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London - Die Biographie E-Book

Peter Ackroyd

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Beschreibung

Eine großartige Geschichte der Weltstadt London

»London ist so groß und wild, dass es alles in sich enthält«, schreibt Peter Ackroyd und erkundet diese Stadt wie ein menschliches Wesen, das uns betört, verwirrt, aber niemals gleichgültig lässt. Am sinnlichen Detail, am allgegenwärtigen Rot der Sandsteine, an den Gerüchen der vielen Märkte oder am Klangbild, das einst von Glockengeläut und »Balladenverkäufern« geprägt wurde, entschlüsselt er die Epochen, die London geprägt haben. Die Kritiker sind sich einig: Ackroyds Buch macht alle anderen Londonbücher überflüssig. Nie zuvor hat ein Schriftsteller so lebendig und beseelt die ganze Metropole porträtiert: vom Londoner Untergrund bis zu den Theatern des Westends, von der Großen Pest bis zu Jack the Ripper, von den prähistorischen Funden bis zu den Reklametafeln am Piccadilly. Ein Genuss für alle, die diese Stadt lieben.

»Ein reiches Buch, voller Witz und Wissen, voller Elan und voller Leben, brillant geschrieben!« Die Zeit

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Seitenzahl: 1324

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Peter Ackroyd

LONDON

DIE BIOGRAPHIE

Aus dem Englischen vonHolger Fliessbach

Pantheon

Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel London. The Biography bei Chatto & Windus, London

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Copyright © dieser Ausgabe 2022 Pantheon Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenCopyright © der Originalausgabe 2000 Peter AckroydCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002 Knaus Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHCovergestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenCoverabbildung: © Shomos Uddin / Getty ImagesSatz: Uhl + Massopust GmbH, AalenISBN 978-3-641-30184-2V001

www.pantheon-verlag.de

»London ist so groß und wild, dass es alles in sich enthält«, schreibt Peter Ackroyd und erkundet diese Stadt wie ein menschliches Wesen, das uns betört, verwirrt, aber niemals gleichgültig lässt. Am sinnlichen Detail, am allgegenwärtigen Rot der Sandsteine, an den Gerüchen der vielen Märkte oder am Klangbild, das einst von Glockengeläut und »Balladenverkäufern« geprägt wurde, entschlüsselt er die Epochen, die London geprägt haben. Die Kritiker sind sich einig: Ackroyds Buch macht alle anderen Londonbücher überflüssig. Nie zuvor hat ein Schriftsteller so lebendig und beseelt die ganze Metropole porträtiert: von ihren Sehenswürdigkeiten bis zu ihren Düften, vom Londoner Untergrund bis zu den Theatern des Westends, von der Großen Pest bis zu Jack the Ripper, von den prähistorischen Funden bis zu den Reklametafeln am Piccadilly.

PETER ACKROYD wurde 1949 in London geboren, wo er bis heute lebt. Er studierte Literaturwissenschaft in Yale und Cambridge und arbeitete viele Jahre für den »Spectator« und die »Times«. Mit seinen Romanen, Theaterstücken und Biographien gehört er zu den wichtigsten britischen Gegenwartsautoren. Er erhielt unter anderem den Somerset Maugham Award und den Whitbread Award. Er gilt als brillanter Autor mit einem unverwechselbaren Stil.

»Ackroyds grandiose Biographie Londons ist ein üppiges Kompendium des Historischen und Alltäglichen, das enormes Sachwissen mit hoher Kunst der Darstellung verbindet – ein unwiderstehlicher Wälzer.« Neue Zürcher Zeitung

Für Iain Johnston undFrederick Nicholas Robertson

Inhalt

Die Stadt als Körper

Von vorgeschichtlicher Zeit bis 1066

1. Das Meer!

2. Die Steine

3. Die Stadt Gottes – Westminster Abbey und St Bartholomew

Das frühe Mittelalter

4. «Ihr seid aller Rechte würdig»

Londoner Kontraste

5. Der Lärm der Stadt

6. Schweigen ist Gold

London im Spätmittelalter

7. Die Zünfte und die Kirchen

Nach draußen und nach oben

8. Recht dunkel und eng

9. Das schwarze Herz der Stadt

10. Stadtansichten und Altertumsforscher

Handel und Gewerbe auf Straßen und Plätzen

11. Wo ist der Käse aus der Thames Street?

Ein Londoner Stadtviertel

12. St Giles-in-the-Fields

London als Schaubühne

13. Die Bartholomäusmesse!

14. Das Londoner Englisch

15. Großstadt-Theater

16. Heftige Späße

17. Händler, Kolporteure, Bänkelsänger – Die Musik der Stadt

18. Zeichen der Zeit – Schilder, Reklametafeln und Graffiti

19. Die Sonderlinge von London

Pest und Feuer

20. Die Pest komme über dich

21. Rotes London

Nach dem Feuer

22. Die Fetter Lane

23. Wiederaufbau

Schuld und Sühne

24. Die Ballade von dem Gefängnis Newgate

25. Notiz über Suizid

26. Buß’ und Reu’

27. Galerie der Galgenvögel

28. Jack the Ripper, John Williams und andere Mörder

29. Beggar’s Opera

30. Wachleute, Konstabler und Polizisten

31. Daran hängt eine Geschichte

Die gefräßige Stadt

32. Geld und Expansion

33. Eine Lektion in Kochkunst

34. Garküchen, Kaffeehäuser und Imbissstuben

35. Marktzeit

36. Abfall

37. Ein Gläschen oder zwei

38. Im Club

39. Notiz über den Tabak

40. Ein schlechter Geruch

41. Stadt der Sünde

42. Ein guter Wurf

London als Volksmasse

43. Pöbelherrschaft

44. Was gibt es Neues?

Die Naturgeschichte Londons

45. Schenkt der Dame eine Blume

46. Wetterberichte

47. Nebel und Smog

Nacht und Tag

48. Es werde Licht

49. Die nächtliche Stadt

50. Die Stadt am Morgen

Die Radikalen von London

51. Wo ist der Quell von Clerkenwell?

Londoner Gewalt

52. In den Ring steigen

Schwarze Magie, weiße Magie

53. Ich sah einen Mann, der nicht da war

54. Wissen ist Macht

Baufieber

55. Der Umbau Londons im 18 . und 19 . Jahrhundert

56. Notting Hill, Paddington, Islington und Soho

Londons Flüsse

57. «Die Themse können Sie nicht mitnehmen»

58. Die dunkle Seite der Themse

59. Tote Flüsse

Unter der Erde

60. Untergrund

Viktorianische Megalopolis

61. Wie viele Meilen bis Babylon?

62. Das Labyrinth des Minotauros

63. Eisenbahn, Omnibus und Kutsche

Londons Ausgestoßene

64. Sie sind allzeit unter uns

65. Die Bettler

66. Im Tollhaus

Frauen und Kinder

67. Das weibliche Prinzip

68. Londons Kinder

London und die Zeit

69. Greenwich, Big Ben und die Uhrenmacher

70. Ein Baum an der Straßenecke

Der Osten und der Süden

71. Ein stinkender Haufen

72. Southwark

Zentrum des Empires

73. Vielleicht, weil ich Londoner bin

74. Tag des Empires

Nach dem Großen Krieg

75. Vorstadtträume

London im Luftkrieg

76. Sondermeldung

Ein neues Gesicht für London

77. Fügung, nicht Planung

Londoner Visionäre

78. Die unwirkliche Stadt

79. Resurgam

Anhang

Zeittafel

Karte, London 1800

Verzeichnis der Abbildungen

Personenregister

Sach- und Ortsregister

Die Stadt als Körper

Reizvoll und unvergleichlich ist das Bild von London als einem menschlichen Leib. Es geht zurück auf das Sinnbild des Gottesstaates, jenes mystischen Leibes, an dem Jesus Christus das Haupt, die Bürger aber die Glieder sind. Man hat London auch in der Gestalt eines jungen Mannes erkannt, der in einer Geste der Befreiung die Arme reckt; die Figur stammt von einer römischen Bronze, aber sie verkörpert Tatkraft und Triumph einer Stadt, die sich in immer neuen, starken Wellen von Fortschritt und Zuversicht ausbreitete. Wenn irgendwo, so finden wir hier «Londons warmes, pochendes Herz».

Die Seitenwege Londons ähneln dünnen Adern, seine Parks sind wie Lungen. In Regen und Nebel der herbstlichen Stadt sehen die glänzenden Steine und Pflaster der älteren Durchgänge aus, als bluteten sie. Wenn William Harvey, Wundarzt am St Bartholomew-Hospital, durch die Straßen ging, bemerkte er, wie aus den Schläuchen der Feuerspritzen das Wasser schoss wie Blut aus einer durchtrennten Arterie. Metaphorische Bilder für den Cockney-Leib zirkulieren seit vielen Jahrhunderten: «Das Maul» (gob) wird erstmals 1550 erwähnt, «die Pfote» (paws) 1590, «die Fratze» (mug) 1708, «Kussmaul» (kisser) Mitte des 18. Jahrhunderts.

Harveys Krankenhaus stand im 17. Jahrhundert neben dem Fleischmarkt von Smithfield, und diese Verbindung legt ein anderes Bild von London nahe. Die Stadt ist fleischig und gefräßig, ist fett geworden von ihrem Appetit auf Menschen und auf Speisen, auf Waren und Getränke; sie verschlingt und scheidet aus, unersättliche Begierde ist ihr Dauerzustand.

