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Venedig E-Book

Peter Ackroyd

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Beschreibung

Die großartig erzählte Biografie eines einmaligen Sehnsuchtsorts

Alles an Venedig ist einmalig: die Lage, die Geschichte, die Bedeutung. Peter Ackroyd, der vielfach ausgezeichnete britische Schriftsteller, greift in seiner großartigen Biografie die mit dieser Stadt verbundenen Bilder und Emotionen auf und unterlegt sie mit zahllosen Fakten und überraschenden Informationen. Dabei spannt er den Bogen über sechzehn Jahrhunderte, von den ersten Bewohnern, die in der Lagune Zuflucht suchten, bis zu den Touristenströmen, die heute die Stadt überfluten. Alle beschwört er herauf: die Händler im Rialto, die Glasbläser von Murano, die großen Malerfürsten, mächtige Dogen. Kenntnisreich, die großen Zusammenhänge im Blick und verliebt ins Detail – Ackroyds überwältigende Stadtbiografie ist ein Muss für jeden, der Venedig kennt oder neu kennenlernen will.

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Seitenzahl: 834

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Buch

Die großartig erzählte Biographie eines einmaligen Sehnsuchtsorts

Alles an Venedig ist einmalig: die Lage, die Geschichte, die Bedeutung. Peter Ackroyd, der vielfach ausgezeichnete britische Schriftsteller, greift in seiner großartigen Biographie die mit dieser Stadt verbundenen Bilder und Emotionen auf und unterlegt sie mit zahllosen Fakten und überraschenden Informationen. Dabei spannt er den Bogen über sechzehn Jahrhunderte, von den ersten Bewohnern, die in der Lagune Zuflucht suchten, bis zu den Touristenströmen, die heute die Stadt überfluten. Alle beschwört er herauf: die Händler im Rialto, die Glasbläser von Murano, die großen Malerfürsten, mächtige Dogen. Kenntnisreich, die großen Zusammenhänge im Blick und verliebt ins Detail – Ackroyds überwältigende Stadtbiografie ist ein Muss für jeden, der Venedig kennt oder neu kennenlernen will.

Autor

Peter Ackroyd, geboren 1949 in London, wo er bis heute lebt. Er studierte Literaturwissenschaft in Yale und Cambridge und arbeitete viele Jahre für den Spectator und die Times. Mit seinen Romanen, Theaterstücken und Biographien gehört er zu den wichtigsten britischen Gegenwartsautoren. Er erhielt unter anderem den Somerset Maugham Award und den Whitbread Award. Er gilt als brillanter Autor mit einem unverwechselbaren Stil.

Peter Ackroyd

Venedig

Biographie einer einzigartigen Stadt

Aus dem Englischenvon Michael Müller

Pantheon

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Venice: Pure City bei Chatto & Windus, LondonDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Pantheon Verlag

Copyright © der Originalausgabe 2009 by Peter Ackroyd

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 Albrecht Knaus Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt

Umschlagabbildung: © A Mazzotta Photography/Getty Images

Satz: Uhl + Massopust GmbH

ISBN 978-3-641-29178-5V001www.pantheon-verlag.de

Für Alison Samuel

Inhalt

TEIL I Stadt aus dem Meer

1. Ursprünge

2. Wasser, überall Wasser

3. Spiegel, Spiegel

TEIL II Die Stadt des heiligen Markus

4. Der Heilige trifft ein

5. Refugium

6. Wider die Natur

7. Die Steine von Venedig

TEIL III Staatsschiff

8. »Möge es ewig bestehen«

9. Das auserwählte Volk

10. Das Gefängnis

11. Geheimnisse

12. Chroniken

TEIL IV Republik des Kommerzes

13. Die Kaufleute von Venedig

14. Drama ohne Ende

15. Ineinandergreifende Rädchen

TEIL V Handelsimperium

16. Die Löwenstadt

17. Städte im Widerstreit

18. Ruf zu den Waffen

TEIL VI Zeitlose Stadt

19. Glocken und Gondeln

20. Justitia

21. Gegen die Türken

TEIL VII Die lebende Stadt

22. Der Körper und das Gebäude

23. Gelehrsamkeit und Sprache

24. Farbe und Licht

25. Pilger und Touristen

TEIL VIII Die Kunst des Lebens

26. Hoch lebe der Karneval!

27. Eine göttliche Kunst

28. Das ewig Weibliche

29. Was soll man essen?

TEIL IX Geheiligte Stadt

30. Göttlich und teuflisch

31. Vom Glauben

TEIL X Der Schatten der Geschichte

32. Niedergang und Fall?

33. Tod in Venedig

TEIL XI Mythische Stadt

34. Die Karte wird entrollt

35. Die sich eng aneinanderschmiegende Familie

36. Nacht und Mond

37. Solange Musik erklingt

ANHANG

Textnachweis

Bibliographie

Bildteil

Register

TEIL I Stadt aus dem Meer

1 Ursprünge

Sie stießen in diese entlegenen und abgeschiedenen Gewässer vor. Sie kamen in Booten mit flachem Kiel, die über die Untiefen hinwegglitten. Sie waren Verbannte, vertrieben aus ihren eigenen Städten oder von ihren eigenen Gehöften, auf der Flucht vor den plündernden Stämmen des Nordens und des Ostens. Und sie waren an diesen wilden Ort gelangt, eine breite und flache Lagune, in der Süßwasser aus den Flüssen des Festlands und Salzwasser aus dem Adriatischen Meer sich mischten. Bei Ebbe zeigten sich überall Schlammbänke, durchzogen von Prielen, Rinnsalen und schmalen Kanälen, auch bei Flut stiegen noch kleine Inseln von Schlick, bewachsen mit Büscheln von Sumpfgras, aus dem Wasser auf. Es gab Flächen, die nur eine Handbreit über die Wasseroberfläche aufragten, mit Schilf und Wildgräsern überwuchert, und andere, die meist von den Wellen überspült waren und nur hin und wieder bei besonders niedrigem Wasserstand sichtbar wurden. Anderswo erstreckten sich öde Marschen, die nur selten vom Wasser bedeckt waren. Aus der Ferne gesehen, schienen die Küste und diese Salzmarschen zu einer einzigen weiten Fläche zu verschmelzen, die mit Tümpeln mit Inselchen darin durchsetzt war. Es gab hier auch Sümpfe, so dunkel und abweisend wie das Wasser in jenen Regionen, in denen sich die Gezeiten nicht mehr bemerkbar machten. Eine Kette von Inseln, gebildet aus Sand und Treibgut aus den Flüssen, trug zum Schutz der Lagune vor dem Meer bei; diese waren mit Fichtenwäldchen bestanden.

Dies Geschlecht hat sich nicht zum Spaß auf diese Inseln geflüchtet, es war keine Willkür, welche die Folgenden trieb, sich mit ihnen zu vereinigen; die Not lehrte sie, ihre Sicherheit in der unvorteilhaftesten Lage suchen, die ihnen nachher so vorteilhaft ward und sie klug machte, als noch die ganze nördliche Welt im Düstern gefangen lag, ihre Vermehrung, ihr Reichtum war die Folge.

Johann Wolfgang von Goethe

Obwohl die Lagune nicht weit von den ehemaligen großen Zentren der römischen Zivilisation entfernt lag, war sie doch entlegen und abgeschieden. Es war ein einsames Gebiet; einzig die Schreie der Seevögel, das Rauschen der Meereswogen und das Pfeifen des Windes, der durch das Schilf fuhr, unterbrachen dort die Stille. Bei Nacht war alles in tiefste Dunkelheit gehüllt, außer dort, wo der Mond die ruhelosen Wellen aufleuchten ließ. Doch im Licht jenes Tages, an dem die Verbannten sich dem Ort näherten, dehnte sich die silbrig glänzende See bis zu einem fernen Saum aus Dunst aus, und der wolkenbedeckte Himmel schien das Silbergewoge des Wassers widerzuspiegeln. Sie wurden in einen Schoß aus Licht hineingesogen –und sie stießen auf eine Insel. Und eine Stimme, wie der Klang vieler Gewässer, wies sie an, auf dem festen Grund, den sie entdeckt hatten, eine Kirche zu bauen.

Das ist eine der Geschichten vom Ursprung ihrer Stadt, die Venezianer zu erzählen pflegten.

Wenn diese unmenschliche Wassereinöde den Menschen aufnimmt, ist sie wie ein Zufluchtsort, eben weil sie unzugänglich ist. Flüchtlinge werden kommen und sich, hinter dem Schilf versteckt, in diese Schlammklumpen, in diesen feuchten Sand eingraben, während die Langobarden das Land verwüsten. Rom ist tot, es herrscht Anarchie. Dieses Totenwasser wird wegen seiner Trennkraft gewählt: es ist Raum, ein Plätschern, das auseinandersprengt. Es ist Flucht, Angst.

