Lily - Rose Tremain - E-Book

Lily E-Book

Rose Tremain

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Beschreibung

London, 1850: Mitten im Winter findet der junge Kommissar Sam Trench im Viktoria Park ein Bündel – darin liegt ein Neugeborenes. Die kleine Lily wird bei einer Pflegefamilie in Suffolk untergebracht, wo sie unbeschwerte Jahre verlebt, bis sie mit sechs ins Waisenhaus nach London muss, um zur Näherin ausgebildet zu werden. Dort herrschen strenge Regeln und die Aufseherinnen bestrafen die Mädchen hart. Als junge Frau kommt Lily bei einer Perückenmacherin unter und könnte endlich ein selbstbestimmtes Leben führen, doch eine schwere Schuld lastet auf ihr … Sam Trench hat Lily nie ganz aus den Augen verloren, und als er der jungen Frau wieder begegnet, fühlen sich die beiden zueinander hingezogen. Lily glaubt, dass sie mit Sam endlich ein neues Leben beginnen kann – aber kann sie die Schatten der Vergangenheit hinter sich lassen?

Wie weit gehen wir, um erlittenes Unrecht zu vergelten? Wie können wir Frieden finden, wenn wir uns unwiederbringlich verloren glauben? Rose Tremains neuer Roman erzählt von der Dunkelheit, die dem Menschlichen innewohnt – aber auch von Wärme und Widerstandskraft.

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Seitenzahl: 394

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Cover

Titel

Rose Tremain

Lily

Eine Rachegeschichte

Aus dem Englischen von Christel Dormagen

Insel Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Lily. A Tale of Revenge bei Chatto & Windus, einem Imprint von Vintage, Penguin Random House, London.

eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022© Rose Tremain 2021

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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagabbildung: Nicole Matthews/Arcangel Images, Málaga

eISBN 978-3-458-77336-8

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Caroline Michel,mit Liebe und Lachen

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Wölfin

Krähenhorstfarm

Emporium

Fräulein Ungehorsam

Wie eine Braut …

»Diese kleinen Barbaren«

Das Messingkruzifix

Gelbe Äpfel

Die Farbe der Zwiebeln

Der wollene Schal

Kleider:

keine

Das scharlachrote Gewand

»Höhlen, die kein Mensch ermisst«

Niemals

Kein Zutritt für Kinder

Traviata

Flickenpuppe

Das Tor zur Hölle

Hochzeitsbild

»Die Welt ist schuld daran«

Ein Käfig voller Lerchen

Seigneur

Kensal Green

Sein Mantel

Der fehlende Schlüssel

Zur Zeit des Steinesammelns

Weil es Gesetz war

Die zwei Hände

Danksagung

Informationen zum Buch

Lily

Wölfin

Sie träumt von ihrem Tod.

Er kommt, als ein kalter Oktobertag am Londoner Himmel dämmert.

Ihr wird ein Sack über den Kopf gezogen. Durch das Jutegewebe kann sie einen letzten Blick auf die Welt werfen, die nur mehr ein Haufen winziger Rechtecke aus grauem Licht ist, und sie denkt: Warum habe ich so lange und so hart dafür gekämpft, mich an einem Ort zu behaupten, der es, seit ich ihn betrat, auf meine Vernichtung abgesehen hat? Warum habe ich mich nicht schon als Kind dem Tod ergeben, denn sind Kinderbilder vom Tod nicht fantasiereich und voller fremdartiger Schönheit?

Sie spürt, wie sich die Schlinge, die aus einem dicken Hanfseil gefertigt ist, um ihren Hals legt, und weiß, dass die Schlinge in ihrer Arglist einen ewigen Koitus mit einem riesigen, knolligen Knoten an ihrem Hinterkopf eingehen wird. Der Knoten berührt ihren Schädel im Nacken. Gleich wird sich unter ihren Füßen eine Falltür öffnen, und sie wird ins Leere stürzen, ihre Beine werden wie die Beine einer Stoffpuppe baumeln. Ihr Genick wird brechen und ihr Herz aufhören zu schlagen.

Niemand außer ihr weiß, dass ihr Traum vom Tod eine vorweggenommene Probe für das ist, was ihr mit Sicherheit eines Tages widerfahren wird. Noch weiß niemand, dass sie eine Mörderin ist. Man sieht in ihr ein unschuldiges Mädchen. In einem Monat wird sie siebzehn sein. Ihre Wangen haben Grübchen, und ihr Haar ist braun und weich. Ihre Stimme ist leise. Ihre Hände sind geschickt. Sie arbeitet in Belle Prettywoods Perücken-Emporium, das in ganz London berühmt ist. Sie geht sonntags in die Kirche, in einem Kleid aus blauem Serge. Und sie wurde nach einer Blume benannt: Lily.

In der Kirche gibt es einen Mann, der sie beobachtet. Er ist älter als sie. Sie schätzt, er könnte schon vierzig sein. Aber ihr gefällt das Verlangen, das sie in seinen Augen sieht. Vielleicht ist das der Grund, warum sie, als sie sie wahrnimmt – diese kleine Flamme der Sehnsucht, die so beharrlich ist wie das vielfarbige Licht, das durch ein Buntglasfenster strömt –, ein paar Sekunden lang vergisst, was sie getan hat und dass sie am Ende für ihre böse Tat bestraft werden wird. Wovon sie stattdessen zu träumen beginnt, ist eine irgendwie unschuldige Fortsetzung ihres Lebens.

Sie erschafft einen imaginären Augenblick, eine Art Theaterszene. Sie ist mit diesem unbekannten Mann auf dem Kirchhof. Es ist Frühling, aber die Luft ist kühl. Sie und der Mann sitzen Seite an Seite auf einer steinernen Bank, und sie kann fühlen, wie die Kälte des Steins durch ihr Kleid dringt. Sie beginnt leicht zu zittern, worauf der Mann nach ihrer Hand greift, und seine Hand ist warm und stark. Er hält sie sanft – nicht gewaltsam oder endlos, so wie der Knoten, der die Schlinge fest im Griff hat, sondern mit sanfter, menschlicher Zärtlichkeit. Und das weckt in ihr das entsetzliche Bedürfnis, ihr Verbrechen zu beichten, dessen Ungeheuerlichkeit von Zeit zu Zeit ihr Herz so sehr bedrängt, als hätte sie einen Stein verschluckt. Sie wendet ihr Gesicht dem des Fremden zu, das ernst und freundlich wirkt, und sagt: »Wissen Sie, dass ich eine Mörderin bin?« Und er erwidert: »Ja, das weiß ich, aber ich glaube, ich werde mich dafür entscheiden, dieses Wissen beiseitezuschieben, denn Sie hatten einen guten Grund.«

Einen guten Grund.

Aber das ist nur ein Traum, eine Fantasie, eine Geschichte …

Es war im Jahr 1850, sie war erst wenige Stunden alt, da wurde sie von ihrer Mutter im Stich gelassen und vor dem Tor eines Parks in der Nähe von Bethnal Green im Londoner East End ausgesetzt. Das Tor war aus Eisen. Lily war in Sackleinen eingewickelt. Bevor sie gefunden wurde, waren Wölfe, die im Sumpfland von Essex lebten, vom vielschichtigen Gestank der Stadt angelockt, durch die Novembernacht gestreift; sie drangen in den Park ein und hörten das Wimmern eines Babys, das sie für das Jaulen eines Wolfsjungen hielten; sie schoben ihre Schnauzen durch die Lücken im eisernen Tor, und eine Wölfin packte das Sackleinenpäckchen mit den Zähnen und wollte es zu sich heranziehen. Vielleicht versuchte sie, sanft mit dem Baby umzugehen, doch ihre scharfen Zähne gruben sich in einen Fuß des kleinen Kinds, Blut floss in den Stoff, und als das Rudel Blut witterte, brach es in einen sehnsüchtigen Schrei aus.

