Liebe Schwester - Renate Welsh - E-Book

Liebe Schwester E-Book

Renate Welsh

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Beschreibung

Ein wunderbar humorvoller Roman über zwei Schwestern und das Leben und die Liebe im Alter Ein wunderbar humorvoller Roman über zwei Schwestern und das Leben und die Liebe im Alter – von der Schöpferin des berühmtesten kleinen Vampirs in der Literatur, genannt ›Das Vamperl‹. Josefa und Karla, zwei Schwestern, beide verwitwet, leben seit Jahren gemeinsam in der ehemaligen elterlichen Wohnung in Wien. Ihre Beziehung ist liebevoll bis bissig – wie mit zunehmendem Alter und unterschiedlichen Charakteren nicht anders zu erwarten. Klar, daß sie sich gelegentlich auf die Nerven gehen, wirft doch jede der anderen vor, herrschsüchtig und rechthaberisch zu sein. Während Karla mit ihren geschwollenen Beinen Fotos sortiert und in Anagrammen zu sprechen liebt, versucht Sefa den Haushalt und die Einkäufe zu erledigen. Gelegentlich gehen auch beide zum Friedhof, um die Gräber der Eltern und Ehemänner zu versorgen. Eines Tages erinnert sich die in Amerika lebende Enkelin von Karla ihrer österreichischen Wurzeln und beginnt Fragen zu stellen. So kommt Bewegung in das Leben der beiden Frauen. Nicht immer stimmen ihre Erinnerungen überein, und es kommt zum Streit. Doch je tiefer sie eintauchen in die Vergangenheit, um so unwichtiger werden die kleinen Beschwerden des Alltags und um so lebendiger wird die Gegenwart. Diesem Umstand verdanken die beiden Damen die Bekanntschaft eines älteren Herrn, der unerwartete Gefühle weckt ...

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Seitenzahl: 341

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Renate Welsh

Liebe Schwester

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte Ausgabe 2005© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.eBook ISBN 978-3-423-40334-4 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-25235-5Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de

Inhaltsübersicht

Der Zettel mußte ...

Typisch ältere Schwester ...

Hast du geschlafen ...

Im Fensterkreuz stand ...

Sobald der Tisch abgeräumt ...

Nein, sagte sich Sefa ...

Die Fotostapel auf ...

In einer Viertelstunde ...

Immer wieder hab ich ...

Was würdest du ...

Was hatte sie holen ...

Das Brummen des Staubsaugers ...

Zwei Wochen später ...

Wieso hast du ...

Teresa schickte eine ...

Sefa griff nach einem ...

In der Badewanne ...

Am Morgen waren ...

Langsam gingen sie ...

Karla zog sich dreimal ...

Schemen winkten Irrlichte ...

Karla rief Gustav ...

Wir waren schon ewig ...

Frau Kandic brachte ...

Zwei Tage lang ...

Mitten in der Nacht ...

Alles, was man nie ...

Sefa war dabei ...

In der Post ...

Als er kam ...

Karla kam aus dem ...

Die ersten Sonnenstrahlen ...

Im Taxi erzählte Leonore ...

Frau Kandic hatte ...

Sie wanderten zur Blaa-Alm ...

Als sie nach Wien ...

Der Zettel mußte in ihrer Manteltasche sein. Ganz bestimmt in der Manteltasche. Im Vorzimmer hatte Karla ihr den Zettel gegeben, sie hatte ihn gefaltet und in die Tasche gesteckt, ohne ihn zu lesen. Zwei Straßenbahnfahrscheine, ein halb zerbröseltes Papiertaschentuch, drei Gummiringe, zwei davon zerrissen, eine Büroklammer, Sesamkörner. Wieso Sesamkörner?

Vor der Kasse warteten sechs Frauen und drei Männer mit hochgetürmten Wagen. Als drohe demnächst eine Hungersnot. Die Kassierin hielt die Hand auf, das taten sie alle, offenbar wurde ihnen das so beigebracht, egal, für welche Kette sie arbeiteten, es machte einen unangenehm fordernden und zugleich bettelnden Eindruck. Wollte man den Kassierinnen auf diese Weise klarmachen, daß der Bettel an Lohn, den sie bekamen, eine milde Gabe war, oder den Käuferinnen und Käufern ein schlechtes Gewissen machen? Die weißhaarige Dame vor Sefa suchte in ihrer Börse nach Kleingeld. Sefa hatte schon oft festgestellt, daß ihr selbst die Münzen angesichts dieser Geste immer wieder entglitten. Ihre Nase juckte. Sie knöpfte den Mantel auf, holte das Taschentuch aus der Jackentasche, spürte Papier. Wie war die Einkaufsliste hierhergeraten? Sefa setzte die Brille auf.

»Weil Mode bunt – tanze. Mondzeit– Weltenbau«, stand da. Langsam begann sich Sefa Sorgen um Karla zu machen. Die Schwester wurde immer seltsamer in letzter Zeit. Bei nächster Gelegenheit würde sie mit Dr.Staller sprechen. Man las und hörte so viel über Alzheimer.

Auf dem Heimweg mußte sie dreimal den Korb auf ein Mäuerchen stellen und kurz verschnaufen. Sie hatte eindeutig zuviel eingekauft. Wieder einmal dachte sie dankbar, welches Glück es war, in Hietzing zu wohnen. Hier gab es noch Vorgärten, an deren Zäunen man kurz rasten konnte. Manchmal keifte ein Hund, das war nicht weiter schlimm, wenn man nicht gerade so sehr erschrak, daß das Herz verrückt spielte.

Mit dem Zettel in der Hand ging sie ins Wohnzimmer. »Sag einmal, was soll das?«

Karla zog die Brauen hoch, lächelte. »Bist du nicht draufgekommen?«

Sefa stützte sich auf den Tisch, so mußte die Schwester zu ihr aufblicken. Ihre Fußsohlen brannten. Gehen war nicht das Problem, das lange Anstellen an der Kasse machte ihr Schwierigkeiten. Die Zufriedenheit in Karlas Gesicht war schwer zu ertragen.

»Du hast es wirklich nicht erraten?« Sie reichte ihr ein vollgeschriebenes Blatt. »Da ist noch mehr. Setz dich doch, du mußt müde sein.«

»Das bin ich allerdings. Die Warterei zermürbt einen. Warum die nicht eine zweite Kasse aufmachen können, verstehe ich nicht.«

»Sparmaßnahmen«, sagte Karla. »Brauchst du meine Brille?«

Sefa nahm ihre eigene Brille aus dem Etui und las halblaut:

»Mann wob Zeile. Duett?

Zimtnadeln – wo? Beute!

O Lenz, Mut! Wabe dient.