Jean-Paul Sartre

Die Lagune selbst ist von ihrer Natur her uneindeutig, weder Land noch Wasser. Sie ist annähernd sechsundfünfzig Meter lang und elf Kilometer breit und ähnelt von ihrer Form her einem aus diesem Teil der norditalienischen Küste ausgeschnittenen Halbmond. Sie entstand vor rund sechstausend Jahren, baute sich aus dem Schlamm und Schlick und Treibgut auf, der von sieben Flüssen in die Adria gespült wurde. Die größten von ihnen – die Brenta, die Sile und die Piave – trugen Geröll aus den Alpen und den Apenninen heran: Eine Stadt aus Stein würde einst auf winzigen Partikelchen von Bergen aufragen. Die Sümpfe, Marschen und Schlammflächen werden durch eine lang gestreckte schmale Sandbank vor dem Meer geschützt, die durch mehrere Kanäle in Inseln unterteilt ist. Die längste dieser Inseln kennt man heute als Lido. Die Kanäle stellen Verbindungen her, als porti bekannte Zugänge, durch die sich das Meer in die Lagune ergießt. Heutzutage gibt es drei solcher porti, bei Lido, bei Malamocco und bei Chioggia. Die durch sie strömenden Fluten hauchen Venedig Leben ein.

Es ist eine sich ständig wandelnde, im Fluss befindliche Region, bestehend aus Schlamm, Sand und Lehm; sie wird von Ebbe und Flut verändert, ist stets in Umbildung begriffen und instabil. Es gibt eine Strömung, die vom Mittelmeer kommend die Adria hinauf- und wieder hinabfließt, und jeder der porti erzeugt sein für ihn charakteristisches Becken und lässt seine eigene Strömung entstehen. Aus diesem Grund hat sich die äußere Erscheinung der Lagune über die Jahrhunderte hinweg gewandelt. Einer Theorie zufolge war die Lagune noch im 6. Jahrhundert im Grunde nichts anderes als eine Marsch, die bei Flut unter Wasser stand.Wie John Ruskin berichtete, sah es im 19. Jahrhundert bei Ebbe manchmal so aus, als wäre Venedig vom zurückweichenden Wasser auf einer riesigen Fläche von dunkelgrünem Seegras zurückgelassen worden. Aus dem ganzen Lagunengebiet wäre in der Tat vor fünfhundert Jahren festes Land geworden, hätten nicht die Venezianer selbst eingegriffen. Heute ist sie einfach ein anderer Teil der Stadt, ein anderes Viertel, weder Land noch Meer. Doch sie entwickelt sich langsam zum Meer zurück. Das Wasser wird tiefer, und sein Salzgehalt steigt. Es ist ein unsicherer Ort. Der heilige Christophorus, der das Jesuskind auf dem Rücken trägt, war einst ein bei den Einwohnern der Stadt beliebter Schutzpatron.

Wie man die Luft der Lagunen oft mit der Luft der Gebirge verglichen hat, so hat auch die Sinnesweise der Bevölkerungen derselben etwas Verwandtes. Beide zeichnen sich durch Kraft, Gelehrigkeit und Kühnheit aus. Den Bewohnern der Lagunen im Adriatischen Meer stand nun eine große Zukunft bevor.

Leopold von Ranke

Das Lagunengebiet ist zu jeder Zeit bewohnt gewesen. Letzten Endes konnte die Wildnis auch fruchtbar sein. Von frühester Zeit an gab es kleine von Menschen besiedelte Nischen – von Fischern und Vogelfängern, die sich die Fülle an Wildvögeln und allerlei Meeresgetier wie auch den in jedem Herbst einsetzenden Zug der Fische aus den Flüssen in die See zunutze machten. Die Marschen sind auch ein Ort, der sich von Natur aus zur Gewinnung von Salz anbietet, und Salz stellte früher eine kostbare Ware dar. Die Venezianer waren seit jeher als Menschen mit Kaufmannsgeist bekannt, doch der Handel begann sich in diesem Gebiet schon zu regen, bevor ihre Vorfahren eingetroffen waren.

Die frühesten Stämme, die hier lebten, sind in vorgeschichtlicher Dunkelheit versunken. Doch die ersten, als solche auszumachenden Vorfahren der Venezianer siedelten in den die Lagune umgebenden Landstrichen vom 8. vorchristlichen Jahrhundert an. Sie gehörten zu einer ethnischen Gruppe, die nicht nur im nordöstlichen Italien zu Hause war, sondern auch an den Küsten des heutigen Sloweniens und Kroatiens. Diese Menschen waren als Veneti oder Venetkens bekannt. Homer nennt sie enetoi, denn im Altgriechischen gab es den Laut »v« nicht. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt in erster Linie als Kaufleute, wie später auch die Venezianer, und handelten mit Bernstein und Wachs, mit Honig und Käse. Sie richteten große Märkte ein, ähnlich denen, die die Venezianer schließlich begründen sollten. Sie machten Geschäfte mit Griechenland, so wie die Venezianer es eines Tages mit Byzanz und dem Osten tun würden. Ihre Spezialität war es, an den Küsten Salz aus dem Meer zu gewinnen, und auch darin waren sie Vorläufer der Venezianer, die später ein Monopol aus der Salzherstellung machten.

Sie kleideten sich schwarz, und das war auch die typische Farbe der Gewänder männlicher venezianischer Patrizier. Herkules, der Stammesheld der Veneti, wurde später zum legendären Beschützer Venedigs; er ist der Halbgott, der durch Arbeit das erwirbt, was andere als ihnen per Naturrecht zustehend in Anspruch nehmen. Die Veneti betrachteten sich als von Antenor abstammend; er habe sie aus dem zerstörten Troja in ihr neues Siedlungsgebiet geführt. Sie waren als geschickte Seeleute bekannt und im Wesentlichen ein Seefahrervolk. Was Ehe- und Familienangelegenheiten betraf, unterwarfen sie sich staatlicher Autorität. Zu den Veneti zählten auch die Menschen, die Städte wie Padua und Altino, Aquileia und Grado bewohnten, aus ihrer Heimat Vertriebene, die in den Wassern der Lagune Sicherheit suchten.

Vor der Zeit ihrer Flucht waren die Veneti nachhaltig romanisiert worden. Im 2. nachchristlichen Jahrhundert hatten sie einen Pakt mit den römischen Machthabern geschlossen. Unter Augustus bildete das Gebiet der Lagune einen Teil des Zehnten Distrikts Italiens, und im 4. Jahrhundert wurde es dann Teil des Oströmischen Reichs, des byzantinischen Imperiums. Die Lagune war damals schon stellenweise besiedelt. Auf einer der Inseln, San Francesco del Deserto, hat man die Überreste einer römischen Hafenanlage freigelegt. Tonscherben lassen sich auf das 1. Jahrhundert datieren, Wandverputz auf das 3.

Dieser Hafen wurde zweifelsohne von Schiffen benutzt, die zwischen Aquileia und Ravenna verkehrten und Getreide aus Pannonien transportierten sowie andere Waren und Vorräte aus entfernteren Regionen herbeibrachten. Man hat an diesem Ort auch Amphoren zum Transport von Wein und Olivenöl aus dem östlichen Mittelmeerraum gefunden. Die größeren Schiffe gingen wohl in diesem Hafen auf der Insel vor Anker, von wo aus die Fracht dann mit kleineren Booten zu den Siedlungen in den flacheren Zonen der Lagune geschafft wurde. Es muss daher ortsansässige Lotsen gegeben haben, die die Fahrzeuge durch diese schwierigen Gewässer geleiteten. Unter dem Schiff der Basilika S. Maria Assunta auf der Insel Torcello hat man einen aus dem 2. Jahrhundert stammenden Weg gefunden. Auf S. Giorgio Maggiore, einer anderen Insel, ist man in großer Tiefe aufrömische Überreste gestoßen, und auf einigen der kleineren Inseln hat man diverse Materialien aus dem 1. und 2. Jahrhundert entdeckt. Andere Funde, auf anderen Inseln, können auf die Periode vom 4. bis zum 7. Jahrhundert datiert werden. Man hat die Theorie aufgestellt, dass die am weitesten seewärts gelegenen Inseln der Lagune als Stützpunkte für die römische Flotte gedient haben könnten. Es ist zumindest vorstellbar, dass Villen auf ihnen errichtet wurden.

Venedig wäre nicht Venedig, wenn es am freien Meer läge, an jenem Morgen empfand ich den enormen Unterschied von Meer und Lagune. Die leuchtend frischen, jubelnden Farben des bewegten Meers würden Venedig seinen eigenen Schmuck rauben: das Verschleierte, Traumhafte, verborgen Schillernde der Farben.

