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Und damit fing es an ist ein zarter, bewegender Roman, der davon erzählt, dass es manchmal fast ein ganzes Leben dauert, bis man das Glück findet – in dem einen Menschen, den man zum Leben braucht.
Gustav Perle ist ein zurückhaltender Mann. Schon in den 40er-Jahren, als Kind in ärmlichen Verhältnissen, hat er gelernt, nicht zu viel vom Leben zu wollen. Als Anton in seine Klasse kommt, ein Junge aus einer kultivierten jüdischen Familie, hält mit ihm auch das Schöne in Gustavs Leben Einzug. Seine Mutter Emilie sieht das nicht gerne, aber für Gustav ist Anton alles, was er braucht, um glücklich zu sein. Doch das Leben treibt sie auseinander und es wird lange Jahre dauern, bis beide sich wiedersehen – und erkennen, dass das Glück vielleicht schon immer direkt vor ihnen lag.
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Seitenzahl: 392
Veröffentlichungsjahr: 2016
Gustav Perle ist ein zurückhaltender Mann. Er wuchs in den 1940er-Jahren allein bei seiner Mutter Emilie in ärmlichen Verhältnissen im schweizerischen Matzlingen auf – und schon damals hat er gelernt, nicht zu viel vom Leben zu wollen. Als Anton in seine Klasse kommt, ein Junge aus einer kultivierten jüdischen Familie, hält mit ihm auch das Schöne in Gustavs Leben Einzug. Anton spielt Klavier, und seine Familie nimmt Gustav sonntags mit zum Eislaufen. Emilie sieht das nicht gerne, lebt sie doch in der Überzeugung, dass die Bereitschaft ihres verstorbenen Mannes, jüdischen Flüchtlingen zu helfen, letztlich ihr gemeinsames Leben ruiniert hat. Doch Anton ist alles, was Gustav braucht, um glücklich zu sein …
Rose Tremain, 1943 geboren, wuchs in London auf. Sie veröffentlichte Kurzgeschichten und Romane, für die sie u. a. mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet wurde, schrieb aber auch für Film, Funk und Fernsehen. Ihr Roman Zeit der Sinnlichkeit wurde 1995 mit Robert Downey Jr., Hugh Grant und Meg Ryan verfilmt (Restoration). Rose Tremain lebt in London und Norwich. Ihre Romane wurden in rund 30 Sprachen übersetzt. www.rosetremain.co.uk/
Christel Dormagen hat unter anderem Bücher von Anne Tyler, Carol Birch und Daphne du Maurier ins Deutsche übersetzt. Sie lebt in Berlin.
Rose Tremain
Und damit fing es an
Aus dem Englischen von Christel Dormagen
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel The Gustav Sonata bei Chatto & Windus, London, an imprint of Vintage, part of Penguin Random House.
eBook Insel Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.
© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016.
© Rose Tremain 2016
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
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»Wenn man in mich dringt, zu sagen, warum ich ihn liebte, so fühle ich, dass sich dies nicht aussprechen lässt, ich antworte denn: Weil er er war; weil ich ich war.«
Michel de Montaigne,
Mit fünf Jahren wusste Gustav Perle nur eines sicher: Er liebte seine Mutter.
Ihr Name war Emilie, aber alle nannten sie Frau Perle. (In der Schweiz waren die Menschen damals nach dem Krieg recht formell. Man konnte sein Leben verbringen, ohne jemals den Vornamen seines nächsten Nachbarn zu erfahren.) Gustav nannte Emilie Perle »Mutti«. Sie sollte sein Leben lang »Mutti« bleiben, auch dann noch, als das Wort für ihn babyhaft zu klingen begann: seine Mutti, sein Ein und Alles, eine dünne Frau mit einer durchdringenden Stimme und strähnigen Haaren, die sich in der kleinen Wohnung irgendwie zögerlich von Zimmer zu Zimmer bewegte, als fürchte sie, zwischen einem Schritt und dem nächsten auf Dinge – oder sogar Menschen – zu stoßen, die sie nicht erwartet hatte.
