie schön dich zu sehen.« Schreiber reicht mir die Hand. Dann beugt er sich vor und drückt in einem höflichen, aber völlig übertriebenen Begrüßungskuss seine Altmännerwange an meine. Ich spüre deutlich, dass er das nur freundlich meint, aber das ist wieder einer dieser Momente, in denen ich mich übergriffig behandelt fühle, also erwidere ich seine Geste nicht.

»Guten Morgen, Herr Professor Schreiber.« Ich bemühe mich zu lächeln.

»Ach, papperlapapp, liebe Sira. Wir sind hier ja unter uns, sagen Sie doch bitte Richard zu mir, Frau Thanen. Und du.«

»Gerne, Herr Schreiber.«

»Vielleicht sollten wir uns für die Diskussion unserer Umgangsformen einen anderen Platz suchen als eine Fahrstuhltür.« Bräuer steht immer noch, mittlerweile überheblich grinsend, hinter Schreiber im Fahrstuhl. Er hat die Arme verschränkt und sieht in seinem marineblauen Anzug mit weißem Hemd nicht unbedingt aus wie der wahnsinnig wichtige Vorstandsvorsitzende der Alfons Bräuer Chemie AG, sondern eher wie eines jener Männermodels mittleren Alters aus den Werbeprospekten, über die ich mich mit Vicka früher immer so königlich amüsiert habe. Da würde ich ihn auch jetzt lieber sehen.

»Natürlich, Konstantin, sehr richtig. Also, wie machen wir es?« Wie machen wir was? »Eigentlich wollte ich jetzt frühstücken, aber da wir gerade alle beieinander sind … Konstantin, Sira, ich würde gerne mit dir und Frau Thanen ein Gespräch führen, damit wir alle Unstimmigkeiten endgültig klären. Das ist doch ganz in eurem Sinne.«

Bitte nicht noch ein klärendes Gespräch am frühen Morgen! Ich höre es schon förmlich: ›Herr Bräuer, wie konntest Du es wagen, Arm und Geleit Frau Sira anzutragen? Oder wolltest Du ihr nur vor Augen führen, dass Silvan es versäumt hat, ihr unsere Philosophie zu erläutern?‹ Mich überkommt das leise Bedürfnis, rückwärts zu frühstücken. Verstohlen werfe ich einen Blick zu Bräuer. Sein Grinsen ist verschwunden. Ha, ihm scheint es auch nicht zu passen. Das wiederum finde ich ziemlich gut.

»Ja, das ist eine hervorragende Idee, Richard«, antworte ich mit einem Seitenblick auf Bräuer und einem so nonchalanten Unterton, dass ich versucht bin, mir selber zu glauben. Ich kann deutlich sehen, wie Bräuer die Zähne zusammenbeißt. Immerhin fletscht er sie nicht.

»Bestens, Richard, bestens«, knurrt er. Auch gut, Bräuer, die knurren, beißen nicht.

»Sehr schön, dann gehen wir jetzt alle drei zu mir.« Schreiber wirkt fast schon verschmitzt. Offensichtlich hat er ähnliche Freude wie das A-Team und meine Mutter an funktionierenden Plänen.

Und schon stehe ich mit den beiden eingepfercht im Fahrstuhl. Klasse, ich bin noch nicht mal vierundzwanzig Stunden hier und schon verschwinde ich mit zwei Männern aufs Zimmer. Unter Anpassungsstörungen leide ich offensichtlich nicht.

»Haben Sie denn gut hergefunden, liebe Sira? Du bist recht spät angereist.« Schreiber spielt den Eisbrecher, und da ich unangenehmes Schweigen jetzt auch nicht ertragen könnte, spiele ich mit, indem ich einfach auf jede Scholle springe, die er mir hinwirft.

»Ja, gar kein Problem. Ich bin nur leider nicht so früh losgekommen wie geplant, ich wollte noch ein Kapitel meiner Masterarbeit überarbeiten.« Die Masterarbeit wird jetzt einfach meine Standardausrede für alles.