Für Daniel Defoe war London ein großer Leib, «der alles in Umlauf bringt, alles exportiert und zuletzt für alles zahlt». Darum hat man London gemeinhin in monströser Form dargestellt, als einen aufgedunsenen, wassersüchtigen Riesen, der nicht aufbaut, sondern zerstört. Sein Kopf ist zu groß und steht in keinem Verhältnis zu den anderen Gliedmaßen; Gesicht und Hände sind ebenfalls monströs geworden, unregelmäßig, «aus der Form geraten». Es ist ein «Milzweh» (spleen), eine große «Fettgeschwulst». Dieser Leib, von Fiebern gefoltert, an Asche erstickend, gerät aus der Pest in die Feuersbrunst.

Ob wir also London als Jüngling betrachten, der sich erfrischt vom Schlaf erhebt, oder ob wir seinen Zustand als missgestalteter Riese beklagen, immer müssen wir die Stadt als einen menschlichen Organismus ansehen, der seine eigenen Lebens- und Wachstumsgesetze hat.

Hier ist seine Biographie.

Manche werden einwenden, eine solche «Biographie» könne nicht Gegenstand wahrer Geschichtsschreibung sein. Ich räume dieses Manko ein und führe zu meiner Verteidigung an, dass ich den Stil meiner Erkundung der Natur des Gegenstandes untergeordnet habe. London ist ein Labyrinth, halb aus Stein, halb aus Fleisch. Es kann nicht als ein Ganzes in den Blick genommen werden, sondern ist nur als eine Wildnis aus Gassen und Passagen, aus Innenhöfen und Durchgängen zu erleben, worin sich auch der erfahrenste Bürger verirren kann; das Seltsame ist dabei, dass dieses Labyrinth in ständiger Veränderung und Erweiterung begriffen ist.

Die Biographie der Stadt London hält sich auch nicht an die Chronologie. Zeitgenössische Denker vermuten, dass die lineare Zeit selbst eine Fiktion der menschlichen Einbildungskraft ist – London hat diesen Schluss schon längst gezogen. Es gibt viele verschiedene Formen der Zeit in dieser Stadt, und es wäre närrisch von mir, ihren Charakter um einer konventionellen Erzählung willen zu verändern. Darum irrlichtert mein Buch durch die chronologische Zeit und wird so selbst zum Labyrinth. Aber wenn neben der Geschichte der Londoner Armut die Geschichte des Londoner Wahnsinns steht, gewähren die Querverbindungen vielleicht bedeutsamere Aufschlüsse, als es jeder orthodoxe historiographische Überblick vermöchte.

Ein Kapitel Geschichte ähnelt dem kleinen Türchen bei John Bunyan, während links und rechts der Sumpf der Verzweiflung und das Tal der Demütigung lauern. So werde ich bisweilen vom schmalen Pfad abweichen, um jene Höhen und Tiefen städtischen Erlebens aufzusuchen, die keine Geschichte kennen und sich der rationalen Analyse zumeist entziehen. Ein wenig habe ich verstanden und vertraue darauf, dass es genügen wird. Ich bin kein Vergil, der sich anschickt, einen aufstrebenden Dante durch ein abgegrenztes Reich der Kreise zu führen. Ich bin nur ein stolpernder Londoner, der anderen jene Richtungen weisen möchte, denen er selbst ein Leben lang nachgegangen ist.

Die Leser dieses Buches sollen wandern und sich wundern. Sie werden sich unterwegs verlaufen; sie werden Augenblicke der Ungewissheit erleben, und gelegentlich werden befremdliche Phantasien oder Theorien sie verwirren. In gewissen Straßen werden exzentrische oder verletzliche Menschen neben ihnen stehen bleiben und um Beachtung betteln. Es wird nicht an Anomalien und Widersprüchen fehlen – London ist so groß und so wild, dass es schlechterdings alles in sich enthält –, so wie es auch Unschlüssigkeiten und Widersprüche geben wird. Doch wird es auch Augenblicke der Offenbarung geben, die sichtbar machen, dass diese Stadt die Geheimnisse der Menschenwelt birgt. Dann ist es klug, sich vor dem Ungeheuren zu beugen.

So brechen wir voller Erwartungen auf, vor den Augen den Wegweiser mit der Aufschrift «Nach London».

Peter Ackroyd

London, März 2000

Von vorgeschichtlicher Zeit bis 1066

Überreste aus alten Zeiten wurden unter vielen Straßen Londons gefunden.Hier die Zeichnung der Reste eines römischen Schiffes,gefunden auf dem Gelände von County Hall.

1. Das Meer!

Wer mit der Hand über die Plinthe striche, auf der sich am Charing Cross das Reiterstandbild König Karls I. erhebt, würde wohl auch die vorspringenden Versteinerungen von Seelilien, Schlangensternen oder Seeigeln streifen. Es gibt eine Photographie des Denkmals, die 1839 entstand – die Szene mit ihren Mietskutschen und den kleinen Jungen im Zylinderhut wirkt schon altertümlich genug, doch wie unvorstellbar fern liegt erst das Leben jener winzigen Meerestiere! Im Anfang war das Meer. Ein alter Varietéschlager trug den Titel Why Can’t We Have the Sea in London? Aber die Frage ist überflüssig; denn vor fünfzig Millionen Jahren bedeckten riesige Wasserflächen den Ort der Hauptstadt.

Ganz sind sie bis heute nicht abgezogen, und so gibt es in den verwitterten Steinen Londons noch immer Zeugnisse maritimen Lebens. Der Portlandstein, aus dem Customs House und St Pancras Old Church erbaut sind, weist eine diagonale Schichtenbildung auf, die von den Strömungen des Ozeans herrührt, und die Bausubstanz des Mansion House und des Britischen Museums birgt uralte Austernschalen. In dem graulichen Marmor das Bahnhofs Waterloo sieht man noch Meeresalgen, und an dem «von Gesprächen schweren» Gestein unterirdischer Gänge ist die Gewalt von Orkanen zu erkennen. Am Fundament der Waterloo Bridge kann man den Meeresboden des Oberen Jura bemerken. Die Gezeiten und Stürme sind noch um uns, und wie Shelley von London gesagt hat: «Dies große Meer … es heult noch immer nach mehr».

London ist zu allen Zeiten ein ungeheurer Ozean gewesen, in dem ein Überleben nicht sicher ist. Die Kuppel von St Paul’s sah man auf einem «unruhig bewegten Meer» von Nebel schwanken, während schwarze Menschenströme über die London Bridge oder Waterloo Bridge ziehen und sich als Sturzbäche in Londons schmale Durchgänge ergießen. Mitte des 19. Jahrhunderts sprachen die Sozialarbeiter davon, «Untergehende» in Whitechapel oder Shoreditch zu retten, und Arthur Morrison, ein Romanschriftsteller jener Zeit, beschwört ein «tobendes Meer von menschlichem Treibgut», das nach Rettung schreie. Henry Peacham, der im 17. Jahrhundert The Art of Living in London schrieb, betrachtete die Stadt als «ein ungeheures Meer, voller Stoßwinde, erschreckend-gefährlicher Untiefen und Felsen», während Louis Simond 1810 geneigt war, «dem Brausen der Wellen um uns zu lauschen, die sich in regelmäßigen Abständen brechen».

Wer London aus der Ferne betrachtet, nimmt nur ein Meer von Dächern wahr und bemerkt von den schwarzen Menschenströmen ebenso wenig wie von den Bewohnern eines unbekannten Ozeans. Und doch ist die Stadt zu allen Zeiten ein ruheloser, wogender Ort, mit Flut und Wellenschlag, Schaum und Gischt. Das Geräusch seiner Straßen gleicht dem Murmeln in der ans Ohr gehaltenen Muschel, und in den großen Nebeln früherer Zeiten glaubten die Bürger, auf dem Grund des Meeres zu liegen. Sogar inmitten seiner Lichter mag London «der Ozeanboden unter den flinken, leuchtenden Fischen» sein, den George Orwell beschrieb. Dies ist ein ständig wiederkehrendes Bild der Londoner Welt, zumal in den Romanen des 20. Jahrhunderts, worin Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung die Stadt zu einer Stätte des Schweigens und geheimnisvoller Abgründe machen.

Doch wie das Meer und wie der Galgen weist London niemanden ab. Die sich auf seine Strömungen hinauswagen, trachten nach Ruhm oder Reichtum, mögen sie oft auch in seinen Tiefen untergehen. Jonathan Swift schilderte die Makler an der Londoner Börse als Handelsleute, die auf Schiffbrüche warten, um die Leichen fleddern zu können, während die Handelshäuser der Londoner City oft ein Schiff als Wetterfahne und Glücksbringer hatten. Zu den häufigsten Sinnbildern auf Londoner Friedhöfen gehören Muschel, Schiff und Anker.

Die Stare am Trafalgar Square sind dieselben Stare, die in den Klippen des nördlichen Schottland nisten. Die Londoner Tauben stammen von den wilden Felsentauben ab, die in den Steilküsten an der Nord- und Westseite der britischen Insel lebten. Für sie sind die Bauwerke der Stadt noch immer Klippen, die Straßen aber das endlose Meer, das sich hinter ihnen erstreckt. Doch der wahre Zusammenfluss von Stadt und Meer liegt darin, dass London – so lange der Herr des Handels und der Meere – auch in seiner Substanz die stumme Signatur der Gezeiten und Wellen aufweist.

