Linke, hört die Signale! - Peter Singer - E-Book

Linke, hört die Signale! E-Book

Peter Singer

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Beschreibung

Sind Menschenbild und gesellschaftliches Projekt der Linken überhaupt noch zeitgemäß – ein Ideal, nach dem alle streben sollen und das als Erziehungsvorbild dienen soll? Peter Singer plädiert leidenschaftlich für ein modernes, flexibles, an evolutionären Möglichkeiten orientiertes Verständnis vom Menschen. Die Linke muss Menschen als sich entwickelnde Wesen verstehen, die dabei nicht nur durch Egoismus und Konkurrenz bestimmt sind, sondern auch von (wohlverstandenem) Altruismus und Empathie. Sie muss gerade diese Qualitäten unterstützen – nur dann wird sie wieder akzeptiert werden können als Verfechterin von Solidarität, Kooperation und Gerechtigkeit. Ein Plädoyer zur rechten Zeit.

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Seitenzahl: 110

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Peter Singer

Linke, hört die Signale!

Vorschläge zu einem notwendigen Umdenken

Herausgegeben von Sascha Benjamin Fink Aus dem Englischen übersetzt von Ute Kruse-Ebeling

Reclam

Titel der englischen Originalausgabe:

Peter Singer: A Darwinian Left. Politics, Evolution and Cooperation. New Haven: Yale University Press, 2000 [zuerst: London: Weidenfeld & Nicolson, 1999]

 

Deutschsprachige Ausgabe:

2018 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

 

Englischsprachige Ausgabe:

Copyright © 1999 by Peter Singer

Published by arrangement with The Robbins Office, Inc. and Aitken, Alexander & Associates, Ltd.

 

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2018

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961369-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019555-0

www.reclam.de

Inhalt

EinleitungDie Notwendigkeit einer neuen GrundlageWas ist wesentlich für die Linke?1. Politik und DarwinismusDie rechtskonservative ÜbernahmeTatsachen und WerteWie die Linke Darwin missverstanden hatDer Traum von VervollkommnungDas alte Lied2. Kann die Linke eine darwinistische Auffassung von der menschlichen Natur akzeptieren?Unpopuläre IdeenWas an der menschlichen Natur ist unveränderlich und was ist wandelbar?Auf welche Weise können Reformer von Darwin lernen?3. Konkurrenz oder Kooperation?Der Aufbau einer kooperativeren GesellschaftDas GefangenendilemmaWas man von »Tit for Tat« lernen kann4. Von Kooperation zum Altruismus?Das Rätsel der Entwicklung des AltruismusSoziales Ansehen wofür?5. Perspektiven einer heutigen und künftigen darwinistischen LinkenZu dieser AusgabeDarwin unter Linken: Das naturalistische Fundament politischer SolidaritätWelche »Linke«?Vorteile der MinimaldefinitionEin Silberstreifen am Horizont? Eine ReevaluationSpieltheorie und NudgingFolgen des neuen Weltbildes

Einleitung

Die Notwendigkeit einer neuen Grundlage

Im Jahr 1874 las Karl Marx1Staatlichkeit und Anarchismus von Mikhail Bakunin2, einem der Begründer des Anarchismus als internationale revolutionäre Bewegung, der mit Marx um die Kontrolle über die Erste Internationale3 konkurrierte. Marx blieb bei nichts, was er tat, passiv, und bei der Lektüre von Bakunin notierte er sich zentrale Passagen des Buches und fügte dann seine eigenen Anmerkungen hinzu. Das daraus entstandene Manuskript, das Marx nie für eine Veröffentlichung vorgesehen hatte, liest sich wie eine Debatte zwischen dem führenden Anarchisten und dem führenden Kommunisten des 19. Jahrhunderts. Hier ein Ausschnitt daraus:

[Bakunin:] »Das allgemeine Wahlrecht durch das ganze Volk […] von Volksrepräsentanten und <Beherrschern des Staats> – das ist das letzte Wort der Marxisten, wie auch der demokratischen Schule – Lüge, unter der sich verbirgt der Despotismus der regierenden Minderheit, um soviel gefährlicher, als sie erscheint als Ausdruck des sogenannten Volkswillens.«

[Marx:] Auf Kollektiveigentum verschwindet der sogenannte Volkswillen, um dem wirklichen Willen des Kooperativs Platz zu machen.