»Sehr vorbildlich, wirklich. Aber vergessen Sie nicht, wie wichtig auch die Schaffenspausen sind, in denen wir unseren Horizont erweitern, Neues entdecken. Uns entdecken. Ach, Sira – da hat der Stern deines Namens dich endlich zu uns geführt. Ich freue mich.« Schreiber schaut mich mit seinem milden und mahnenden Großvaterblick an. »Nicht wahr, Konstantin?«

»Natürlich, Richard.« Bräuer klingt so genervt, dass ich mich fast auf das Gespräch freue, einfach nur, weil er es blöde findet. Als sich die Fahrstuhltür wieder öffnet, bedeutet Schreiber uns mit einer Geste, ihm zu folgen. Bräuer und ich stapfen vereint in unserem Widerwillen hinter ihm her.

 

Schreibers Zimmers ist im Vergleich zu meinem eher eine Suite, wofür ich ziemlich dankbar bin, denn es gibt ein eigenes Schlafzimmer. Hätte ich auf der Bettkante hocken müssen, um über Konstantins und mein Silvester-Sira-lass-uns-vögeln-Problem reden zu müssen, hätte ich mich nicht besonders wohlgefühlt. So sitzen Bräuer und ich nebeneinander mit verschränkten Armen auf zwei Stühlen, während Schreiber hinter einem großen, dunklen Schreibtisch thront und uns beide mit einem großmütigen Lächeln bedenkt, von dem ich einfach nicht einschätzen kann, ob es freundlich oder frostig ist. Irgendwie fühlt sich die Situation an wie im Büro des Schulrektors, der die beiden größten Raufbolde der Schule zu sich zitiert hat, um ihnen die Strafpredigt ihres Lebens zu halten, aber versöhnlich und inspirierend zu enden, die wichtigsten Lektionen erteile noch immer das Leben selbst, Rhabarber, Rhabarber – streng, aber motivierend, schließlich ist man Pädagoge.

»Also, lieber Konstantin, liebe Frau Thanen«, beginnt er, stockt aber sogleich, um seine Brille abzunehmen. Keine Kunst-, aber eine Putzpause. Als er sie wieder aufsetzt, sieht er milde von Bräuer zu mir. In seinem Blick liegt Wohlwollen, aber auch etwas, was ich nicht näher benennen kann, etwas, was verhindert, dass ich diesem Menschen jemals vertrauen könnte. Er ist irgendetwas zwischen Dumbledore und Präsident Snow, und ich weiß nicht, welche Seite überwiegt. »Nun, ich möchte das alles gar nicht wieder von Anfang aufrollen.« Ein Lächeln zu mir. Ja – du weißt, ich will das auch nicht. »Aber eine Sache sollten wir nicht ungeklärt lassen.« Ein Lächeln zu Bräuer, dessen Miene versteinert bleibt. »Also, liebe Sira, in unserem letzten Gespräch sind wir beide auf den Vorfall vom Silvesterabend zu sprechen gekommen. Und, lieber Konstantin, dort ließ dein Verhalten wohl etwas, nun ja, zu wünschen übrig.« Bräuer kassiert eine Rüge, ich bekomme Solidarität. Ätsch. Auch wenn ich mich frage, womit ich das verdient haben könnte. Oder muss ich mir das noch verdienen?

»Sira hat mir ihre Position relativ deutlich gemacht. Daher verstehe ich nur bedingt, warum wir ein derartiges Gespräch führen müssen, Richard«, unterbricht ihn Bräuer unwirsch.

»Bitte, lieber Konstantin, es geht hier doch nicht um Vorwürfe, aber im Rahmen unseres Zusammenseins hier … Vielleicht könntest du Sira einfach noch einmal persönlich sagen, dass dir nichts ferner lag, als sie zu brüskieren. Eigentlich war es doch ein Kompliment, vielleicht sollten wir unsere liebe Frau Thanen daran erinnern?« Die liebe Frau Thanen kann sich gerade nicht zwischen einem hysterischen Lachkrampf und einer Rumpelstilzchen-Nummer entscheiden. Und was für ein Kompliment soll das sein, dass er mit mir ins Bett wollte? Dass ich attraktiv bin? Haben unattraktive Menschen kein Recht auf Sex? »Natürlich weiß sie das, aber sagen wir so, es tut uns allen immer wieder gut, Offenheit zu üben, nicht wahr?« Will Schreiber jetzt Bräuer allen Ernstes dazu zwingen, mir zu sagen, warum er mit mir ins Bett wollte? Ich glaube, jetzt bin ich dem Lachkrampf doch näher. »Konstantin, natürlich ist uns allen bewusst, dass jede Ablehnung durchaus einen schmerzlichen Anteil hat, aber gerade du …«