Und als sich die Wasser teilten, ward die Erde Londons sichtbar. 1877 trieb man als gewaltiges Beispiel viktorianischer Ingenieurskunst am Südende der Tottenham Court Road einen Brunnen in die Erde, 350 Meter tief. Er reiste durch Hunderte von Jahrmillionen, wobei er die einstigen Urlandschaften dieses Ortes berührte, und an den Bohrungen können wir die Schichten unter den Füßen der Londoner ablesen, vom Devon über den Jura bis zur Kreidezeit. Über diesen Schichten liegen 200 Meter Kalk, der als Zutageliegendes an den Downs oder den Chilterns das Londoner Becken säumt, jene flache, untertassenförmige Senke, in der die Stadt liegt. Auf dieser Kreideschicht lastet der schwere London-Ton, den seinerseits Ablagerungen von Kiessand und Ziegelerde bedecken. Hier also ist die Stadt entstanden – in einem endlosen Prozess, denn Ton und Kalk und Ziegelerde wurden seit fast zweitausend Jahren zum Bau ihrer Häuser und öffentlichen Gebäude verwendet. Fast ist es, als habe sich die Stadt aus ihren Uranfängen erhoben, indem sie aus dem unverständigen Stoff vergangener Zeiten eine menschliche Siedlung erschuf.

Durch Brennen und Formen entsteht aus diesem Ton der London Stock, der charakteristische gelbbraune oder rote Backstein, der den Baustoff für die Häuser der Stadt abgegeben hat. Er verkörpert wahrhaftig den genius loci, und Christopher Wren vermutete: «Die Erde um London wird, recht behandelt, ebenso gute Ziegelsteine liefern, wie es die römischen waren … und die in unserer Luft jeden anderen Stein überdauern, den unsere Insel liefert.» William Blake nannte die Londoner Backsteine «wohlgearbeitete Gemütsbewegungen», womit er meint, dass die Verwandlung von Ton und Kalk in den Stoff der Straßen ein zivilisierender Vorgang war, der die Stadt an ihren Uranfang knüpfte. Die Häuser des 17. Jahrhunderts sind aus dem Staub, der in einer Eiszeit vor 25 000 Jahren über das Gebiet von London trieb.

Aus dem London-Ton kommt auch Handfesteres: die Skelette von Haien (im East End herrschte der volkstümliche Glaube, dass Haifischzähne gut gegen Krämpfe seien), der Schädel eines Wolfs in Cheapside und Krokodile im Ton von Islington. 1682 grüßte Dryden diese heute vergessene und unsichtbare Landschaft Londons:

Doch deinen Zuwachs sehn wir Monster fassen,gezeugt im Schleim, den du zurückgelassen.

«Yet monsters from thy large increase we find / Engender’d on the Slyme thou leav’st behind.»

John Dryden (1631–1700), Dichter, Theaterschriftsteller

Acht Jahre später, 1690, fand man beim heutigen King’s Cross die Überreste eines Mammuts.

Durch die Alchemie des Wetters kann sich der London-Ton in Schlamm verwandeln, und so bemerkt Charles Dickens 1851, es gebe so «viel Schlamm in den Straßen …, dass es nichts Wunderbares hätte, sähe man einen Megalosaurus von vierzig Fuß Länge wie eine elefantenförmige Eidechse den Holborn Hill hinaufwatscheln». In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts waren für Louis-Ferdinand Céline die Autobusse des Piccadilly Circus eine «Herde von Mastodonten», die in das Territorium zurückkehren, das sie verlassen hatten. Und Ende des 20. Jahrhunderts sieht der Held von Michael Moorcocks Mother London beim Passieren der Fußgängerbrücke neben der Hungerforder Eisenbahnbrücke «Monster, an Schlamm und Riesenfarnen».

Das Mammut von 1690 war nur das erste vorzeitliche Relikt, das man in der Gegend von London entdeckte. Es lagen Nilpferde und Elefanten unter dem Trafalgar Square, Löwen am Charing Cross und Büffel neben St Martin-in-the-Fields. Man fand einen Braunbären im nördlichen Woolwich, Makrelen in den alten Ziegelein von Holloway, Haie in Brentford. Zu den wilden Tieren Londons zählen Rentiere, Riesenbiber, Hyänen und Nashörner, die einst in den Sümpfen und Lagunen der Themse grasten. Und ganz verschwunden ist diese Landschaft nicht. Noch ist es in der Erinnerung der Menschen, wie der Nebel aus dem Marschland um Westminster die Fresken von St Stephen zerstört hat. Und noch heute kann man neben der National Gallery die Anhebung des Bodens zwischen mittlerer und oberer Themseterrasse im Pleistozän erkennen.

Relikte zeigen, dass es schon lange vor der römischen Stadtgründung menschliche Besiedlung an der Themse gab.

Die Gegend war auch damals nicht menschenleer. In den Knochen des Mammuts vom King’s Cross hat man Stücke einer Streitaxt aus Flintstein entdeckt, die ins Paläolithikum zu datieren ist. Mit einiger Sicherheit können wir sagen, dass es seit einer halben Million Jahre in London menschliches Hausen und Jagen gegeben hat, wiewohl keine feste Besiedlung. Der erste große Brand brach vor einer Viertelmillion Jahre in den Urwäldern südlich der Themse aus. Dieser Fluss nahm zwar damals schon den ihm bestimmten Lauf, hatte aber noch nicht sein späteres Erscheinungsbild; er war sehr breit und wurde von vielen Nebenflüssen gespeist, von Urwäldern eingeschlossen und von Sümpfen und Flussmarschen begrenzt.

Die Vorgeschichte Londons lädt zu endlosen Spekulationen ein, und der Gedanke an eine prähistorische menschliche Besiedlung dort, wo Jahrtausende später Straßen angelegt und Häuser gebaut wurden, kann einen mit Genugtuung erfüllen. Es besteht kein Zweifel, dass die Region seit mindestens fünfzehntausend Jahren ohne Unterbrechung bewohnt worden ist. Ein großer Fund von Steinwerkzeugen in Southwark markiert wahrscheinlich die Überreste einer mesolithischen Fabrikation; auf der Hampstead Heath wurde ein Jagdplatz aus derselben Zeit entdeckt, in Clapham wurde eine Steingutschale aus dem Neolithikum ausgegraben. An diesen uralten Stätten hat man Gruben und Löcher für Pfähle sowie menschliche Überreste und Spuren von Festgelagen entdeckt. Diese ersten Menschen bevorzugten einen Trank ähnlich dem Met oder Bier. Wie ihre Londoner Nachkommen hinterließen sie überall Unmengen von Abfall. Und wie sie versammelten sie sich zu Andachtszwecken. Viele Jahrtausende lang behandelten diese alten Völker den großen Strom als eine Gottheit, die es zu besänftigen galt und in dessen Tiefen sie die Leichen ihrer erlauchten Toten zu versenken hatten.

Im Spätneolithikum erhoben sich aus dem weiten Marschland am Nordufer der Themse zwei Kuppen, bedeckt von Kiessand und Ziegelerde, umstanden von Schilfgras und Weiden. Sie waren zwölf bis fünfzehn Meter hoch; ein Tal trennte sie, durch das ein Bach floss. Wir kennen sie als Cornhill und Ludgate Hill, zwischen denen der heute überdeckte Walbrook lief. So entstand London.

Der Name ist vermutlich keltischen Ursprungs – ärgerlich für alle, die hier an keine menschliche Siedlung vor der Stadtgründung durch die Römer glauben wollen. Die Bedeutung des Namens ist jedoch umstritten. Er könnte sich von dem Wort Llyn-don ableiten, die Stadt oder Feste (don) am See oder Fluss (Llyn); aber das ist eher mittelalterliches Walisisch als Altkeltisch. Er könnte auch von Laindon kommen, «langer Hügel», oder vom gälischen lunnd, «die Marsch». Nach einer anderen Theorie leitet sich der Name London von dem keltischen Adjektiv londos, «ungestüm», her – eine faszinierende These, bedenkt man den Ruf der Gewalttätigkeit, den sich die Londoner später erwarben.

Eine eher spekulative Etymologie lässt die Ehre der Namensgebung König Lud zuteil werden, der in dem Jahrhundert vor der römischen Invasion geherrscht haben soll. Er legte Straßen an und erneuerte die Stadtmauern. Nach seinem Tod wurde er bei dem Tor begraben, das seinen Namen trug, und so wurde die Stadt als Kaerlud oder Kaerlundein bekannt, «Luds Stadt». Skeptische Geister mögen geneigt sein, solche Geschichten zu verwerfen; und doch können die Sagen von tausend Jahren tiefe und besondere Wahrheiten enthalten.

Jedenfalls bleibt der Ursprung des Namens ein Geheimnis. (Seltsamerweise hat auch der Name jenes Minerals, das am meisten mit London assoziiert wird, nämlich der Kohle, ebenfalls keine sichere Ableitung.) Mit seiner silbischen Wucht, die so stark an Gewalt oder Donner gemahnt, hallt das Wort London durch die Geschichte – Caer Ludd, Lundunes, Lindonion, Lundene, Lundone, Ludenberk, Longidinium und ein Dutzend weiterer Varianten. Es gibt sogar Vermutungen, dass der Name noch älter ist als die Kelten und in neolithischer Vergangenheit entspringt.

Wir müssen nicht unbedingt annehmen, dass sich auf Ludgate Hill oder Cornhill Siedlungen oder wehrhafte Einfriedigungen befanden oder dass es hölzerne Knüppeldämme gab, wo heute breite Straßen verlaufen; dennoch mögen die Vorteile dieses Platzes schon im vierten und dritten Jahrtausend v. Chr. so offensichtlich gewesen sein, wie sie es später für Kelten und Römer waren. Die Hügel waren gut verteidigt; sie bildeten eine natürliche Hochfläche und hatten zu ihrem Schutz den Fluss im Süden, Fenne im Norden, Marschen im Osten und einen weiteren Fluss, der später Fleet hieß, im Westen. Es war fruchtbarer Boden und gut bewässert von Quellen, die durch den Kiessand aufsprudelten. Die Themse war an dieser Stelle gut schiffbar, da der Fleet und der Walbrook natürliche Häfen bildeten. So war London seit frühester Zeit der ideale Platz für den Handel, für Märkte und für Tauschgeschäfte. Die Londoner City ist über lange Zeiten ihres Bestehens Zentrum des Welthandels gewesen; so ist vielleicht der Hinweis lehrreich, dass sie möglicherweise mit den Transaktionen von Steinzeitmenschen auf ihren eigenen Märkten begonnen hat.