Hermann Hesse

Als jedoch die Vertriebenen in immer größeren Scharen vom Festland herbeizuströmen begannen, fing die Natur der Lagune sich fundamental zu wandeln an. Es kam zu keinem innerhalb eines bestimmten begrenzten Zeitraums erfolgenden Massenexodus, sondern vielmehr zu aufeinanderfolgenden Auswanderungswellen, die ihren Höhepunkt im späten 6. Jahrhundert fanden. Die Veneti flohen immer wieder vor Invasoren. Im Jahr 403 fielen die Wisigoten unter Alarich in der Provinz Venetia ein, der dem römischen Dichter und Geschichtsschreiber Claudianus zufolge mit seiner Barbarenhorde Schrecken in der ganzen Region verbreitete. Die Städte Aquileia und Verona wurden erobert, und viele ihrer Einwohner brachten sich auf die Inseln in Sicherheit. Als die Bedrohung durch Alarich vorüber war, kehrten einige in ihre alte Heimat zurück, doch andere blieben und fingen im Gebiet der Lagune ein neues Leben an. Im Jahr 446 brachte Attila römische Provinzen von der Donau bis zum Balkan an sich und nahm dann, sechs Jahre später, Aquileia ein; die Stadt wurde ebenso wie Altino und Padua geplündert. Und erneut suchten die Menschen vor diesen Katastrophen auf den Inseln Zuflucht.

Ihre Bewegungen folgten einem bestimmten Muster. Die Bewohner von Altino zum Beispiel zogen nach Torcello und Burano, während die von Treviso sich nach Rialto und Malamocco flüchteten. Die Einwohner Paduas segelten nach Chioggia. Die Bürger von Aquileia suchten ihr Heil in Grado, das von Sümpfen geschützt war. Sie kamen mit Handwerkern und Baumeistern, Bauern und Arbeitern, Patriziern und Plebejern und brachten außer den geweihten Gefäßen aus ihren Kirchen auch die Steine ihrer öffentlichen Gebäude mit, damit sie neu errichtet werden konnten. Doch wie ließ sichauf so unsicherem Boden etwas bauen? Wie konnte man auf Schlamm und Wasser etwas errichten? Man konnte es, indem man hölzerne Pfähle von drei bis dreieinhalb Metern Länge durch den Morast in die darunterliegende Schicht aus härterem Lehm und festem Sand trieb, die ein stabiles Fundament abgab. Das war die »Grenze« am Grund der Lagune. Auf diese Weise ließen sich casoni genannte kleine Häuser konstruieren, die aus hölzernen Pfählen und Planken bestanden und spitz zulaufende Dächer aus Flechtwerk und Reet besaßen.

Neue Städte wie Eraclea und Equilino (Jesolo) wurden am Rand der Lagune gegründet. Auf den Inseln entstanden dörfliche Gemeinschaften mit Führern, die Versammlungen einberiefen, um sich mit den anderen zu beraten. Vielleicht haben die Veneti auch befestigte Lager angelegt, für den Fall, dass die Hunnen oder Goten beschlossen, gegen sie vorzurücken. Doch die Inselbewohner waren unter sich zerstritten und rivalisierten miteinander: Es herrschte Uneinigkeit. Aus diesem Grund wurde 466, nur zwanzig Jahre nach dem Einfall Attilas, bei Grado ein Treffen aller im Gebiet der Lagune ansässigen Veneti abgehalten. Man beschloss, dass jede Insel in Zukunft von einem Tribun vertreten sein und alle Tribunen zusammen für das Gemeinwohl tätig werden sollten. Schließlich waren sie alle mit denselben Gefahren und Schwierigkeiten konfrontiert – nicht zuletzt solchen, die von der zerstörerischen Kraft des Meeres ausgingen.Das war die erste Gelegenheit, bei der sich der Gemeinsinn und das Zusammengehörigkeitsgefühl bemerkbar machten, die später so charakteristisch für die Venezianer sein sollten.

Im 6. Jahrhundert stellten die Veneti eine auffallende Präsenz in der ganzen Region dar. Gegen Bezahlung beförderten sie mit ihren Booten Personen und Waren zwischen den größeren und kleineren Häfen des Festlands hin und her. Sie transportierten die Truppen des byzantinischenKaisers von Grado an die Brenta und brachten Beamte und Kaufleute nach Byzanz. Es verwundert nicht, dass sie damals schon für ihr großes seemännisches Können bekannt waren. Mit ihren Booten fuhren sie die norditalienischen Flüsse hinauf und handelten in den Städten und Dörfern, an denen sie vorbeikamen, mit Salz und Fisch.

Die Bewohner haben als einzigen Reichtum, daß sie sich allein von Fischen sättigen können. Arm und reich lebt hier mit gleichem Recht zusammen. Die gleiche Speise ernährt alle, alle Häuser gleichen sich, man kennt keinen Neid, und durch dieses Gleichmaß der Lebensweise entgeht man einem Übel, dem bekanntlich die ganze Welt preisgegeben ist.

Marcus Aurelius Cassiodorus im 6. Jahrhundert

Die erste Schilderung dieser Inselbewohner findet sich in einem Schreiben, das 523 von einem Legaten des Königs der Ostgoten, der damals die Herrschaft über Norditalien innehatte, an ihre Tribunen gesandt wurde. Cassiodorus bat sie, Wein und Öl auf dem Wasserweg nach Ravenna zu transportieren. »Ihr lebt wie die Seevögel«, schrieb er, »mit wie die Kykladen weit über die Fläche des Wassers verstreut liegenden Wohnsitzen. Die Festigkeit des Bodens, auf welchem sie ruhen, wird nur von Schilf und Flechtwerk geschützt, dennoch zaudert ihr nicht, euch mit einem so zerbrechlichen Bollwerk gegen die Wildheit des Meers zur Wehr zu setzen.« Diese Darstellung war nicht mehr ganz zutreffend: Es gab zu jener Zeit schon Gebäude, die man aus den vom Festland mitgeschleppten Steinen und Ziegeln erbaut hatte. Cassiodorus fuhr dann fort, indem er auf einen großen »Reichtum« der Veneti hinwies, den in der Lagune in Hülle und Fülle vorhandenen Fisch. Auch deswegen herrsche unter ihnen Eintracht, die gleiche Speise ernähre alle, ebenso seien alle ihre Häuser ähnlich. Auch das stimmte nicht ganz. Archäologische Zeugnisse lassen vermuten, dass es sogar schon in einem so frühen Stadium der Entwicklung der Lagunenkultur sowohl reiche als auch arme Familien gab. Cassiodorus fügte dann noch hinzu: »Ihr erschöpft eure Kräfte in euren Salinen, in ihnen liegt wahrhaftig eure Prosperität begründet.« Zumindest was dies betraf, hatte er recht. Er kam dann noch auf ein signifikantes Detail zu sprechen, nämlich auf die Boote, »die ihr wie Pferde vor euren Haustüren angebunden haltet«. Der Schlamm der Lagune hat Überreste eines solchen Bootes konserviert und wieder freigegeben. Teile eines eichenen Spantengerippes und Rumpfplanken aus Lindenholz sind auf der Insel S. Francesco del Deserto entdeckt worden. Sie gehören zu einem Boot aus dem 5. Jahrhundert und lagen in einer Bodenschicht, die zu jener Zeit außer bei Ebbe unter Wasser gelegen haben muss.

Doch Venedig selbst war noch nicht geboren. Auf einer Karte der Region aus dem 4. Jahrhundert ist die Stadt noch nicht eingezeichnet; die Lagune ist auf ihr als eine unbewohnte Zwischenzone, halb Land, halb Wasser, dargestellt, als Zugang zum Meer. Venezianische Historiker behaupteten jedoch, die Stadt sei um die Mittagszeit des 25. März 421 begründet worden, und zwar von einem armen Fischer namens Giovanni Bono, also Giovanni dem Guten. Eine solche Theorie hat ihre Vorzüge, denn der 25. März ist nicht nur das Datum des Frühlingsäquinoktiums, an einem solchen Tag soll auch die Verkündigung der Geburt Jesu erfolgt sein, und Rom soll gleichfalls an einem 25. März gegründet worden sein. Dieser zeitliche Zusammenfall mit drei anderen bedeutenden Ereignissen samt dem Glücksfall mit Giovanni dem Guten ist zu schön, um wahr sein zu können, aber es spiegelt die außerordentliche Fähigkeit der Venezianer wider, einen Mythos anstelle der geschichtlichen Realität zu setzen. Als er sich 1920 in der Stadt aufhielt, meinte Rainer Maria Rilke in einem Brief: »[…] im Grunde ist es doch mit ganz Venedig so, man nimmt hier nicht wie mit Gefäßen und Händen auf, sondern wie mit Spiegeln, man ›faßt‹ nichts,man wird nur einbezogen ins Vertrauen seines Entgehens. Von Bildern erfüllt den ganzen Tag, wüßte man für kein einziges einen Beweis aufzubringen, Venedig will ›geglaubt‹ sein.«