Maid zu nobel. Wetten?

Ob mein Wadel zu nett?

Wien malzt bunte Ode.

Taube weint. Zen, Dolm!

Tanze, weil Mode bunt!

Walze, du Mottenbein!

Eule motzt: Wein, Band...«

»Was zum Kuckuck soll das?« fragte Sefa.

Karla kicherte. »Anagramme, wenn du weißt, was das ist.«

Sefa machte eine wegwerfende Geste. »Reiner Blödsinn!«

»Du verstehst eben nichts von Literatur. Schau doch die Buchstaben an!«

»Also ich habe wirklich Besseres zu tun.«

»Du läßt dir ja nicht helfen. Ich wollte, ich könnte mehr tun. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlimm es ist, zuschauen zu müssen...« Karla senkte den Kopf, als erwarte sie einen Schlag, nahm Sefa den Wind aus den Segeln, machte sie hilflos wütend.

»Also was bedeuten diese Ana...«

»Gramme«, ergänzte Karla. »Anagramme auf Zwiebel und Tomaten! Ich glaube, ich finde noch einige, das ist erst der Anfang!« Wie sie triumphierte.

»Der Plural von Zwiebel ist Zwiebeln«, sagte Sefa.

Karla zuckte mit den Schultern. Sie wandte sich dem ›Standard‹ zu. Sefa war fast überzeugt, daß sie ihn nur wegen des Kreuzworträtsels abonniert hatte. Sie las zwar die Nachrichten, suchte auch die Länder im Atlas, die plötzlich durch irgendwelche Katastrophen auf die Titelseite geraten waren und früher ganz anders geheißen hatten, manchmal schien es, als hielte sie die Katastrophen für eine zwar traurige, aber nicht weiter verwunderliche Folge der Namensänderung, sie las auch sämtliche Rezensionen und sonstigen Artikel auf den Kulturseiten, nicht ohne dazu zu bemerken, daß sie sowieso nirgends mehr hinkäme, was auch offenbar kein großer Verlust sei, sie habe keine Lust, Figaro im Sexshop oder Aida im Cockpit zu sehen, außerdem wolle sie die kostbaren Erinnerungen an George London als Don Giovanni, an Giulietta Simionato als Carmen, an Anton Dermota als Octavio nicht verwässern, die Callas habe sie ja leider nicht auf der Bühne erleben dürfen, weil Sefa ausgerechnet an dem Tag, an dem sie nach Milano – sie sagte nie Mailand – fahren wollte, ins Krankenhaus eingeliefert wurde, woraus sie ihr natürlich keinen Vorwurf mache. Sobald sie dann die Seite mit dem Rätsel aufblätterte, begannen ihre Augen zu leuchten, gab sie auch keine Kommentare mehr ab. Das Rätsel war die Belohnung für eifriges Studium der Zeitung. Der Pudding nach dem Gemüseeintopf.

»Blutwanze, meide Not!« rief Karla begeistert.

Sefa zog sich in ihr Zimmer zurück.

Sie legte sich auf ihr Bett, starrte die Zimmerdecke an. Schon wieder zog ein neuer Riß mit feinen Verästelungen in Richtung Fenster. Sie sollten wirklich neu ausmalen lassen. Dann müßte sie allerdings sämtliche Schränke, Regale und Kommoden ausräumen. Bei der bloßen Vorstellung wurden ihre Arme und Beine schwer. Autogenes Training sollte sie wieder machen. Meine Arme und Beine sind schwer. Angeblich würde das gegen den hohen Blutdruck helfen. Ihre Arme und Beine wurden auch so schwer genug.

Friedrich blickte düster aus dem silbernen Rahmen auf dem Nachttisch. Natürlich würde sie sich hüten, irgend jemandem ein Wort davon zu sagen, an der Tatsache zweifelte sie schon lange nicht mehr: an manchen Tagen blinzelte Friedrich recht vergnügt unter den buschigen Brauen, zeigte sogar ein Schmunzeln im linken Mundwinkel, dann wieder schaute er so streng, daß sie das Foto am liebsten zur Wand gedreht hätte. Es gab genug andere Bilder von ihm, freundlichere, meist Schnappschüsse von einer Reise, einem Ausflug. Kurz nach seinem Tod hatte sie dieses Foto ausgesucht und rahmen lassen, wenn sie jetzt immer wieder mit dem Gedanken spielte, es gegen ein anderes auszutauschen, erschien ihr das wie Untreue. Schau nicht so bös, Friedrich, was hab ich denn getan?

Karla macht mir eben Sorgen. Man wird sich doch noch um die eigene Schwester sorgen dürfen, oder? Schließlich betrifft es mich, das mußt du wohl zugeben! Du hast gut reden, du kennst das alles nicht, aber ich habe es erlebt mit Mama, und damals war ich jünger und gesünder. Ich an ihrer Stelle würde selbstverständlich in ein Heim gehen, aus Rücksicht auf sie. Aber der Vorschlag muß von ihr kommen, nicht von mir. Ich werde mich hüten! Manchmal denke ich, sie läßt sich einfach gehen. Ist ja auch sehr bequem für sie. Man merkt immer noch, daß sie Mamas verwöhnter Liebling war, so etwas schüttelt man nicht so leicht ab. Dich hat sie übrigens auch herumgekriegt, Friedrich, da mußt du gar nicht so strafend herabblicken auf mich, ich habe ja gesehen, wie du sie mit den Augen betatscht hast.

Und weißt du was? Ich bin ziemlich sicher, daß du mir nur treu warst – falls du mir treu warst–, weil du zu träge warst, um dich zur Untreue aufzuraffen. Hast dich das eine oder andere Mal tief in ihre Augen oder ins Dekolleté verirrt, vergessen, ihre Hand loszulassen beim Abschied, und Julius stand daneben und erklärte mir, welche katastrophale Fehleinschätzungen sich der Außenminister wieder geleistet hatte. Oh, ich hab genau gesehen, wie feucht und offen ihre Lippen waren, wenn du in der Nähe warst, aber ihr habt uns ja für blind und taub gehalten und euch selbst womöglich noch für tugendhaft, wenn ihr es nie bis ins Bett geschafft habt. Entschuldige, Friedrich, das wollte ich wirklich nicht sagen. Verzeih.

Entschlossen stand sie auf, ging in die Küche, schälte und schnitt Zwiebeln und Tomaten, machte mehr Lärm beim Kochen als nötig war.

