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"… ICH STERBE MIT EINEM FLUCH AUF DEN DEUTSCHEN MILITÄRSTAAT." In den sich seit Kriegsbeginn ständig verschlimmernden und schließlich unhaltbaren Zuständen auf den Schiffen der Kaiserlichen Marine wagten es zwei junge Matrosen, ihre Stimme zu erheben. Längst des sinnlosen Krieges überdrüssig, setzten sie sich für den sofortigen Frieden ein, um noch mehr Blutvergießen zu verhindern. Womit die jungen Soldaten kaum rechnen konnten, war die überaus harte Reaktion des Kriegsgerichts, das mehrere Todesurteile aussprach. Trotz massiver Bedenken der Marinejuristen wurden diese in zwei Fällen an Albin Köbis und Max Reichpietsch exemplarisch vollstreckt. In den frühen Morgenstunden des 5. Septembers 1917 starben beide Matrosen durch die Kugeln eines Erschießungskommandos auf dem militärischen Übungsplatz in Köln-Wahn. Ihr weitgehend unbekanntes Schicksal im Vorfeld der Novemberrevolution wird hier erstmals akribisch rekonstruiert.
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Seitenzahl: 434
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Christoph Regulski
wurde 1968 in Hagen/Westfalen geboren. Er studierte Deutsch und Geschichte an der Freien Universität Berlin und an der Ruhr-Universität Bochum. Hier promovierte er im Jahr 2000 zum Dr. phil. Seine bisherigen Veröffentlichungen behandeln die Handelsvertragspolitik des Kaiserreichs und den Ersten Weltkrieg. Zuletzt untersuchte er in »Klippfisch und Steckrüben« die Versorgung der Frankfurter Bevölkerung 1914–1918. Der Autor lebt in der Wetterau bei Frankfurt am Main.
»… ICH STERBE MIT EINEMFLUCH AUF DEN DEUTSCHENMILITÄRSTAAT.«
In den sich seit Kriegsbeginn ständig verschlimmernden und schließlich unhaltbaren Zuständen auf den Schiffen der Kaiserlichen Marine wagten es zwei junge Matrosen, ihre Stimme zu erheben. Längst des sinnlosen Krieges überdrüssig, setzten sie sich für den sofortigen Frieden ein, um noch mehr Blutvergießen zu verhindern. Womit die jungen Soldaten kaum rechnen konnten, war die überaus harte Reaktion des Kriegsgerichts, das mehrere Todesurteile aussprach. Trotz massiver Bedenken der Marinejuristen wurden diese in zwei Fällen an Albin Köbis und Max Reichpietsch exemplarisch vollstreckt. In den frühen Morgenstunden des 5. Septembers 1917 starben die Matrosen Albin Köbis und Max Reichpietsch durch die Kugeln eines Erschießungskommandos auf dem militärischen Übungsplatz in Köln-Wahn. Ihr weitgehend unbekanntes Schicksal im Vorfeld der Novemberrevolution wird hier erstmals akribisch rekonstruiert.
5. September 1917:
Auf dem Militär-Übungsplatz in Köln-Wahn wurde das wenige Tage zuvor verhängte Todesurteil gegen zwei junge Matrosen der Kaiserlichen Marine vollstreckt. Albin Köbis und Max Reichpietsch starben, weil sie die auf den Schiffen herrschende unwürdige Behandlung und die katastrophale Versorgung nicht länger hinnehmen wollten. Ihr immer stärker werdender Wunsch nach Frieden ließ die Matrosen der Hochseeflotte in einer Organisation schiffübergreifend zusammenfinden und politische Kontakte zur USPD im Reichstag knüpfen. Als die Marineleitung von dem Bestehen der soldatischen Flottenzentrale erfuhr, griff sie hart durch und verhängte in mehreren Prozessen zehn Todesurteile. Trotz massiver Bedenken von Marinejuristen setzte Admiral Scheer in zwei Fällen die Vollstreckung durch. Die Verbitterung der Matrosen nach der Hinrichtung war ein wesentlicher Grund für die Novemberrevolution 1918. Sie hatten das Schicksal von Albin Köbis und Max Reichpietsch, deren Geschichte anhand zahlreicher Protokolle und Aufzeichnungen hier erstmals akribisch rekonstruiert wird, stets vor Augen.