Dies alles ist Spekulation, wenn auch keine willkürliche. Beweise von handfesterer Art hat man in späteren Schichten der Londoner Erde entdeckt. In jenen langen Zeitspannen, die man als Späte Eisenzeit und Frühe Bronzezeit bezeichnet – und die einen Zeitraum von fast tausend Jahren umfassen –, wurden allenthalben in London Scherben und Fragmente von Schalen, Krügen und Werkzeugen hinterlassen. Es gibt Zeichen prähistorischer Tätigkeit in der Gegend dessen, was heute St Mary Axe und Gresham Street, Austin Friars und Finsbury Circus, Bishopsgate und Seething Lane ist; insgesamt fast 250 «Funde» ballten sich auf dem Gebiet der Zwillingshügel samt Tower Hill und Southwark. Aus der Themse selbst sind Hunderte von Metallgegenständen geborgen worden, während man an ihren Ufern häufige Spuren von Metallbearbeitung findet. Es ist der Zeitraum, in dem die ersten großen Sagen um London entstehen. Es ist auch – in der Spätphase – das Zeitalter der Kelten.

Im ersten Jahrhundert v. Chr. lässt Julius Cäsars Beschreibung der Gegend um London auf das Vorhandensein einer durchgebildeten, reichen und gut organisierten Stammeskultur schließen. Ihre Bevölkerung war «ausnehmend groß», «der Boden dicht besetzt mit Gehöften». Über Beschaffenheit und Bedeutung der Zwillingshügel in dieser Zeit kann nichts Sicheres gesagt werden; vielleicht waren es heilige Stätten, oder ihre ausgeprägte Lage erlaubte ihre Verwendung als Bergfesten zum Schutz des Handelsverkehrs auf dem Fluss. Es gibt allen Grund zu der Vermutung, dass dieser Bereich der Themse ein Handels- und Industriezentrum mit einem Markt für Eisenerzeugnisse und kunstvolle Bronzearbeiten war, auf dem Kaufleute aus Gallien, Rom und Spanien Töpferware, Weine und Gewürze feilboten und gegen Getreide, Metalle und Sklaven eintauschten.

In der Geschichte dieser Zeit, die Geoffrey von Monmouth 1136 abschließt, ist fraglos London die führende Stadt auf der Insel Britannien. Für moderne Geschichtsforscher freilich gründet sich Geoffreys Werk auf verlorene Texte, apokryphe Ausschmückungen und bloße Vermutungen. Wo er zum Beispiel von Königen spricht, reden sie lieber von Stämmen; er datiert Ereignisse anhand biblischer Parallelen, während die modernen Spezialisten Orientierungspunkte wie «Späte Eisenzeit» verwenden; er verdeutlicht Konfliktmuster und sozialen Wandel im Sinne individueller menschlicher Leidenschaften, während neuere Darstellungen der Vorgeschichte mit abstrakteren Theorien von Handel und Technologie aufwarten. Die Herangehensweisen mögen widersprüchlich sein – unvereinbar sind sie nicht. So glauben die Historiker des frühen Britannien, dass auf dem Territorium im Norden der Region London das Volk der Trinovantes gesiedelt hat. Trinovantum aber war laut Geoffrey von Monmouth der erste Name der Stadt London. Er erwähnt auch das Vorhandensein von Tempeln in der Stadt; aber selbst wenn es sie gegeben hat, wären diese Pfahlwerke und hölzernen Einfriedigungen unter dem Stein der römischen Siedlung ebenso verschwunden wie Backstein und Zement späterer Generationen.

Aber nichts geht für immer verloren. In den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unternahm die Vorgeschichtsforschung besondere Anstrengungen, wenigstens einen Zipfel des Schleiers über der Vergangenheit Londons zu lüften. In Büchern mit Titeln wie Die ersten Bewohner Londons unterzog man Zeugnisse und Spuren eines keltischen oder druidischen London einer gründlichen Prüfung und befand sie für bedeutsam. Diese Untersuchungen fanden nach dem Zweiten Weltkrieg ein jähes Ende, als Stadtplanung und Wiederaufbau wichtiger waren als historische Spekulationen. Aber die ursprünglichen Studien haben überlebt und lohnen noch heute eine gründliche Lektüre. Die Tatsache, dass heutige Straßennamen keltischen Ursprung verraten – so Colin Deep Lane, Pancras Lane, Maiden Lane oder Ingal Road –, ist ebenso instruktiv wie einer der materiellen Funde an der Stelle des prähistorischen London. Längst vergessene Knüppeldämme haben den Weg heutiger Durchgänge vorgezeichnet; so markiert die Kreuzung am Angel in Islington den Punkt, wo sich zwei prähistorische britische Straßen schnitten. Wir wissen von der Old Street, die nach Old Ford führt, von der Maiden Lane, die quer durch Pentonville und über die Battle Bridge nach Highgate reicht, und vom Weg von der Upper Street nach Highbury, dass sie alle uralten Dämmen und verborgenen Pfaden folgen.

Dennoch gibt es, was diesen Zeitraum betrifft, kein verdächtigeres oder schwierigeres Thema als das Druidentum. Dass es in keltischen Siedlungen gut eingeführt war, unterliegt keinem Zweifel; Julius Cäsar stellt fest, dass die druidische Religion in Britannien gestiftet (inventa) worden und ihre keltischen Anhänger auf die Insel gekommen seien, um sich in ihren Mysterien unterweisen zu lassen. Das Druidentum stand für eine hoch entwickelte, wiewohl etwas isolierte religiöse Kultur. Natürlich kann man spekulieren, dass die Eichenwälder nördlich der Zwillingshügel eine passende Stätte für Opfer und Kultus boten; der Altertumsforscher Sir Laurence Gomme hat sogar einen Tempel oder heiligen Ort der Druiden auf dem Ludgate Hill selbst ins Auge gefasst. Allerdings gibt es auch viele falsche Fährten. So war man früher einhellig der Auffassung, dass der Parliament Hill bei Highgate Ort einer religiösen Versammlungsstätte gewesen sei, doch in Wirklichkeit stammen die dort entdeckten Überreste nicht aus vorgeschichtlicher Zeit. Die Chislehurst-Höhlen im südlichen London, von denen man einst vermutete, sie seien druidischen Ursprungs und hätten mit der Beobachtung des Himmels zu tun, sind mit ziemlicher Sicherheit mittelalterliche Anlagen.

Über das Gebiet um London, so wird vermutet, wachten drei heilige Schanzen, der Penton Hill, der Tothill und der White Mound, auch Tower Hill genannt. Viele merkwürdige Parallelen und Übereinstimmungen machen solche Theorien interessanter als die Phantastereien unserer jüngsten Psychogeographen. Man weiß, dass im prähistorischen Kult eine heilige Stätte durch eine Quelle, einen Hain und einen Brunnen oder rituellen Schacht markiert wurde.

Im Lustgarten von White Conduit House, das auf dem Hochufer von Pentonville steht, findet sich ein Hinweis auf ein «Sträucherlabyrinth»; die Verkörperung eines Labyrinths aber war ein heiliger Berg oder Hain. Ganz in der Nähe befindet sich die berühmte Quelle von Sadlers Wells. In neuerer Zeit floss das Wasser aus dieser Quelle unter dem Orchestergraben des Theaters, aber seit dem Mittelalter galt es als heilig und wurde von den Priestern von Clerkenwell gehütet. Der Ort auf dem Hochufer in Pentonville war ebenfalls einst ein Wasserreservoir; bis vor kurzem hatte hier das Londoner Wasseramt seinen Sitz.

Ein weiteres Labyrinth entdeckte man auf den ehemaligen Tothill Fields in Westminster; es ist auf Hollars Vedute dieser Gegend aus der Mitte des 17. Jahrhunderts abgebildet. Auch hier gibt es eine sakrale Quelle, die sich aus dem «heiligen Brunnen» in Dean’s Yard, Westminster, speist. Hier wurde schon früh eine Messe ähnlich den Lustgärten auf White Conduit Fields veranstaltet; die erste Erwähnung stammt aus dem Jahr 1257.

Die Plätze sind also vergleichbar. Es gibt aber noch andere nachdenklich machende Übereinstimmungen. So ist auf alten Landkarten «St Hermit’s Hill» ein markanter Punkt in der Gegend um die Tothill Fields. Bis heute gibt es beim oberen Ende der Pentonville Road eine Hermes Street. Interessant ist vielleicht auch, dass in einem Haus an dieser Stelle ein Arzt wohnte, der eine als «Lebensbalsam» bezeichnete Medizin propagierte; sein Haus wurde später zu einer Sternwarte umgebaut.

Auf dem Tower Hill sprudelte eine Quelle, deren Wasser angeblich heilende Kräfte besaß. Hier befindet sich ein mittelalterlicher Brunnen, und man hat Spuren eines spätsteinzeitlichen Grabes entdeckt. Den Welsh Triads zufolge ist das Wächterhaupt Brans des Gesegneten im White Hill beigesetzt, wo es das Königreich vor seinen Feinden beschützt. Auch Brutus, der sagenhafte Gründer Londons, soll auf dem Tower Hill begraben sein, an heiliger Stätte, die bis zum 17. Jahrhundert als Sternwarte diente.