»Köstlich«, sagte Karla beim ersten Bissen. »Reichst du mir bitte das Salz?«

»Du weißt doch, daß zu viel Salz für dich sehr ungesund ist.«

»Weiß ich.« Karla griff über den Tisch nach dem Salz. Schweigend beendeten sie die Mahlzeit. Sefa stapelte Teller und Tassen, trug sie in die Küche, ließ Wasser einlaufen. Ein glitzernder Berg Seifenschaum quoll über den Rand. Sie pustete hinein, Bläschen schwebten auf die Fliesen, zerplatzten.

»Du wäschst doch nicht schon wieder ab?«

»Natürlich tu ich das.«

»Wozu haben wir den Geschirrspüler gekauft?«

»Lohnt sich doch nicht für zwei Teller und zwei Tassen!«

»Deswegen mußt du noch lange nicht schreien. Ich bin nicht taub.«

»Wenn du jeden Teller einzeln wäschst, lohnt es sich nie. Man räumt das Geschirr einfach in den Spüler und macht die Tür zu.«

»Weißt du, wie das stinkt? Unlängst erst hat Erika...«

»Erika war immer schlampig.«

»Das ist jetzt nicht das Thema. Und im übrigen bin ich fertig.« Sefa hielt ihre Hände unter den Wasserstrahl, spreizte die Finger, bog sie zurück, so weit es ging. Liebevoll trocknete sie jeden Finger einzeln ab, massierte von der Kuppe bis zum Handteller Creme ein, ließ die Daumen lange über dem Handrücken kreisen. Zwei Altersflecke am Daumenansatz konnten als größere Sommersprossen gelten. Ihre Hände waren durchaus herzeigbar, obwohl sie den Großteil der Hausarbeit erledigte. Karla hatte verdickte Knöchel, konnte die Finger nicht mehr richtig ausstrecken.

Der Tisch war bedeckt mit Fotos.

»Du könntest sie wenigstens sortieren, wenn du schon dabei bist.«

»Wozu?«

»Wir könnten Alben anlegen, eines für Rainer, eines für Cornelia. Oder gleich für die Enkelkinder.«

»Glaubst du, die interessieren alte Bilder? Die wüßten doch nicht einmal, wer wer ist.«

»Heute nicht. Aber vielleicht in ein paar Jahren. Wir können ja dazuschreiben, wer die Leute sind.«

Karla seufzte, einen Seufzer, der dazu da war, gehört zu werden, nicht eine innere Spannung zu entlasten. Sie hielt Sefa ein Bild hin. »Schau dir das an. Hast du Papa je so lachen gesehen?«

Papa saß neben Mama an einem Wirtshaustisch, hatte den Kopf zurückgeworfen und lachte. Mama trug ein Dirndl und ein seidenes Tuch. Auf dem Tisch standen zwei leere Krügel. Mamas Blusenärmel bauschten sich faltenlos. Sie hatte den linken Arm auf den Tisch gestützt, ihr Oberkörper war nach rechts verdreht, ganz Papa zugewendet.

»Was für herrliches Haar sie hat.«

»Da waren sie bestimmt noch nicht verheiratet.«

»Wie kommst du darauf?«

Sefa lächelte. Sie wußte, daß ihr Lächeln Karla wütend machen würde. Die Schwester trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.

»Ich wette, das Dirndl hatte einen grünen Leib, einen lila Rock und eine rosarote Schürze.«

»Oder einen rosaroten Rock und eine lila Schürze.«

Über die Farbstellung eines Ausseer Dirndls ließ sich nicht streiten. Sefa nahm das Foto in die Hand, studierte es. Wie jung Mama wirkte, wie neugierig und erwartungsvoll. Wie sie Papa anschaute. Kein Wunder, daß er so lachen konnte. Unter diesem Blick mußte er sich unbesiegbar fühlen, ein Ritter ohne Fehl und Tadel. Er, der Herrlichste von allen. Komisch. Mama hatte ›Frauenliebe und Leben‹ auch noch mit Begeisterung gesungen, als längst die Bitterkeit in ihren Mundwinkeln heimisch geworden war.

»So hätte ich sie gern gekannt«, sagte Sefa.

Die Schwester trommelte einen Rhythmus, den sie nicht zuordnen konnte. Vielleicht hatte sie auch an den Schumann-Zyklus gedacht? Sinnlos, sie danach zu fragen.

»Glaubst du, daß das in Aussee aufgenommen ist?«

»Wenn sie noch nicht verheiratet waren, ganz sicher nicht. Wie hätten sie allein nach Aussee fahren können, ohne Trauschein? Es muß irgendwo im Wienerwald sein, und garantiert war eine Tante dabei oder sonst eine verläßliche ältere Person. Du weißt doch, wie es damals war«, sagte Karla.

»Unterschätz die Alten nicht. Sie waren bestimmt nicht so, wie Mama uns glauben machen wollte, daß sie gewesen wären. Obwohl – manchmal fürchte ich, daß Mama tatsächlich so war. Armer Papa. Arme Mama.«

»Also ich finde es unmöglich, so von unseren Eltern zu reden. De-gou-tant, wenn du es genau wissen willst.« Karla saß sehr gerade, streckte ihr Kinn vor, ihr Mund wurde schmal, ihre Unterlippe zitterte. Sie klopfte die Fotos zurecht, als wären es Spielkarten, schüttelte den Kopf, weil sich die gezackten Ränder immer wieder spießten. »Wenn du dich nur als Märtyrerin fühlen kannst, bist du glücklich.«

Sefa stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. »Glücklich? Übrigens ist es Zeit für deine Tabletten.«

Karla wandte sich ab, schloß die Augen. Klassischer Cut-off, hatte sie offenbar aus dem ›Nackten Affen‹ gelernt. Natürlich wußte sie genau, wie sehr sie Sefa damit reizte, genoß es sogar. Die Macht der Hilflosen.

»Ich verstehe natürlich, daß du dich ärgerst, weil du so viel mehr als einen fairen Anteil der Hausarbeit machen mußt«, sagte Karla nun auch noch mit schwacher Stimme, nahm die Brille ab, senkte die Lider. Wie immer hatte sie die Wimpern perfekt getuscht, den Lidschatten so diskret aufgetragen, daß man meinen könnte, sie wäre nicht geschminkt. Dafür reichte ihre Kraft.