Christoph Regulski
Lieber für die Ideale erschossen werden,als für die sogenannte Ehre fallen
Christoph Regulski
Albin Köbis, Max Reichpietschund die deutsche Matrosenbewegung 1917
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttps://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Alle Rechte vorbehalten
© by marixverlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2014Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014Bildnachweis: Die Heizer der Prinzregent LuitpoldCovergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbHHamburg BerlineBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0476-9
www.verlagshaus-roemerweg.de/Marix/
VORWORT
1. EINLEITUNG
2. DAS FLOTTENBAUPROGRAMM DES DEUTSCHEN REICHS
3. DIE DEUTSCHE HOCHSEEFLOTTE IM WELTKRIEG
3.1. Die Skagerrak-Schlacht
4. DAS FRÜHJAHR 1917
4.1. Die Verpflegungssituation
5. BIOGRAPHIEN
6. DIE MENAGEKOMMISSIONEN
6.1. Die Voraussetzungen
6.2. Die Gründung
7. KONTAKT ZUR USPD
7.1. Matrosenbewegung und USPD
8. FESTIGUNG DER MATROSENBEWEGUNG
8.1. Aktionen
8.2. Max Reichpietsch
8.3. Alfred Herre
8.4. Die Tivoli-Versammlung
9. DER AUSMARSCH AM 1. UND 2. AUGUST 1917
9.1. Der weitere Verlauf der Bewegung
10. UNTERSUCHUNGSHAFT
10.1. Der Prozess
11. BESPRECHUNG DES REICHSKANZLERS MIT DEN PARTEIEN
11.1. Juristische Schritte gegen die USPD
12. DIE URTEILE
12.1. Abschiedsbriefe und Erschießung
13. CATTARO
14. DIE REICHSTAGSSITZUNG VOM 9. OKTOBER 1917
15. ERGEBNISSE
ANHANG
16. LITERATURVERZEICHNIS
16.1. Archive
16.2. Gedruckte Quellen
16.3. Memoiren
16.4. Literatur
PERSONENREGISTER
EDITORISCHE NOTIZ
Bei der Archivrecherche zu diesem Buch wurde mir schnell klar, dass es nicht einfach sein würde, die verstreuten Dokumente ausfindig zu machen. Doch durch die kompetente und engagierte Unterstützung der Mitarbeiterinnen der Bundesarchive in Berlin und Freiburg im Breisgau war es möglich, auf aussagekräftiges und in weiten Teilen unerschlossenes Quellenmaterial zuzugreifen. Dafür danke ich ganz besonders Frau Christiane Botzet in Freiburg, die mich auf wichtige Bestände zu den Ereignissen in der Flotte und zu Albin Köbis und Max Reichpietsch hinwies. In Berlin unterstützte mich Frau Grit Ulrich maßgeblich bei der Vorbereitung meines Archivbesuchs. Einen großen Dank auch an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Lesesäle, die alle Anfragen und Wünsche umgehend bearbeiteten.
Für die zahlreichen Verbesserungen im Text danke ich meiner Frau Martina Lange. Sie hat immer wieder auf eine verbesserte sprachliche Gestaltung hingewiesen sowie durch zahlreiche Kommentare zu einer genaueren Textfassung beigetragen und war gerne bereit, die gemeinsamen Urlaube in den Städten Freiburg und Berlin zu verbringen.
Vielen Dank an Frau Doreen Stelter, dass sie die zweite Druckfahne eingehend las und mit hilfreichen Anmerkungen versah.
Herrn Lothar Wekel, Geschäftsführer des marixverlages, danke ich für die Veröffentlichung in einem renommierten Verlag. Innerhalb des Hauses gestaltete sich die Zusammenarbeit mit Herrn David Zettler sehr erfreulich. Herr Zettler begutachtete das Manuskript sehr gründlich und gab wichtige Anregungen zur Gestaltung des Buches.
In den frühen Morgenstunden des 5. Septembers 1917 starben die Matrosen Albin Köbis und Max Reichpietsch durch die Kugeln eines Erschießungskommandos auf dem militärischen Übungsplatz in Köln-Wahn1. Mit der Hinrichtung wurde das am 26. August 1917 verhängte Todesurteil gegen die beiden führenden Köpfe der Flottenbewegung vom Juli und August 1917 vollstreckt2. Albin Köbis und Max Reichpietsch führten den Protest der Matrosen der Hochseeflotte3 neben ihren ebenfalls zum Tode verurteilten, aber begnadigten Kameraden Willi Richard Sachse, Hans Beckers und Willi Weber an. Über Bernhard Spanderen4 und vier Heizer des Schiffes Westfalen verhängte das Kriegsgericht weitere Todesurteile, die aber allesamt nicht vollstreckt wurden5.
In den sich seit Kriegsbeginn ständig verschlimmernden und schließlich unhaltbaren Zuständen auf den Schiffen der Kaiserlichen Marine wagten sie es, ihre Stimme zu erheben, um gegen eine menschenverachtende Behandlung der Matrosen durch die Offiziere und die katastrophale Versorgung mit oftmals verdorbenem Essen zu protestieren. Längst des sinnlosen Krieges überdrüssig, setzten sie sich für den sofortigen Frieden ein, um noch mehr Blutvergießen zu verhindern6.
Wie konnte es in der als besonders »kaisertreu« geltenden Marine zu einem offenen Aufstand gegen die Schiffsführung und gegen den Krieg kommen? Um diese Frage zu beantworten, ist es erforderlich, in die Gründungsphase der Hochseeflotte und auf ihre besonderen Bedingungen zurückzublicken. In einer von Beginn des Krieges an zur Untätigkeit verurteilten deutschen Flotte7 brachte lediglich die bedeutende Skagerrak-Schlacht Ende Mai 1916 eine militärische Konfrontation zwischen England und Deutschland8, in der sich die deutschen Schiffe dank der Leistung der gesamten Mannschaft hervorragend schlugen9.
In der folgenden Ruhezeit10 wuchsen die bereits bestehenden Spannungen zwischen Offizieren und Mannschaften in einem Maße, dass von Feindschaft gesprochen werden kann11. Wo lagen die Gründe für diese Fehlentwicklung und Dissonanzen auf den Schiffen? Ein Blick in die Aufbauphase und die sozialen Komponenten des Schlachtflottenbaues12gibt entscheidende Hinweise. Inwieweit verhinderte der sich unter den Offizieren ausbildende Korpsgeist eines wirtschaftlich starken, politisch weitgehend ohnmächtigen Bürgertums ein erträgliches Auskommen mit den unteren Dienstgraden in den beengten Räumlichkeiten eines Kriegsschiffes13? Neben den ständigen Spannungen war es auch die ungleiche Verpflegung von Offizier und Matrose, die einer sich stetig zuspitzenden Stimmung Vorschub leistete. Gerade im Jahr 1917 nach dem katastrophalen Steckrübenwinter kam der Ernährungsfrage eine hohe Bedeutung zu14. Wie sehr verschlechterte sich die Lage der Bevölkerung, um den Ruf nach Frieden zum vorrangigen Anliegen zu machen?