Die Etymologie der Namen Penton Hill und Tothill ist ziemlich gesichert. Pen ist keltisch und heißt Haupt oder Berg, während ton eine Variante zu tor/tot/twt/too ist, was Quelle oder aufsteigender Grund bedeutet. (Wycliffe wendet die Worte tot oder tote beispielsweise auf den Berg Zion an.) Romantischere Gemüter haben vorgeschlagen, das Wort tot vom ägyptischen Gott Thot abzuleiten, welcher bekanntlich in Hermes fortlebt, der griechischen Verkörperung des Windes oder der Musik der Leier.

Dies also wäre die Hypothese: Londons Hügel, die so viele ähnliche Merkmale aufweisen, sind in Wirklichkeit die heiligen Stätten eines druidischen Ritus. Das Labyrinth ist das sakrale Gegenstück zum Eichenhain, während die Brunnen und Quellen den Kult des Wassergottes darstellen. Der Sitz des Londoner Wasseramts war also gut gewählt. Lustgärten und Jahrmärkte sind die jüngere Version jener prähistorischen Feste oder Versammlungen, die an derselben Stelle stattgefunden haben. So sind Tothill, Penton und Tower Hill von Altertumsforschern als die heiligen Orte Londons bezeichnet worden.

Allgemein nimmt man natürlich an, dass Pentonville nach Henry Penton benannt ist, einem Spekulanten des 18. Jahrhunderts, der das Gebiet erschloss. Kann ein und derselbe Ort verschiedene Identitäten annehmen, in unterschiedlichen Zeiten und Weltsichten existieren? Könnte es sein, dass beide Erklärungen gleichzeitig wahr sind? Ist Billingsgate vielleicht nach dem keltischen König Belinus oder Belin benannt, wie der große Altertumsforscher John Stow im 16. Jahrhundert vermutete, oder doch nach einem gewissen Mr. Beling, dem das Gelände einst gehörte? Kann Ludgate wirklich den Namen des keltischen Wassergottes Lud tragen? Wer will, darf hier seinen Träumen nachhängen.

Genauso wichtig ist es, nach Beweisen der Kontinuität Ausschau zu halten. Wahrscheinlich gab es uralte kultische Formen bei den Briten, lange bevor die Druiden zu Hohenpriestern ihrer Kultur aufstiegen; dafür scheinen keltische Formen des Rituals die römische Besetzung und nachfolgende Invasionen durch die Sachsenstämme lange überlebt zu haben. In den Büchern der St Paul’s Cathedral werden die angrenzenden Gebäude «Camera Dianae» genannt. Ein Chronist des 15. Jahrhunderts wusste noch von einer Zeit, da «London die Diana verehrt», die römische Göttin der Jagd. Das wäre zumindest eine Erklärung für die bizarre Zeremonie, die noch Ende des 16. Jahrhunderts alljährlich in St Paul’s begangen wurde. Hier, in diesem christlichen Gotteshaus, errichtet auf der heiligen Stätte des Ludgate Hill, wurde der Kopf eines Hirschen auf einem Speer rund um die Kirche getragen; danach nahmen mit Blumen bekränzte Priester ihn auf den Kirchenstufen in Empfang. So hielten sich die heidnischen Gebräuche der Stadt bis in christliche Zeiten, wie ja auch bei den Londonern selbst ein latentes Heidentum fortlebte.

Ein anderes Erbe vorgeschichtlicher Frömmigkeit sei nicht vergessen. Die Christen übernahmen die Ahnung, dass bestimmte Orte wirkungsmächtig oder verehrungswürdig seien, indem sie «heilige Brunnen» anerkannten und Zeremonien einer Lokalfrömmigkeit wie das «Abklopfen» der Kirchspielgrenzen mit Stäben gelten ließen. Doch dieselbe Empfindung ist auch in den Schriften der großen Londoner Visionäre von William Blake bis Arthur Machen anzutreffen – Schriften, in denen die Stadt selbst als heiliger Ort mit seinen eigenen freudenreichen und schmerzensreichen Geheimnissen erscheint.

«Im Jahre 1108 v. Chr. kam Brutus, ein Abkömmling von Aeneas, dem Sohn der Venus, nach dem Fall Trojas mit seinen Kriegern nach England und gründete Troynovant, heute London.»

Geoffrey of Monmouth (um 1100–54) über die Gründungslegende Londons.

In dieser keltischen Zeit, schimärengleich im Schatten der bekannten Welt versteckt, haben die großen Londoner Ortssagen ihren Ursprung. Die Annalen der Geschichte wissen nur von kriegerischen Stämmen mit hoch organisierter Zivilisation von einiger Differenziertheit. Mit anderen Worten, es waren nicht gerade Wilde, und der griechische Geograph Strabo erzählt von einem Briten, einem Gesandten, der gut gekleidet, von wachem Verstand und angenehmem Wesen war. Er sprach so fließend griechisch, «dass man hätte meinen können, er habe das Lyzeum besucht». Das ist der rechte Hintergrund für jene Erzählungen, die London den Status einer Hauptstadt zuschreiben. Brutus, nach der Sage der Gründer Londons, wurde innerhalb der Stadtmauern begraben. Locrinus versteckte seine Geliebte Estrildis in einer geheimen Kammer unter der Erde. Bladud, der Zauberei betrieb, verfertigte sich ein Flügelpaar, um über London durch die Luft zu fliegen, aber er stürzte ab und landete auf dem Dach des Apollotempels, der im Herzen der Stadt stand, vielleicht sogar auf dem Ludgate Hill selbst. Ein anderer König, Dunvallo, der das alte Asylrecht im Heiligtum formulierte, wurde neben einem Londoner Tempel begraben. Aus derselben Zeit stammen die Geschichten von König Lear und von Cymbeline. Noch wirkmächtiger war die Sage von dem Riesen Gremagot. Er verwandelte sich durch eine absonderliche Alchemie in das Zwillingspaar Gog und Magog, aus dem die Schutzgeister Londons wurden. Man hat oft vermutet, dass jeder dieser eigentümlich wilden Zwillinge, deren Statuen seit Jahrhunderten im Rathaus stehen, über einen der Londoner Zwillingshügel wacht.

Solche Geschichten überliefert John Milton in seiner History of Britain, die vor über dreihundert Jahren erschien. «Hiernach erbaute Brutus an einem auserwählten Ort Troia nova, durch Wandel der Zeit Trinovantum, heute London; und begann, Gesetze zu geben, da Heli Hoherpriester in Judäa war; und nachdem er 24 Jahre über die ganze Insel geherrscht hatte, starb er und ward in seinem neuen Troja begraben.» Brutus war der Urenkel des Aeneas, der einige Jahre nach dem Untergang Trojas den Auszug der Trojaner aus Griechenland anführte; im Laufe seiner Irrfahrten in der Fremde wurde ihm ein Traum zuteil, worin die Göttin Diana prophetische Worte zu ihm sprach: Eine Insel weit im Westen, noch hinter dem Reiche Gallien, «taugt für dein Volk; dorthin sollst du die Segel setzen, Brutus, und eine Stadt errichten, die das zweite Troja sein wird». «Und Könige seien dir geboren von schrecklicher Macht, die der Welt Furcht einflößen und stolze Nationen erobern werden.» London wird ein Weltreich beherrschen, aber es wird wie Troja eine verheerende Feuersbrunst erleiden. Interessanterweise gibt es Bilder vom Großen Brand Londons 1666, die ausdrücklich auf den Untergang Trojas anspielen. In der Tat ist dies der eigentliche Ursprungsmythos Londons, und er begegnet uns in den Versen des «Tallisen» aus dem 6. Jahrhundert, wo die Briten als das lebende Überbleibsel Trojas gefeiert werden, ebenso wie später in den Gedichten Edmund Spensers und Alexander Popes. Pope, geboren in Plough Court an der Lombard Street, besang natürlich eine visionäre städtische Kultur, doch passt sie vortrefflich zu einer Stadt, zu deren Gründung Brutus durch einen Traum inspiriert worden sein soll.

Man hat die Geschichte von Brutus als bloße Fabel und phantastische Legende abgetan, doch schon der besonnene Milton schreibt in der Einleitung zu seinem Geschichtswerk: «Von Berichten, die lange als Fabelwerk galten, hat man oft später gefunden, dass sie viele Spuren und Überreste von etwas Wahrem enthalten.» Einige Historiker glauben, dass wir die Irrfahrten jenes scheinbar sagenhaften Brutus in die Zeit um 1100 v. Ch. datieren können. Nach der modernen historiographischen Terminologie entspricht das der Späten Bronzezeit, als neue Scharen oder Stämme von Siedlern das Gebiet um London besetzten und große, wehrhafte Einfriedigungen errichteten. Met (Honigwein), Ringetausch und wütende Kämpfe bestimmten ihr heroisches Leben, wovon spätere Sagen berichteten. In Segmente geteilte Glasperlen wie jene aus Troja wurden auch in England entdeckt. Im Wasser der Themse fand man eine zweihenklige Schale; ihr Herkunftsort liegt in Kleinasien, und sie entstand um 900 v. Chr. Es gibt also Hinweise auf einen Handelsverkehr zwischen Westeuropa und dem östlichen Mittelmeer, und wir haben allen Grund zu der Annahme, dass phrygische oder später phönizische Kaufleute die Gestade Albions erreichten und zum Markt nach London segelten.