In der Tat entstand Venedig erst mehr als hundert Jahre später, nach einer Reihe von Invasionen der Lombarden oder Langobarden in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren des 6. Jahrhunderts. Erneut wurde die Provinz Venetia von fremden Stämmen überrannt. Aber anders als die Hunnen verlangte es sie nicht nur danach zu plündern und dann mit der Beute wieder abzuziehen, sie wollten sich niederlassen und heimisch werden. Sie brachten das Gebiet, das heute nach ihnen die Lombardei genannt wird, an sich, was einen Massenexodus der Veneti auslöste. Der Bischof von Aquileia verlegte seinen Sitz nach Grado an den Rand der Lagune. Der Bischof von Padua brachte sich nach Malamocco in Sicherheit, und der von Oderzo flüchtete auf dem Seeweg nach Eraclea. Diese Männer waren sowohl geistige als auch weltliche Führer, und nicht nur die Mitglieder ihrer Gemeinden, sondern alle Bürger der Städte, in denen sich ihre Bischofssitze befanden, folgten ihnen, bereit, auf den Gewässern der Lagune neue Gemeinschaften zu gründen. Burano und Murano wurden von größeren Flüchtlingsscharen besiedelt, aber auch auf kleineren Inseln wie Ammiana und Constanziaca entstanden Siedlungen; die beiden Letztgenannten verschwanden im 13. Jahrhundert in den Wogen, vom Erzfeind der Inselbewohner verschlungen, obwohl sie in ihrem Kampf gegen das Meer nie nachgelassen hatten.

Dieser Flucht vor den Langobarden verdankt Venedig seine Geburt. Die ersten Anzeichen für eine menschliche Besiedlung sind jüngsten archäologischen Funden zufolge auf die zweite Hälfte des 6. und auf das 7. Jahrhundert zu datieren; es handelt sich um Gebäudeüberreste in der Nähe von Castello, im Osten der heutigen Stadt, und unter dem Markusplatz. Es existieren auch Hinweise darauf, dass man in dieser frühen Zeit schon damit begann, das Niveau des Terrains anzuheben und dem Wasser Land abzuringen. Die Siedler zäunten eine vom Meer überspülte Fläche mit Planken ein, schöpften das Wasser heraus und füllten dann alles mit Bauschutt, Schwemmgut oder Sand von den Dünen auf. Hölzerne Palisaden wurden errichtet, um das neu gewonnene Terrain gegen das Meer zu schützen. Das waren die Ursprünge der Stadt.

Venedig: Ein Fest

Die Steine und das Wasser und der Himmel.Nichts weiter. Und die Steine,meerhaft und schon bewohnbar, unverzagt.Das ist das Wunder, hier schaut hin.

Jorge Guillén

Die Exilierten hatten beschlossen, sich auf einer Gruppe von Inseln niederzulassen, die kollektiv als »Rivoalto«, Hochufer, bekannt waren und sich am ehesten zur Bebauung anboten. Aus dieser ursprünglichen Bezeichnung wurde im Lauf der Zeit der Name »Rialto«. Dort lagen der Hauptmarkt der Stadt und die meisten Läden. Die Inseln waren von Bächen und Wasser führenden Rinnen durchzogen, es durchschnitt sie aber auch ein größerer Fluss, ein Nebenlauf der Brenta, der Rivoaltus hieß und aus dem später der Canal Grande wurde. Zwei solidere Hügel oder Inseln – die Definition hängt ganz davon ab, wie man die Natur des gesamten Territoriums beurteilt – lagen einander auf den beiden Seiten dieses Wasserlaufs gegenüber. Sie bildeten die Keimzelle Venedigs: Hier gab es relativ festen Boden, auf dem die Siedler bauen konnten. Es war keine leichte Arbeit. Es existieren Berichte aus dem Jahr 589 über furchtbare Überschwemmungen in dem gesamten Gebiet, deren Auswirkungen auf das ganze Gelände so heftig war, dass der Lauf einiger Flüsse sich veränderte. Diese Katastrophe muss sich auch auf die hydraulische Struktur der Lagune ausgewirkt haben, auf den Verlauf von Strömungen und den Wasserstand etwa, doch ist nicht bekannt, was für Folgen das für die im Entstehen begriffene Stadt hatte.

Venedig stieg nicht sofort zur bedeutendsten Stadt der Lagune auf. Grado war der Sitz des Patriarchen, Torcello das große Handels- und Marktzentrum der Region. Der Dogensitz, wie man ihn später nennen sollte, wurde von Eraclea nach Malamocco verlegt. In der Zeit der ersten Besiedlung des Rivoalto wurden andernorts prächtige Bauten hochgezogen. Auf Torcello hatte man mit der Errichtung der Basilika S. Maria Assunta begonnen; eine Inschrift dort stammt aus dem Jahr 639 und bestätigt, dass diejenigen, die den Anstoß zur Errichtung dieser Kirche gaben, ihre Gottesdienste nach dem byzantinischen Ritus abhielten.

Die Verbindung mit Byzanz ist wichtig. Die venezianischen Geschichtsschreiber beharrten darauf, dass die Bürger der Stadt von Anfang an ihre Unabhängigkeit behaupteten. Einer berühmten Legende zufolge hoben ihre Führer gegenüber einem Vertreter Byzanz’ hervor, dass Gott persönlich »uns vor Ungemach bewahrt hat, auf dass wir in diesen feuchten Sümpfen leben, in unseren Hütten aus Holz und Binsengeflecht. Denn diese neue Stadt Venedig, die wir in den Lagunen errichtet haben, ist eine sichere Wohnstätte für uns geworden«. Die Könige und Fürsten der Welt könnten ihnen nichts anhaben, es sei denn, sie »kämen über das Meer, wo aber unsere Stärke liegt«. Das ist ein Mythos, denn die Venezianer waren anfangs anderen untertan. Die Sprache der frühesten Bewohner der Stadt enthielt daher zum Beispiel griechische Einsprengsel, und sogar im letzten Jahrhundert noch wies der Dialekt der Bewohner von Burano gräcoromanische Elemente auf.

Es besteht Uneinigkeit bezüglich des Zeitpunkts, zu dem der erste militärische Oberbefehlshaber über die Lagune – oder dux – von den Byzantinern eingesetzt wurde. Am wahrscheinlichsten ist, dass das im frühen 8. Jahrhundert geschah. Die Venezianer glaubten später, dass seine Ernennung durch die Inselbewohner selbst erfolgt sei, doch besteht kein Zweifel daran, dass dieser dux oder Doge dem oströmischen Kaiser unterstand. Die Ernennung eines solchen Oberbefehlshabers reichte für sich genommen nicht aus, um Harmonie im Gebiet der Lagune einziehen zu lassen; jahrhundertelang kam es immer wieder zu internen Zwistigkeiten, zu Bruderkämpfen zwischen den Inseln oder auch einzelnen Familien. Das ganze 8. Jahrhundert hindurch wird immer wieder von Bürgerkriegen berichtet, von Schlachten, die in den die Lagune umgebenden Wäldern ausgefochten wurden, von Dogen, die geblendet oder ermordet oder in die Verbannung geschickt wurden. Doch die politische Institution überstand die Krisen der Frühzeit: Mehr als tausend Jahre lang regierte ein Doge über Venedig, hundertzwanzig Dogen folgten einander in ununterbrochener Reihe.

Venedig besteht aus hundertsiebzehn einzelnen Inseln, die mit viel Anstrengung und Mühe nach und nach miteinander verbunden wurden. Zunächst existierten verschiedene, über das ganze Gebiet verstreute Inselgemeinden, von denen einige von Mönchsorden dominiert wurden, andere von Angehörigen bestimmter Berufe wie Fischern oder Salzarbeitern. Es wird auch Inseln gegeben haben, auf denen die Bootsbauer in der Mehrheit waren. Im Zentrum dieser einzelnen Inselgemeinden stand eine Kirche mit einem campanile, einem Glockenturm; die Grünfläche oder der freie Platz vor der Kirche war – und ist es heute noch – als campo bekannt, was nichts anderes als »Feld« bedeutet. Auf dem campo gab es einen Brunnen oder eine Zisterne, in der das Wasser gesammelt wurde, das die häufigen Regenfälle brachten. Die Häuser bestanden in der Regel aus einem mit Schilf bedeckten Holzgeflecht, die Wohngebäude der angeseheneren Bürger könnten aber schon aus Ziegelsteinen gebaut und mit Dachpfannen oder -platten gedeckt gewesen sein. Einige Inseln wurden von einflussreichen Familien beherrscht, die, ursprünglich auf dem Festland zu Hause, auf ihnen Zuflucht gesucht und ihr Gefolge mitgebracht hatten, damit es ihre Gärten oder ihre Weinstöcke pflegte. So kontrollierten zum Beispiel die Familien Orio und Gradenigo die Insel S. Giovanni di Rialto. Jede Insel besaß ihren eigenen Schutzheiligen.