Bräuer atmet hörbar durch die Nase aus. »Richard, ich verstehe und unterstütze dein – unser Anliegen. Aber ich denke, die Person, die Offenheit üben sollte, ist aktuell nicht anwesend. Wäre es nicht viel sinnvoller, dieses Gespräch zu vertagen, bis Silvan dabei ist? Sira und ich haben unser Verhältnis längst geklärt. Aber die offenen Fragen zwischen Silvan und unserem lieben Fräulein …« Arsch! »… Thanen sollten wir aus der Welt schaffen.«

Nein – nur über meine Leiche werde ich hier sitzen und Silvans und meine Probleme gemeinsam mit Bräuer und Schreiber diskutieren, so weit kommt es noch. Genau darauf scheint Bräuer spekuliert zu haben, denn ich ernte den gehässigsten Seitenblick meines Lebens mit dem deutlichen Hinweis »Don’t mess with me, cutie«.

»Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee«, murmelt Schreiber. Er nickt einen Moment nachdenklich, und bevor er weiter überlegen kann, mache ich den Mund auf:

»Also meinetwegen können wir die ganze Angelegenheit als geklärt betrachten. Ich denke, ich war einfach etwas aufgewühlt in diesem Moment, so viele neue Erfahrungen, Eindrücke.« Bräuer sieht mich mit großen, amüsierten Augen an. »Und außerdem hatte ich ja Ihnen, dir, Richard, bereits gesagt, dass Silvan und ich in unserem fachlichen Austausch …« Bräuer hustet in seine vorgehaltene Hand. »… einfach nicht ganz zum Kerngedanken dieser Gemeinschaft vorgedrungen sind, aber nun hoffe ich, mir selber ein Bild von allem machen zu können.«

Schreiber neigt den Kopf und blickt mich einen Moment fast verträumt an. »Ach, liebe Sira, ja, das ist dein Entdeckergeist, die Sirena. Das schätzen wir so an dir.« Ich – ein Entdeckergeist? Ich glaube, bisher habe ich nach Schätzen allenfalls in der Sofaritze getaucht. Oder ich bin in einer dieser merkwürdigen Situationen, in denen fremde Menschen Dinge in mir sehen, die weder meine Freunde noch ich in mir je gesehen haben. »Und du hast jetzt Gelegenheit, uns alles zu fragen, was du wissen möchtest.«

»Warum? Eigentlich nur, warum. Und wofür das alles?« Auch wenn das vielleicht die Frage ist, die man nicht stellen sollte – denn wenn ich den Sinn all dessen hier nicht erfasse, was soll ich dann hier?

»Ja, Sira. Das ist sicherlich eine vernünftige Frage, aber auch die Frage, die wir dir am wenigsten beantworten können, nicht wahr, Konstantin?«

Bräuer blickt mich aufmerksam an, und wieder verschränkt er die Arme. »Wenn du es noch nicht gefühlt hast, frage ich mich, wirst du es jemals fühlen? Entweder es ist da – oder eben nicht.« Ich zucke vorsichtig mit den Achseln. »Sira, so wie in der Liebe.« Sein Blick wird eiskalt, und mich fröstelt trotz der Märzsonne, die durch die Vorhänge blinzelt. »Dieses schwache Konstrukt, nur Psyche und Hormone …«, fügt Bräuer so dermaßen verächtlich hinzu, dass ich augenblicklich den Blick von ihm abwende und auf meine Knie starre. Willst du mich erschrecken? Oder erschrickst du über deine eigene Sünde, weil du sie an mir erblickst?

»Konstantin, das war nun aber sehr melodramatisch, und wir wollen Frau Thanen doch nicht schon wieder verschrecken. Wir sind doch nicht nur ein Substitut für gesellschaftliche Konventionen. Suchen wir doch eine bessere Metapher für den Kern unserer Gemeinschaft. Etwas, womit wir ganz bei Frau Thanen sind.« Ein passenderes Beispiel für mich als Liebe? Weil ich Liebe nicht verstehe? Oder weil ich sie nicht verabscheue? »Liebe Sira, man soll alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen. Mehr ist es doch gar nicht.« Schreiber nimmt seine Brille erneut ab, um sie zu putzen. Mein lyrisches Lindenblatt hat er sofort erkannt. Mit Goethe bekommt man mich immer oder hält mich zumindest vorerst am Stuhl.