[Bakunin:] »So Resultat: Lenkung der großen Mehrheit der Volksmasse durch privilegierte Minorität. Aber diese Minderheit, sagen die Marxisten, […] wird aus Arbeitern bestehn. Ja, mit Erlaubnis, aus gewesnen Arbeitern, aber die, sobald sie nur Repräsentanten oder Regierer des Volks geworden sind, aufhören Arbeiter zu sein« –

[Marx:] sowenig, wie ein Fabrikant heute dadurch aufhört Kapitalist zu sein, dass er Gemeinderat wird –

[Bakunin:] »und sehn werden auf die ganze gemeine Arbeiterwelt von der Höhe der <Staatlichkeit>; sie werden nicht mehr das Volk vertreten, sondern sich und ihre <Ansprüche> auf die Volksregierung. Wer daran zweifeln kann, der [ist] durchaus nicht bekannt mit der Natur der Menschen« […].

[Marx:] Wäre Herr Bakunin bekannt auch nur mit der Stellung eines Managers in einer Arbeiter-Kooperativ-Fabrik, alle seine herrschaftlichen Träume [wären] zum Teufel.a

Die tragischste Ironie der Geschichte des 20. Jahrhunderts liegt darin, dass die Bilanz der Regierungen, die für sich beanspruchten, marxistisch zu sein, zeigt, dass Marx sich irrte und Bakunins »herrschaftliche Träume« düster prophetisch waren. Bakunins eigene Lösung des Problems der Autorität wäre zweifelsohne auch schiefgegangen; wenn er jedoch behauptet, dass jemand, der Ansichten wie die von Marx und seinen Anhängern vertritt, »durchaus nicht bekannt mit der Natur der Menschen« ist, so ist dem schwer zu widersprechen. Marx’ Fehler hinsichtlich der menschlichen Natur war auch keine unwichtige Verirrung. 30 Jahre später schrieb Marx in einer seiner gefeierten Thesen über Feuerbach (VI):

… das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstractum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.b

Aus dieser Überzeugung folgt, dass wenn man das »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« vollkommen verändern kann, man auch die menschliche Natur selbst vollkommen verändern kann. Diese Behauptung berührt den Kern des Marxismus und des weiter gefassten marxistischen Denkens. Aus diesem Grunde wirkt sie sich auf einen großen Teil des Denkens der gesamten Linken aus.

Die Linke braucht ein neues Paradigma. Der Zusammenbruch des Kommunismus und die Preisgabe des traditionellen sozialistischen Ziels des Nationaleigentums der Produktionsmittel durch die demokratischen sozialistischen Parteien haben die Linke der Ziele beraubt, die sie über die zwei Jahrhunderte hochhielt, in denen sie sich zu einer Position mit starker politischer Macht und intellektuellem Einfluss herausbildete und entwickelte. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum die Linke ein neues Paradigma braucht. Die Gewerkschaftsbewegung ist in vielen Ländern das Kraftzentrum und Herzstück der Linken gewesen. Was Kapitalisten nach einem Jahrhundert repressiver Maßnahmen gegen Gewerkschaftsführer nicht gelungen ist zu erreichen, erledigt die von sozialdemokratischen Regierungen in der ganzen Welt begeistert befürwortete Welthandelsorganisation für sie. Wenn Importbeschränkungen aufgehoben werden, dann werden die Gewerkschaften auf nationaler Ebene unterminiert. Verlangen nun Arbeiter in Hochlohnländern bessere Konditionen, so können die Bosse damit drohen, die Fabrik zu schließen und die Güter aus China oder irgendeinem anderen Land zu importieren, in dem die Löhne niedriger sind und Gewerkschafter keine Probleme bereiten. Die einzige Möglichkeit für Gewerkschaften, ihre Schlagkraft zu bewahren, würde für sie darin bestehen, sich international zu organisieren; doch wenn die Unterschiede zwischen den Lebensstandards von Arbeitern so groß sind wie beispielsweise heute die zwischen Europa und China, fehlen dafür die gemeinsamen Interessen. Niemand sieht gern seinen eigenen Lebensstandard sinken, doch die Interessen deutscher Arbeiter daran, die Raten für ihren Neuwagen weiter bedienen zu können, werden wahrscheinlich kaum die Sympathien von chinesischen Arbeitern wecken, die stattdessen darauf hoffen, sich zumindest eine ausreichende medizinische Versorgung und eine Schulbildung für ihre Kinder leisten zu können.