Einer Legende zufolge wurden die Venezianer von der Tochter des Dogen vor Pippins Heer gerettet. Pippin hatte einen Damm anlegen lassen, der sich von der Insel Malamocco zur Rivoaltoinsel ziehen sollte; dieser näherte sich schon gefährlich seiner Vollendung. Daraufhin suchte die schöne Estrella den Feldherrn auf, und dieser war so gefesselt von ihrer Anmut, dass er sich mehrere Stunden lang mit ihr unterhielt – so lange, bis der Damm von der Flut überspült war. Dieser Aufschub reichte aus, damit die Verteidiger ihre Abwehrmaßnahmen treffen konnten. Die Retterin aber verlor auf tragische Weise ihr Leben. Ihre Gondel wurde von Rivoalto aus für ein feindliches Fahrzeug gehalten und versenkt. Estrella und die beiden Ruderer ertranken in den Fluten.

Die einzelnen Inselgemeinden waren durch Sumpfgebiete oder Flächen offenen Wassers voneinander getrennt, doch hatte man Fahrrinnen angelegt, die tief genug waren, um sie untereinander zu verbinden. Es bildete sich bald ein Hang zum gemeinschaftlichen Leben aus, der ständig intensiver und entschiedener wurde. Dieser Drang, sich zusammenzuschließen, wurde durch einen neuen Invasor verstärkt. 810 führte Pippin, der Sohn Karls des Großen, seine Streitkräfte in das Lagunengebiet, um es für das Frankenreich zu gewinnen. Er versuchte, den Dogensitz auf Malamocco im Sturm zu erobern, so dass der Doge auf die Rivoaltoinseln flüchten musste. Es heißt, Pippin habe ihn verfolgt, seine Schiffe seien aber bei Ebbe in den Sümpfen auf Grund gelaufen. Er habe daraufhin aus Balken und Treibholz Flöße bauen lassen, die venezianische Seeleute jedoch zerstört hätten. Eine alte Frau habe ihnen den Weg durch die tückischen Untiefen gewiesen, und zwar mit der traditionellen venezianischen Richtungsangabe sempre diritto: immer geradeaus. Diese Geschichte lehnt sich unverkennbar an die biblische vom Untergang der Heerscharen des Pharaos im Roten Meer an; es war eine Entsprechung, auf die zukünftige venezianische Maler in ihren Werken immer wieder eingehen würden. Was auch immer die wahren Umstände der Niederlage Pippins waren, er wurde in jedem Fall gezwungen, sein Unterfangen aufzugeben. Das galt als die Bestätigung dafür, dass Venedig, wo der Doge Zuflucht gefunden hatte, wirklich ein sicherer Ort war, unangreifbar, im Schutz der es ungebenden Marschen liegend. Durch die lidi war es vor den Angriffen des Meeres gefeit und vom Festland durch Wasser getrennt. Nach dem misslungenen Eroberungsversuch der Franken wurde Venedig zum Sitz des Dogen: Die Erfolgsgeschichte der Stadt hatte begonnen.

Sie prosperierte auch wegen ihrer abgeschiedenen Lage. In einem 814 geschlossenen Vertrag kam man überein, dass Venedig weiterhin eine Byzanz unterstelle Provinz bleiben, aber auch dem Frankenkönig, dessen Herrschaftssitz sich jetzt in Italien befand, einen jährlichen Tribut zahlen werde. Das mag wie eine zweifache Gebundenheit klingen, befreite aber de facto Venedig davon, einer Herrschaft unterworfen zu sein. Es stand jetzt zwischen Franken und Byzantinern, zwischen Westen und Osten, zwischen dem katholischen und orthodoxen Christentum; diese Position erlaubte es der Stadt, einen – wenn auch immer bis zu einem gewissen Grad prekären – Mittelkurs zu steuern, sich einmal mehr der einen Seite zuzuneigen, dann aber wieder mehr der anderen, löste allerdings viele Streitigkeiten zwischen den führenden Familien in der Lagune aus, die sich unterschiedlichen Parteien auf dem Festland und im oströmischen Reich verbunden und zur Treue verpflichtet fühlten. Doch sicherte diese Position zwischen den zwei Machtblöcken in der Tat Venedig seine Unabhängigkeit. Eine der Klauseln in dem Vertrag von 814 gewährte venezianischen Handelsschiffen den ungehinderten Verkehr mit den Häfen der italienischen Halbinsel. Die Venezianer besaßen mit anderen Worten die Möglichkeit, Handel zu treiben. Sie konnten zwischen Osten und Westen hin- und herfahren. Venedig wurde, in erster Linie, eine Stadt der Kaufleute.

Und es wuchs sehr schnell. Viele der Menschen, die im Gebiet der Lagune siedelten, verlegten ihre Wohnstätten bald auf eine der kleinen Inseln, die den Rivoalto umgaben. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts gab es an die dreißig Inselgemeinden und gegen Ende des ersten Jahrtausends schon mehr als fünfzig. 976 brach ein Feuer aus, und dass diesem mehr als dreihundert Häuser zum Opfer fielen, ist ein Beleg für die bereits große Besiedlungsdichte. Die Gemeinden, die dem Rivoalto am nächsten lagen, wurden durch Brücken oder Kanäle miteinander verbunden. Man errichtete Befestigungen, schüttete Deiche auf, dränierte Marschen, verwandelte Sumpfflächen in Land und düngte den neu gewonnenen Boden. Einige der heute noch existierenden größeren Straßen gingen aus zu jener Zeit angelegten Fußpfaden hervor. Landungsstege und -treppen wurden gebaut, einige von ihnen waren für die Öffentlichkeit bestimmt, andere der privaten Nutzung vorbehalten. Man legte Dämme an, die verhindern sollten, dass der Schlick aus den Flüssen in die Lagune geschwemmt wurde. Ein Fährdienst mit kleinen Booten wurde eingerichtet. Venedig entwickelte sich zu einem urbanen Konglomerat voll hektischer Betriebsamkeit, die vor allem auf das Wasser und den Schlamm konzentriert war. Es stellte die Verkörperung einer gewaltigen gemeinschaftlichen Anstrengung dar, zu welcher die Bewohner durch Notwendigkeit und aus praktischen Gründen getrieben wurden. Das Ziel einer gemeinsamen, gemeinschaftlichen Existenz war immer präsent. Jederzeit verspürten die Venezianer das Verlangen in sich, dem Meer Land abzugewinnen, sich die Gewässer untertan zu machen, sich zusammenzuschließen und das kommunale Terrain zu schützen.

Im 9. und 10. Jahrhundert war Venedig eine typische mittelalterliche Stadt, in deren Straßen Schweine nach Futter wühlten und zwischen deren Wohnhäusern und Kirchen sich immer wieder Wiesen und Gärten ausbreiteten. Es gab Viertel, die Beinamen wie »In der Marsch«, »In der Wildnis« oder »Mitten im Seegras« trugen. Die Bürger bewegten sich zu Pferd über die Hauptstraße namens Merceria und banden ihre Reittiere an den großen Holunderbüschen fest, die dort wuchsen, wo sich heute die Piazza San Marco – in der Regel einfach nur la piazza genannt – befindet. Hölzerne Brückenstege von einfacher Bauart, nicht gewölbt und ohne Stufen, führten von einer Insel zur anderen. Die Ufer der Kanäle waren mit Bäumen bestanden. Auf den das Hauptwohngebiet umgebenden kleineren Inseln grasten Rinder und Schafe; es gab dort Weingärten und Obstbäume, Teiche und kleine Seen. Auf den Hauptinseln, die nach und nach zusammenwuchsen, waren Höfe und enge Gassen entstanden, Keimzellen des in einzigartiger Weise verwinkelten Netzes der calli immodernen Venedig. Vor den Häusern aus Stein und sogar vor den hölzernen reetgedeckten Hütten der ärmeren Einwohner lagen unbebaute Flächen; aus ihnen entstanden die fondamenta der voll entwickelten Stadt, die an den Kanälen entlangführenden Straßen.

Gegen Ende des ersten Viertels des 9. Jahrhunderts war die Bebauung des Areals um den heutigen Markusplatz herum abgeschlossen: Es gab dort einen Palast oder ein Kastell für den Dogen wie auch eine große Kapelle für seinen Gebrauch, die dem byzantinischen Heiligen Theodorus geweiht war. Auch die einflussreichsten Familien errichteten sich in diesem Gebiet ihre Residenzen, um dem Zentrum der Macht nahe zu sein. Die Felder wurden im Lauf der Zeit aufgelassen, um Raum für eine Piazza zu schaffen; ein großer Tümpel oder Fischteich wurde zugeschüttet und bildete die Piazzetta, die »kleine Piazza«, vor dem Dogenpalast. Mehr als tausend Jahre lang sollten an diesem Ort geistliche und weltliche Autorität nebeneinander zu Hause sein.