Die revolutionären Ereignisse in Russland, die zum Sturz des Zaren führten, beflügelten die Matrosen, sich gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen15. Freilich war es in der deutschen Hochseeflotte ein gefährlicher Weg, die Grenzen eines zulässigen oder gerade geduldeten Protestes zu überschreiten. Der Ausmarsch der Matrosen am 2. August 1917 zu einer Versammlung in Rüstersiel bei Wilhelmshaven16 war für die Offiziere und Admirale ein klares Zeichen, dass sich die Soldaten offen auflehnten17. Handelte es sich bei dieser Form des Protestes aber tatsächlich um »vollendete kriegsverräterische Aufstandserregung«18, die die Todesurteile gegen fünf Matrosen rechtfertigte?
Für die Beantwortung dieser Frage steht der Prozess gegen die Matrosen an zentraler Stelle. Kann der Verlauf als gerecht bezeichnet werden? Standen den Angeklagten genügend Möglichkeiten zu einer angemessenen Verteidigung zur Verfügung? Wie erlebten die Angeklagten das Verfahren19? Bei einer Wertung der deutschen Hochseeflottenbewegung wird auch auf die Ereignisse der offenen Rebellion der österreichisch-ungarischen Marine in Cattaro vom Januar 191820 einzugehen sein. Bei diesem Vergleich kann die Frage nach einem »vollendeten Aufstand« schärfer abgegrenzt werden21.
Um die Matrosenbewegung des Jahres 1917 in ihrer Gesamtheit würdigen zu können, ist es erforderlich, die Entstehung und den Verlauf möglichst genau nachzuzeichnen. Damit ist sehr eng die Frage verbunden, inwieweit sich die Matrosen organisiert hatten und welcher Führung sie sich anvertrauten. Gab es eine zwingende, kontinuierliche Entwicklung von den ersten Essensverweigerungen22 über die vom Marinestaatssekretariat gebilligten Menagekommissionen zu einer Auflehnung gegen die Autoritäten der Marine? Was genau forderten die Matrosen im Juli 1917? Wie weit waren sie bereit zu gehen? Wollten sie die monarchische Staatsform beseitigen? Lag ein lokaler bewaffneter Aufstand im Bereich des Denkbaren? In diesem Zusammenhang ist zu fragen, wie sich die Marineführung gegen die ihr höchst unwillkommenen Entwicklungen zu wehren versuchte und welcher Mittel sie sich dazu bediente.
Von besonderer Bedeutung wird das Verhältnis der Flottenbewegung zur Politik, und hier ganz besonders zu der erst im Frühjahr 1917 gegründeten USPD23, sein. Gab es Rückendeckung seitens der Partei für die beabsichtigten Proteste? Wollten die Matrosen die Partei stärken, die sich am nachhaltigsten für einen schnellen Friedensschluss aussprach? Wie ist der Einfluss des Spartakusbundes und seiner Schriften auf die Matrosen einzuschätzen?
Auch nach der Niederschlagung des Aufstandes im Sommer 1917 blieben die Wilhelmshavener Ereignisse ein gewichtiges innenpolitisches Thema, das im Reichstag eingehend diskutiert wurde24. Wie verliefen die Argumentationen der Parteien, und wie stellten sie sich zur politischen Führung? Welche Fehler unterliefen der Regierung, die schließlich dazu führten, dass Reichskanzler Michaelis jedes Vertrauen der Parteien verlor und zurücktreten musste?
Über das Jahr 1917 hinaus blieb die Auflehnung der Matrosen und die Erschießung von Albin Köbis und Max Reichpietsch bis zur Revolution des Jahres 1918 in steter Erinnerung. Es ist kein Zufall, dass die entscheidenden Impulse zur Beendigung des Deutschen Kaiserreiches von Kiel und Wilhelmshaven ausgingen. Am Schluss der Untersuchung wird daher betrachtet, wie der Marineaufstand von 1917 und seine bedeutendsten Vertreter Albin Köbis und Max Reichpietsch aus der historischen Perspektive eingeordnet werden können.
Zu der deutschen Hochseeflottenbewegung des Sommers 1917 sind noch zahlreiche, ganz unterschiedliche archivalische Quellen vorhanden. Die Prozessunterlagen gegen die Matrosen Köbis und Reichpietsch sind nicht mehr erhalten25. Wichtige Aussagen von Max Reichpietsch, Albin Köbis und Hans Beckers finden sich im Nachlass Alfred v. Tirpitz’26. Die dort gemachten Angaben werden aber durch die Berichte von Willi Sachse27 und Hans Beckers über die Praktiken der Justiz relativiert. Zu sehr sind den Angeklagten Unwahrheiten und belastende Behauptungen in die Protokolle diktiert worden, als dass sich anhand dieser Akten ein getreues Bild der Vorgänge hätte gewinnen lassen28. Willi Weber sagte 1927 ausdrücklich, »daß das, was in den Akten steht, für mich nicht beweiskräftig ist.«29 Bemerkenswert ist, dass diese Einsicht von einzelnen Abgeordneten des Untersuchungsausschusses geteilt wurde30.