Ich habe weder Antworten auf die Schwächung der Gewerkschaftsbewegung noch auf das Problem, das diese für politische Parteien darstellt, die einen Großteil ihrer Stärke aus dieser Bewegung schöpften. Mein Fokus liegt hier nicht so sehr auf der Linken als einer politisch organisierten Kraft, sondern vielmehr auf der Linken als einem weiter gefassten Gedankenkomplex, einem Spektrum an Ideen zur Schaffung einer besseren Gesellschaft. In diesem Sinne bedarf die Linke dringend neuer Ideen und neuer Ansätze. Ich möchte dafür argumentieren, dass eine Quelle für neue Ideen, die zur Wiederbelebung der Linken führen könnten, in einer Herangehensweise an das gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Verhalten von Menschen besteht, die fest auf einem modernen Verständnis der menschlichen Natur gründet. Es ist an der Zeit, dass die Linke die Tatsache ernst nimmt, dass wir Tiere sind, die sich erst im Laufe der Evolution zu dem entwickelt haben, was wir sind, und dass wir nicht nur hinsichtlich unserer Anatomie und unserer DNA, sondern auch hinsichtlich unseres Verhaltens von diesem Erbe zeugen. Mit anderen Worten: Es ist an der Zeit, eine darwinistische Linke zu entwickeln.

Was ist wesentlich für die Linke?

Kann die Linke Marx gegen Darwin4 austauschen und trotzdem links bleiben? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir eine weitere stellen: Was ist überhaupt wesentlich für die Linke? Lassen Sie mich diese Frage auf persönliche Art beantworten. Im Laufe des vergangenen Jahres5 habe ich sowohl eine Fernsehdokumentation als auch ein Buch über Henry Spira6 fertiggestellt. Dieser Name wird den meisten Leuten nichts sagen, aber Spira ist die bemerkenswerteste Person, mit der ich die Ehre hatte, arbeiten zu dürfen. Als er zwölf Jahre alt war, lebte seine Familie in Panama. Sein Vater führte ein kleines Bekleidungsgeschäft, das nicht gut lief. Um Geld zu sparen, nahm die Familie das Angebot eines wohlhabenden Freundes an, in einigen Räumen dessen Hauses zu wohnen. Das Haus war ein Herrenhaus, das einen ganzen Häuserblock einnahm. Eines Tages wurde Henry von zwei Männern, die für den Besitzer arbeiteten, gefragt, ob er sie beim Einsammeln der Mieten begleiten möchte. Er begleitete sie und sah mit eigenen Augen, wie die luxuriöse Existenz des Wohltäters seines Vaters finanziert wurde. Sie gingen in die Slums, und dort wurden arme Leute von den bewaffneten Mieteintreibern bedroht. Zu jener Zeit hatte Henry noch keine Vorstellung von »der Linken«, aber von diesem Tag an war er ein Teil von ihr. Später zog Spira in die Vereinigten Staaten, wo er Trotzkist7 wurde, als Matrose in der Handelsmarine arbeitete, in der McCarthy-Ära auf die schwarze Liste kam und dann, als er das Recht erlangt hatte, wieder auf Schiffen zu arbeiten, eine zentrale Figur in einer Reformgruppe wurde, die die korrupten Bosse der Gewerkschaft der National Maritime Union herausforderte. 1956 ging er in den Süden, um Schwarze zu unterstützen, die ihre örtlichen Busse boykottierten, weil sie das Recht haben wollten, auf denselben Sitzen zu sitzen wie Weiße. Als Fidel Castro8 die Diktatur Batistas stürzte, ging Spira nach Kuba, um sich mit eigenen Augen den Prozess der Landreform anzusehen, und nach seiner Rückkehr nach Amerika warb er um öffentliche Unterstützung gegen die Versuche der CIA, Castro zu stürzen. Er verließ die Trotzkisten, weil sie den Bezug zur Realität verloren hatten, und unterrichtete Kinder aus dem Ghetto in New Yorks staatlichem Schulsystem. Als ob dies nicht schon genug für ein Leben wäre, las er 1973 einen Essay von mir namens »Animal Liberation«9 und kam zu dem Schluss, dass es hier um eine weitere Gruppe ausgebeuteter Wesen ging, die seiner Hilfe bedurften. Im Verlauf der vergangenen 20 Jahre ist er daraufhin zum erfolgreichsten Aktivisten der amerikanischen Tierrechtsbewegung geworden.