»Ich weiß ja, daß ich für dich nur noch eine Last bin. Es wäre besser für alle, wenn ich nach der Operation nicht mehr aufgewacht wäre.«

Bis zehn zählen. Bis hundert. Achtundzwanzig, neunundzwanzig... »Verdammt noch mal, darum geht es nicht!«

»Natürlich geht es darum.« Diese widerliche Milde in Karlas Stimme. »Es macht dir niemand einen Vorwurf, du hast ja vollkommen recht. Jetzt verstehe ich die arme Mama, die bei jedem Besuch sagte, sie bitte Abend für Abend den lieben Gott, daß er sie noch in dieser Nacht zu sich nähme. Leider bin ich nicht so gläubig wie sie.«

»Ich bin wirklich so oft es nur irgend ging gekommen, aber da war ja auch Friedrich, und er...«

Karla lächelte verzeihend. »Niemand macht dir einen Vorwurf! Wenn du glaubst, dich verteidigen zu müssen, wird das wohl einen Grund haben.«

Den Hals könnte ich dir umdrehen... Tief atmen. Ganz ruhig. Weißt du überhaupt, wie sehr du Mamas Krankheit zu deinem Besitz gemacht hast? Und sie selbst mit dazu? Da war kein Platz an ihrem Bett, links die Pflegerin, rechts du. Wenn du gefragt hast, ob ich eine Tasse Tee will, hast du mich zur Besucherin degradiert. »Wie lieb, daß du gekommen bist.« Jedesmal hast du das gesagt.

Das Telefon schrillte.

»Nein, hier ist keine Notariatskanzlei. Nein. Ja. Keine Ursache. Bitte.«

Einen schönen Tag noch hatte ihr die fremde Stimme gewünscht. Neuerdings wünschten einem alle Leute einen schönen Tag. Was natürlich gar nichts bedeutete. Aber manchmal war auch eine falsche Verbindung hilfreich. Sefa ging zur Tür.

»Jetzt bist du sauer auf mich!« rief ihr Karla nach.

»Ich bin nicht sauer.«

»Doch, du bist sauer.«

»Wenn du noch lange darauf herumreitest, werde ich sauer!«

»Siehst du.«

Sefa schloß die Tür von außen, ging in ihr Zimmer, öffnete den Kleiderschrank. Längst hatte sie schon aussortieren wollen, was da nutzlos herumhing. Wenn du sie zwei Jahre lang nicht getragen hast, ist es Zeit, die Sachen herzugeben, hatte Mama immer gesagt. Natürlich wußte Sefa, daß die Kleider zehn Jahre später durchaus wieder modern sein könnten. Ob sie ihr dann noch passen würden, war eine andere Frage.

Wie diese Bluse, die sie so gern hatte, die aber beim dritten Knopf klaffte. Solange sie ganz gerade stand, war alles in Ordnung. Bloß – wie lange konnte sie kerzengerade stehen, ohne sich vorzubeugen? Sie sollte fünf Kilo abnehmen. Aber wie? Mit achtzig nahm man nicht mehr so leicht ab. Es war nicht mehr modern, Busen zu haben. Körbchengröße D.Friedrich hatte ihre weichen weißen Brüste seine Täubchen genannt. Hatte bis zuletzt sein Gesicht in ihnen vergraben, hatte gesagt, wie kühl und warm zugleich sie wären. Kühl und warm! Was sie mit sich herumtrug, waren keine Täubchen, das waren Kapaune. Nie wieder würde ein Mann sie anschauen und gleichzeitig die sehen, die sie gewesen war. Entschlossen nahm sie die Bluse vom Bügel, faltete sie. Dann das grüne Kleid, das hatte sie zum letzten Mal bei Rainers Promotion getragen. Wie schmal er zwischen seinen Kollegen gestanden war, den Kopf voller Locken. Wie wütend er geworden war, als sie darauf bestand, ihm einen Anzug für den Anlaß zu kaufen, und wie gut er in dem schwarzen Cordsamt ausgesehen hatte. Nach der Feier gratulierte sie ihm und gab ihm einen Kuß, alle Mütter und Väter küßten ihre Söhne und Töchter, aber sie hatte seinen Widerstand gespürt, das Bedürfnis, sie auf Abstand zu halten, heulen hätte sie können, aber sie hatte gelächelt und die Glückwünsche der gesamten Verwandtschaft entgegengenommen, begraben war sie gewesen unter der Wucht der Worte. Von Stolz hatten sie geredet, von Freude und Leistung, und sie war so leer gewesen, leer wie an den Tagen nach der Geburt, als sie immer wieder die Hände auf ihren schlaffen Bauch legte, in dem sich nichts mehr bewegte. Wenn sie sah, wie Mütter ihre Kinder an sich drückten und abküßten, wußte sie nicht wohin mit ihrer Eifersucht. Zu ihrer Zeit war das nicht üblich gewesen. Pünktlich alle vier Stunden wurden die Kinder gewickelt und gestillt, sobald sie ihr Bäuerchen gemacht hatten, wurden sie wieder ins Bett gelegt. So, hatte man ihr eingeschärft, erzog man sie zu ordentlichen Menschen. Heute rissen die jungen Mütter ihre Kinder aus dem Wagen, sobald sie zu quengeln begannen, knöpften die Blusen auf und stopften den Babys die Brustwarzen in die offenen Mäuler, egal wo sie waren, im Supermarkt, im Park, in der Kirche. Sie hätte sich geschämt, aber vielleicht war es wirklich besser so, natürlicher. So viel wie heute hatte man nie über Natur geredet. Als das Gemüse noch in der Erde wuchs und vom Regen begossen wurde, wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, die Natürlichkeit der Karotten zu erwähnen. Woher, bitte, hätte sie die Zeit nehmen sollen, mit Rainer zu spielen? Da waren die Windeln, zwanzig Stück am Tag und mehr, die gespült und im großen Topf gekocht und geschrubbt werden mußten, Berge von Windeln hatte sie gewaschen, Karotten und Äpfel auf der Glasreibe gerieben, Erdäpfel mit der Gabel zerdrückt und cremig geschlagen, täglich den Boden feucht aufgewischt, mit einem Kind im Haus war die Hygiene wichtig, überall lauerten Bazillen. Und der Ofen war zu heizen, Kohle aus dem Keller zu holen, immer in Eile, weil sie Angst hatte, dem Kind könnte etwas zugestoßen sein, während sie die drei Stockwerke hinunter- und wieder hinauflief. Nur an den Wochenenden brachte Friedrich die Kohle, an Arbeitstagen kam er zu erschöpft und grau im Gesicht nach Hause. Die jungen Frauen hatten ja keine Ahnung davon, was es bedeutet hatte, einen Haushalt zu führen, die hatten noch nie Bettzeug mit der Hand gewaschen oder Öfen beheizt, die kochten nicht einmal Marmelade ein. Ihre Mülleimer quollen über von Papierwindeln. Plötzlich sah sie das entsetzte Gesicht ihrer Mutter, als sie ein Paket Nudeln verlangte. »Du kaufst die Nudeln im Geschäft?« Sie hatte gut reden, immer ein Dienstmädchen im Haus. Noch mit achtzig war Theres Dienstmädchen gewesen, da hatten sie und Mama einander schon gegenseitig gestützt, wenn sie auf die Straße gingen. Der Tod von Theres hatte Mama härter getroffen als Papas Tod. Dann war ich das neue Dienstmädchen, dachte Sefa. So wird man als alte Frau wieder zum Mädchen. Dienstfrauen gibt es ja nicht, nur Dienstmänner, und die haben irgendwann Dienstschluß. Heute gibt es auch sie nicht mehr, und die Dienstgreisinnen sind wahrscheinlich auch schon alle gestorben. Im Schrank lagen vier Schürzen, Erbstücke von Theres. Sefa warf sie auf das grüne Kleid, der Stapel öffnete sich, entfaltete blau bedruckte Flügel.