Von der Wohnung im zweiten Stock, zu der eine für das Haus zu stattliche Steintreppe führte, konnte man den Fluss Emme und Matzlingen sehen, eine Stadt in der Region zwischen Jura und Alpen, die sich Schweizer Mittelland nennt. An der Wand von Gustavs winzigem Zimmer hing eine Karte von Mittelland, auf der sich der Landstrich grün und hügelig ausnahm und von Viehherden, Wasserrädern und kleinen Kirchen mit Schindeldächern belebt war. Manchmal nahm Emilie Gustavs Hand und führte sie an die Stelle, wo Matzlingen am Nordufer des Flusses eingezeichnet war. Das Symbol für Matzlingen war ein Käserad mit einem herausgeschnittenen Stück. Gustav konnte sich erinnern, dass er Emilie einmal gefragt hatte, wer denn das fehlende Stück Käse gegessen habe. Aber Emilie hatte geantwortet, er solle ihre Zeit nicht mit albernen Fragen vertun.
Auf der Eichenanrichte im Wohnzimmer stand eine Fotografie von Erich Perle, Gustavs Vater, der gestorben war, bevor Gustav alt genug war, um sich an ihn zu erinnern.
Jedes Jahr am ersten August, dem Schweizer Nationalfeiertag, stellte Emilie Enziansträußchen rund um das Foto und ließ Gustav davor knien und für die Seele seines Vaters beten. Gustav wusste nicht, was eine Seele ist. Er sah nur, dass Erich ein gutaussehender Mann mit einem selbstbewussten Lächeln war, der eine Polizeiuniform mit glänzenden Knöpfen trug. Also beschloss Gustav, für die Knöpfe zu beten – dafür, dass sie ihren Glanz behielten und dass das stolze Lächeln seines Vaters mit den Jahren nicht verblasste.
»Er war ein Held«, sagte Emilie jedes Jahr wieder zu ihrem Sohn. »Zuerst habe ich es nicht begriffen, aber das war er. Er war ein guter Mann in einer verkommenen Welt. Falls irgendjemand dir etwas anderes erzählt, dann irrt er sich.«
Manchmal murmelte sie, die Augen geschlossen und die Hände zusammengepresst, auch andere Dinge über Erich, an die sie sich noch erinnerte. Eines Tages sagte sie: »Es war so ungerecht. Ihm ist nie Gerechtigkeit widerfahren. Und das wird es auch nie.«
*
In einem Kittel, das kurze Haar sorgfältig gekämmt, wurde Gustav jeden Morgen in die an die Grundschule angeschlossene örtliche Vorschule gebracht. An der Tür des Schulhauses blieb er immer vollkommen regungslos stehen und sah Emilie hinterher, wenn sie sich wieder entfernte. Er weinte nie. Häufig fühlte er einen Schluchzer aus seinem Herzen aufsteigen, aber er zwang ihn stets wieder hinunter. Denn Emilie hatte ihm beigebracht, wie er sich in der Welt zu verhalten habe: Er hatte sich zu beherrschen. Die Welt sei voller schlechter Menschen, sagte sie, aber Gustav habe seinem Vater nachzueifern, der, als ihm Unrecht geschah, ein ehrenhafter Mann geblieben sei; er habe sich beherrscht. Wenn Gustav das beherzige, sei er auf alles, was da kommen mochte, vorbereitet. Denn selbst in der Schweiz, die vom Krieg verschont geblieben sei, wisse niemand, was die Zukunft bringen werde.
»Du siehst also«, sagte sie, »du musst wie die Schweiz sein. Verstehst du? Du musst dich zusammenreißen und mutig und stark sein und dich heraushalten. Dann wirst du die richtige Art Leben führen.«
Gustav hatte keine Ahnung, was »die richtige Art Leben« war. Alles, was er kannte, war sein eigenes Leben, das Leben mit Emilie in der Wohnung im zweiten Stock mit der Karte von Mittelland an seiner Zimmerwand und Emilies Strümpfen, die an einer Leine über der gusseisernen Badewanne trockneten. Er wünschte sich, sie würden immer dort hängen, diese Strümpfe. Er wünschte sich, Geschmack und Konsistenz der Rösti, die es zum Abendessen gab, würden sich nie ändern. Selbst der Käsegeruch in Emilies Haaren, den er nicht besonders mochte, gehörte, wie er genau wusste, einfach dorthin, weil Emilies Arbeitsstelle in der Matzlinger Käse-Kooperative sie beide am Leben hielt.