Das Geheul der Wölfe brachte einen Wachtmeister der Nachtschicht ans Tor. Er hielt seine Laterne hoch und sah das in Sackleinen gewickelte Kind, dessen Fuß blutete und das in die Nacht hinausschrie. Er nahm es hoch. Er war noch sehr jung und hatte keine eigenen Kinder, und doch barg er das Baby, um es zu wärmen, an seiner Brust, wie Eltern es mit ihrem Kind tun würden, und seine Uniform wurde fleckig vom Blut des Babys. Er war voller Staunen und gleichzeitig voller Angst.

Er lief durch die Nacht nach Coram's Fields. Ein heftiges Unwetter zog auf, und als der Wachtmeister endlich das Findelhaus erreichte, fieberte er von der Kälte und dem Regen. Die Aufseher ließen ihn eintreten und nahmen ihm das Kind von der zitternden Brust, an die es sich geklammert hatte. Sie fragten, ob es sein Baby sei, das verneinte er und sagte, er habe es am Tor des Victoriaparks gefunden und vor den Wölfen gerettet. Man wies ihn darauf hin, dass es solche Geschöpfe in London nicht mehr gebe, sie seien eine Fieberfantasie. Doch er erklärte, er habe sie ganz gewiss im Licht seiner Polizeilaterne gesehen, ihre Augen hätten im Dämmerlicht wie Silber geglänzt, und er zeigte ihnen das Blut am Sackleinen, wo der Fuß gebissen worden war.

Der Tag brach an, im Findelhaus wurden die Feuerstellen entzündet, und der Polizist setzte sich, fest in eine Decke gepackt, in seinem Unterzeug ans Feuer und trank heißen Tee; das Baby wurde auf einen Tisch gelegt, aus seinem Sack gewickelt und in Leinenlumpen gehüllt. Eine Schwester wurde gerufen, sie wusch und verband die Wunde am Fuß des kleinen Mädchens und wickelte es in eine Decke aus Kaninchenfell, damit es wieder warm wurde. Das Baby war halb tot von all dem, was ihm in seiner ersten Nacht auf der Erde widerfahren war. Es nuckelte am Finger der Schwester, den diese vorher in einen Brei aus Mehl und Wasser getaucht hatte.

Eigentlich war es im Londoner Findelhaus Sitte, dass die Mutter, als Zeichen ihrer Reue, dem ausgesetzten Baby etwas mitgab, wenn sie es dort ablegte. Es konnte ein Knopf sein oder eine angestoßene Münze oder ein Stofffetzen – irgendein kleiner, nutzloser Gegenstand, der der Frau etwas bedeutete, die im Begriff war, sich von einem lebendigen Wesen zu trennen, das sie hätte nähren und lieben sollen. Manchmal lag auch ein Zettel bei, eine Nachricht, in der es hieß, die Mutter werde eines Tages wiederkommen, ihr Kind holen und versuchen, es gut zu behandeln. Und manchmal hatten die Frauen auch einen Namen für das Kind aufgeschrieben, sie wussten wohl nicht, dass Babys, denen ihre Mütter einen Namen mitgegeben hatten, dieser sofort wieder genommen und durch einen anderen ersetzt wurde. Denn der Vorstand des Findelhauses vertrat die Ansicht, Mütter, die nicht für ihre Neugeborenen sorgen konnten, seien schändliche Sünderinnen; sie gehörten der Kategorie menschlicher Seelen an, die die Gesellschaft als »Unwürdige« bezeichnete. Deshalb war verfügt worden, dass sie nicht das Recht hatten, ein Kind durch so etwas wie eine Taufe fälschlicherweise an sich zu binden. Die Verantwortlichen des Findelhauses zogen es vor, diese Kinder als deren Wohltäter selbst zu taufen.

Später erklärte man Lily, der Sack sei durchsucht worden, für den Fall, dass ein Andenken oder ein Schildchen zwischen Stoff und Körper versteckt worden war oder auch ein Zettel mit einem Namen darauf. Doch es habe kein Andenken, kein Schildchen und keinen Zettel gegeben. Was sich jedoch ganz unten in dem Säckchen befand, war eine befremdliche Menge weißer, mit dem Blut des Mädchens durchtränkter Haare, und keiner wusste, was die da verloren hatten. Die Aufseher versuchten, irgendeine verschlüsselte Botschaft aus den Haaren zu lesen, aber es gelang ihnen nicht. Doch sie bewahrten den Sack mit den Haaren auf; vielleicht würde er ihnen eines Tages ja etwas verraten.

Nachdem der Vorstand des Hauses das Kind Lily genannt hatte, wurde ihm auch ein Nachname zugewiesen, freundlicherweise gestiftet von einer der wohltätigen Damen, hochwohlgeborenen Personen mit einer mitleidigen Ader in ihren dürren Herzen, die sich gerne vorstellen wollten, ihr Geld helfe Kindern auf einen Weg, der sie nicht ins Verderben führte. Also wurde ihr der Name Mortimer verliehen, nach einer gewissen Lady Elizabeth Mortimer, Tochter eines Herzogs und Besitzerin eines Schlosses an einem schottischen See, die aber mit einem Buckel geboren worden war, weshalb niemand sie hatte heiraten wollen, so dass all ihre aufgestaute Leidenschaft in Wohltätigkeit floss. Lily erhielt ein Miniaturporträt von Lady Elizabeth, das allerdings nur ihr Gesicht zeigte, welches makellos und hübsch war, und nicht ihren armen Rücken, der ihr Leben und ihre Hoffnungen ruiniert hatte.

Am Finger der Schwester nuckelnd, in Kaninchenfell gewickelt und vom Feuer warmgehalten, überlebte Lily den ersten Tag. Später erzählte man ihr, der junge Polizeiwachtmeister sei damals an ihrer Seite in einen Fieberschlaf gefallen, worauf man ihn in ein Bett getragen habe, um zu verhindern, dass er im Coram-Findelhaus einen unvorhergesehenen Tod starb. Er starb nicht, und sie erfuhr, er sei zwei Wochen später noch einmal erschienen, um zu fragen, ob das Findelkind, das er gerettet hatte, überlebt habe. Er gab seinen Namen mit Konstabler Sam Trench an. Er erklärte den Aufsehern, auf seinem Weg von Bethnal Green durch Regen und Wind habe er zu dem Baby, das er an seine Brust gepresst hielt, eine große Zuneigung verspürt, und jetzt würde er Lily gern noch einmal in seinen Armen halten. Aber zu diesem Zeitpunkt war sie schon fortgebracht worden.