Karla schlurfte durchs Vorzimmer, blieb vor Sefas Tür stehen. Sefa wartete auf das Hüsteln, mit dem sich die Schwester sonst ankündigte. Das Hüsteln kam nicht. Wie auf einem Bild sah Sefa Karlas vorgestreckte Hand, den gekrümmten Mittelfinger, der sich zu klopfen anschickte, aber Karla klopfte nicht. Sefa hörte sie atmen und war plötzlich gerührt. Sie ging zur Tür, schob einen Stuhl zur Seite, was gar nicht nötig gewesen war, sie wollte der Schwester die Möglichkeit geben, von der Tür wegzutreten, nicht überrascht zu werden, wenn sie aufging.

Karla stand immer noch da mit erhobener Hand, als Sefa auf sie zuging, legte sie ihr die Hand auf die Schulter. Sie umarmten einander, als wären sie monatelang getrennt gewesen.

Im Wohnzimmer setzte sich Karla an den Tisch, Sefa in den Ohrenstuhl. Beide waren seltsam verlegen. Karla strich über ihren Rock, in dem Augenblick fiel Sefa auf, daß ihre Hand mit genau derselben Bewegung über ihren eigenen Rock strich. Sie lachte.

»Was hast du?«

»Eigentlich nichts.« Als sie Kinder waren, hätte jetzt die Frage folgen müssen: Und uneigentlich?

Karla legte die linke Hand mit ausgebreiteten Fingern auf die Tischplatte, an ihrem Hals sah Sefa das Pochen in einer Ader.

»Willst du dich nicht eine halbe Stunde hinlegen?« fragte sie.

Typisch ältere Schwester. Wußte immer, was gut für einen war. Mama hatte auch darüber geklagt, daß Sefa sie wie ein kleines Kind behandelte. Arme Mama. Wieso eigentlich arme Mama? Sie hatte doch meist bekommen, was sie wollte, hatte es nie nötig gehabt, laut zu werden, Ansprüche zu stellen. Wie eine Porzellanpuppe hatte sie ausgesehen, aber ihre Zartheit war aus Eisen gewesen. Nein, nicht Eisen. Stahl, rostfrei. Oder doch eher Silber? Silber war zu weich. An Mama war nichts weich gewesen, kein Gramm Fett, klare Linien. Bis zuletzt hatte sie schöne Beine gehabt, hatte es auch gewußt. Wie sie die Beine übergeschlagen und mit den Fingerspitzen den Sitz ihrer Strümpfe geprüft hatte, nicht kokett, gar nicht, nur mit einer Art unschuldiger Freude an der Form. Wie man über eine Statue strich und sich an den Linien, an der Glätte freute. So wie Mama wäre Karla gern gewesen, perfekt und in sich ruhend. Alle Verwandten hatten behauptet, Karla sei das Ebenbild ihrer Mutter. Sie und der Spiegel waren anderer Meinung gewesen. Plötzlich erinnerte sie sich an das Entsetzen, als sie einen roten Fleck an Mamas weißem Rock gesehen hatte. Später hatte Mama geschimpft, nein, Mama schimpfte nicht, Mama rügte, sie hätte sie aufmerksam machen müssen. Als ob das möglich gewesen wäre. Mama in Verbindung mit irgendwelchen Körpersäften zu bringen wäre ihr lästerlich erschienen. Der Fleck konnte nur in ihrer Einbildung existieren, weil sie eben nicht perfekt wie Mama war, sondern innen voller Unrat. Wie war sie auf die Idee gekommen? Sie konnte doch unmöglich mit zehn, elf die Kirchenväter gelesen haben. Geschlecht. Wenn man in einer Sprache lebte, bei der schon das Wort die Schlechtigkeit enthielt, war es dann ein Wunder, daß die Sache Schwierigkeiten machte? Wie konnte ge-schlecht-lich gut sein? Genital. Genial. Dazwischen stand nur ein t. Das hätte sie früher wissen müssen, da wäre manches anders gewesen, oder vielleicht doch nicht. Mama aus Stahl, Papa aus, ja woraus? Gummi? Einer weichen Masse jedenfalls. Teig? Oder doch Fleisch? Man denkt nicht an Fleisch, wenn man an den eigenen Vater denkt. Schweinsbraten mit Knödeln hatte er geliebt, besonders die Kruspeln. Die hatten geknirscht und gekracht zwischen seinen Zähnen. Mama hatte völlig lautlos gegessen. Nie hatte eine Gabel auf ihrem Teller geklirrt. Karla sah das Foto wieder vor sich, die selige Bewunderung in Mamas Gesicht. War Verachtung der Preis, den man für Bewunderung bezahlte? Nicht sofort. Heute fahren, später zahlen stand über einer Garage, die Motorräder verkaufte. Ein Mann, der Kruspeln liebte, mit einer Frau aus Porzellan, Silber oder Edelstahl? Kein Wunder, daß sie oft so uneins mit sich selbst gewesen war, bei dem Erbgut. Kruspelporzellan? Stahlgummi? Teigsilber? Selber igit. Nein, igitt schrieb man mit Doppel-t. Auch gut. Auch schlecht. Auch egal. Jedenfalls waren sie zusammengeblieben, unvereinbar oder nicht, einander achtend oder verachtend, vielleicht enger verbunden, weil sie so gar nicht zueinander paßten? An den letzten Tagen im Krankenhaus war Papa von einer schrecklichen Unruhe geplagt gewesen, sie hatten ihn in ein Gitterbett legen müssen, aber sobald Mama kam und mit ihrer kühlen kleinen Hand über seine Stirn strich, entspannte er sich. Karla war die ganze Zeit bei ihm gesessen, aber sie hatte ihn nicht beruhigen können. In ein paar Tagen würde es dreißig Jahre sein, seit er gestorben war, der Stachel steckte immer noch in ihrer Haut, gab einen scharfen Stich, wenn ihn eine Erinnerung, ein Wort berührte.