Vor dem 13. Jahrhundert wurde die Stadt noch nicht Venezia genannt. Aber das Lagunengebiet hieß schon Veneto oder Venetia. Das lateinische Wort für Venedig war immer Venetiae, und durch diese Pluralform ist festgehalten, dass die Stadt aus einem Verbund, einer Föderation von Inseln oder Siedlungen hervorgegangen war. Es gibt neunzehn Varianten des Namens – von Venegia bis hin zu Viniexia, was bestätigt, dass die Stadt eine multiple Identität besitzt.

Venedig besaß keinen genau auszumachenden, singulären »Ursprung«. Die Städte auf dem italienischen Festland waren schon in vorgeschichtlicher Zeit Siedlungsorte gewesen, Begräbnisstätten hatten ihr Territorium gekennzeichnet und Verteidigungswälle sie umgeben. Sie waren organisch gewachsen, hatten sich von einem rituellen Zentrum zu immer stärker expandierenden Wohnsiedlungen entwickelt. Die Verehrung der Stadt steht mit der Verehrung des Ortes und der dort begrabenen Toten in Zusammenhang. Die Gründung der allerersten Städte lässt sich in die Urzeit zurückverfolgen. Venedig besaß von Anfang an keinen Perimeter, keine fest umgrenzte Kontur, keinen Grundriss. Es wucherte von hundert verschiedenen Ausgangspunkten her zusammen und hat, in einem ganz wörtlichen Sinn, keine Wurzeln; sein Ursprung ist in der Tat fließend, liegt in und auf dem Wasser. Seine Lage ist unsicher, was zur Folge hatte, dass man immer um diese Stadt gebangt hat. Eine solche Angst um ihren Bestand kommt jaauch in der gegenwärtigen »Venice in Peril«-Kampagne zum Ausdruck.

Venedig war daher stets bemüht, sich selbst zu definieren, sich Konturen zu geben. Es hat nach Ursprüngen gesucht und sich verpflichtet gefühlt, einen verborgenen Ursprung aufzudecken. Machiavelli meinte: »Religionen und Republiken und Königreiche müssen an ihrem Beginn irgendwelche Vorzüge besitzen, durch die sie ihre erste Reputation erwerben und ein erstes Wachstum erreichen.« Das war das Problem, mit dem sich die Venezianer konfrontiert sahen: Sie konnten, was ihre Stadt betraf, keine solchen »Vorzüge« vorweisen.

Daher erfanden sie Geschichten von der Geburt der Stadt, in denen immer eine Art göttlicher Gnadenerweis eine Rolle spielte – wobei auch die scheinbar »historische« Tatsache von Belang war, dass die Veneti der Anfangszeit Christen waren, die vor heidnischen Invasoren an und auf der Lagune Zuflucht suchten. In den Fußboden von S. Maria della Salute ist die Inschrift eingemeißelt unde origo inde salus – aus dem Ursprung erwächst das Heil. So entwickelten sich bestimmte kunstvoll ausgearbeitete Entstehungslegenden, die man nicht unbeachtet lassen darf. Legenden stellen die früheste Form von Dichtung dar. Venedig ist die Stadt der Legenden, so wie sie auch immer eine Stadt der Wunder gewesen ist.

Die Einwohner von Altino waren sich unschlüssig darüber, wohin sie vor den Heiden fliehen sollten, bis sie vom Himmel her eine Stimme vernahmen, welche verkündete: »Steiget den Turm hinauf und schauet zu den Sternen empor.« Als sie den Turm erklommen hatten, sahen sie, dass der Widerschein der Sterne im Wasser einen Weg bildete, der in Richtung der Inseln in der Lagune führte. In einer anderen Version dieser Geschichte heißt es, man habe alle Vögel der Region erblickt, wie sie mit ihren Jungen im Schnabel zu den Inseln geflogen seien. Von der aus der hell leuchtenden Wolke dringenden Stimme, die die Vertriebenen in ihren Booten anrief, ist schon zu Beginn dieses Kapitels die Rede gewesen. Acht der ältesten Kirchen Venedigs wurden auf göttliche Weisung hin errichtet. Der heilige Magnus hatte eine Vision, der zufolge er dort ein Gotteshaus bauen solle, wo er die erste Schafherde entdeckte. Er sah sie bei Castello. Die Jungfrau Maria erschien inmitten einer strahlenden Wolke und kündigte die Errichtung von S. Maria Formosa an. Eine riesige Versammlung von Vögeln gab den Standort für S. Raphael an. Eine rote Wolke schwebte über der Stelle in der Nähe der Rialtobrücke, wo S. Raphael gebaut werden sollte. Es gab andere Legenden säkulareren Charakters, denen zufolge die Römer oder sogar die Trojaner die Vorfahren der Venezianer seien, doch kann man sie außer Acht lassen: Wie die Stadt selbst, entbehren sie einer echten Grundlage.

Ansicht der Stadt Venedig (Venecie) in der 1493 erschienenen Weltchronik des Nürnberger Arztes und Historikers Hartmann Schedel (1440–1514).

Die Stadt wurde auf Geheiß des Himmels hin auf dem Wasser angelegt. Dass überhaupt auf dem Wasser gebaut werden konnte, grenzte schon an ein Wunder, und so wurde Venedig die Stadt der Wunder. Es war ein Ort der Verheißung. In den Chroniken Venedigs tritt uns immer ein großartiges, glänzendes Bild der Stadt entgegen. Der Bau Venedigs wurde Teil der Geschichte von der Erlösung des Menschen. Sein göttlicher Ursprung wurde auch durch seine vollkommene Beschaffenheit bezeugt, dadurch, dass es mehr als tausend Jahre überdauerte, und durch die überragende Rolle, die es als Handelsstadt spielte. Auf Gemälden venezianischer Künstler thronen Gottvater und der Heilige Geist über dem Markusplatz. Auf der Rialtobrücke finden sich Skulpturen des Erzengels Gabriel und der Jungfrau Maria bei der Verkündigung. Venedig wurde unter Ausklammerung jeder einer solchen Erhöhung zuwiderlaufenden historischen Tatsache oder wenig glorreichen Episode über alle Maßen idealisiert.

Doch die wirklichen Ursprünge Venedigs, so zufallsbedingt und unzusammenhängend diese auch sein mögen, geben eine große Wahrheit in Bezug auf die Stadt preis. Sie verleihen dem Leben in ihr bestimmte Charakteristika oder Eigenschaften. Jedes organische Ding möchte sein Wesen, seine Eigenart zum Ausdruck bringen, es konkrete Form annehmen lassen, und so prägten dunkle Vorahnungen und das stete Zusammenfließen kommunaler Begierden die typische Gestalt Venedigs. Die Statue ist im Marmorblock schon latent vorhanden. Die Venezianer besaßen kein eigenes Ackerland, sie waren daher gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt durch den Handel mit und die Herstellung von Waren zu verdienen. Die Stadt, die ein aus Land und Wasser bestehendes Zwitterwesen war, entwarf eine im Kern »gemischte« Verfassung, die ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen staatlichen Kräften herstellte. In allen Schichten oder Bereichen der Gemeinschaft war man unablässig um Stabilität und Kontinuität besorgt. Wo wären diese beiden Eigenschaften unentbehrlicher als an einem Ort, an dem sich alles im Wandel befindet und ungewiss ist? Eine von aus der Heimat Vertriebenen geschaffene Stadt bot über die Jahrhunderte hinweg vielen aus den verschiedensten Regionen stammenden Flüchtlingen Zuflucht. Ihre Gründung eines überseeischen Imperiums, die Eroberungszüge auf dem italienischen Festland waren alle auf die Notwendigkeit der Selbsterhaltung zurückzuführen. Die Venezianer sahen ihre Stadt zu jeder Zeit als bedroht. Venedig ging nicht aus einem Zusammenschluss von ländlichen, dem Bauernstand angehörenden Menschen hervor, es hatte von Beginn an urbanen Charakter. Seine Gesellschaft war in seinen Kindertagen keine feudale. Schon im 10. Jahrhundert galt es als civitas Rivoalti, und der Terminus civitas implizierte einen Bürgerstaat.

Das über die Jahrhunderte hinweg Prägendste jedoch war der Kampf gegen das Meer. Dieser war es auch, der die Notwendigkeit gemeinschaftlichen Denkens und Handelns begründete. Es bestand kein Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv, es war vielmehr so, dass sich das venezianische Individuum zu jeder Zeit in den Gesamtorganismus einfügte. Es ist ein Organismus, der, wie jener des Menschen, als Einheit gesehen werden kann. Er gehorcht eigenen Gesetzen von Wachstum und Wandel und besitzt eine innere Dynamik. Jeder Aspekt der venezianischen Kultur und Gesellschaft reflektiert das Ganze.