»Fortgebracht?«, wiederholte er. »Wegen der Wunde an ihrem Fuß?«

»Nein«, erwiderten die Aufseher, »fortgebracht in eine Pflegefamilie auf dem Land. So halten wir es hier. Wir schicken die Babys für ein paar Jahre fort, in eine ehrbare Familie, die sie aufzieht. Und dann holen wir sie wieder zurück.«

Krähenhorstfarm

Als Lily die Augen öffnete und Bilder von der Welt in ihr Babygehirn einzudringen begannen, war das Erste, was sie erblickte, Distelwolle, die vor dem lichterfüllten Himmel trieb.

Später lernte sie, dass Disteln das Land erstickten und das Gras am Wachsen hinderten; dass zwar ein Kampf gegen sie geführt wurde, sie sich diesem aber fliegend entzogen und ihre Samen den ganzen Sommer lang aufstiegen und mit dem Ostwind davongetragen wurden. Noch weiter oben flogen Schwalben und Mauersegler in solcher Höhe, dass sie manchmal nur noch als Staubkörnchen zu erkennen waren, die durch die wechselnde Nachmittagsbrise in verschiedene Richtungen bewegt wurden.

Das waren also Lilys erste Erinnerungen: ein grenzenloser, hell leuchtender Himmel, luftgeborene Wölkchen aus Distelwolle, Vögel am zitternden Firmament. Und diese Bilder haben sie fast siebzehn Jahre lang begleitet und schenken ihr Trost, als könne sie sich vorstellen, eines Tages Teil jener luftigen Welt zu werden und dieser irdischen zu entkommen, die ihr in ihren ersten sechs Jahren so gewogen war und sie danach in die Dunkelheit führte.

Der Ort, an dem die Distelwolle wuchs, nannte sich Krähenhorstfarm. Die Farm saß so tief verborgen im ländlichen Suffolk, dass sich nur schwer ein Weg aus ihr heraus und nach irgendwo anders finden ließ. Dichter Wald umdrängte sie wie ein anschwellendes Meer, und die Pfade, die einen zu dem langen, zerfurchten Weg im Westen brachten, der wiederum zur Straße nach Swaithey führte, waren empfänglich für alles, was der Natur dazu einfiel, wie sich jeder Zentimeter Erde mit Disteln, Kletten und Dornengestrüpp bedecken ließe.

All dies bedeutete, dass, wer einmal auf der Krähenhorstfarm angekommen war, nicht mehr den Drang verspürte, sie wieder zu verlassen. Sie verstand es, die Grenzenlosigkeit der Welt da draußen vor dem Verstand verborgen zu halten. Man kam nicht auf den Gedanken, dass in gut hundert Kilometern Entfernung eine Stadt wie London liegen könnte, in der kleine Kinder gezwungen waren, Kamine zu fegen, sich das Kreuz über einem Webstuhl zu brechen oder zu viert oder fünft in einem Bett zu schlafen.

Die Schuppen und Scheunen der Krähenhorstfarm waren vollgestopft mit defekten Karren, diversen verrosteten Eisenteilen und allem möglichen Hausrat, der sich mit der Zeit angesammelt hatte, irgendwann weggeworfen worden war und jetzt halb unter dem Gras der Jahre begraben lag. Ratten waren hier zu Hause und kümmerten sich nicht darum, ob sie gesehen und verscheucht wurden, und Perkin Buck, der Besitzer der Farm, ließ sie gewähren, als glaube er, die Ratten hätten die Absicht, alles hinunterzuschlingen, was die Menschen weggeworfen hatten, einen schrecklichen Gegenstand nach dem anderen, bis die Scheunen eines Tages leer und sauber wären. Aber alles, was sie taten, war, zur Vermehrung des Lebens auf der Farm beizutragen, indem sie in den dunklen Winkeln zwischen dem Gerümpel ihre Jungen aufzogen, und dann sah man, wie diese Babyratten, nackt und klein, ihre ersten Streifzüge in dem staubigen Distelwolleuniversum der Krähenhorstfarm unternahmen, und konnte beobachten, wie sie schlidderten, sich überkugelten und stürzten und mühsam versuchten, wieder auf die Beine zu kommen.

In der Nähe der Scheunen gab es einen von uralten Weiden umschlossenen Teich, der im Sommer von Grünalgen erstickt wurde. Im Winter dann wurde das Wasser klar und hell, und die Stockenten, die Perkin Buck züchtete, putzten sich am Rand wie Schauspieler, die sich vor einem schimmernden Spiegel auf ihre Rolle vorbereiten, bis übellaunige Gänse erschienen, die eitlen Enten verdrängten und sich ins Wasser gleiten ließen. Vor Weihnachten fütterte Perkin Buck diese Gänse noch zusätzlich, suchte die größte aus, schlachtete, rupfte, verknotete und salzte sie und bereitete sie so für den Backofen zu. Über der weihnachtlichen Tafel präsidierte Nellie Buck, Perkins Frau und Mutter seiner drei Kinder.

Nellie Buck betrachtete die Welt über den breiten Bug ihres Busens mit einem Blick, so zärtlich, so trostreich, dass alle, die sie kannten, in ihrer Gegenwart jenes schwer benennbare Gefühl innerer Seelenruhe empfanden, das nicht weit entfernt von Glück ist. Und es war dieser Blick, der auf Lily fiel, als sie als Baby mit verletztem Fuß vom Londoner Findelhaus nach Suffolk geschickt wurde, um von Nellie aufgezogen zu werden.

Als Pflegemutter für ausgesetzte Kinder bekam Nellie zehn Shilling im Monat, und im Laufe von elf Jahren hatte sie neben ihren drei eigenen Söhnen vier Findelkinder aufgezogen – alles ebenfalls Jungen. Lily war das fünfte Kind und das erste Mädchen, das Nellie aufgenommen hatte, und hier fand Lily das einzige kleine bisschen echten Glücks, das ihr jemals widerfahren sollte. Ein Kind auf der Krähenhorstfarm zu sein, von Nellie Buck jeden Abend ins Bett gebracht zu werden, an ihren Rockschößen zu hängen, während Nellie ihrer Arbeit im Haus und auf der Farm nachging, war fast der Himmel. Niemand sagte dem Findelmädchen, dass sie im Alter von sechs Jahren wieder zurück nach London, in Thomas Corams allmächtiges Findelhaus geschickt werden würde. Niemand warnte sie, dass sie dort geschlagen werden würde, weil sie Nellie Buck nachtrauern und eines Tages versuchen würde, aus dem Heim zu fliehen und zur Krähenhorstfarm zurückzukehren.