Spira hat ein Händchen für klare Worte. Als ich ihn fragte, warum er mehr als ein halbes Jahrhundert lang damit verbracht habe, sich für die genannten Anliegen einzusetzen, sagte er einfach, dass er auf der Seite der Schwachen, nicht der Mächtigen stehe; auf der der Unterdrückten, nicht der Unterdrücker; auf der der Geschundenen, nicht der Schinder. Und er sprach von dem ungeheuren Ausmaß an Schmerz und Leid, das in unserem Universum existiert, und von seinem Wunsch, etwas zu tun, um es zu verringern. Ich glaube, das ist das, worum es der Linken geht. Es gibt viele Weisen, links zu sein, und Spiras Weise ist nur eine davon. Doch was ihn antreibt, ist für jeden echten Linken wesentlich. Wenn wir mit den Schultern zucken beim Anblick des vermeidbaren Leids der Schwachen und Armen, derjenigen, die ausgebeutet und abgezockt werden, oder die einfach nicht genügend haben, um ein Leben auf bescheidenem Niveau zu erhalten, dann gehören wir nicht zur Linken. Wenn wir sagen, dass die Welt nun einmal so ist und immer so sein wird und dass wir nichts daran ändern können, sind wir nicht Teil der Linken. Die Linke möchte etwas an dieser Situation verändern.

An diesem Punkt könnte ich in eine lange Diskussion über die philosophische Grundlage einer egalitaristischeren10 Gesellschaft eintreten, die die Linke anstreben sollte. Doch mit den Büchern zu diesem Thema könnte man bereits jetzt eine mittelgroße öffentliche Bibliothek füllen, und ich möchte diese Literatur nicht noch zusätzlich vergrößern. Es genügt völlig, festzustellen, dass es viele verschiedene Auffassungen von Gleichheit gibt, die mit der weitgefassten Vorstellung der Linken vereinbar sind, die ich hier umreiße. Meine eigene ethische Position ist utilitaristisch,11 und der Imperativ, Leiden zu verringern, folgt direkt aus dieser Position. Obwohl ich als Utilitarist Gleichheit nicht um ihrer selbst willen schätze, bin ich mir des Prinzips des abnehmenden Grenznutzens sehr bewusst: Demnach macht eine gegebene Summe an Geld, sagen wir 100 Pfund Sterling, zwar einen sehr geringen Unterschied für den Nutzen von jemandem, der bereits viel besitzt, hingegen kann sie einen enormen Unterschied für den Nutzen von jemandem machen, der sehr wenig besitzt. In einer Welt, in der die 400 reichsten Menschen12 zusammengenommen ein Reinvermögen besitzen, das größer ist als das der unteren 45 Prozent der Weltbevölkerungc – etwa 2,3 Milliarden13 – und über eine Milliarde Menschen von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben,d liefert dieses Prinzip genügend Gründe, um uns dazu anzuhalten, auf eine gleichere Verteilung der Ressourcen hinzuarbeiten.

Da ich nun grob umrissen habe, was ich mit »der Linken« meine, können wir uns der Politik zuwenden, die mit dem Darwinismus in Verbindung gebracht wird. Ich werde mit der folgenden Frage beginnen: Wo hat die Linke traditionell im Hinblick auf das darwinistische Denken gestanden, und warum?

1. Politik und Darwinismus

Die rechtskonservative Übernahme

Zwei Monate nach der Veröffentlichung von The Origin of Species schrieb Darwin14 an Charles Lyell:

Eine Zeitung in Manchester hat mir eine ziemlich gute Glosse gewidmet, nach der ich bewiesen hätte, dass Macht vor Recht geht und dass daher Napoleon, ebenso wie auch jeder betrügerische Händler, recht hat.e