Trotzdem muss ich einen Augenblick nachdenken. Ausnahmsweise mal laut: »Ehrlich gesagt, weiß ich immer noch nicht, ob mir gleich gesagt wird, dass wir augenblicklich in die Winkelgasse müssen, um meine Ausstattung fürs erste Schuljahr zu kaufen, oder ob ich mich gleich mit anderen Tributen in einer eigens dafür angelegten Arena bekämpfen muss, bis nur noch einer übrig bleibt. Aber wenn ich mich entscheiden muss, dann nehme ich Hogwarts.«

Schreiber hat aufgehört, seine Brille zu putzen, und sieht mich irritiert an. »Ich verstehe nicht ganz, liebe Sira.«

»Ja, sehen Sie, lieber Richard, ich auch nicht«, antworte ich. Dann werfe ich einen Blick zu Bräuer und sehe ihm genau in die Augen. »Und vielleicht ist das im Moment einfach so. Unsicherheit birgt doch immer das Potenzial des Möglichen. Oder nicht?« Bräuer guckt zu Schreiber, der seine Brille wieder aufsetzt, wieder zu mir, dann verzieht er kurz den Mund. Schreiber wirft einen Blick auf die Uhr und nickt Bräuer zu.

»Gut, da wir ja jetzt alles geklärt haben, würde ich sagen, wir gehen frühstücken, nicht wahr, Konstantin?«

Bräuer nickt, offensichtlich froh, dass das hier vorbei ist. Ich werfe verstohlen einen Blick auf meine Armbanduhr.

»Fängt jetzt nicht bald das Programm an?«, frage ich.

»Ach, die Grottenolme«, sagt Schreiber grinsend. Hält er echt so wenig von seinem Verein? »Fabio ist wirklich ein vielversprechender Nachwuchswissenschaftler«, erklärt Schreiber, »aber, wie soll ich sagen, er ist doch recht monothematisch. Ich habe seinen Vortrag so oder so ähnlich schon dreimal gehört.« Damit gestikuliert er uns aus seiner Suite und schließt die Tür hinter uns. Im Aufzug schweigen wir uns an. Noch mehr aneinander vorbeizureden würde ich jetzt auch nicht schaffen. Schreiber und Bräuer verabschieden sich Richtung Frühstücksraum. Ich bleibe stehen und fische den Programmzettel aus meiner Handtasche. Während ich den Ablauf studiere, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Bräuer zurückkommt. Natürlich, die Bösen kommen immer zurück.

»Auf ein Wort, Sira«, sagt er bestimmt. Ich zucke nur mit den Achseln. »Ich muss zugeben, dass ich deine kleine Rede nicht völlig verstanden habe, da ich bei den Gesprächen mit meinen Töchtern an dieser Stelle üblicherweise nicke und innerlich die Quartalszahlen durchgehe. Aber mit meinem medialen Erfahrungsspektrum kann ich dir Folgendes sagen: Wir sind mehr Jedi denn Sith.«

Und damit lässt er mich stehen.

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Kapitel 3

Wenn Schreiber diese Nummer vorhin allen Ernstes als Problemklärung samt Lösung und Synthese ansieht, dann wird meine Masterarbeit ein Spaziergang. Und weil ich keine Lust habe, weiter darüber nachzudenken, werde ich mir jetzt den Vortrag anhören, von dem Schreiber gesprochen hat. Ich kenne ihn schließlich noch nicht. Und eine Obi-Wan-Bräuer-freie Zone kommt mir sehr gelegen. Ich laufe zum Konferenzraum und lausche vorsichtig an der Tür. Das monotone Gemurmel verrät mir, dass der Vortrag schon angefangen hat. Leise drücke ich die Tür auf und schleiche hinein. Ungefähr fünfzehn Zuhörer sitzen in den Stuhlreihen, das sind aber deutlich weniger, als beim Frühstück waren. Vorne steht ein junger Mann mit braunen Haaren und schwarzer Brille, der mir kurz zunickt, als ich eintrete, und dann weiter in leichtem Akzent, der mich an Erasmusstudentin Ella erinnert, seine PowerPoint-Folien erläutert. Sie zeigen rosig schimmernde, glitschig aussehende nackte Schlangen oder so was. Ich setze mich in eine der hinteren Reihen, um die anderen nicht zu stören, und lasse mich über den bedrohten Proteus anguinus, den Europäischen Grottenolm aus dem Karstgebirge an der Adriaküste, berieseln.