In ihrer stillen Art besaß Nellie Buck die Macht, mit ihrem herzlichen Wesen die Menschen in ihrer Umgebung dazu zu bewegen, dass sie sich auf ihr besseres Selbst besannen, und solange Lily sich in ihrer Obhut befand, war sie ein gutes, gehorsames Kind. Wenn jemand Nellie erzählt hätte, ihr kleines Pflegemädchen würde eines Tages einen Mord begehen, hätte sie empört den Kopf geschüttelt, genauso wie sie, wenn sie mit Winterfutter zu den Ochsen hinausging und diese ihr zu nahe kamen, mit den Händen eine Geste machte, als würde sie ihren Busen abstauben, und ihnen erklärte, sie sollten weichen. »Verschwinden Sie!«, hätte sie gesagt. »Denn ich kenne meine Lily, sie kann keiner Seele etwas zuleide tun. Wenn meine Buben sie ärgern, setzt sie sich hin und lacht. Sie streichelt meine Ohrläppchen, wenn ich ihr abends etwas vorsinge. Sie nimmt ein Rattenbaby in ihre Hand.«

Nellies drei Jungen waren nach ihren drei Onkeln auf Perkin Bucks Seite der Familie benannt worden: Jesse, James und Joseph. Diese drei J-Onkel waren allesamt fortgezogen, weit, weit weg, nach Indien und nach Afrika, um ihr Glück zu suchen, und alle hatten sie ihr Leben verloren, durch Krankheit, Gewalt oder weil sie auf einer hölzernen Brücke mit einer Lokomotive in eine Schlucht gestürzt waren. Und so war Perkin Buck (der John Perkin Buck getauft worden war, aber den J-Teil seines Namens hatte wegfallen lassen) übrig geblieben und erbte die Krähenhorstfarm und versuchte, die Erinnerung an seine toten Brüder in den Kindern, die er mit Nellie zeugte, lebendig zu halten.

Die zehn Shilling im Monat für die Pflege der Findelkinder waren ein zusätzlicher Beitrag zu dem, was Perkin Buck durch die Zucht von Ochsen und Federvieh sowie das Anpflanzen von Weizen für die Mühle in Swaithey verdiente; dass diese kleinen Fremden sein Haus bewohnten, empfand er als Bollwerk gegen den Tod seiner eigenen Kinder. Denn es war das Schicksal so vieler Kinder, zu sterben. Das Fieber konnte sie so schnell holen, wie eine Primelknospe braucht, um sich zur vollen Blüte zu entfalten. Plötzliche Winterkälte konnte ihre jungen Knochen in Staub verwandeln, noch ehe die kurze Woche mit Schneefall vorüber war. Oder sie gingen schlicht zugrunde, weil sie nicht begriffen, dass sie lebendig waren, denn lebendig sein verlangte etwas Kolossales von Körper und Seele: ein strebendes Wollen, das sie weder begreifen noch in Angriff nehmen konnten. Ein Junge unter Nellies Obhut war gestorben, und als Lily fragte, wieso, sagte Nelli zu ihr: »Er ist in eine andere Welt eingetreten, Liebes, weil er nicht länger hier verweilen mochte. Sein Name war Tom, und ich habe ständig zu ihm gesagt: ›Halt durch, Tom. Leb erst einen Tag und dann noch einen und dann noch einen.‹ Ich gab ihm alles, was ich geben konnte, aber er hatte diese listige Art, mich anzuschauen, als wollte er sagen: Närrische Frau, wie kannst du noch hoffen. Als wollte er sagen: Siehst du denn nicht, dass ich es nicht erwarten kann zu gehen?«

Die Buck-Kinder hatten dieses »Nicht-erwarten-Können zu gehen« nicht vergessen und suchten in dem neuen Findelkind danach, fanden es aber nicht. Lily war ihr zufriedenes Spielzeug. Als sie zwei Jahre alt war und im Hof herumrannte und die Hühner jagte, war Joseph fünf, James sechs und Jesse acht. Das höchste Vergnügen von James, der sich die Welt aneignete, indem er alles, was er sah, zählte (»acht Pusteblumen, zwei Fasane, sieben Schwalben am Himmel«), war es, im Gras zu sitzen und Lilys Zehen zu zählen. Denn sie hatte nur neun. Die Wölfin am Tor des Victoriaparks hatte den kleinen Zeh von Lilys linkem Fuß abgebissen, und dieses winzige Stück Fleisch mit zartem Knochen war in den Sack gefallen und ganz und gar von den unerklärlichen Strähnen menschlichen Haars eingewickelt worden.

Manchmal glaubt Lily jetzt, falls sie einmal barfuß gehängt wird, werde die Welt auf diesen deformierten Fuß glotzen, der da in der Luft baumelt, und ihn für einen Hinweis des Teufels halten, der sie von Geburt an als todbringend gekennzeichnet hat. Aber für James Buck waren ihre neun Zehen nur Teil seiner täglichen Rechenaufgaben, und Joseph und Jesse formten manchmal einen zehnten Zeh aus Lehm und versuchten, ihn an ihren Fuß zu kleben, aber sie nahm ihn ab und zerquetschte ihn mit der Hand oder warf ihn für Shadow in die Wiese, damit sie ihm nachjagen konnte.

Shadow war eine dünne, nervöse Colliehündin mit Augen, die im hellen Licht gelb wirkten. Manchmal musste sie Vieh zusammentreiben, das sich in den Weizen verirrt hatte oder auf seine schwerfällige Art in die alten, struppigen Hecken vorgedrungen war, um von den Hagebutten zu naschen, die Nellie so gern für Sirup pflückte. Aber die meiste Zeit arbeitete die Hündin nicht ernsthaft, sondern rannte nur in flinken Kreisen in der Gegend umher, und ihre gelben Augen funkelten wild vor lauter Freude an der ziellosen Geschwindigkeit.

Das Wesen, das Lily und die Buben nach Nellie am meisten liebten, war Shadow. Sie riefen ständig nach ihr. Sie legten die Arme um ihren mageren, seidigen Hals und sammelten ihr die Kletten aus den Ohren. Sie machten aus Stoff und Mehlbrei einen Ball für sie und warfen ihn auf den Weg oder in die Wiesen und sahen zu, wie sie schneller als ein Vogel hinterherflog, den schwarzweißen Schwanz im Wind waagerecht hinter sich. Nachts schlich sich häufig einer von ihnen hinunter in die Küche, wo Shadow vor dem Herd auf den harten Suffolkfliesen schlief, um sie hochzuheben und die Treppe hinaufzutragen und auf eins der kleinen Bettchen zu legen, damit, wer am kalten Morgen die Hand ausstreckte, in Reichweite ihren warmen Kopf fühlen konnte. Und das tut Lily in ihren Träumen manchmal immer noch: Sie streckt ihre trostsuchende Hand nach der schlafenden Shadow aus. Sie hört sie sogar atmen. Und dann wacht sie auf und denkt: Shadow ist tot; sie ist nicht mehr da. Weder sie noch ich werden jemals zur Krähenhorstfarm zurückkehren.

Einmal in der Woche, am Samstag, dem Markttag, fuhren Lily und die Buck-Familie allesamt in einem hölzernen Fuhrwerk ins Dorf Swaithey. Jesse saß vorne bei Perkin Buck, der Peggy, den störrischen alten Kaltblüter, den schmalen Weg entlanglenkte, und Lily und die anderen Jungen saßen mit Nellie hinten und sahen den Wald vorbeiziehen. Lily saß gern auf Nellies Schoß, aber Joseph ebenfalls, also versuchte die arme Nellie, beide Kinder sicher auf ihren breiten Knien zu halten, während die Wagenräder über den ausgefahrenen Weg rumpelten und immer wieder aus den Spurrillen sprangen. Und manchmal kniff Joseph Lily ins Bein, und sie rutschte von Nellies Knie und landete im staubigen Dreck des Wagenbodens, und alle lachten dann.