Die Spezialität der Matzlinger Kooperative war Emmentaler aus der Milch der Kühe in den Emme-Tälern. »Es gibt viele ausgezeichnete Erfindungen in der Schweiz«, erklärte Emilie Gustav und klang dabei wie eine Reiseführerin, »und der Emmentaler Käse ist eine von ihnen.« Doch trotz seiner ausgezeichneten Qualität schwankte der Umsatz des Emmentalers – sowohl innerhalb der Schweiz als auch in all den Ländern, die noch mit dem mühsamen Wiederaufbau nach dem Krieg beschäftigt waren. Und wenn der Umsatz nach unten ging, konnten die Prämien, die den Käsereiangestellten zu Weihnachten und am Nationalfeiertag ausgezahlt wurden, enttäuschend gering ausfallen.
Das Warten auf ihre Prämie machte Emilie Perle immer ganz benommen vor Sorge. Sie saß dann an dem Küchenregal (es war kein Tisch, sondern nur ein Regalbrett mit Scharnier, an dem Gustav und sie ihre Mahlzeiten einnahmen) und rechnete auf den grauen Rändern des Lokalblatts Matzlinger Zeitung Zahlenkolonnen zusammen. Die Druckerschwärze trübte stets ihre Rechenkünste. Außerdem blieben die Zahlen nicht in ihren Kolonnen, sondern wanderten in Reportagen über den Schwingfest-Wettbewerb und die Sichtung von Wölfen in den nahe gelegenen Wäldern. Manchmal wurde Emilies hektische Kritzelei noch zusätzlich durch ihre Tränen verschmiert. Sie hatte Gustav beigebracht, niemals zu weinen. Aber diese Regel schien für sie selbst nicht zu gelten, denn manchmal, wenn Gustav spät in der Nacht leise aus seinem Zimmer schlich, fand er Emilie weinend über den Seiten der Matzlinger Zeitung.
In solchen Momenten roch ihr Atem oft nach Anis, und sie hielt ein Glas mit einer wolkig gelben Flüssigkeit umklammert; Gustav fürchtete sich vor alledem – vor ihrem Anisatem, vor dem dreckigen Glas und vor den Tränen seiner Mutter. Er kletterte auf den Hocker neben ihr und beobachtete sie aus den Winkeln seiner grauen Augen, und schon bald putzte Emilie sich die Nase, streckte die Hand nach ihm aus und sagte, es tue ihr leid. Dann küsste er ihre feuchte, brennende Wange, sie hob ihn hoch und trug ihn, unter seinem Gewicht schwankend, zurück in sein Zimmer.
In dem Jahr, als Gustav fünf wurde, gab es überhaupt keine Weihnachtsprämien, und Emilie sah sich gezwungen, für den Samstagmorgen eine zweite Arbeit als Putzfrau in der protestantischen Kirche Sankt Johann anzunehmen.
*
Sie sagte zu Gustav: »Bei dieser Arbeit kannst du mir helfen.«
Und so brachen sie gemeinsam sehr früh auf, noch bevor die Stadt richtig erwachte, bevor sich irgendein Licht am Himmel zeigte. Sie liefen durch den Schnee, folgten dem schwachen Strahl der beiden Taschenlampen, und ihr Atem benetzte ihre wollenen Schals von innen. Wenn sie in der Kirche ankamen, war diese ebenfalls dunkel und kalt. Emilie knipste die zwei grünlichen Neonröhren rechts und links vom Kirchenschiff an, und sie begannen mit der Arbeit, ordneten die Gesangbücher, staubten die Kirchenbänke ab, wischten den Steinfußboden und polierten die Messingkerzenständer. Sie konnten die Eulen in der schwindenden Dunkelheit rufen hören.