Materielle Zeugnisse für eine Verbindung zu Troja selbst und jener Gegend Kleinasiens, in der sich diese alte, dem Untergang geweihte Stadt befand, lassen sich anderswo finden. Diogenes Laertius setzte die Kelten mit den Chaldäern Assyriens gleich; das berühmte britische Bildmotiv, das Löwe und Einhorn verbindet, mag denn auch chaldäischen Ursprungs sein. Cäsar registrierte mit einiger Verwunderung, dass die Druiden griechische Buchstaben benutzten. In den Welsh Triads gibt es die Beschreibung eines feindlichen Stammes, der aus der Gegend von Konstantinopel an die Küsten Albions oder Englands gefahren kommt. Nachdenklich stimmt vielleicht, dass auch Franken und Gallier auf ihre trojanische Abstammung pochten. Dass ein Stamm aus dem Gebiet des untergegangenen Troja nach Westeuropa auswanderte, ist zwar nicht völlig ausgeschlossen; wahrscheinlicher ist aber wohl, dass das keltische Volk selbst seinen Ursprung im östlichen Mittelmeerraum hatte. Die Sage von London als dem zweiten Troja vermag also noch immer einige Anhänger zu mobilisieren.

Früher konnten die Einwohner Londons den London Stone bewundern. Manche halten ihn für einen römischen Meilenstein, andere glauben an eine rechtliche Funktion. Er liegt heute, kaum sichtbar, in der Cannon Street.

Am Anfang jeder Kultur stehen Fabeln und Legenden; erst am Ende wird deren Genauigkeit bewiesen.

Ein Zeichen von Brutus und seiner Flotte gibt es vielleicht noch. Geht man die Cannon Street in östlicher Richtung hinunter, so entdeckt man gegenüber dem Bahnhof, am Gebäude der Bank of China, ein Eisengitter. Es verschließt eine Nische mit einem gut 60 Zentimeter hohen Stein, der an seiner Oberseite eine leichte Einkerbung aufweist. Das ist der «London Stone». Jahrhundertelang glaubte man, dies sei der Stein des vergöttlichten Brutus. «Solange Brutus’ Stein in Sicherheit ist, so lange wird London gedeihen», lautete ein gängiges Sprichwort. Der Stein ist unzweifelhaft von hohem Alter; seine erste Erwähnung entdeckte John Stow in einem «schön geschriebenen Evangeliar», das einst dem westsächsischen König Ethelstone gehörte, der im frühen 10. Jahrhundert regierte. In diesem Buch heißt es von bestimmten Ländereien und Pachten, dass sie «nahe beim London Stone liegen». Nach der Victorian County History markierte der Stein einst den Mittelpunkt der Altstadt; 1742 wurde er jedoch von der Straßenmitte der Cannon Street entfernt und in das Mauerwerk der gegenüberliegenden St Swithin’s Church eingelassen. Dort blieb er bis zum Zweiten Weltkrieg, doch während die Kirche durch eine deutsche Bombe restlos zerstört wurde, blieb der Stein intakt. Er besteht aus Oolith, von dem als Kalkstein nicht anzunehmen ist, dass er seit prähistorischer Zeit überdauert hat. Trotzdem war ihm ein verzaubertes Leben beschert.

Der Dichter Fabyan feierte im 15. Jahrhundert die religiöse Bedeutung eines Steines von vollkommener Reinheit: «von manchen geworfen … / tat er niemandem weh». Die wirkliche Bedeutung des Steins bleibt dennoch unklar. Manche Altertumsforscher haben ihn als Hinweis auf eine städtische Gesellschaft gedeutet, der irgendwie mit der Rückzahlung von Schulden zusammenhing, während andere ihn für einen römischen Meilenstein (milliarium) halten. Christopher Wren argumentierte jedoch, dass der Stein hierfür ein zu breites Fundament besitze. Wahrscheinlicher ist eine Rechtsfunktion. In Pasquill and Marfarius, einem heute vergessenen Theaterstück von 1589, macht jemand die Bemerkung: «Begleiche diese Rechnung am ‹London Stone›, und zwar feierlich, mit Pauken und Trompeten!» An einer anderen Stelle heißt es: «Falls es ihnen an diesen dunklen Winterabenden gefällt, ihre Papiere am ‹London Stone› zu hinterlegen.» Dass der Stein zu einem Gegenstand tiefer Verehrung wurde, steht außer Zweifel. William Blake war überzeugt, dass er eine Hinrichtungsstätte der Druiden markierte: die Geopferten «stöhnten laut am ‹London Stone›». In Wirklichkeit diente der Stein vielleicht weniger traurigen Zwecken.

Als der volkstümliche Aufrührer Jack Cade 1450 London stürmte, zog er mit seinen Anhängern auch zum London Stone; er berührte ihn mit seinem Schwert und rief aus: «Jetzt ist Mortimer» – diesen Namen hatte er angenommen – «Herr dieser Stadt!» Der erste Bürgermeister von London war Ende des 12. Jahrhunderts ein Henry Fitz-Ailwin de Londonestone. Es ist also anzunehmen, dass dieses Objekt aus uralter Zeit schließlich die Macht und Herrschaft der Stadt verkörperte.

Heute ruht er, schwärzlich und unbeachtet, am Rand einer belebten Durchgangsstraße. Was ist nicht über ihn hinweggegangen: hölzerne Karren, Pferdekutschen, Sänften, Kabrioletts, Mietdroschken, Autobusse, Fahrräder, Straßenbahnen und Autos. Er war einmal der Schutzgeist Londons, und vielleicht ist er es noch heute.

Zumindest ist er ein materielles Überbleibsel all der alten Sagen um London und seine Gründung. Für das keltische Volk verdichtete sich in diesen Geschichten der Ruhm einer Stadt, die einmal unter dem Namen «Cockaigne» bekannt war. An diesem Ort des Wohlstands und Entzückens konnte der Reisende Reichtümer und segensreiches Glück finden. Dieser uralte Mythos lieferte den Hintergrund für spätere Sagen wie die von Dick Whittington, aber auch für die Sprichwörter, wonach Londons Straßen «mit Gold gepflastert» seien. Allerdings war dieses Gold leichter verderblich als der London Stone.

2. Die Steine

Ein Abschnitt der ursprünglichen Londoner Stadtmauer samt mittelalterlichen Zusätzen ist noch am Trinity Square, gleich nördlich vom Tower of London, zu sehen. Der Tower selbst war teilweise in das Mauerwerk einbezogen und erfüllte so in materieller Form die Forderung William Dunbars: «Steinern seien die Mauern, die dich umstehen.» Die Stadtmauer war an ihrer Basis fast drei Meter breit und über sechs Meter hoch; neben diesen Resten am Trinity Square erkennt man noch die steinerne Kontur eines inneren Turms, in dem man über ein hölzernes Treppenhaus zu einer ostwärts über die Marschen blickenden Brustwehr gelangte.

Von hier kann man die Geistermauer, die Stadtmauer, wie sie einst war, in der Phantasie weiterverfolgen. Sie führt nordwärts zum Cooper’s Row, wo ein Teilstück noch im Innenhof eines leer stehenden Gebäudes zu sehen ist; es ragt jetzt in einer Tiefgarage auf. Sie dringt durch Beton und Marmor dieses Gebäudes, dann durch Backstein und Eisen des Eisenbahnviadukts an der Fenchurch Street Station, bis am America Square wieder ein erhalten gebliebenes Stück zum Vorschein kommt. Sie verbirgt sich im Erdgeschoss eines modernen Gebäudes, das selbst Brustwehren, Türmchen und viereckige Türme hat; ein Streifen mit glasierten roten Ziegeln zeigt eine mehr als oberflächliche Ähnlichkeit mit den Flächen flacher roter Ziegel an dem altrömischen Bauwerk. Für einen Augenblick zeigt sie sich als Crosswall und durchschneidet den Sitz eines Unternehmens namens Equitas. Sie geht durch die Vine Street (am Tiefgaragenstellplatz 35 befindet sich eine Überwachungskamera auf der alten Linie der heute unsichtbaren Mauer) zur Jewry Street, die selbst dem Gang der Mauer fast exakt folgt, bis sie auf Aldgate trifft; von allen Gebäuden hier kann man sagen, dass sie eine neue Mauer bilden, die den Westen vom Osten trennt. Hier finden wir das Centurion House und Boots, den Apotheker.

Die Stadtmauer am Tower Hill, erbaut in römischer Zeit.

Die Stufen der U-Bahn-Station in Aldgate führen auf das Niveau des spätmittelalterlichen London hinunter; wir aber folgen der Mauer zum Duke’s Place und in die Bevis Marks; unweit der Kreuzung dieser zwei Durchgangsstraßen befindet sich heute ein Teil jenes «Rings aus Stahl», der einmal mehr dazu gedacht ist, die Stadt zu schützen. Auf einem Stadtplan des 16. Jahrhunderts ist Bevis Marks dem Gang der Stadtmauer angepasst, und so ist es noch heute; das Straßennetz hat sich an dieser Stelle seit Jahrhunderten nicht verändert. Sogar die Gässchen, wie Heneage Lane, sind geblieben. An der Ecke Bevis Marks / St Mary Axe steht ein hohes Gebäude mit mächtigen Fenstern; über dem Eingang ist ein großer goldener Adler zu sehen, wie von einer kaiserlichen Standarte. Auch hier folgen Überwachungskameras der Linie der Mauer, die zur Camomile Street in Richtung Bishopsgate und Wormwood Street hinunterführt.