Im Winter war es auf diesen Fahrten sehr kalt, und es konnte geschehen, dass der Wind eine schwere Schneedecke von den Bäumen schüttelte, die auf der Familie im Wagen und auf dem Pferd landete. Die Kinder kosteten den pfeffrigen Geschmack des Schnees, das Pferd blieb jäh stehen, und alles schien genau hier zu enden, auf halbem Weg zwischen der Krähenhorstfarm und dem Dorf. Das war dann der Moment, in dem Nellie ein Lied anstimmte, damit die Kinder sich nicht ängstigten oder vielleicht auch damit der Klang ihrer Stimme Peggy dazu bewegte, wieder weiterzulaufen. Lily schmiegte sich dann in Nellies Armbeuge und spürte, wie der breite Bug ihres Busens sich hob und senkte, während sie sang.

Perkin schlug jedes Mal mit den Zügeln und brüllte das Pferd an. Manchmal schüttelte es sich den Schnee vom Nacken und setzte sich wieder in Bewegung, aber meistens musste Jesse absteigen, ins Zaumzeug greifen, Peggys Nüstern streicheln und dann hineinpusten, um sie anzutreiben. Peggy war ein Pferd, das menschliche Zuneigung schätzte. Wenn sie in der Nähe des Hauses graste, kam sie hin und wieder ans Küchenfenster, steckte ihren riesigen Kopf hinein und bleckte ihre fleckigen alten Zähne zu so etwas Ähnlichem wie einem Lächeln. Lily weiß noch, dass ihr Atem nach Karotten, die auf dem Herd kochten, roch.

Wenn das Fuhrwerk in Swaithey angekommen war, begab Perkin sich gewöhnlich zum Schlachthaus, um über die Bezahlung für seine Ochsen zu diskutieren, oder er lieferte Fasane an den Metzger oder brachte das Pferd zum Schmied und trank einen Krug Bier mit ihm in dessen Scheune, in der Tag und Nacht, sommers wie winters, ein gewaltiges Kohlenfeuer brannte.

Lily und die Jungen schlenderten derweil mit Nellie an den Marktständen vorbei; der kleine Platz war voller Menschen, die Nellie Buck kannten und liebten und ihr gern alles erzählen wollten, was zwischen zwei Markttagen geschehen war – das war allerdings nicht viel, weil Swaithey ein Ort war, wo das Leben langsamer voranschritt als die Zeit und die Leute manchmal vergaßen, wie viele Tage zwischen Mittwoch und Montag vergangen waren. Also erzählten sie ihr von kleinen Dingen: von den Erkältungen und Kopfschmerzen, an denen sie litten, von dem Rüschenbügeleisen, das zu heiß geworden war und eine Sonntagsbluse verbrannt hatte, von den hässlichen Bemerkungen des Kohlenmanns auf seinen wenig ertragreichen Runden, von der Ruppigkeit des Bücklingshändlers und einer missglückten Nierenpastete oder von den Krähen, die ihre Nester so hoch in den Buchen bauten …

Wenn sie zu Lily hinunterschauten, die an Nellies Rockschößen hing, lächelten sie meist. »Wie nett für dich, Nellie, dass du ein Mädchen hast«, sagten sie, und Nellie legte dann ihre breite, warme Hand unter Lilys Kinn und sagte: »Sie ist eine liebe kleine Seele. Überhaupt kein Ärger mit ihr.« Dann schlenderten alle weiter, blieben hier und da an einem Marktstand stehen und kauften Strickgarn oder Schnur, ein Pfund Käse oder eine Handvoll Strandschnecken und hin und wieder auch ein Paar gebrauchte Stiefel. Damit die Kinder nicht wegliefen und den Stand anstarrten, an dem es Pfannkuchen gab, die Nellie sich nicht leisten konnte, kaufte sie ihnen immer ein Tütchen Brausepulver; sie setzten sich dann auf die Stufen vom Marktkreuz und reichten das Tütchen von einem zum anderen und fanden, dass das Pulver ein bisschen wie der Schnee schmeckte, der von den beladenen Bäumen auf den Wagen gefallen war.

Von früh an mussten alle Kinder auf der Farm arbeiten. Einige Pflichten gefielen ihnen, andere mussten sie schlicht erdulden, und Perkin Buck erinnerte sie daran, dass Farmarbeit nichts anderes als Erdulden bedeutete. Die Aufgabe, die ihnen am meisten abverlangte, war das Steinesammeln.

Nachdem die Felder gepflügt worden waren, wartete Perkin Buck auf ein paar trockene Tage, die die Schwere aus dem Boden nehmen würden, und wenn die Erde dann absackte, traten die Steine, die den Boden von Suffolk erstickten, nach oben, ganz als wären sie lebendige, größer werdende Wesen, und die Kinder lasen sie auf, als würden sie ernten. Gewöhnlich arbeiteten sie in einer Reihe und hatten Säcke umgebunden, in die sie die Steine legten. Perkin Buck ging immer voran. Die tiefstehende Wintersonne schien auf die kleine Gruppe, die zwischen den Furchen vorwärts kroch. Die Säcke wurden schwerer und drückten auf die Sehnen in ihren Schultern. Ihre Hände waren bald wundgeschürft und rissig, doch es blieb ihnen nichts anderes übrig, als immer mürrischer und durstiger über die Furchen zu stolpern und sich zu ihrer endlosen Arbeit zu bücken.

Am Rand jedes Felds standen große Behälter, in die sie die Steine kippten, wenn ihre Säcke voll waren, und Lily kann sich noch erinnern, dass sie, als sie mit dem Steinesammeln begann, anfangs zu klein war, um den oberen Rand der Behälter zu erreichen, weshalb Jesse sie sanft hochhob und auf seine Schultern setzte, so dass sie ihren Sack leeren konnte. Er sagte dann: »Gut gemacht, Lily, jetzt bist du ein Farmer.« Und obwohl ihre Kehle ausgedörrt war und ihr der Rücken wehtat, freute sie sich, ein Farmer zu sein, denn sie wusste, dass sie für immer auf der Krähenhorstfarm bleiben wollte, und hatte keine Ahnung, dass sie sie schon so bald würde verlassen müssen.

Wenn alle Steine aufgelesen waren, erschienen Händler für Baumaterial mit ihren Wagen und fuhren die Steine fort; die guten Suffolk-Flintsteine wurden für Mauern und Kirchenreparaturen gebraucht, der Rest für Mörtel zu Staub zermahlen. Perkin Buck verdiente an den Steinen, und er belohnte die Kinder für all ihre Arbeit auf die einzige Weise, die ihm einleuchtete: Jeweils am letzten langen Nachmittag des Steinesammelns legten sich die Kinder, ganz gleich, wie kalt es war, in den spärlichen Schatten einer Eiche, die gerade ihre Blätter verlor, und Nellie brachte einen Krug mit Apfelmost, den sie immer wieder kreisen ließen und aus dem tranken; nach einer Weile sahen sie die Hecken am Himmel tanzen, und schließlich schliefen sie tief und fest, die Schnuten im Gras. Lily hat diesen herrlichen, verrückten Schlaf mit seinen wilden Träumen nicht vergessen, auch nicht, wie Nellie sie dann später immer aufhob und in ihr Bett trug und wie diese Novembernächte von einem solch tiefen Schwarz waren, als hätte der Tod sie besucht, und wenn dann der Morgen kam, war er eine süße Überraschung.