»Hast du geschlafen?« fragte Sefa. Sie stellte die Mokkatäßchen auf den Tisch, die Zuckerdose, obwohl keine von beiden Zucker nahm, aber ohne die Dose mit dem Blumenbukett wäre das Ritual nicht vollständig gewesen.

»Ich frage mich, ob unsere Kinder an uns denken werden, so wie wir an die Eltern denken.«

»Nein«, sagte Sefa. Dieses »Nein« war furchtbar endgültig, gerade weil ihm nichts folgte, keine Erklärung, nichts. Das nackte »Nein« war schwer auszuhalten, Karla fragte, obwohl sie keine Antwort erwartete: »Wie meinst du das?«

»Das ist doch wirklich nicht schwer zu verstehen. Nein heißt nein, wie du es auch drehst und wendest.«

»Warum?«

»Warum? Weil es eben so ist. Soll ich dich anlügen? Willst du das?«

Karla zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.«

»Trink deinen Kaffee, bevor er kalt wird.« Sefa hielt Karla die kleine Schale mit den hauchdünnen Schokoladen hin. »Vielleicht haben wir nicht genug von ihnen verlangt«, sagte sie. »Mir fallen oft die Eltern ein, wenn ich etwas nicht so mache, wie sie es erwarteten.«

Karla blickte auf. »Du meinst – steh gerade, lümmel nicht?«

»Zum Beispiel«, bestätigte Sefa.

Karla schmunzelte. »Weißt du, manchmal hätte ich unbändige Lust, ungewaschen und ungekämmt im Schlafrock zum Frühstück zu kommen. Kindisch, nicht?«

»Ja, und? In unserem Alter hat man ein Recht darauf, kindisch zu sein. Ich bin nur nicht sicher, ob du es genießen könntest, wenn niemand darüber die Nase rümpft oder die Brauen hebt.«

»Du glaubst doch nicht wirklich, daß du das nie tust?« fragte Karla.

»Nein«, sagte Sefa.

Karla warf den Kopf zurück, öffnete den Mund, man konnte die freiliegenden Zahnhälse sehen, ekelhaft, und lachte. Sefa stand auf, trug die Mokkatassen in die Küche.

»Sei doch nicht immer gleich so beleidigt!« rief ihr Karla nach. Es dauerte lange, bis es ihr gelang, sich auf ihr Kreuzworträtsel zu konzentrieren.

»Wir sollten auf den Friedhof gehen, Sefa. Wie ich ihn kenne, hat der Gärtner wieder viel zu wenig gegossen. Bei der Hitze brauchen die Geranien zweimal täglich Wasser.«

»Und deine Beine?« fragte Sefa. »Mir kommt vor, sie sind wieder arg geschwollen.«

Karla lächelte mit der rechten Mundhälfte, die feinen Falten rund um ihre Lippen vertieften sich. »Es geht schon.«

Nein, dachte Sefa, ich tue ihr nicht den Gefallen, ihr zu widersprechen, ich gebe ihr keine Gelegenheit, ihre Opferbereitschaft ins Spiel zu bringen. Heute nicht. Karla hob die Schultern, ließ sie fallen.

»Warum grinst du?« fragte Karla. Der beleidigte Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Natürlich würde Sefa nicht sagen, was ihr eben eingefallen war: Wie schade, daß Schultern geräuschlos fallen.

»Ich habe nicht gegrinst, ich habe gelächelt.«

»Sah nicht so aus.«

»Wann willst du gehen?« fragte Sefa. »Jetzt gleich? Oder wollen wir warten, bis es kühler wird?«

»Wann du willst.« Karla setzte ihre weiche Dulderstimme ein. »Ich bin in ein paar Minuten fertig.«

Sefa holte die bequemen Sandalen aus dem Schrank und die Tasche mit Grabkerzen, Schere, Schaufel und Putztüchern. Karla stand vor dem Spiegel und tuschte ihre Wimpern zum zweiten oder dritten Mal. Das Badezimmer duftete.

»Ich denke, ich nehme den Regenschirm mit. Man kann nie wissen, an heißen Tagen kommen die Gewitter so schnell.« Karla hätte nie zugegeben, daß sie den Schirm als Stock brauchte. Sie sprühte Parfum auf ihr Taschentuch, verwischte den Lidschatten mit einem Wattestäbchen. Wie grazil sie war mit ihren 81Jahren, nur die geschwollenen Beine störten den Gesamteindruck. Rosa Wängelchen, weiße Locken, ein Strohhut mit breiter Krempe. Keine Puppe, es ist nur eine schöne Kunstfigur, ging es Sefa durch den Kopf, während sie gleichzeitig wieder einmal jene Rührung spürte, die der Anblick der Jüngeren ausgelöst hatte, seit sie denken konnte, eine Rührung mit einem harten Kern von Wut und Neid.

»Gehen wir?«

»Ich bin längst fertig«, erklärte Karla, während sie noch einmal mit dem dicken Pinsel Puder über ihr Gesicht tupfte.

Der Bus fuhr ihnen vor der Nase davon.

»Die machen das absichtlich«, schimpfte Sefa. »Sobald sie einen kommen sehen, lösen sie die Handbremse und legen den ersten Gang ein.«

»Sie müssen wohl ihren Fahrplan einhalten«, erklärte Karla milde. Wenn sie nicht getrödelt hätte, säßen sie jetzt im Bus, statt zu warten.

Ein Pärchen kam Hand in Hand die Straße herauf. Beide trugen Handys und telefonierten im Gehen. Karla kicherte. »Ich frage mich, ob die ohne so ein Ding vor dem Mund überhaupt reden können. Was meinst du, telefonieren sie auch im Bett?«

»Vermutlich.«

»Das könnte man dann wohl Telefonsex nennen.«

»Nicht so laut, Karla! Sie hören dich!«

Karla schüttelte den Kopf. »Die hören nur, was aus einem Lautsprecher tönt.«

Beide schwiegen, reckten die Hälse, waren insgeheim überzeugt, daß der Bus gar nicht kommen würde.

Plötzlich stand er doch neben ihnen, der Fahrer sprang heraus und half Karla beim Einsteigen. Sie setzte sich direkt hinter ihn, flötete ihm ihren Dank in den Nacken. Sein Haaransatz lief in einer winzigen Locke zusammen. So war Friedrichs Nacken gewesen, Sefa hatte sich gern hinter ihn gestellt, wenn er las, hatte mit zwei Fingern die Haare zu einer Spitze gestreichelt oder diese Locke angepustet. Sie hatte immer darauf bestanden, daß er sich den Nacken nicht ausrasieren ließ, Bartstoppel am Hals fand sie abstoßend.