Vom 9. Jahrhundert an wurden immer drei Kommissionäre ernannt, die den Schutz des Landes und die Gewinnung neuen Territoriums zu organisieren und überwachen hatten. Im Lauf der Zeit entstand ein komplexer Verwaltungsapparat, dessen Aufgabe es war, das Meer in Schach zu halten. Von Beginn an griff man in Venedig in die es umgebende Natur ein. Die frühesten Verteidigungsanlagen gegen das Meer bestanden aus Pfählen, zwischen denen Korbgeflecht befestigt war; später wurden Flüsse umgeleitet und große Steinwälle gegen das andrängende Wasser errichtet.

Land konnte nicht gewonnen, Inseln konnten nicht verbunden werden, ohne dass Nachbar mit Nachbar und Gemeinde mit Gemeinde kooperierte. Dämme konnten nicht gebaut werden ohne die Einigkeit, die einem gemeinsamen Interesse entspringt. Daher waren die Venezianer von frühester Zeit an von der Vorstellung von einem gemeinschaftlichen Leben besessen. Sie schufen den ersten kommunalen Palast und den ersten zum Nutzen der Bürger bestimmten Platz in Italien. Vielleicht war Venedig auch die erste größere Ortschaft, die von dem profitierte, was man heute Stadtplanung nennt, und eine wohlbedachte Ansiedlungbestimmter Betriebe und Aktivitäten am Stadtrand einschließt. All das geschah in Zusammenhang mit dem Streben nach »Gemeinwohl«. Der Kampf gegen von der Natur aufgetürmte Hindernisse ist der Kampf um menschliche Kultur und um Verbesserung der Lebensbedingungen. Er erfordert enormen Zusammenhalt und eine gesellschaftliche Disziplin, die man am besten durch religiöse Observanz fördert. Auf diese Weise wird die Vorstellung von einem Staat geboren, dem von Gott Leben eingehaucht wurde.

Wir dürfen aber den Charakter und die Wesensart der frühen Siedler nicht außer Acht lassen. Sie mussten unablässig schwere Arbeit verrichten und hätten ohne ein hohes Maß an Energie und Optimismus nicht erfolgreich zu bestehen vermocht. Das sind –oder waren – die kennzeichnenden Charakteristika der Einwohner Venedigs. Diese Menschen sind – oder waren – stolz auf ihre Stadt, etwas, das Besuchern von auswärts auffiel. Doch die Natur rächt sich manchmal an jenen, die versuchen, sie zu unterjochen. Bestimmte Inseln in der Lagune wurden von der andrängenden See verschluckt, Siedlungen verschwanden in ihr oder wurden aufgegeben. Zu jeder Zeit war in der venezianischen Seele die Furcht vor Strafe und großem Unheil verankert.

2 Wasser, überall Wasser

Venedig war, bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine Eisenbahnbrücke vom Festland her gebaut wurde, eine kleine Insel oder eine Ansammlung von Inseln. Venezianer waren Insulaner, sie genossen alle Vorteile und litten unter allen Nachteilen, die dieser besondere Status mit sich bringt. Auf einer Insel zu leben, heißt unabhängig, aber auch »isoliert« zu sein. Es bietet einen gewissen Grad an Sicherheit, doch macht es auch die auf dem Festland Lebenden auf einen aufmerksam. Es bedeutet Verletzlichkeit, sogar wenn die äußeren Umstände günstig zu sein scheinen. Doch als Inselstadt überlebte Venedig all die Kriege und Invasionen, die Italien seit dem 11. Jahrhundert über sich hat ergehen lassen müssen; es bot mit Erfolg sowohl Päpsten als auch Kaisern Trotz, überstand Invasionen der Franzosen und Einfälle der Spanier wie auch die unablässigen Angriffe durch Truppen der anderen italienischen Stadtstaaten. Wäre es nicht von Wasser umgeben, wäre es schon vor Jahrhunderten zerstört worden.

Auf einhundertzehn Inselchen aus Sand und Ton haben die Venezianer ihre Salons, ihre Geheimgänge, ihre Verliese erbaut; dieser schlammige wimmelnde Schlick ist getarnt: kaum einmal im Jahrhundert bewegt er sich und ruft den Einsturz eines Campanile hervor, der sofort wiederaufgebaut wird: aber die giftige Barbarei ist noch da, es ist das Wasser, das glatte und tote Wasser, das seine kalten Arme zwischen den Häusern hindurchstreckt.

Jean-Paul Sartre

Dieses Abgetrenntsein vom Festland, von Italien und von der Welt, hat aber auch seinen Tribut gefordert. Obwohl Venedig seit 1866 zu Italien gehört, hat Italien es weitgehend ignoriert. Es wird irgendwie als fremd empfunden. Die Italiener befassen sich nicht wirklich mit Venedig: Es gehört einem anderen Reich an, einem Reich der Fantasie oder einer Kunstwelt. Was die Venezianer selbst betrifft, so brachte die Tradition von Freiheit –auch im Sinne von Befreitsein von der Angst vor einer Invasion –eine gewisse Sorglosigkeit, Unbekümmertheit hervor. Die Insellage garantierte den Bewohnern vielleicht ihre Autonomie, doch sie förderte auch eine gewisse Abgekapseltheit gegenüber der Welt oder ein gewisses Auf-sich-selbst-bezogen-Sein. Heute noch kann man in Venedig versucht sein, eine indifferente Einstellung gegenüber dem einzunehmen, was andernorts geschieht. Die Venezianer interessieren sich nicht sonderlich für die Angelegenheiten der Menschheit im Allgemeinen. Und aus der Abgeschiedenheit und der Isolation kann auch Melancholie erwachsen. Venedig ist keine Insel mehr, doch die Inselmentalität besteht weiter.

Und natürlich müssen die Insulaner immer das Meer im Auge behalten. Das Meer bildet ihre Umgebung, es ist ihr Horizont. Wo wären sie ohne das Meer? Die Stadt ruht auf dem Schlick, der den Meeresboden bedeckt. Sie ist ebenso Teil des Meeres wie die Gezeiten und die Wellen. Die See fließt zwischen den hölzernen Pfählen hindurch, die sie tragen. Die See strömt unter ihr hindurch. Am Leben in Venedig ist etwas subtil Beunruhigendes. Salzgeruch liegt in der Luft, und Evaporation überzieht alles mit einem hauchdünnen Schleier. Aus diesem wird schnell Dunst oder Nebel. Über den Gebäuden scheint die Luft zu schmelzen. Das Salz und die Feuchtigkeit hinterlassen silberne Streifen wie von flüssigem Perlmutt auf den ausgebleichten Mauern. Die Vögel, die über den Häusern kreisen, sind Möwen. Und in den Kanälen treibt Seegras.

In ganz Venedig stößt man daher auf Ab- oder Nachbildungen des Meeres. Der Boden des Markusdoms hat eine sanft gewellte Oberfläche, die Gläubigen scheinen über Wogen zur Messe zu schreiten. Der mit Marmorplatten bedeckte Boden in der mittleren Vierung war im 16. Jahrhundert als il mare bekannt. Die marmornen Säulen von San Marco sind geädert oder gestreiftwie Wellen. In anderen Kirchen der Stadt finden wir Beweise für die Beliebtheit der »Delfinkapitelle« und des Muschelmotivs. Ruskin bezeichnete die beeindruckenden Paläste am Canal Grande als sea palaces. Auf alten Plänen der Stadt, vor allem solchen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, erinnert ihr Grundriss an einen Fisch oder Delfin. Die Inseln und Sandbänke, auf denen Venedig erschaffen wurde, gemahnten die ersten Siedler an die Rücken oder dorsi von schlafenden Walen; ein Bezirk heißt heute noch Dorsoduro, Hartrücken. Die eine der beiden die Piazzetta beherrschenden Granitsäulen wird von einer Statue des auf einem Krokodil stehenden S. Teodoro gekrönt. Die Säulenkapitelle des Dogenpalasts sind mit Krabben und Delfinen verziert. Es wäre nicht verwunderlich, einem Leviathan zu begegnen, oder bei acqua alta, bei Hochwasser, das über den Markusplatz schwimmen zu sehen, was Herman Melville in Moby Dick »seltsame Schemen aus der unverstellten Urwelt« nennt. Es würde einen nicht verwundern, einen großen Polypen oder eine Meduse im Canal Grande treiben zu sehen. Venedig ist eine Seestadt.

Die Einfahrt zum Canal Grande mit der Punta Punta di Dogana auf der um 1500 entstandenen sogenannten »Vogelschaukarte« des Jacopo de Barbari. Die Karte galt und gilt als Wunderwerk; sie ist an die vier Quadratmeter groß, und zu ihrer Herstellung wurden sechs Druckstöcke verwendet. Viele der Vorskizzen wurden von Türmen aus angefertigt.