Als wichtige Akten sind die Unterlagen des Marinestaatssekretariats erhalten und der Forschung im Bundesarchiv in Freiburg im Breisgau zugänglich31. Insbesondere die Akte RM 47-140 beinhaltet ganz zentrale Dokumente, die über Entstehung und Verlauf der Matrosenbewegung Auskunft geben und die Beziehungen zwischen den Matrosen und der USPD thematisieren32. Die ebenfalls dort verwahrten Nachlässe Eduard von Capelles und Reinhard Scheers enthalten jedoch keine relevanten Aufzeichnungen33.
Im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde befinden sich je eine Akte des Reichsamtes des Innern »betreffend Umtriebe in der Marine« und der Reichskanzlei über »Parteien/Sozialdemokratie«34 sowie bedeutende Berichte der am Aufstand beteiligten Matrosen35. Anhand ihrer Erinnerungen können Details nachgezeichnet und Einschätzungen verglichen werden.
Neben den archivalischen gibt es eine große Anzahl bereits edierter Quellen, die die Ereignisse von 1917 und das Umfeld erhellen. Hier steht an erster Stelle das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Nationalversammlung mit den für das Thema relevanten Bänden neun und zehn, die jeweils in zwei Halbbänden vorliegen. In dieser groß angelegten Ausgabe finden sich Zeugenaussagen der an den Geschehnissen Beteiligten36 ebenso wie Gutachten zu einzelnen Aspekten der Hochseeflottenbewegung37.
Das von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 1970 herausgegebene Werk Militär und Innenpolitik ist mit seinen zahlreichen Quellen bedeutend für die Vorgänge auf den Schiffen und ihre Auswirkungen auf die Politik in Berlin38. Auch die in den 1950er Jahren erschienenen Bände Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung39 weisen ebenso wie die Bücher der Reihe Ursachen und Folgen40 viele wertvolle Quellen aus. Eine wichtige, bislang weitgehend unbeachtete Quelle ist der Band Der Dolchstoß-Prozeß aus dem Jahr 192541. In diesem Buch finden sich zahlreiche Aussagen der vereidigten Zeugen des Prozesses zu den Unruhen in der Marine 1917. Für die Flugblätter und Broschüren der revolutionären Spartakusgruppe liegt mit der Ausgabe Spartakusbriefe aus dem Jahre 1958 eine verlässliche Edition vor. Wertvolle Dokumente zur Rolle der Hochseeflotte im Ersten Weltkrieg finden sich auch bei Tirpitz42, wenngleich der Autor bei seiner Auswahl in Hinblick auf seine vormals herausragende Stellung sehr selektiv verfahren ist. Von großer Bedeutung ist auch, in welchen zentralen Quellen und vermeintlichen Fundstellen nichts über die Marinebewegung zu entdecken ist. So verwundert es, dass in dem Protokoll des SPD-Parteitages in Würzburg vom 14. bis 17. Oktober 1917 die Marinebewegung und die zum Kanzlerwechsel führende Reichstagsdebatte vom 9. Oktober nicht erwähnt werden43.
Insgesamt kann die Quellenlage als günstig bezeichnet werden und befördert das Vorhaben, seit sehr langer Zeit wieder ein Buch über Albin Köbis und Max Reichpietsch und die Proteste der Matrosen im Sommer 1917 zu schreiben.
Die Erforschung der Matrosenbewegung vom Sommer 1917 ist eng mit der deutschen Geschichte verknüpft. In der Weimarer Republik erlebte die Erforschung der Marineunruhen einen ersten Höhepunkt. Neben der bereits erwähnten Veröffentlichung der Bände des Untersuchungsausschusses zur Verfassunggebenden Nationalversammlung, die eine Reihe von Gutachten enthalten44, bildete sich eine breit gefächerte Literatur heraus. Von dem ehemaligen USPD-Abgeordneten Wilhelm Dittmann stammt die Schrift Die Marine-Justizmorde von 1917 und die Admirals-Rebellion von 191845.
Der Titel macht bereits deutlich, wie Dittmann die Todesurteile der Justiz bewertete. Für ihn handelte es sich um Mord und somit um vorsätzliche Tötung der Matrosen, die keinerlei Chance in einem Schauprozess besaßen46. Dem steht die Schrift War es die Marine?47 gegenüber, in der weitgehend monarchistisch eingestellte ehemalige Soldaten48 die Schuld bei den Matrosen suchen und sie für ihr Schicksal verantwortlich machen. Qualitativ ist sie der sehr fundierten Analyse Dittmanns unterlegen. In der Tendenz steht ihr die Untersuchung von Neu nahe, die sich aber auf die 1930 bereits veröffentlichten Quellen und Schriften bezieht49. Während des Nationalsozialismus erschien keine Schrift über die Ereignisse in der Flotte. Allerdings durfte Willi Richard Sachse sein Erinnerungswerk Rost an Schiff und Mann veröffentlichen, in dem er sich eindeutig von den Vorgängen auf den Schiffen distanzierte.
Broschüre Wilhelm Dittmanns aus dem Jahre 1926
Nach Gründung zweier deutscher Staaten verlief auch die Geschichtsschreibung auf getrennten Wegen. In der Deutschen Demokratischen Republik wurde der Aufstand der Matrosen als vorbereitende Tat der Novemberrevolution 1918 gewürdigt. Die Studien Bernhards betonen den Wunsch nach Frieden in der Marine und die Nähe zu den Zielen des revolutionären Spartakusbundes50. In seiner Leipziger Dissertation aus dem Jahre 1958 geht Bernhard sehr detailliert auf die Bewegung um Max Reichpietsch und Albin Köbis ein und setzt einen weiteren Schwerpunkt der Arbeit auf die Matrosenbewegung nach den Verhaftungen auf der Prinzregent Luitpold und der Friedrich der Große51. In der Geschichte des ersten Weltkrieges stellen ostdeutsche Historiker die mutigen Leistungen der Matrosen und ihre an sozialistischen Idealen ausgerichteten Forderungen heraus52. Mit dem Buch Rebellion in der Hölle aus dem Jahre 1976 liegt eine sehr anschauliche, literarische Schilderung um die aufbegehrenden Matrosen vor53. Sie basiert auf Tatsachen und zeichnet sich durch ein fundiertes Nachwort, das auch die Familien und Freunde von Köbis und Reichpietsch zu Wort kommen lässt, aus.