Östlich des Farmhauses, unmittelbar vor einem Dickicht, in dem der Wind seufzte, gab es einen steinernen Brunnen. Er war vor hundert Jahren dreißig Meter tief in die Erde gegraben worden, und eine Legende überlieferte die Geschichte von einem Jungen, ungefähr so alt wie Jesse, der am Tag, als der Brunnen fertig war, hineinfiel. Es hieß, er habe dort unten im Wasser gelebt, wie ein Fisch geatmet und sich von Schlamm ernährt. Jesse, James, Joseph und Lily unternahmen es manchmal, sich abwechselnd auf einen Melkschemel zu stellen und über den Brunnenrand in die Dunkelheit zu spähen, um zu schauen, ob sie den Jungen hören konnten oder sehen, wie seine weißen Glieder das Wasser aufwühlten. Einmal glaubten sie, sie hätten das flüsternde Geräusch seiner Unterwasserstimme gehört, und sie ließen den Eimer zu ihm hinab und riefen ihm zu, er solle die Kette packen und heraufklettern. Aber sie kannten seinen Namen nicht, und Jesse sagte, das sei der Grund, weshalb sie nicht sehen konnten, wie sein Kopf und seine Arme plötzlich aus der Dunkelheit auftauchten: Der Junge habe einfach nicht begriffen, dass er gerufen wurde. Er sagte, Namen seien kostbar, und wenn die Leute nicht die Namen von jemandem wüssten, sei der nur wie ein Schatten in den Bäumen oder wie Distelwolle, die über die Felder fliegt – nicht greifbar.

Wenn Lily sich an den Brunnen der Krähenhorstfarm erinnert, ist es nicht immer der ertrunkene Junge, an den sie denkt; es ist auch die Süße des Wassers. Nachdem sie aus Suffolk wieder ins Findelhaus gebracht worden war, um für das Arbeitsleben vorbereitet zu werden, war sie lange Zeit krank. Sie konnte keine Nahrung bei sich behalten und wurde sehr dünn und schwach. Die Ärzte, die sich nicht erklären konnten, warum das so war, bestraften sie dafür, dass sie »bockig« war und sich selbst krank machte. Sie verordneten ihr eine Milchkur, und in kürzester Zeit war sie wieder gesund, aber sie entwickelte einen großen Durst, und am meisten verlangte es sie nach einem Krug mit dem kalten, süßen Wasser aus dem Brunnen der Krähenhorstfarm. Sie beschrieb den Brunnen dem Waisenmädchen, mit dem sie ein Bett teilen musste, und Bridget sagte: »Was wir in London trinken, ist halb Wasser und halb Jauche, denn alles kommt vom Fluss, und der Fluss ist voller Gift.«

Die Kinder aus Farmerfamilien erhielten in Suffolk sehr wenig Schulunterricht. Sie lernten das, was die Regierung »Grundlagen« nannte, denn man ging davon aus, dass sie in ihrem Leben, welches sich innerhalb der Grenzen weniger unwirtlicher Hektar Ackerland abspielen würde, auf keinen Fall mehr als die brauchen würden.

Es gab ein einzeln stehendes kleines, rechteckiges Backsteingebäude zwischen der Krähenhorstfarm und dem Dorf Swaithey, das sich Schule nannte, aber Lily immer an einen Teekessel erinnerte. Zwei Personen erteilten dort an bestimmten Vormittagen und Nachmittagen Unterricht in Religion, Buchstabieren und Rechnen; diese Unterrichtstage schienen sich aber ständig zu ändern, so dass Lily und die Jungen manchmal über den Pfad und die Straße entlang zur Schule trotteten, nur um festzustellen, dass sie am falschen Tag gekommen waren.

Eine der Lehrerinnen wohnte auf dem Dachboden der Schule, den Lily als den Deckel des Teekessels betrachtete. Sie hieß Miss Oldroyd; sie trug stets eine in Stoff gebundene Bibel unter ihrem mageren Arm und ging sehr langsam und vorsichtig, als könnte der leichte Wind, der durch die Ritzen der kleinen Fenster drang, schon reichen, sie umzublasen oder gleich ganz fortzuwehen, denn sie war ältlich, und ihr Halt in der Welt hatte etwas Zögerliches und Provisorisches. Sie erteilte den Religionsunterricht und glaubte so leidenschaftlich an die Auferstehung der Seelen, dass Joseph nach Hause kam und Lily erklärte, dass sogar Onkel Jesse, der mit dem Zug in die indische Schlucht gestürzt war, eines Tages wieder aus dem verdorrten Flussbett steigen und zur Krähenhorstfarm spazieren werde. Lily stellte sich häufig diesen Mann vor, oder sie hatte seltsame Träume, in denen er den Staub des Todes von seinen Kleidern schüttelte, seinen Schnurrbart glättete und mit einem Staunen im Herzen und einem Hoffnungsschimmer in den Augen durch das steinige Tal stapfte.

Miss Oldroyds Assistent war der Sohn des Pfarrers, ein verängstigter Zwanzigjähriger, den alle Dünner Martin nannten und der sich eigentlich in Cambridge eine intellektuelle Zukunft hätte schmieden sollen, sich stattdessen jedoch in Swaithey wiederfand, wo er Farmerskindern das Einmaleins sowie das Lesen und Buchstabieren einfacher Wörter beibrachte. Mädchen brauchten damals im Rechenunterricht nicht besonders aufzupassen. Denn man glaubte, die Gehirne von Mädchen bestünden aus Spreu und all die Zahlen würden sich erst kurz in der Spreu verheddern und dann wieder herausfallen. Wenn die Mädchen wollten, konnten sie sich also auf eine Bank setzen und nähen oder stricken, während die Zahlen, die die Jungen im selben Raum aufsagten, in ihren Köpfen zu einer seltsamen Musik wurden, die gelegentlich sogar haften blieb, so dass ihr Verstand, auch wenn sie selbst nie ein Wort sagten, die Tatsache in sich aufnahm, dass drei mal neun siebenundzwanzig ergibt und sechs plus vier nie etwas anderes als zehn. Und auch wenn Lily nur zwei Jahre in der Schule von Swaithey verbrachte, hatte sich dort in einer Art Osmose ihre Kenntnis der Zahlen geformt, was ihr später in dem Leben half, das sie führte, bevor sie zur Mörderin wurde.

Nellie wusste von Anfang an – seit dem Moment, als Lily mit ihren neun Zehen zur Krähenhorstfarm kam –, dass sie ihre wenigen ersten Jahre hier verbringen würde; doch dann würde der Tag kommen, an dem sie nach London reisen und das Kind wieder im Findelhaus abgeben müsste, damit es irgendein einfaches Handwerk lernte, etwas wie Spinnen oder Weben, den Handel mit Kurzwaren oder das Herstellen von Hanfseilen. Sie wusste auch, dass Lily an diesem Tag würde Lebewohl sagen müssen, zu den Jungen, zu Perkin, zu Shadow, zu den putzsüchtigen Enten, zu Peggy mit ihrem Karottenatem, zu den vom Wind zerstreuten Samen der Ackerdisteln. Lebewohl zu Miss Oldroyd in ihrem Teekessel. Lebewohl zum Geschmack von Brausepulver und dem von frischem Schnee.