Wenn es dann heller wurde, nahm Gustav seine Lieblingsaufgabe in Angriff. Er kniete sich auf eines der Betkissen, schob es immer ein Stückchen weiter, während er das Gitter auf dem Mittelgang putzte. Vor Emilie tat er so, als müsse er dabei sehr gründlich vorgehen, weil das schmiedeeiserne Gitter so kunstvoll verschnörkelt war und sein Staubtuch jeder Windung der Ornamente von innen und außen nachzugehen hatte, worauf sie bemerkte: »In Ordnung, Gustav, das ist gut. Dass du gründlich arbeitest, ist gut.«
Was sie jedoch nicht wusste, war, dass Gustav immer nach Dingen für seine skurrile Sammlung von Gegenständen suchte, die durch das Gitter gefallen waren und dort im Staub lagen. Er nannte sie seinen »Schatz«. Nur Hände so klein wie seine konnten sie herausfingern. Hin und wieder fand er auch Geld, aber immer nur Münzen von niedrigem Wert, mit denen sich nichts kaufen ließ. Häufiger waren es Haarnadeln, verwelkte Blütenblätter, Zigarettenstummel, Bonbonpapiere, Büroklammern und Eisennägel. Er wusste, dass auch sie wertlos waren, aber das störte ihn nicht. Eines Tages fand er einen nagelneuen Lippenstift in einer goldenen Hülle. Den bezeichnete er als seinen »Hauptschatz«.
All das trug er in seinen Manteltaschen nach Hause und versteckte es in einer Holzkiste, in der einst die Zigarren lagen, die sein Vater immer geraucht hatte. Er strich die Bonbonpapiere glatt, deren lebhafte Farben ihm gefielen, und schüttelte den Tabak aus den Zigarettenstummeln in eine kleine Blechbüchse.
Wenn er allein in seinem Zimmer war, betrachtete er seinen Schatz. Manchmal berührte er ihn und roch daran. Dass er ihn vor Emilie verbarg – als wäre es womöglich ein Geschenk, mit dem er sie eines Tages überraschen würde –, war das Aufregende daran. Der Lippenstift war dunkelviolett, fast schwarz, wie eine gekochte Zwetschge, und er fand ihn wunderschön.
In der Kirche brauchten Emilie und er zwei Stunden, bis alles tadellos für die Gottesdienste am Wochenende hergerichtet war. Während dieser Zeit kamen immer ein paar Leute herein, fest eingemummt gegen die Kälte setzten sie sich in eine Bank und beteten oder traten an das Geländer vor dem Altar und starrten auf die bernsteinfarbene Pietà im Westfenster.
Gustav sah, dass Emilie um diese Menschen herumkroch, als versuche sie, sich unsichtbar zu machen. Selten sagten sie »Grüezi« oder sprachen Frau Perle mit ihrem Namen an. Gustav beobachtete sie von seinem Kissen aus und stellte fest, dass fast alle alt waren. Sie erschienen ihm wie unglückliche Wesen, die keinen heimlichen Schatz besaßen. Er dachte, dass sie vielleicht nicht »die richtige Art Leben« führten, und überlegte, ob das »richtige Leben« möglicherweise in den Dingen lag, die nur er allein sehen konnte – Dingen, die unter irgendeinem Gitter verborgen waren, über das die meisten Menschen achtlos hinwegschritten.
Wenn Emilie und Gustav mit dem Putzen fertig waren, liefen sie Hand in Hand nach Hause. Um die Zeit fuhren schon die ersten Straßenbahnen, irgendwo läutete eine Glocke, ein Taubenschwarm flog von Dach zu Dach, und die Besitzerin des Blumenstands an der Ecke Unter der Egg stellte ihre Vasen und Eimer nach draußen. Die Blumenverkäuferin hieß Frau Teller und grüßte sie jedes Mal mit einem Lächeln, selbst wenn es schneite.
Unter der Egg war der Name der Straße, in der ihr Mietshaus lag. Bevor diese Häuser gebaut wurden, war Unter der Egg ein Streifen Brachland gewesen, auf dem die Matzlinger Bürger Schrebergärten pachten konnten, um Gemüse anzupflanzen, doch diese Gärten waren längst verschwunden. Jetzt gab es nur einen breiten Bürgersteig, einen metallenen Trinkbrunnen und Frau Tellers Blumenstand als letzte Erinnerung an all das Grün, das einst hier wuchs. Emilie sagte manchmal, sie hätte gern Gemüse angebaut – Rotkohl, sagte sie, und Zuckererbsen und Kürbisse. »Aber immerhin«, seufzte sie dann, »wurde die Gegend nicht im Krieg zerstört.«
Sie hatte Gustav in Illustrierten Fotos von zerstörten Städten gezeigt. Sie sagte, die lägen alle nicht in der Schweiz. Dresden. Berlin. Caen. Auf keinem von ihnen waren Menschen zu sehen, aber auf einem dieser Bilder gab es einen weißen Hund, der einsam auf einem Trümmerberg saß. Gustav hatte gefragt, was mit dem Hund passiert sei, und Emilie hatte geantwortet: »Es ist sinnlos, zu fragen, was passiert ist, Gustav. Vielleicht hat der Hund ein gutes Herrchen gefunden, oder vielleicht ist er verhungert. Woher soll ich das wissen? Alles im Krieg hing davon ab, wer man war und wo man war. Den Rest übernahm das Schicksal.«
Gustav starrte seine Mutter an. »Wo waren wir?«, fragte er.