Anders sieht es in der westdeutschen Geschichtsschreibung aus. Der Flottenbewegung haftete aus Sicht der bundesdeutschen Marine das Stigma der »Schande«54 an, was ihr in der Historiografie einen wenig bedeutsamen Platz zuwies. Das Buch Legahns über die Meuterei in der Kaiserlichen Marine stellt die Matrosen als Rechtsbrecher dar, die eine gerechte Strafe erhielten55. In den meisten relevanten Büchern wird die Flottenbewegung nur sehr kurz, fast beiläufig erwähnt56. Die Namen Köbis und Reichpietsch werden oftmals nicht genannt57. Erst mit der Neuveröffentlichung des Buches von Hans Beckers in der Reihe »Verboten und verbrannt« 1986 lag wieder ein zentraler Text über die Marineereignisse des Jahres 1917 vor58.
Es ist bezeichnend, dass sich mit Daniel Horn ein Historiker aus den Vereinigten Staaten in seinem Buch The German Naval Mutinies of World War I eingehend mit den wieder zugänglichen Quellen des Reichsmarineamtes beschäftigt59. Horn untersucht die Grundlagen und Ereignisse der Flottenbewegung des Sommers 1917 auf breiter Quellengrundlage und ordnet sie in das Gesamtgeschehen des Weltkrieges und der Novemberrevolution ein.
In der Bundesrepublik werden Max Reichpietsch und Albin Köbis nach 1990 nur vereinzelt in Gesamtdarstellungen des Ersten Weltkrieges und des Kaiserreichs erwähnt60. Ein Eintrag im Großen Brockhaus ist ihnen verwehrt61. Besonders bedauerlich sind die fehlenden Artikel zu Albin Köbis und Max Reichpietsch in dem ansonsten Maßstäbe setzenden Standardwerk Enzyklopädie Erster Weltkrieg62. Dies zeigt umso mehr, dass eine eigene Schrift zu ihren Taten und denen der Soldaten im Sommer 1917 ein Forschungsdesiderat blieb.
Deutschland war nie eine große Seefahrernation63. Der schmale Küstenstreifen an der Nordsee hatte lediglich lokale Bedeutung, die Entwicklungsmöglichkeiten auf der beinahe vollständig eingeschlossenen Ostsee waren äußerst begrenzt. Auch nach dem Regierungsantritt des Preußischen Königs und Deutschen Kaisers Wilhelm II. im Jahr 188864 trug Deutschland dem Rechnung und verzichtete auf den Aufbau einer nennenswerten Flotte65. Kaiser Wilhelm II. befürwortete erst nach 1894 einen massiven Schlachtschiffbau, um Deutschland von einer wichtigen Kontinentalmacht zu einer Weltmacht zu machen66. Durch die Lektüre des 1890 erschienenen Buches The Influence of Sea Power Upon History 1660–1783 des amerikanischen Seeoffiziers und Marineschriftstellers Alfred Thayer Mahan angeregt67, förderte der junge Kaiser massiv alle navalen Bestrebungen des Reiches68. Dieses Standardwerk erlebte 50 Auflagen und wurde in sechs Weltsprachen übersetzt69. Die deutsche Übersetzung durch Vizeadmiral Karl Batsch lag 1896 vor. Die grundlegende Denkschrift Nr. IX von Alfred Tirpitz70 zum Aufbau der Seestreitkräfte vom 16. Juni 1894 geht direkt auf Mahans Überlegungen zurück71. Demnach sollte die deutsche Flotte offensiv ausgerichtet und dem möglichen Gegner um mindestens ein Drittel in der Schlachtstärke überlegen sein72. In der strategischen Überlegung kam der Entscheidungsschlacht zwischen den Flotten ein ganz zentraler Stellenwert zu73. Tirpitz erkannte damit von Anfang an das Schicksal einer deutschen Flotte: Sie müsse den Entscheidungskampf auf offener See suchen oder sie sei zur Untätigkeit und damit zur moralischen Selbstvernichtung verurteilt74.
Admiral Alfred v. Tirpitz
Das Dogma der Entscheidungsschlacht vertraten fast alle späteren Admirale wie auch Richard Scheer und Magnus v. Leventzow. Zwei Admiralstabschefs erkannten jedoch noch vor Kriegsbeginn die Gefahren des deutschen Konzeptes. Vizeadmiral Friedrich v. Baudissin und Admiral Max v. Fischel wiesen darauf hin, dass die eigene Strategie nur bei einem Angriff Englands aufgehen könne75. Kapitän zur See Curt von Maltzahn empfahl aus diesem Grund bereits 1898 ein ausgewogenes Defensivkonzept mit Kreuzern. Sein Konzept besaß aber gegen das Tirpitzsche Dogma keine realistische Chance76. In der Tat lag der Fehler des deutschen Entwurfes in der Missachtung zweier Vorbedingungen, die Mahan formulierte. Eine Seemacht benötige zwingend eine günstige geographische Lage, um über einen freien Zugang zum Meer zu verfügen77. Zudem sei es ausgeschlossen, dass eine Nation zugleich See- und Landmacht ersten Ranges sein könne78. Kritische Stimmen wurden in der Literatur bereits in den 1930er Jahren laut, als beispielsweise der Leiter des Marinearchivs Eberhard v. Manthey schrieb, Deutschland habe sich zu sehr in den Flottenbau und dabei auch in den Gedanken der offensiven Kriegsführung verrannt. Sein Mitarbeiter Herbert Rosinski betonte, durch die fixen Vorgaben sei zudem das strategische Denken stark verkümmert79.