Lily hat immer geglaubt – und sie tut es noch –, dass sie Nellie Buck ans Herz gewachsen war und dass es ihr schwerfiel, durch das große Tor des Findelhauses zu treten, durch seine kalten Hallen zu laufen und ihr jüngstes Pflegekind seinem traurigen Schicksal unter Fremden zu überlassen. Aber Nellie musste dem Gesetz gehorchen, und das Gesetz schrieb vor, dass Kinder nicht über das Alter von sechs Jahren hinaus bei ihren zeitweiligen Eltern blieben, sich nicht weiter »müßig auf brachliegenden Feldern ergehen« durften; sie hatten ihre Schulden dem Heim, das sie als Babys aufgenommen hatte, zurückzuzahlen, indem sie in einer Tätigkeit ausgebildet wurden, die der Gesellschaft von Nutzen war.

Aus ebendiesem Grund, weil sie hoffte, Lilys kleine Hände könnten irgendeine brauchbare Fertigkeit erlernen, gab Nellie sich solche Mühe, ihr den Umgang mit Nadel und Faden beizubringen. Sie holte also ihren großen Handarbeitskorb mit seinen Seidengarn-Strängen, seiner Sammlung von Fingerhüten, seinen Kärtchen mit Spitze und dem kleinen Heftchen aus Stoff mit allen möglichen Nadeln und Stecknadeln. Auf Baumwoll- und Leinenresten lernte Lily zuerst den Kreuzstich und wie man Muster und kurze Wörter aus diesen winzigen, fusseligen Kreuzchen macht; dabei versuchte sie, das Muster nachzuahmen, das Nellie als Vorbild in einem hölzernen Rahmen in ihrem Schlafzimmer aufgehängt hatte: Mary Wickham. Her Work. In the year 1846. Immer wieder erklärte sie Lily, wenn sie nur fleißig ihren Kreuzstich übe, könne sie so talentiert werden wie Mary Wickham. Lily wusste nicht, wer Mary Wickham war oder wohin es sie verschlagen hatte, aber aus irgendeinem Grund tat sie ihr sehr leid, als sei sie gestorben, ohne zu wissen, wie viel ihr Musterbild Nellie Buck bedeutete.

Nellies Hände waren groß und rau von der Arbeit im Haus und auf der Farm, und ihre Nägel waren uneben und rissig, doch sobald ihre Finger nach einer Nadel griffen, begannen sie mit einer zierlichen kleinen Aufführung – als würden sie eine kurze Melodie dirigieren. Ihre Stiche waren so klug und akkurat gesetzt, die Fadenspannung stets so gleichmäßig und exakt, dass Lily staunte, zu was Nellies raue Hände fähig waren. Sie untersuchte ihre eigenen Finger, narbig und abgeschürft vom Steinesammeln, und fragte sich, ob sie jemals zu solch exquisiter Handarbeit in der Lage sein würde.

Als Nächstes nach dem Kreuzstich lernte sie den Langettenstich. Die senkrechten Fäden waren für sie Soldaten, die perfekt nebeneinander in einer Reihe standen, und die straffen Schlaufen am Stoffrand waren die ausgestreckten Arme, über die sie sich miteinander verbanden und einander bis ans Ende der Reihe Mut zusprachen. Sie benutzte gern scharlachrotes Seidengarn, damit die Soldaten in den roten Uniformen, die die britischen Grenadiere, wie James ihr erzählt hatte, stets trugen, auch schmuck aussahen.

Eines Tages trug Nellie Lily auf, sich an ein kleines Stickmuster zu wagen. Sie hatte die Vorlage dazu auf ein rechteckiges Stück Leinen gezeichnet. Zu dem Zeitpunkt kannte Lily schon die Buchstaben, und was Nellie auf den Leinenflicken gezeichnet hatte, war der Buchstabe E, verziert mit einfachen Blumen. Als Lily fragte, wofür das E stehe, erwiderte sie: »Für deine Wohltäterin, Lady Elizabeth Mortimer, die dir deinen Namen gab, als du noch in der Obhut des Londoner Findelhauses warst. Sie wird uns mit ihrem Besuch beehren, und du wirst ihr das Muster als Zeichen deiner Dankbarkeit schenken.«

Lily arbeitete an dem Buchstaben E bei Tages- und bei Kerzenlicht. Das Seidengarn, das Nellie ihr gab, war grün, und sie benutzte dazu den Reisstich, der am schwierigsten gleichmäßig und sauber zu sticken war. Sie erklärte Nellie, sie werde die Blumen in lauter unterschiedlichen Farben sticken, aber Nellie sagte: »Nein, Lily. Lady Elizabeth ist eine Dame mit gutem Geschmack. Zu viele Farben würden sie womöglich verärgern.« Doch als Lily so weit war, konnte sie sich die Blumen nur in Purpur, Gelb, Rot und Orange vorstellen, und sie dachte, dass Nellie sich vielleicht irre und dass diese bunte Zusammenstellung Lady Elizabeth erfreuen werde. Sie hatte nämlich gehört, dass Lady Elizabeth eine traurige Frau mit einem Buckel sei und sich krumm wie ein Fragezeichen durch die Welt bewegen müsse.

Lady Elizabeth erschien in einer prächtigen Kutsche, die auf dem zerfurchten Feldweg holperte und schwankte. Shadow rannte nach draußen und bellte die Pferde an, ihre gelben Augen funkelten vor Zorn. Doch die Kutsche kam trotzdem näher und hielt in einiger Entfernung vom Haus. Lily klammerte sich an Nellies Rock und hielt ihr Stickmuster bereit, um es Lady Elizabeth zu überreichen. Die Familie wartete schweigend. Perkin Buck stand da wie ein reuiger Sünder, seine Farmerkappe in den verdreckten Händen. Die Jungen trugen ihre beste Sonntagskleidung und hatten sich wie Grenadiere erwartungsvoll aufgestellt, doch als Lady Elizabeth schließlich aus dem Wagen stieg, konnte Lily sehen, dass sie ein Lachen unterdrücken mussten, als sie sahen, wie winzig sie war. Es schien, als habe die große Last auf ihrem Rücken ihre Beine daran gehindert zu wachsen, so dass sie fast wie ein Kind aussah, nur dass ihr Haar gelockt und frisiert und ihr Umhang mit Pelz besetzt war.

Eine Zofe war mitgereist, und jetzt kamen die beiden Frauen über das Gras auf die Buck-Familie zu, und wie um Lady Elizabeth aufrecht zu halten, hatte die Zofe die Hand unter ihren Ellbogen gelegt.