Sie schlug die Illustrierte zu und legte sie so sorgfältig weg wie ein schmiegsames Kleidungsstück, das sie bald wieder zu tragen gedachte. Sie nahm Gustavs Gesicht zwischen ihre Hände. »Wir waren hier«, sagte sie, »in Matzlingen und sicher. Als dein Vater stellvertretender Polizeichef war, hatten wir eine Zeitlang sogar eine sehr schöne Wohnung in der Fribourgstraße. Es gab da einen Balkon, auf dem ich Geranien zog. Ich kann keine Geranien mehr sehen, ohne an die zu denken, die ich damals gepflanzt habe.«
»Und dann sind wir nach Unter der Egg gekommen?«, fragte Gustav.
»Ja. Dann sind wir hierhergekommen.«
»Nur du und ich?«
»Nein. Am Anfang waren wir zu dritt. Aber nicht lange.«
Nach der Putzaktion in der Kirche setzten Gustav und Emilie sich immer an das Klappregal in der winzigen Küche, tranken heiße Schokolade und aßen Schwarzbrot mit Butter. Vor ihnen lag ein langer Wintertag, kalt und leer. Manchmal ging Emilie dann wieder ins Bett und las ihre Illustrierten. Sie entschuldigte sich nicht dafür. Sie sagte, Kinder müssten lernen, allein zu spielen. Sie sagte, wenn sie das nicht lernten, würden sie niemals Fantasie entwickeln.
Gustav starrte dann aus dem Fenster seines Zimmers in den weißen Himmel. Das einzige Spielzeug, das er besaß, war eine kleine Blecheisenbahn, also stellte er die Eisenbahn auf das Fensterbrett und ließ sie hin und her rangieren. Häufig war es am Fenster so kalt, dass Gustav mit seinem Atem sehr echt wirkenden Dampf über der Lokomotive ausstieß. Auf die Waggonfenster waren Gesichter von Menschen gemalt, alle mit dem Ausdruck blanken Erstaunens. Diesen verblüfften Menschen flüsterte Gustav gelegentlich zu: »Ihr müsst euch beherrschen.«
*
Der merkwürdigste Ort des Mietshauses war der Bunker unten im Keller. Er war als Atombunker gebaut worden, wurde allerdings gewöhnlich als »Luftschutzkeller« bezeichnet. Demnächst würden alle Gebäude der Schweiz mit solch einem Keller ausgestattet sein müssen.
Einmal jährlich rief der Hausmeister sämtliche Bewohner des Gebäudes zusammen, auch die Kinder, und sie stiegen alle gemeinsam hinunter in den Bunker. Hinter ihnen schlossen sich schwere Eisentüren.
Gustav umklammerte Emilies Hand. Lampen wurden angeknipst, aber alles, was man daraufhin sah, waren weitere Treppen, die noch tiefer hinunterführten. Der Hausmeister erinnerte sie jedes Mal daran, »normal zu atmen«, das Luftfiltersystem werde regelmäßig auf sein absolut perfektes Funktionieren geprüft. Der Raum heiße nicht umsonst »Luftschutzkeller«. Doch es hing ein seltsamer Geruch in der Luft, ein tierischer Geruch, als hausten Füchse oder Ratten dort, die vom Staub oder von der grauen Farbe lebten, die sie von den Wänden leckten.