Ein ganz entscheidender Fehler war es, in der eigenen Konzeption die Reaktionen des Gegners, der in diesem Fall nur England sein konnte80, zu vernachlässigen81. Selbstverständlich erkannten die englischen Offiziere die deutsche Strategie einer Entscheidungsschlacht dort, wo die deutsche Marine ihre Kraft voll entfalten konnte, umgehend. Sie wichen deshalb einer Schlacht zwischen Themse und Helgoland82 aus und verfolgten das Konzept einer weiten Absperrung Deutschlands von den Weltmeeren83, indem die englische Flotte den Ärmelkanal und den Zugang um Schottland blockierte84. Damit besaß die deutsche Marine keine Möglichkeit, offensiv gegen England vorzugehen85. Auch wenn diese Strategie den englischen Offizieren, die im offensiven Geist von Trafalgar geschult waren86, wenig Spielraum ließ, befürworteten sie sie unter ganz pragmatischen Gesichtspunkten87.
Damit war klar, dass die deutschen Schiffe keine großen Aktionsmöglichkeiten besaßen und in ihren Heimathäfen blieben, was zu großen Spannungen an Bord führte88. Es schien sich zu bewahrheiten, was Tirpitz befürchtete: Die Flotte würde an moralischer Selbstvernichtung als Folge der eigenen Untätigkeit zu Grunde gehen89.
Da diese Bedenken nicht gesehen oder von den Verantwortlichen ausgeblendet wurden, kam es nach 1897/98 zu einem ehrgeizigen und äußerst kostspieligen Flottenbauprogramm. Das erste Flottengesetz von 1898 ermöglichte den Bau von zwei Geschwadern mit je acht Schlachtschiffen. Mit der ersten Flottennovelle des Jahres 1900 beschritt Deutschland den Weg zu einer maritimen Großmacht. Mit vier Geschwadern zu je acht Schlachtschiffen, zwei Flaggschiffen, acht großen und 24 kleinen Kreuzern plus einer Auslandskreuzerflotte rüstete das Kaiserreich massiv auf90. Durch den Bau von Großkampfschiffen mit bis zu 25.000 Bruttoregistertonnen91, den sogenannten »Dreadnoughts«92, stieß England in eine neue Dimension des Schlachtflottenbaues vor93, auf die Deutschland 1906 wiederum reagierte94. Das Kaiserreich baute nun ebenfalls Dreadnoughts und legte drei weitere Schlachtschiffe und sechs große Kreuzer auf Kiel. Deutschland beschleunigte das Tempo 1908 in der dritten Flottennovelle erneut. Von 1908 bis 1912 sollten jährlich vier neue Großkampfschiffe gebaut werden. In der vierten und letzten Flottennovelle von 1912 waren drei weitere Dreadnoughts und kleinere Kreuzer vorgesehen. Das angestrebte Verhältnis von zwei deutschen Großkampfschiffen zu drei englischen Dreadnoughts95 war somit im Jahre 1914 beinahe erreicht, was einen Sollbestand von 60 Großkampfschiffen entsprach96.
Deutsche Kriegsflotte in Kiel
Dennoch bestand keine Möglichkeit, die englische Seeherrschaft auf den Weltmeeren zu brechen. Die Royal Navy konnte den bereits 1889 formulierten Two Power Standard97 verteidigen, Englands Flotte war weiterhin stärker als die zweit- und drittstärkste Flotte zusammen98. Angesichts dieser Situation resignierte der Staatssekretär des Reichsmarineamtes Alfred v. Tirpitz noch vor der vierten Flottennovelle mit den Worten, dass die »Flottenentwicklung vom historischen Standpunkt ein Fehler« gewesen sei99.
Auch vom finanziellen Gesichtspunkt her kann man die Flottenentwicklung als schwerwiegenden Fehler bezeichnen. Die maritime Rüstung nahm bis Kriegsbeginn 25 % des Rüstungshaushaltes in Anspruch100. Die Gesamtkosten für die Marine beliefen sich im Jahr 1913 auf 340 Millionen Reichsmark (RM). Die Ausgaben für das Heer betrugen im selben Jahr 902 Millionen RM.101 Einzelne Schiffe wie Kaiser Barbarossa und Roon kosteten um 1900 zwischen 11,2 und 14,1 Millionen RM102. Der Preußische Kriegsminister v. Heeringen forderte angesichts der hohen Kosten für die Marine bereits im November 1911, besonders das Heer zu berücksichtigen und somit den Kern des Militärs zu stärken103. Diese enormen Summen konnten nur durch eine langfristige budgetrechtliche Bindung des Reichstages kontinuierlich gewährleistet werden104. Die finanziellen Auswirkungen auf den Reichshaushalt waren fatal: Das jährliche Rüstungsdefizit betrug 1912 bereits 433 Millionen RM105, die Gesamtschulden des Reiches stiegen von 3.203 Millionen RM im Jahr 1905 auf 4.917 Millionen RM 1914106. Ein großer Teil der Rüstungsausgaben wurde somit nur über Verschuldungen bestritten, wobei die jährliche Verschuldung sowohl absolut als auch verhältnismäßig immer weiter zunahm.