Sie verschwindet unter dem Friedhof von St Botolph’s, hinter einem Gebäude mit weißer Steinfassade und einer Blendwand aus dunklem Glas, doch dann erscheinen Stücke von ihr wieder bei der Kirche All Hallows-on-the-Wall, die nach altem Brauch zum Schutz und Segen dieser Verteidigungsanlage erbaut worden ist. Der Name der modernen Durchgangsstraße hier lautet endlich London Wall. Ein Turm wie ein Türchen aus braunem Stein sitzt auf dem Haus London Wall 85, ganz nahe bei der Stelle, wo kürzlich eine Bastion aus dem 4. Jahrhundert entdeckt worden ist, während die Linie der Stadtmauer von der Blomfield Street bis Moorgate hauptsächlich Bürogebäude aus dem späten 19. Jahrhundert aufweist. Direkt an die Nordseite der Stadtmauer hatte man einst Bethlehem Hospital (Bedlam) gebaut, das jedoch auch verschwunden ist. Dennoch spürt man unweigerlich die Gegenwart oder den mächtigen Geist der alten Stadtmauer, wenn man diese lang gezogene Durchgangsstraße entlanggeht, die in die Spätphase der römischen Besetzung zu datieren ist. Hinter Moorgate erhebt sich dann eine neue Mauer, die auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs errichtet worden ist. Die Bomben selbst förderten lang verschüttete Reste der alten Stadtmauer zutage, und noch heute sind längere, gras- und moosüberwachsene Strecken von ihr zu sehen. Doch flankiert werden diese alten Steine von dem blitzenden Marmor und polierten Stein der neuen Bauwerke, die die Stadt dominieren.

Londinium wurde durch eine etwa 5 km lange, ringförmig angelegte Stadtmauer geschützt, die um 200 n. Chr. errichtet wurde.

Rund um die Stelle des großen römischen Forts, an der nordwestlichen Ecke der Mauer, entstehen jetzt diese neuen Festungen und Türme: Roman House, Britannic Tower, City Tower, Alban Gate (das man durch eine geringfügige Veränderung in Albion Gate umbenennen könnte) sowie die Beton- und Granittürme des Barbican, die dem Platz, wo einst die römischen Legionen zusammengezogen wurden, wieder eine erhabene Kahlheit und Brutalität zurückgegeben haben. Sogar die Gehsteige dieser weiträumigen Anlage befinden sich annähernd auf gleicher Höhe wie die Brustwehren der alten Stadtmauer.

Nun wendet sich die Mauer nach Süden, und lange Teilstücke von ihr sind an der nach Aldersgate abfallenden Westseite des Barbican Centre zu sehen. Auf ihrem Weg von Aldersgate über Newgate bis nach Ludgate bleibt die Mauer meistenteils unsichtbar, doch gibt es aufschlussreiche Zeichen für ihren Verlauf. So stellt eine Skulptur im Postman’s Park, direkt nördlich der Mauer, das große Untier des klassischen Altertums, den Minotauros, dar. Die fleckigen, nachgedunkelten Steinblöcke des Sessions House neben dem Old Bailey markieren noch heute die äußere Grenze der Wehranlagen, und eine jüngere Mauer in Amen Court, die gegen die Rückseite des Old Bailey schaut, ist wie ein Wiedergänger aus Stein und Mörtel. Hinter St Martin’s Ludgate gehen wir hinüber zum Ludgate Hill, gelangen auf die Pilgrim Street und gehen am Pageantmaster Court entlang, wo heute die Linien des City Thames Link dem einstigen Verlauf des munteren Fleet-Flusses folgen, bis wir an den Rand des Wassers stoßen, wo die Mauer einst abrupt aufhörte.

Die Stadtmauer umschloss ein Areal von 330 Morgen (1,3 km2). Man brauchte ungefähr eine Stunde, um ihren Umkreis abzuschreiten, und der heutige Fußgänger wird den Weg in derselben Zeit zurücklegen können. Die Straßen neben der Mauer sind noch immer befahrbar, tatsächlich wurde der größere Teil der Mauer erst 1760 abgerissen. Bis dahin bot die Stadt das Erscheinungsbild einer Festung; in den isländischen Sagas hieß sie darum Lundunaborg, «Feste London». Sie wurde ständig ausgebessert, so als hingen Unversehrtheit und Identität der Stadt selbst vom Überleben dieses alten Steinbauwerks ab; Kirchen wurden neben ihr errichtet, und Klausner hüteten ihre Tore. Menschen, die weltlicheren Beschäftigungen nachgingen, bauten ihr Haus oder ihre Holzhütte an der Stadtmauer, so dass man überall die eigentümliche Mischung von faulendem Holz und modrigem Stein sehen (und wohl auch riechen) konnte. Ein Pendant aus neuerer Zeit kann man in den Backsteinbögen alter Eisenbahnbrücken sehen, die für Läden und Garagen genutzt werden.

Auch nach ihrem Abriss lebte die Stadtmauer weiter, ihre steinernen Seiten wurden in Kirchen und andere öffentliche Bauten integriert. Ein Teilstück in Cooper’s Row säumte die unterirdischen Gewölbe eines Lagerhauses für unverzollte Waren, während der oberirdische Teil das Fundament mehrerer Häuser abgab. So erhebt sich Crescent, eine halbmondförmige Hausreihe am America Square, die in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts von George Dance dem Jüngeren entworfen wurde, auf der alten Mauerlinie. Und so tanzen jüngere Häuser auf den Trümmern der alten Stadt. Im 19. und 20. Jahrhundert hat man ständig neue Fragmente und Überreste der Stadtmauer entdeckt, so dass die einzelnen Phasen ihrer Existenz als ein Ganzes in den Blick kamen. Beispielsweise entdeckte man 1989 auf der östlichen Seite der Mauer acht menschliche Skelette aus spätrömischer Zeit, in verschiedene Richtungen angeordnet; auch einige Hundeskelette wurden freigelegt. Es ist die Gegend, die Houndsditch (Hundegrube) heißt.

Man meint oft, erst die römische Mauer habe das römische London definiert; in Wirklichkeit beherrschten die Invasoren London schon 150 Jahre vor der Errichtung der Stadtmauer, und während dieser langen Zeitspanne entwickelte sich die Stadt selbst in besonderen, bald blutigen, bald feurigen Etappen.

55 v. Chr. drang eine von Cäsar befehligte Truppe in Britannien ein und erzwang von den Stämmen um London schon bald die Anerkennung der römischen Hegemonie. Fast hundert Jahre später kamen die Römer wieder, doch diesmal mit einer solideren Invasions- und Eroberungspolitik. Ihre Truppen mögen den Fluss bei Westminster oder Southwark oder Wallingford überquert, vorübergehende Lager in Mayfair oder beim Elefant and Castle aufgeschlagen haben. Für unsere Darstellung ist nur wichtig, dass sich die römischen Verwaltungsbeamten und Kommandanten schließlich wegen der strategischen Vorzüge des Geländes und der kommerziellen Vorteile der Flusslage für London als Hauptsiedlungsort entschieden. Ob die Römer eine verlassene Siedlung betraten, aus der die Stammesleute auf Knüppeldämmen in die Sümpfe und Wälder geflohen waren, wissen wir nicht. Es ist jedenfalls anzunehmen, dass die Invasoren die Bedeutung des Platzes vom ersten Tag ihrer Besetzung an erkannten. Hier gab es eine Flussmündung, die durch eine doppelte Tide begünstigt war. So wurde er zum Zentrum des überseeischen Handels im Süden Britanniens und zum Knotenpunkt eines Straßennetzes, das fast zweitausend Jahre überdauert hat.

Die Umrisse dieser ersten Stadt sind durch Ausgrabungen erkennbar geworden. Auf dem östlichen Hügel verliefen zwei schotterbedeckte Hauptstraßen parallel zum Fluss. Eine dieser Straßen zog sich direkt am Ufer der Themse hin und ist an der Häuserflucht von Cannon Street und Eastcheap noch auszumachen; die andere Straße, etwa zweihundert Meter weiter nördlich, umfasste den östlichen Teil der Lombard Street bis dort, wo sie in die Fenchurch Street übergeht. Hier liegen die eigentlichen Ursprünge des modernen London.

Und dann die Brücke! Die hölzerne römische Brücke stand rund hundert Meter östlich der ersten steinernen London Bridge und verband die Gegend westlich der St Olave Kirche mit dem Fuß der Rederes (Pudding) Lane am Nordufer; das genaue Datum ihrer Errichtung lässt sich nicht ermitteln, doch muss es ein majestätisches und sogar erstaunliches Bauwerk gewesen sein, nicht zuletzt für die einheimischen Völker, die unter den Römern siedelten. Jede zweite Londoner Sage entstand auf ihren Fundamenten; auf der neuen hölzernen Verkehrsader wurden Wunder gewirkt und Visionen empfangen. Da ihr einziger Zweck die Zähmung des Flusses war, mag sie damals die Macht eines Gottes gebändigt haben. Doch mag es diesen Gott erzürnt haben, der Herrschaft über den Fluss beraubt zu werden; daher alle die Ahnungen von Rache und Zerstörung in dem berühmten Vers «Die London Bridge ist eingestürzt!»

Die zentralen Plätze des alten Londinium. Die gestrichelte Linie markiert die Stadtmauer.

Wir wissen nicht, ob Londinium zuerst als römisches Heerlager gedient hat. Auf jeden Fall wurde es bald zum Sammelpunkt für Nachschublieferungen. In der ersten Zeit müssen wir uns eine Ansammlung kleiner Behausungen mit Wänden aus Lehm, strohgedeckten Dächern und einem Boden aus gestampfter Erde vorstellen; dazwischen gab es schmale Gassen, während einige Straßen zwischen den zwei Hauptverkehrsadern mit ihren Gerüchen und Geräuschen einer geschäftigen Gemeinschaft verliefen. Hier drängten sich Werkstätten, Schenken, Läden und Schmieden, während sich unten am Fluss Lagerhäuser und Werkstätten um einen rechteckigen Holzhafen gruppierten. Beweise für einen solchen Hafen hat man in Billingsgate gefunden. An den Durchgangsstraßen, die jeder Reisende nach London benutzte, gab es Schenken und Händler. Hinter der Stadt standen runde Hütten im alten britischen Stil, die als Stapelplatz dienten, während sich am Stadtrand selbst hölzerne Einfriedigungen für das Vieh befanden.