Am Ende der zahllosen Treppen erweiterte sich der Bunker zu einem großen Lagerraum, in dem sich vom Boden bis zur Decke versiegelte Pappkartons stapelten. »Merken Sie sich gut, was wir in diesen Kartons aufbewahren«, sagte der Hausmeister, »genügend Lebensmittel für uns alle für ungefähr zwei Monate. Und der Wasservorrat wird in den Tanks da drüben sein. Sauberes Trinkwasser. Natürlich rationiert, weil die Netzstromversorgung – selbst wenn sie funktioniert – im Falle radioaktiver Verseuchung unterbrochen würde. Aber ausreichend für alle.«
Er führte sie weiter. Er war ein schwerer Mann. Er sprach laut und betonte jedes Wort genau, als glaube er, er habe es mit einer Gruppe Schwerhöriger zu tun. Der Klang seiner Stimme hallte von den Betonwänden zurück. Gustav fiel auf, dass die Bewohner im Laufe dieser Führungen durch den Atombunker stets verstummten. Ihre Gesichter erinnerten ihn an die gemalten Menschen auf seiner Eisenbahn. Vielleicht war es die Stimme des Hausmeisters mit ihrem Echo, die sie stumm machte? Ehepaare drängten sich zusammen. Alte Menschen klammerten sich Halt suchend aneinander. Gustav fürchtete immer, seine Mutter könne seine Hand loslassen.
Als sie in den »Schlafsaal« des Bunkers kamen, sah Gustav, dass die Betten zu Fünfertürmen übereinandergestapelt waren. Um ins oberste Bett zu gelangen, musste man eine Leiter hochklettern, und Gustav dachte, es würde ihm nicht gefallen, so hoch über dem Fußboden zu liegen. Angenommen, er wachte nachts im Dunkeln auf und fand Emilie nicht? Angenommen, Emilie schlief im untersten Bett oder in einer anderen Reihe? Angenommen, er stürzte aus seinem Bett und fiel auf den Kopf, und der Kopf platzte? Er flüsterte seiner Mutter zu, dass er nicht hier wohnen wolle, in einem Eisenbett und mit Essen aus Pappkartons, und sie sagte: »Das wird wahrscheinlich nie passieren.«
»Was wird nie passieren?«, fragte er.
Aber das wollte Emilie nicht sagen. »Darüber musst du dir noch keine Gedanken machen«, erklärte sie ihm. »Der Bunker ist nur als Schutz gedacht, für den Fall, dass die Russen – oder überhaupt irgendjemand – es sich in den Kopf setzen sollten, der Schweiz etwas anzutun.«
Gustav lag nachts in seinem Bett und dachte darüber nach, was passieren könnte, wenn der Schweiz etwas angetan wurde. Er fragte sich, ob Matzlingen in einen Trümmerberg verwandelt würde und er plötzlich ganz allein wäre, so wie der weiße Hund auf dem Foto.
Anton kam im kalten Frühling jenes Jahres in die Vorschule.
Er betrat das Schulzimmer und blieb weinend an der Tür stehen. Keines der Kinder hatte diesen Jungen zuvor schon gesehen. Eine der Lehrerinnen, Fräulein Frick, ging zu ihm, nahm ihn bei der Hand, kniete sich vor ihn hin und begann mit ihm zu reden, doch er schien sie nicht zu hören. Er weinte einfach weiter.
Fräulein Frick gab Gustav ein Zeichen. Eigentlich wollte Gustav nicht gern der Junge sein, der dieses weinende Kind zu trösten hatte, aber Fräulein Frick forderte ihn auf, nach vorn zu kommen, und erklärte Anton: »Das ist Gustav. Gustav wird dein Freund sein. Er wird mit dir zur Sandkiste gehen, und ihr könnt zusammen eine Burg bauen, bevor wir mit unserem Unterricht beginnen.«
Anton schaute Gustav an, der ein wenig kleiner war als er.
Gustav verkündete: »Meine Mutter sagt, man soll lieber nicht weinen. Sie sagt, man muss sich beherrschen.«
Das verblüffte Anton offenbar so sehr, dass er abrupt mit Schluchzen aufhörte.
»Na siehst du«, sagte Fräulein Frick. »Das ist brav. Geh schön mit Gustav.« Sie zog ein Taschentuch hervor und wischte Antons Gesicht ab. Die Wangen des Jungen waren hektisch rosa, seine Augen große, dunkle Teiche. Er zitterte am ganzen Leib.
Gustav brachte ihn zum Sandkasten. Antons kleine Hand fühlte sich glühend heiß an. Gustav fragte: »Was für eine Burg möchtest du bauen?« Aber der Junge konnte nicht antworten. Also reichte Gustav ihm eine Schaufel und sagte: »Ich finde Burgen mit einem Graben schön. Sollen wir mit dem Burggraben beginnen?«
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