Nicht weniger folgenreich waren die Auswirkungen auf das politische Verhältnis zu England. Ende März 1898 eröffnete der englische Kolonialminister Joseph Chamberlain dem deutschen Botschafter Paul Graf v. Hatzfeld den Wunsch seines Landes nach einer Bindung an das Kaiserreich vor dem Hintergrund der zunehmenden Spannungen mit Frankreich und Russland107. Diese historische Möglichkeit blieb ungenutzt. Angesichts der deutschen Flottenpolitik verschlechterte sich das Verhältnis zusehends108, wenngleich England die deutschen Flottennovellen von 1898 und 1900 noch gelassen hinnahm109. Nach Berghahn war es die zentrale Aufgabe der deutschen Außenpolitik nach 1900, für ein ruhiges Umfeld zu sorgen, um die Flotte zielstrebig ausbauen zu können110. Erst mit dem Übergang zum Bau von Großkampfschiffen wurde das Kaiserreich in England als Bedrohung wahrgenommen, zumal Deutschland über die zweitstärkste Handelsflotte verfügte. England reagierte gemäß der Denkschrift Sir Eyre Crowes und schloss am 31. August 1907 ein Abkommen mit Frankreich und Russland über Kolonialfragen111, was de facto Bündniswert besaß112. Noch einmal äußerte England 1912 den Wunsch, zu einer Verständigung mit Deutschland zu gelangen und das Wettrüsten zur See zumindest zu verlangsamen. Der britische Kriegsminister Lord Richard Burdon Haldane reiste mit dem Wunsch nach Berlin, die deutsche Flottenrüstung zu begrenzen, und bot im Gegenzug ein begrenztes Neutralitätsabkommen an, in dessen Folge das kontinentale Gleichgewicht aber nicht verändert werden dürfte113. Die deutsche Position bestand in einem bindenden englischen Neutralitätsabkommen und einer Reduzierung des Flottenbautempos, ohne die Gesamtgröße der Flotte langfristig zu begrenzen. Auf dieser Grundlage war keine Verständigung möglich, das Wettrüsten hielt bis zum Kriegsausbruch 1914 an114.
Da der Schlachtflottenbau und der Wert einer bedeutenden Marine nicht im Bewusstsein der Bevölkerung verankert waren, betrieb das Reichsmarineamt von Beginn an eine umfangreiche Propagandapolitik115. Dies war zwingend erforderlich, um die benötigten Gelder, auch in Konkurrenz zum Heer116, bewilligt zu bekommen117. Als ein wichtiges Instrument fungierte der Deutsche Flottenverein118, der in erster Linie das Bürgertum für die maritimen Bestrebungen begeistern sollte. Er wurde schnell zum mitgliederstärksten Verband im Kaiserreich119 und hatte die Aufgaben, einmal erreichte Positionen auszubauen120 und massiven öffentlichen Druck auf die Reichstagsabgeordneten für die Bewilligung von Geldern auszuüben121. Das Konzept, mit dem Flottenbau auch die Belange der Arbeiter durch sichere Arbeitsplätze zu berücksichtigen, ging nicht auf122. Nach Wehler richtete er sich als nationale Aufgabe auch gegen die innenpolitisch-parlamentarischen Bestrebungen der Sozialdemokratie123. Ihr zentrales Organ, der Vorwärts, sprach angesichts einer steigenden Rüstungsspirale gar vom »Flottenwahnsinn«124 und Karl Liebknecht sah in der Rüstung zur See nur einen »Flottenschwindel«125.
Doch neben der Sozialdemokratie waren es noch ganz andere Stimmen, die vor einem Flottenbau warnten. Der noch in höchster Achtung stehende ehemalige Reichskanzler Otto v. Bismarck sprach am 4. September 1897 von »Lügenschiffen«. Sie würden für Deutschland nichts leisten und verschlechterten durch ihre bloße Existenz die außenpolitischen Verhältnisse. Das Schicksal Deutschlands werde nicht auf dem Wasser, sondern auf den Schlachtfeldern Europas entschieden126: »Auf absehbare Zeit bleibt für uns das Wichtigste ein starkes Heer.«127 Generell konnte sich die preußische Aristokratie nicht mit den Schiffen anfreunden und sah in ihnen nur die »gräßliche Flotte«128. Der Konservative Reichstagsabgeordnete Dr. Oertel fühlte sich und seine Partei zudem von Staatssekretär v. Tirpitz bei der Bewilligung der finanziellen Mittel getäuscht129. Nach dem Krieg urteilte der Konservative v. Waldeyer-Hartz nicht zu Unrecht, »daß das deutsche Volk selbst in seinen gebildeten Schichten trotz aller Bemühungen unseres letzten Kaisers zum Seevolk und zum Verständnis für Seegeltungsfragen nicht herangereift war.«130 Waldeyer-Hartz bezog seine Kritik der »gebildeten Schichten« auf die preußisch-konservative Elite.