Nellie hatte Lily angewiesen, vor ihrer Wohltäterin zu knicksen, aber der Anblick dieser Person war so eigenartig, dass sie Nellies Rock nicht loslassen mochte. Sie spürte, dass Nellies Hand auf ihrer Schulter sie zu einem kleinen Knicks zu bewegen versuchte, aber Lily klammerte sich nur umso entschiedener an ihr fest, denn sie fürchtete mit einem Mal, Lady Elizabeth sei gekommen, um sie von der Krähenhorstfarm wegzuholen. Und so schrie sie: »Ich möchte nicht in diese Kutsche! Das will ich nicht!«

Als sie das hörte, lächelte Lady Elizabeth, und Lily betrachtete forschend ihr Gesicht, das ganz und gar von dunklen Locken umrahmt war. Sie sah, dass es ein sehr schönes Gesicht war, und dachte: Sie ist wie eine Gestalt aus einer dieser Fabeln, die Miss Oldroyd uns manchmal in der Schule vorliest, ein aus Prinzessinnen- und Monsterteilen zusammengesetztes Wesen. Vielleicht ist sie ja eine Zauberin und kann mich in eine Libelle oder eine Schleiereule verwandeln …

Lady Elizabeth streckte Nellie ihre behandschuhte Hand entgegen und sagte, das Findelhaus sei dankbar für alles, was Nellie getan habe. Dann schaute sie hinunter zu Lily und sagte: »Lily Mortimer. Und jetzt sag mir, wie geht es deinen neun Zehen?«

Sie wusste alles über das Kind, dem sie zu helfen versuchte. Als sie miteinander in die Küche gingen, wo Nellie einen opulenten Tee mit Rosinenbrötchen und Stachelbeergelee vorbereitet hatte, begann Lady Elizabeth über den Polizeiwachtmeister zu sprechen, der Lily im Victoriapark vor den Wölfen gerettet hatte. Sie sagte, er sei ein guter Mann und stehe mit dem Findelhaus weiterhin in Verbindung, einfach, um zu hören, ob sie noch lebe. Doch Lily blieb stumm. Sie starrte immerzu Lady Elizabeth an. Die Sonne fiel auf deren Locken und ließ sie wie Sirup glänzen. Die Stickprobe hielt Lily immer noch in der Hand, und sie merkte, dass der Stoff ganz zerknautscht war, darum rutschte sie von ihrem Stuhl, kletterte auf Nellies Knie und gab Nellie die Probe, in der Hoffnung, sie könne sie irgendwo verschwinden lassen. Doch stattdessen legte Nellie sie auf den Tisch, strich sie glatt und sagte: »Lady Elizabeth, wir vergaßen, Ihnen zu sagen, dass Lily dies hier als Geschenk für Sie gemacht hat, mit Ihrem Initial, sehr sorgfältig in Reisstich ausgeführt, und sie hofft, dass es Ihnen gefällt.«

Lily barg ihr Gesicht an Nellies Busen. Sie hörte Lady Elizabeth ausrufen: »Oh, wie wunderhübsch! Und ich sehe sofort, wie viele Arbeitsstunden in die Herstellung gegangen sind. Und jede Bekundung von Ausdauer macht mich froh, da sie mir zeigt, dass solch ein Kind seinen Platz in der Welt finden wird und sich diesem Platz verpflichtet fühlen und ein ehrbares Leben führen wird.«

»Siehst du«, sagte Nellie, »Lady Elizabeth freut sich über deine Handarbeit. Du musst dich für ihre freundlichen Worte bedanken.«

Lily drehte sich um und sah sie wieder an. Sie saß ihr gegenüber, und alles, was sie sehen konnte, waren ihr wunderschönes Gesicht, ihr grünes Kleid und ihre weißen Hände, nicht jedoch der Buckel in ihrem Rücken und ihre verunstalteten Beine. Und dennoch brachte sie nicht den Mut auf, zu ihr zu sprechen. Und als Lady Elizabeth schließlich in ihrer schaukelnden, bebenden Kutsche wieder aufbrach, erklärte Nellie, sie sei enttäuscht von Lily. Gewöhnlich sei sie doch nicht so still und scheu, und es sei eine Schande, sich ihrer Wohltäterin gegenüber so zu verhalten, wo sie ihr doch in ihrem Leben helfen wolle. Lily fragte Nelly, wie sie ihr denn helfen wolle, weil sie schon wusste, dass es alle möglichen Arten von Hilfe gab, die ein Mensch einem anderen zukommen lassen kann. Da war zum Beispiel Jesse, der ihr beim Steinesammeln half, wenn der volle Sack sie zu Boden zu drücken drohte, oder Perkin Buck, der dem Schmied half, das Feuer kräftig anzufachen, und Shadow, die der Welt half, sich zu drehen, indem sie in Kreisen über die Felder flog; aber sie konnte sich nicht vorstellen, was ihre eigenartige Wohltäterin für irgendwen zu tun in der Lage war.

»Das wissen wir noch nicht«, erwiderte Nellie, »aber sie wird einen Weg finden.«

Und Jesse sagte: »Vielleicht bringt sie dich ja nach Indien, und dann würdest du in einer Eisenbahn sitzen, die nicht abstürzt, und du würdest einen Banyanbaum sehen.«

Am Tag, als Lily die Krähenhorstfarm für immer verließ, fiel ein Oktoberregen. Sie stand in der offenen Tür und sah hinaus auf die Felder, die unter Disteln erstickten, und zu den Weißdornbeeren, stumpfrot und klatschnass vom Regen.

Jesse, Joseph und James brachen zu ihrem Marsch zur Schule auf. Sie verabschiedeten sich nicht von Lily. Sie gingen einfach an ihr vorbei den Pfad hinunter, und als sie ihnen zu folgen versuchte, musste Jesse sich umdrehen und sagen: »Geh zurück, Lily. Kehr um. Du kommst jetzt an einen anderen Ort, denselben Ort, an den auch die anderen Kinder gegangen sind, und du darfst deswegen nicht weinen.«

Sie weiß noch genau, wie die Jungen zu laufen begannen und sie nicht wusste, wieso, außer dass sie vielleicht glaubten, sie könnten dem Regen davonlaufen. Doch inzwischen ist ihr klar, dass ihre Gefühle sie erstickten, Gefühle, die die Jungen nicht als Traurigkeit oder Schuld erkannten und dennoch empfanden. Sie versuchten, ihnen davonzulaufen. Sie drehten sich nicht um, um zu winken, sondern rannten, bis sie nicht mehr zu sehen waren.

Lily dachte, sie sei allein im Haus. Sie stellte sich vor, Perkin Buck säubere gerade die Gräben mit Sense und Schaufel, auf dem Kopf seine wollene Schottenmütze, und Nellie sammele Eier ein. Und dieses Gefühl, wie sie da im Bewusstsein völligen, absoluten Alleinseins in der Tür stand und in den grauen Himmel und zu den Weißdornbeeren und den vor ihr davonrennenden Jungen schaute, war eine Empfindung, die sie niemals vergessen würde. Sie sah auf ihre Stiefel hinunter, die neu waren und ihren Fuß mit den neun Zehen drückten, und sagte zu sich: »Ich bin Lily Mortimer, und ich werde nicht weinen.«

Sie ließ ihren Blick von den eigenen Füßen zu dem Weg wandern, der sie fort von der Krähenhorstfarm führen würde, die Steinplatten glänzten ölig vom Regen, und am Rand entdeckte sie ein Büschel Giersch, das sich hochkämpfte. Perkin Buck hatte die Kinder angewiesen, den Giersch, wo immer sie ihn sahen, mit den Wurzeln auszureißen, weil es ein Unkraut sei, das alles um sich herum vernichte. Manchmal bekamen sie eine Belohnung (einen Penny oder ein Stück Lakritz), wenn sie die langen Wurzelknollen herausgezogen hatten. Also ging Lily jetzt zu der Stelle mit dem Giersch, hockte sich hin und betrachtete ihn; doch anstatt die Pflanze mit den Händen auszureißen, brach sie nur ein paar grüne Stängel ab, fasste sie zu einem kleinen Strauß zusammen und dachte, falls es nichts Grünes in London geben sollte – wie Jesse ihr erzählt hatte –, würde sie die bitteren Gierschblätter bei sich tragen, als Erinnerung an alles, was sie verloren hatte.