So viele Männer, stellte Sefa immer wieder fest, hatten häßliche Nacken, Fettwulst an Fettwulst gereiht, oft auch noch von Mitessern übersät oder gar von Pickeln. Wie konnte eine Frau Lust bekommen, einen solchen Nacken zu berühren? Wenn Friedrich müde nach Hause gekommen war, hatte sie seinen Nacken massiert, bis nach vorne in die Gruben vor den Schlüsselbeinen. Sie hatte die beiden obersten Hemdknöpfe geöffnet –

»Was ist los mit dir?« fragte Karla.

»Nichts.«

»Du bist ganz rot!«

Sefa fächelte sich mit einer Postkarte Luft zu.

Zwei Stationen bevor sie aussteigen mußten, begann Karla sich vom Fahrer zu verabschieden. An der Haltestelle sprang er aus dem Bus und hob Karla herunter. Sie zappelte, als hätte er sie gekitzelt. »Ich wünsche den Damen noch einen vergnügten Tag«, sagte er, schwang sich in seinen Bus und fuhr davon. Karla winkte ihm nach.

Sefa biß sich auf die Lippen. Sie ging mit großen Schritten voraus.

»Sei doch nicht so eifersüchtig!« rief Karla hinter ihr.

Sefa blieb stehen. »Lächerlich!« sagte sie.

»Wer ist lächerlich?« fragte Karla und riß ihre großen Augen weit auf.

»Du kokettierst auf Teufel komm raus mit einem Mann, der dein Enkel sein könnte, wenn nicht dein Urenkel.«

»Und wem schadet das?« fragte Karla. »Ich hab Spaß gehabt, er hat Spaß gehabt, und wenn er abends heimkommt, kann er seiner Freundin erzählen, daß er eine andere Frau in den Armen gehalten hat, und sie können ein bißchen streiten und sich dann sehr hübsch versöhnen. Wo liegt das Problem? Es gibt sowieso viel zuwenig Spaß auf der Welt.« Karla legte ihre Hand auf Sefas Arm, drückte ihn leicht.

»Vielleicht hast du recht«, gab Sefa zu.

»Nicht vielleicht, ganz sicher.«

»Was bist du rechthaberisch! Aber du warst immer schon ein Dickschädel, stur wie sonstwas.«

»Wofür ich Gott danke«, sagte Karla fromm.

Arm in Arm gingen sie an der Friedhofsmauer entlang. Die Stadt lag im Dunst, auf der abschüssigen Wiese hetzten einander ein Dackel und ein schwarzer Spaniel unter den gerührten Blicken ihrer Besitzerinnen.

Das Eisentor knarrte beim Öffnen. Der breite Hauptweg sah immer noch kahl aus. »Nie werde ich verstehen, warum sie die schönen Bäume gefällt haben«, sagte Sefa.

»Es hat geheißen, die Bäume wären krank.«

»Glaubst du das?«

»Nein. Ich glaube, die sind schlicht zu faul, um die Blätter zu rechen im Herbst. Das nächste wird Plastikrasen auf den Böschungen sein oder gleich Beton.«

Sie bogen rechts ein, gingen an schwarzen und grauen Steinen, an Kreuzen und weinenden Engeln vorbei, an Geranien, Petunien, Stiefmütterchen, Fuchsien und Alyssum, stellten fest, daß wieder ein Grab anheimgefallen war. »Komisches Wort, nicht?« sagte Karla. »Heimfallen. Heimkommen, heimgehen, heimfinden, heimsuchen, heimisch. Und das hat wieder gar nichts mit heimlich zu tun.«

»Ich finde es immer so traurig, wenn sie die armen Knochen ausbuddeln. Warum machen wir es nicht wie die Juden und die Moslems, die ihre Toten ruhen lassen bis zum Jüngsten Tag?«

»Eine Platzfrage«, sagte Karla. »Erinnerst du dich an Hallstatt?«

»Natürlich. Von dem Totenschädel mit der aufgemalten Schlange habe ich lange geträumt und von der Tochter des Totengräbers mit dem riesigen Kropf, der ihr den Kopf zur Seite gezogen hat. Wie sie uns angestarrt hat! Ein Auge weit aufgerissen, das andere zugekniffen.«

»Da war keine Tochter, nur der Totengräber und seine Katze, die kam mit einer Maus im Maul.«

»Klar war da eine Tochter. Ich sehe sie vor mir.«

»Die hast du aus einem Film. Oder vielleicht warst du später einmal dort, und es gab inzwischen eine.«

»Ich erinnere mich genau, wie Papa mit ihr gesprochen hat. Aber sie hat nicht geantwortet. Sie stand nur da, und die Katze strich ihr um die Beine. Einmal hat sie sich gebückt und die Katze gestreichelt.«

»Da war keine Tochter.«

»Bitte sehr, da war keine Tochter, da war kein Totengräber, da war kein Karner, keine Kirche, kein See... Bist du jetzt zufrieden?«

Karla wandte sich ab, trippelte zum Grab der Eltern, begann Birkenblätter aus dem Cotoneaster zu zupfen. Sefa putzte den Staub von der Tafel, holte Wasser, begoß die Geranien, kehrte Staub und Blätter von der Einfassung. Sie arbeiteten schweigend, wenn eine zufällig die andere mit einem Blick streifte, zuckte sie zurück, als hätte sie etwas Heißes berührt.

»Warum bist du so aggressiv?« fragte Karla mit ihrer leisesten, weichsten Stimme. »Ich verstehe nicht, warum du so aggressiv sein mußt. Ich tu dir doch nichts!«

Nein, du tust mir nichts. Du versuchst nur ständig, mir meine Erinnerungen zu stehlen. Meine Vergangenheit gehört mir, auch der Teil davon, den du miterlebt hast. Was bleibt uns denn sonst? Alles, was ich sage, ziehst du in Zweifel, was heißt Zweifel, Zweifel kennst du nicht, du bist immer im Recht, so ganz und gar ohne Frage, ohne die Spur einer Frage, alles besiegelt, alles gesichert, deine Fassung steht im Grundbuch, im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch, im Strafregister, in den Akten der Steuerbehörde. Wenn sich einmal zufällig herausstellt, daß du doch ausnahmsweise nicht im Besitz der ganzen Wahrheit warst, dann erklärst du, so hättest du das nie gesagt. Nein, du tust mir nichts. Natürlich nicht. Du bist die Liebe, und ich bin die Böse. Irgendwie muß die Welt ja aufgeteilt sein.