Das Bildungsbürgertum erwies sich als begeisterter Träger des Flottengedankens und bildete seinen stärksten Rückhalt131. Die Marine stellte eine ausgezeichnete Kompensation für die durch den alten Adel verbauten Laufbahnen im Feldheer dar und bot zudem die Gelegenheit, die Besitzansprüche des Bürgertums gegen Bestrebungen der Sozialdemokratie zu verteidigen132. Der Rückhalt im Bürgertum lässt sich auch daran ablesen, dass es 48 % der Seeoffiziere stellte und 90 % der Offiziere das Abitur besaßen. In dieser scheinbar sicheren Herrschaft über die Schiffe des Kaiserreichs bildeten sie einen Elitegedanken aus, der in einen arroganten Korpsgeist mündete133 und sich in einem provokanten Verhalten134 gegen die zum Teil hochspezialisierten Matrosen auf den Schiffen zeigte. Um die komplexen Schiffe überhaupt führen zu können, bedurfte es gelernter Arbeiter, die hauptsächlich aus den industriellen Zentren stammten und durchaus Kontakt zur Sozialdemokratie hatten135. Die scharfe soziale Trennung auf den Schiffen bestand nicht nur zwischen Offizieren und Mannschaftsdienstgraden. Auch ein gesellschaftlicher Verkehr zwischen Offizieren und leitenden Ingenieuren, die auf den modernen Kriegsschiffen eine zentrale Position einnahmen, war unerwünscht. Vizeadmiral v. Cörper forderte in seiner Funktion als Inspekteur und somit Chef des Bildungswesens in der Marine 1911 offiziell, dass Ingenieure nicht aus der gleichen gesellschaftlichen Schicht wie die Offiziere stammen sollten und jeglicher Umgang mit ihnen auf das Nötigste beschränkt werden müsste. Die Einstellungskommissionen sollten darauf achtgeben, Ingenieure nur aus den unteren Mittelschichten zu wählen und sie dann gesellschaftlich von dem höheren Bürgertum abzugrenzen136.
Der Matrose Richard Stumpf führte das Benehmen der Vorgesetzten völlig zu Recht auf die Erziehung und Ausbildung zurück, die einen seit dem 16. Lebensjahr gedrillten Kadetten prägte137. So trugen aristokratischer Standesdünkel und Klassendenken maßgeblich zum leitenden Verhaltensmuster bei. Junge Leutnants begegneten erwachsenen Männern, oftmals Familienvätern, mit äußerster Arroganz. Das bereits in Friedenszeiten unerträgliche Verhalten führte in Kriegszeiten zu einer katastrophalen Soldatenführung138. Diercks attestiert der Marineführung ausdrücklich, dass sie das politische und gesellschaftliche Umfeld nicht mehr wahrnahm139. Damit war eine grundlegende Ursache der Matrosenbewegung vom Sommer 1917 schon lange vor ihrem Ausbruch vorhanden.
Zieht man eine Bilanz der Jahre 1897 bis 1914 über den Aufbau der deutschen Hochseeflotte, finden sich in ihr wichtige Faktoren, die zum einen den Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 mit bedingten und zum anderen die Auflehnung der Matrosen in der Hochseeflotte im Sommer 1917 begründeten.
Der Flottenbau isolierte das Kaiserreich politisch immer mehr140 und verschärfte den Konflikt mit England141. Durch seine immensen Kosten brachte er das Reich an die Grenze des finanziellen Ruins142. Beide Faktoren trugen erheblich dazu bei, den »Sprung ins Dunkle«143 zu wagen. Durch die verfehlte Strategie war die Marine seit 1914 zur Passivität verurteilt. Die Hoffnung auf eine große Schlacht machte die englische Fernblockade zunichte144. Dadurch entstand innerhalb der Schiffe eine zunehmend gereizte Stimmung, die eine Auflehnung der Matrosen gegen die unwürdige Behandlung durch Vorgesetzte maßgeblich mit verursachte. Indem die Offiziere zu einem Großteil dem wirtschaftlich aufstrebenden Bürgertum entstammten145 und in einem eigenen Korpsgeist die Gewohnheiten des politisch vorherrschenden alten Adels übernahmen146, distanzierten sie sich von den Mannschaftsdienstgraden, denen sie arrogant und provokativ begegneten147. Das wollten die Matrosen im vierten Kriegsjahr nicht mehr hinnehmen. Sie zweifelten zusehends am Sinn des Krieges, den viele nur noch als Wirtschaftskrieg betrachteten148, der eine friedliche Verständigung zwischen den Nationen verhinderte.
Mit Kriegsbeginn zeigte sich, dass die deutsche Strategie nicht aufgehen konnte. Die Royal Navy war aus guten Gründen nicht gewillt, zu einer großen Schlacht gegen die deutsche Kriegsmarine auszulaufen. Ein erhofftes »Deutsches Trafalgar« blieb aus149. England wollte in erster Linie die Überlegenheit der eigenen Seemacht bewahren. Sir David Beatty, der Chef des britischen Schlachtkreuzergeschwaders brachte es am 20. Oktober 1914 auf den Punkt: »… aber wir können nichts tun als nur abzuwarten.«150
Die Strategie der Navy beruhte auf der vorteilhaften geographischen Lage. Die britische Insel liegt vor Deutschlands Zugang zum Weltmeer. Im Süden befindet sich der enge Ärmelkanal, im Norden ist die 250 Kilometer breite Öffnung zum Nordmeer leicht zu überwachen. Für die englischen Seeoffiziere war diese Blockade ein Mittel zum Zweck, Deutschland zu ungünstigen Bedingungen in die Offensive zu locken. Darauf ging die deutsche Marine nicht ein und verblieb überwiegend in den Häfen und nahen Küstengewässern.151 Aber auch Deutschland verlegte sich auf das wirkungsvolle Mittel der Blockade, indem es Russland vor den Dardanellen absperrte und so wirtschaftlich von Frankreich und Großbritannien isolierte. Durch die Sperrung der Belte behinderte sich Deutschland hingegen selbst, da es strategische Ausfälle aus der Ost- in die Nordsee unterband. Rahn erkannte in diesem Vorgehen ein System der Halbwahrheiten.
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