Dieses Wochenende entwickelt sich so dermaßen anders, als ich es erwartet hatte. Ich fühle mich wie im falschen Film und weiß noch nicht mal, um welches Genre es sich handelt, geschweige denn ob ich Statistin oder Protagonistin bin. Zumindest Sophia scheint nicht mehr die klassische Antagonistin. Ich darf also auf weitere Plottwists gespannt sein.

»Die Familie der Olme gliedert sich in Furchenmolche und Schwanzlurche, zu denen auch der Proteus zählt. Konvergente Entwicklungen lassen sich bei Proteus und …«

Apropos Schwanzlurch. Warum ist Bräuer eigentlich so biestig zu mir? Ist er etwa doch sauer, weil ich ihn Silvester habe abblitzen lassen? Oder passt es ihm einfach nicht, dass Schreiber unzufrieden mit ihm ist? Hat der Herr Vorstandsvorsitzende es wirklich nötig, sich auf meine Kosten zu profilieren? Aber ich war ja selber etwas schadenfroh, als er von Schreiber einen auf den Deckel bekommen hat, ich bin also nicht besser. Unangenehm ist nur, dass Bräuer sofort umrissen hat, dass ich unter keinen Umständen über Silvan reden will. Das ist meine Achillesferse. Wenn Bräuer nur nicht so dicke mit Silvan wäre …

»Für uns ist besonders die Tatsache interessant, dass wir uns hier gar nicht so weit vom einzigen deutschen Lebensraum des Proteus befinden. Heute Nachmittag biete ich daher eine Exkursion an, um den Proteus in seinem natürlichen Lebensraum kennenzulernen. Nutzt die Gelegenheit, leider gehört der Proteus zu den bedrohten …«

Bedroht. Oh Gott, ist Bräuer etwa eifersüchtig auf mich – wegen Silvan? Das würde erklären, warum er die Bombe an Silvester so unsanft hat platzen lassen. Weil er mir vorführen wollte, dass Silvan mich nur verarscht hat. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Ich lege die Hand auf meinen Bauch und versuche, den Krampf wegzuatmen. Aber dann seine unerwartete Rückkehr eben – war das eine weiße Fahne? Waffenstillstand? Hat er mir eine intertextuelle Hand gereicht?

 

Am Ende des Vortrags weiß ich nicht viel mehr als vorher und habe noch nicht mal ein schlechtes Gewissen. Als ich gerade den Raum verlassen will, holt mich der Referent ein.

»Hi, ich bin Fabio. Du bist neu hier, richtig?«

»Eigentlich war ich schon zweim… Also, ich bin Sira. Ja, ich bin neu.« Ich gebe ihm die Hand.

»Hat es dir gefallen?«, fragt Fabio.

»Ja. War mal etwas ganz anderes. Danke.«

Fabio sieht erfreut aus, dass ich seine Arbeit zu schätzen weiß (haha) und hört den ganzen Weg bis zum Aufzug nicht auf, von seiner Dissertation und seinem Forschungsprojekt in den Grotten von Triest, Slowenien und Kroatien zu erzählen.

»Also, du kommst doch sicher heute Nachmittag mit auf die Exkursion?« Er lächelt mich erwartungsfroh an.

»Äh … Ich weiß noch nicht. Ist das okay?«

»Natürlich.« Irgendwie bin ich völlig fasziniert davon, dass es hier für alle okay zu sein scheint, wenn man etwas will oder eben nicht will – außer für Bräuer. Er ist es wohl gewöhnt, dass alle nach seiner Pfeife tanzen. Schreiber sagte ja auch, dass Konstantin gerne die Machtkarte ausspielt. Und was Schreiber angeht, habe ich einfach keine Ahnung, ob er alles kapiert – oder nichts.

»Also, Sira. Wenn dich die Grottenolme interessieren, dann komm mich doch mal besuchen. Auch die Landschaft ist wirklich sehr sehenswert.«