»Ich bin nicht aggressiv.« Sefa bemühte sich, möglichst viel Milde in ihre Stimme zu legen, offenbar vergeblich, denn Karla schenkte ihr einen müden, traurigen Blick. »Du solltest dich hören! Komm, wir wollen nicht streiten. Nicht an Papas Grab. Du weißt doch, wie er Streit haßte.«

»Nein, wir wollen nicht streiten.« Aber die Tochter war da, ich sehe sie vor mir. Du hast sie wohl nicht zur Kenntnis genommen, du wolltest ja immer nur das Schöne sehen. Wenn es sonst nichts Schönes zu sehen gab, dann hast du eben in den Spiegel geschaut, das hat dich getröstet, wenn dir die Welt nicht gefiel.

»Hast du eigentlich noch den Taschenspiegel mit den gepreßten Blumen auf dem Rücken?« fragte Sefa.

»Wie kommst du darauf?«

»Ist mir eben eingefallen.«

Karla dachte nach, legte den Finger an den Nasenflügel. »Keine Ahnung, wo der geblieben ist. Muß bei irgendeinem Umzug verlorengegangen sein. Schade, er war so hübsch.«

Sefa rückte die Grabkerze genau in die Mitte der Laterne. »Als Kind dachte ich, es bleibt immer etwas von dem Bild haften, das ein Spiegel zurückgeworfen hat. Ich weiß noch, wie ich vor dem Spiegel in Großmutters Schlafzimmer stand und darauf wartete, ihr Gesicht darin zu sehen, wenn ich nur lange genug den Atem anhielt. Mama erwischte mich dabei, ich soll nicht so eitel sein, sagte sie, Eitelkeit ist ein Laster ebenso wie Hoffart und Neid...«

»So hat sie nicht...«, begann Karla, schüttelte den Kopf und schlug entschlossen den Weg zur Gruft der Stenbergs ein. Sonst klagte sie darüber, wie steil bergauf der schmale Pfad ging, jetzt lief sie fast. Sefa stapfte hinter ihr her.

Die Grüfte hatte es schon gegeben, als sie mit den Eltern auf den Friedhof gegangen waren. Jedesmal waren sie hergelaufen, hatten durch die Gitterstäbe gespäht. Immer hatte es kühl heraufgeweht mit einem Geruch von Moos und Feuchtigkeit, Schimmel und Stein. Stein riecht nicht. Doch, es hatte nach Stein gerochen.

»Weißt du noch«, fragte Karla, »wie wir den Fuchs gesehen haben?«

Wie hätte sie ihn vergessen können? Den toten Fuchs, der auf den Stufen des Sarkophags lag mit offener Schnauze, sein Fell von Mal zu Mal glanzloser und struppiger, die gebleckten Zähne gefährlicher.

»Irgendwann muß nur noch das Skelett dagelegen sein, aber daran erinnere ich mich nicht«, sagte Sefa.

»Ich auch nicht. Seltsam. Einmal hat der Luftzug ein Fellbüschel bewegt, da dachte ich, er ist gar nicht tot und springt uns an.«

Sefa nickte. »Und erinnerst du dich, wie wir vor den Kranzschleifen davongelaufen sind?«

»Ich bin heute noch überzeugt, daß die im Wind geknattert haben wie Segel«, bestätigte Karla. »Obwohl es nicht sehr wahrscheinlich ist. Aber einen Luftzug hat es immer gegeben. Schon zwei, drei Schritt vor den Eingängen hat man ihn gespürt. Ich dachte immer, das legt sich aufs Gesicht. Jahre später bei der Kosmetikerin mußte ich mich sehr beherrschen, um nicht zu schreien, als sie mir eine Maske aufpinselte, die immer kälter wurde. Da habe ich – lach nicht – den Hauch des Todes gespürt, am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte mein Gesicht unter fließendes Wasser gehalten, genau wie ich es damals immer gemacht habe, wenn wir heimkamen. Aber ich bin natürlich brav liegengeblieben unter der rosaroten Decke in dem rosaroten Kabäuschen, umspült von dieser grauenhaften Musik, die offenbar für beruhigend gehalten wird, und hab mich elend gefühlt.«

»Ja«, sagte Sefa. »Ja, das verstehe ich. Und zum Lachen ist es überhaupt nicht.«

»Ich meinte nur, eine Phrase wie den Hauch des Todes spüren, regelrecht peinlich, so etwas in den Mund zu nehmen.«

Sefa nickte. »Obwohl es genau das ausdrückt, was man meint. Manchmal denke ich, es gibt jede Menge Wörter und Redewendungen, die sind so abgelutscht, daß es einen ekelt, aber es macht die Verständigung so schwer, wenn man meint, auf sie verzichten zu müssen.«

Der Dunst über der Stadt flirrte und blendete, der Himmel war verhangen, die Sonne nicht zu sehen. Hitze stieg von den Steinen auf und von den dürren Gräsern. Auf Karlas Oberlippe hingen winzige Schweißtropfen, sie wischte sich die Hände an ihrem Taschentuch ab. »Komm«, sagte sie.

Auch an diesem Tag wehte es kühl aus der Gruft. Karla lehnte einen Augenblick lang die Stirn an die Eisenstäbe. »Ich hätte nie zugeben dürfen, daß Julius in der Familiengruft bestattet wird. Er gehört einfach nicht hierher. Er hat die Sonne so sehr geliebt, ist richtig aufgeblüht in der Hitze, und feuchte Kälte hat er gehaßt. Immer hat er davon gesprochen, daß wir den November in einem warmen Land verbringen werden, wenn er erst in Pension ist. Aber ich war ja wie gelähmt, ich war richtig dankbar, nichts entscheiden zu müssen, wenn man mich irgendwohin gestellt hat, blieb ich da stehen, wenn man mir ein Glas in die Hand gedrückt hat, hielt ich es, bis man es mir wegnahm. Aber ich hätte mich wehren müssen.«

»Wenn das so leicht wäre! Wir haben es einfach nicht gelernt, nicht rechtzeitig. Vielleicht werden wir deshalb manchmal larmoyant und manchmal bissig, wobei bissig wahrscheinlich immer noch besser ist.«

»Meinst du!« sagte Karla.

»Ja, meine ich.«

Eigentlich hätte jetzt die eine oder die andere beleidigt sein müssen, oder noch eher beide. Daß sie es nicht waren, lag wohl an der Freude darüber, ein Stück Erinnerung gemeinsam zu haben, dachte Karla, das die Klippe der Wörter unbeschadet umrundet, durch den Austausch Gewicht gewonnen hatte und Farbe. Es war so wichtig, die Erinnerung diesem Test zu unterziehen, wissend, wie gefährlich er war. Wenn die Schwester nickte oder gar ein Detail hinzufügte, das sie selbst vergessen hatte, wurde die Erinnerung zum Besitz.