Schon wenige Jahre nach Gründung der Stadt, die auf die Zeit zwischen 43 und 50 n. Chr. zu datieren ist, konnte der römische Geschichtsschreiber Tacitus über London schreiben, es beherberge eine Fülle von negotiatores und sei weit bekannt für den blühenden Zustand seines Handels. In knapp einem Jahrzehnt hatte sich das bescheidene Nachschublager zu einer florierenden Stadt gemausert.

Boudicca, Königin des ostenglischen Stammes der Icener, trotzte den Römern und brandschatzte 60 n. Chr. Londinium. Ihre Statue, von Thomas Thorny erstellt, wurde 1902 am Eingang von Westminster Bridge aufgestellt, gegenüber von Big Ben, und zeigt die Rebellin im Streitwagen.

Negotiatores sind nicht unbedingt Kaufleute, sondern Männer des negotium, was «Geschäft», aber auch «Verhandlung» bedeutet. Man könnte sie als Händler und Makler bezeichnen. In den schimmernden Gebäuden, die jetzt auf der römischen Stadtmauer stehen, arbeiten Makler und Geschäftsleute, die – direkt oder indirekt – Nachfahren jener negotiatores aus dem ersten Jahrhundert sind. Die Londoner City wurde seit jeher auf den Imperativen von Geld und Handel errichtet. Darum hatte auch der Prokurator, der hohe römische Beamte, der die Finanzen der Provinz überwachte, hier seinen Sitz.

London ist also auf Macht gegründet. Es ist eine Stätte der Exekution und der Repression, und zu allen Zeiten waren die Armen in der Überzahl gegenüber den Reichen. Es wurde von furchtbaren Gerichten mit Feuer und Tod heimgesucht. Kaum zehn Jahre nach seiner Gründung zerstörte ein großer Londoner Brand sämtliche Gebäude. 60 n. Chr. wurde die Stadt von Boudicca und ihren Stammeskriegern mit Feuer und Schwert verwüstet, als Rache an jenen, die Frauen und Kinder der Icener in die Sklaverei verkauft hatten. Es ist das erste Zeichen für den Appetit der Stadt auf Menschenleben. Den anschaulichen Beweis für Boudiccas Zerstörungswerk liefert eine rote Grundstrecke von oxydiertem Eisen, unter einer Schicht von verbranntem Lehm, verkohltem Holz und Asche. Rot ist die Farbe Londons, das Zeichen von Feuer und Verwüstung.

Es gab mindestens noch einen weiteren Angriff von Stammeskriegern auf die römische Stadt, aber diesmal waren die Stadt und ihre Verteidigungsanlagen wehrhaft. Gleich nach dem Überfall Boudiccas hatte man mit dem Neuaufbau begonnen. Wer heute an einer der großen Kreuzungen der City steht, dort, wo die Gracechurch Street die Lombard Street von der Fenchurch Street trennt, der blickt auf den Haupteingang zum römischen Forum mit seinen Läden und Buden und Werkstätten zu beiden Seiten. Das neue Forum wurde mit Kieselsandstein aus Kent gebaut, der zu Schiff auf dem Medway transportiert wurde, und war mit seinen vergipsten Mauern und roten Ziegeldächern ein kleines Stück Rom auf fremdem Boden.

Doch dauerte der Einfluss der römischen Zivilisation in mehr als einer Hinsicht an. Im 18. Jahrhundert lag das Kontor des Hauptkassierers der Bank of England über einem römischen Tempel, der Ähnlichkeit mit der Basilika hatte, die links vom früheren Forum stand. Zu allen Zeiten feierte oder verfluchte man London als ein zweites Rom – verderbt oder machtvoll, je nach Geschmack –, und man kann ohne Übertreibung sagen, dass London ein Stück seiner Identität seinen ersten Erbauern verdankt.

London begann zu blühen und zu gedeihen. Ende des ersten Jahrhunderts entstanden ein neues Forum und eine neue Basilika an der Stelle ihrer Vorgänger; die Basilika selbst war größer als später St Paul’s. Im Nordwesten, dort, wo sich heute das Barbican befindet, baute man eine große Festung. Es gab Thermen und Tempel, Läden und Buden; es gab ein Amphitheater dort, wo heute die Guildhall steht, und gleich südlich von St Paul’s eine Rennbahn – dank der wunderlichen Alchemie der Stadt hat sich ein Name, Knightrider Street – Ritterstraße –, über fast zweitausend Jahre erhalten.

Wir können viele der alten Straßen – Milk Street, Wood Street, Aldermanbury und andere – als sichtbare Überreste eines römischen Straßenhorizonts anführen. Es ist auch bezeichnend, dass die großen Londoner Märkte in Cheapside und East Chap bis vor kurzem an den zuerst von den Römern angelegten Verkehrsadern lagen. Innerhalb von fünfzig Jahren hatte London Ende des ersten Jahrhunderts seine Bestimmung erhalten. Es wurde nicht nur das Handelszentrum, sondern auch die administrative und politische Hauptstadt des Landes. Als Brennpunkt von Verkehr und Handelstätigkeit wurde es von reichsrömischen Gesetzen gelenkt, die Handel, Eheschließung und Landesverteidigung betrafen und auch in Kraft blieben, nachdem die Römer selbst längst abgezogen waren. London war in der Hauptsache ein Stadtstaat mit eigenem, unabhängigem Stadtregiment, wenngleich in direkter Beziehung zu Rom; diese charakteristische Unabhängigkeit und Autonomie werden wir in der Geschichte Londons immer wieder antreffen.

In der Phase ihres stärksten Wachstums, Ende des ersten Jahrhunderts, dürfte die Stadt rund dreißigtausend Einwohner gezählt haben: Soldaten, Händler, Geschäftsleute, Handwerker und Künstler – alles bunt gemischt. Für die reicheren Kaufleute und Verwaltungsbeamten gab es prächtige Häuser, während die normale Behausung der meisten Londoner eine Art Wohnschlafzimmer war, dessen Wände Malereien oder Mosaiken zierten.

Es haben sich sowohl Briefe erhalten, in denen es um Finanz- und Handelsangelegenheiten geht, als auch weniger förmliche Mitteilungen: «Primus hat zehn Ziegel gemacht. Genug! … Austalis ist seit zwei Wochen jeden Tag aushäusig – Schande über ihn! … London, Tür an Tür mit dem Isistempel … Diesen Ziegel hat Clementinus verfertigt.» Es sind die ersten bekannt gewordenen Worte eines Londoners, in Ziegel- oder Tonscherben geritzt und aus all den Trümmern, die sich auf dem Boden der Stadt angehäuft haben, glücklich geborgen. Auch frommere Erinnerungszeichen haben sich gefunden, mit Inschriften für die Toten und Anrufungen der Götter. Sogar Stempel für die Rezepte eines Optikers hat man ausgegraben, die Heilmittel gegen tränende Augen, Entzündungen und Sehschwäche enthalten.

Unser Blick auf die Vergangenheit wird etwas klarer, wo es uns gelingt, das verstreute Zeugnis der Überreste wieder zusammenzufügen. Einst fand man unter der Thames Street eine große Hand aus Bronze, gut 30 Zentimeter lang, und einen Kopf des Kaisers Hadrian, wiederum überlebensgroß, im Wasser der Themse selbst. So können wir uns eine Stadt vorstellen, die große Standbilder schmückten. Bruchstücke eines Triumphbogens sind entdeckt worden, dazu steinerne Fresken von Göttinnen und Göttern. London ist eine Stadt der Tempel und der Monumentalbauten. Votivstatuetten und Dolche, heilige Vasen und Silberbarren, Schwerter, Münzen und Altäre, alles bekundet den Geist einer Stadt, in der Handel und Gewalt nicht von echter Frömmigkeit geschieden waren. Doch aufschlussreich ist auch das kleinste Detail. So hat man hundert stili (Schreibgriffel) im Flussbett des Walbrook gefunden, wo unzählige fleißige Schreiber die abgenutzten Federkiele einfach zum Fenster hinauswarfen. Es ist eine Szene geschäftigen Lebens, die in keiner Epoche der Londoner Geschichte fehl am Platze wäre.

In der römischen Ära gab es in London auch Thermen, und eines dieser öffentlichen Bäder befand sich in der heutigen North Audley Street, ziemlich weit außerhalb der Altstadt. Als Arbeiter sie Ende des 19. Jahrhunderts in einer unterirdischen Gewölbekammer entdeckten, stand sie noch halb voll Wasser.

Dennoch sind Londons Sicherheit und Gedeihen zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht ausgemacht. Wie ein organisches Wesen wuchs und entwickelte sich London nach außen, immer begierig, sich neues Territorium einzuverleiben, erlitt aber auch Zeiten der Schwäche und Entnervung, wo der genius loci sein Haupt verhüllte. Hinweise auf eine solche Veränderung können wir just an den Ufern jenes Walbrook finden, wo die Schreiber des Römischen Reichs ihre Griffel aus dem Fenster warfen. Hier wurden 1954 die Überreste eines Tempels entdeckt, der ursprünglich dem Mithras und später anderen heidnischen Gottheiten geweiht war. Für die römischen Londoner war es nichts Ungewöhnliches, einer Vielzahl von Bekenntnissen anzuhängen; so gibt es stichhaltige Beweise dafür, dass die Glaubensvorstellungen der ersten keltischen Stämme in einer besonderen, römisch-keltischen Form der Religion aufgingen. Doch scheint der Mysterienkult des Mithras mit seinen Initiationsriten und den Arkana seines Geheimrituals eher auf eine verstörte und verängstigte Stadt hinzuweisen.