© AKG Images, Berlin (Erich Lessing)

Der erste Eindruck von Venedig kann vom Anblick der See beeinflusst werden. Als Goethe im Herbst 1786 in die Stadt kam, sah er zum ersten Mal in seinem Leben das Meer, das heißt, er erhaschte einen Blick auf die Adria, als er aus einem der Bogenfenster des Campanile auf dem Markusplatz schaute. Ruskin traf an die fünfundfünfzig Jahre später in der Stadt ein und schrieb in seiner Autobiographie: »Der Beginn von allem war der Anblick des Schnabels der Gondel, der tatsächlich durch die Eingangstür von [dem Hotel] Danieli hereinschaute, als die Flut gekommen war und das Wasser am Fuß der Treppe zwei Fuß tief stand.« Dass die Wellen der Adria tatsächlich die Fundamente der Häuser umspielten, festzustellen, dass die See den Charakter der steinernen Gebäude um ihn herum verwandelte, das war es, was ihn so bezauberte. Der Mond regiert Venedig. Es ist auf Muschelsplitt und Meeressand erbaut und birgt den Charakter des Unendlichen in sich. Es ist eine schwimmende Welt.

Das Meer verkörpert alles, was im Fluss wandelbar und unvorhersehbar ist. Es stellt das ruhelose und störrische Element dar. Es tritt in unendlich vielen Farbvarianten und mit unendlich vielen Oberflächenstrukturen in Erscheinung. Von den Gemälden Tizians und Tintorettos hat man gesagt, dass sie ein »Meer« an Farben böten, in dem Silhouetten sich auflösen und verschwimmen würden. Die venezianische Malereischule ist eher durch fließende, ineinander übergehende Farben gekennzeichnet, als durch Genauigkeit der Konturen, durch eine Vorliebe für geschwungene Wellenlinien, die ein Volumen und Gewicht ganz eigener Art erschafft. Alles ist im Fluss. In venezianischen Statuen kann man die Bewegung des Meeres ebenso wiederfinden wie in der venezianischen Malerei. Mosaiken stellen bevorzugt die verschiedenen Geschichten aus der Bibel dar, die mit dem Meer – oder zumindest großen Wasserflächen –in Zusammenhang stehen. So findet man im Markusdom solche, die den reichen Fischzug am See Genezareth, Jesu Wandeln über das Wasser und die Besänftigung des Sturms zum Thema haben. Es gibt Kirchen, die aussehen, als wären sie aus dem Reich Neptuns emporgestiegen. Die Jesuitenkirche S. Maria Assunta besitzt ein barockes Inneres, in welchem große Kaskaden grauen, grünen und weißen Marmors Wandbehänge nachahmen. Doch noch mehr ähneln sie Wellen. Wellen, die donnernd die Seitenwände der Kirche herunterströmen, bis sie in Stille und Bewegungslosigkeit erstarren. Der Boden aus grünem Marmor wirkt, als ob er eine Höhle unter dem Meeresboden geschmückt haben könnte, wenn durch die ozeanische Schwärze des Schiffs hindurch Lichtstrahlen auf ihn fallen.

Das feine Gefühl der Venezianer für Rhythmus hat sich auf einen großen Teil der Architektur der Stadt niedergeschlagen. Die nahe See wirkt sich an den Ufern der Kanäle verändernd auf die Wahrnehmung von Struktur aus. Die Gebäude nehmen ein zarteres und ätherischeres Aussehen an. Wellen laufen über die Fassaden von Kirchen, sie wirken gewichtlos und ephemer, wenn man sie am Rand des Wassers aufragen sieht, wie Muscheln am Grund eines Gezeitentümpels an einer Meeresküste. Die Architektur Venedigs dehnt sich wie das Meer horizontal aus. Von ferne, über die Lagune hinweg betrachtet, zeichnet sich die Stadt als lang gestreckte, flache Masse vor dem Horizont ab. Sie ist ständig in Bewegung. Sie ist eher vom Barock und Manierismus geprägt als von der Klassik. Sie glitzert wie durch Wasser hindurch gesehen und ist von Ornamenten überwuchert wie ein Riff von Korallen.

Venezianische Tuchweber waren für ihre Satinstoffe berühmt; Moiré, eine stark glänzende und glitzernde Satinart, war im Englischen als watered silk bekannt. Die Arbeit mit Seide wurde in Venedig dar’onda all’amuer genannt: »Wellen auf dem Meer schlagen«. Man serviert in Venedig einen aufbesondere Weise zubereiteten Risotto – er ist flüssiger als sonst in der italienischen Küche üblich –, den man all’onda nennt: »mit Wellen«. Einen im Ägäischen Meer vorkommenden Schwamm bezeichnet man als enetikos, »Venezianer«. Im vergangenen Jahrhundert konnte man in den Andenkenläden der Stadt kleine aus am Lido gefundenen Muscheln gefertigte Nippsachen kaufen, die den Namen fiori di mare trugen: »Meeresblumen«. Es sind die einzigen dort »bodenständigen« Blumen.

Es gibt andere tiefgehende Beziehungen zwischen dem Ort und dem an ihm waltenden Geist. Die venezianische Gesellschaft ist als eine sich in stetigem Fluss und Wandel befindliche bezeichnet worden. Über die von ihren Herrschern betriebene Politik sagte Sir Henry Wotton, im frühen 17. Jahrhundert der englische Gesandte in Venedig, dass sie »fluktuiere wie das Element, auf dem die Stadt errichtet wurde«. Das ist der Grund, weswegen venezianische Historiografen Wert darauf legten, die Kontinuität und Stabilität des Gemeinwesens zu betonen. Sie waren sich nur zu sehr bewusst, dass ihm etwas von der Bewegung und Ruhelosigkeit des Meeres innewohnte. Tief in ihrem Innersten war laSerenissima zu jeder Zeit von der Furcht vor der Vergänglichkeit erfüllt, ähnlich wie der venezianische Seemann Angst vor dem Meer verspürte. Wie Veronica Franco, die venezianische Dichterin des späten 16. Jahrhunderts es formulierte: »Das Meer selbst verlangt nach dieser Stadt.« Dieses Verlangen kann auch als schmeichelhaft für die Stadt empfunden werden – solange das Meer nicht zu nahe heranrückt.

Man hat auch Analogien zwischen dem Charakter der Venezianer und den Gezeiten hergestellt: Sechs Stunden lang sind sie einem Sprichwort zufolge »obenauf« und sechs Stunden »unten«, niedergedrückt oder missgelaunt. Tatsächlich gibt es einen mundartlichen Spruch, mit dem die Venezianer sich selbst, ihre typische »Seinsweise« beschreiben: Andara alla deriva heißt so viel wie »driften, hin und her getrieben werden«. Die Beweglichkeit und Leichtigkeit der venezianischen Wesensart sind wohlbekannt. Die Venezianer kennen viele Sprichwörter und Lieder, die auf die See Bezug nehmen, beispielweise: coltivar el mare e lasser star la terra – das Meer kultivieren und das Land sich selbst überlassen. Früher gab es viele volkstümliche Lieder, die immer mit derselben Einleitung begannen: in mezzo al mar. Mitten auf dem Meer gibt es – was? Keine vertrauten Dinge. Keine hübschen Dinge. Mitten auf dem Meer gibt es, den Liedern zufolge, erschreckende Erscheinungen und merkwürdige Omina: Man sieht dort einen rauchenden Schlot aus den Wellen ragen oder einen Geliebten tot auf ihnen treiben. Man findet keine Verherrlichungen des Zaubers der See oder des Ergreifenden an ihr, sondern vielmehrErinnerungen an die von ihr ausgehenden Gefahren und das ihr anhaftende zutiefst Fremde.

Es gibt in Venedig eine Fülle das Meer betreffender volkstümlicher Legenden, und es verbindet sich auch viel Aberglauben mit ihm. Es ist eine unruhige Stadt, zwischen Meer und Land liegend, und daher wird sie Brutstätte vieler Fantasien von Tod und Wiedergeburt. Dem englischen Reisenden Fynes Morrison zufolge stand in Venedig eine Statue der Jungfrau Maria, die immer von vorbeifahrenden Schiffen gegrüßt wurde. Sie war stets von brennenden Kerzen umgeben, mit denen man ihr dafür dankte, dass sie Menschen vor dem Tod auf See gerettet hatte. Es heißt, dass der scharf geschnittene Bug der Gondel die glänzende Schwertklinge eines der Soldatenheiligen, des S. Teodoro nämlich, nachahmen solle. Bei Nahen eines Sturms ergriffen venezianische Seeleute ihre Schwerter und legten eines so über ein anderes, dass die beiden Klingen ein Kreuz bildeten. Es galt auch als ratsam, bei drohendem Sturm ein Messer mit einem schwarzen Heft in die Hand zu nehmen und damit die Luft symbolisch zu zerschneiden.

Die Flut tritt gewöhnlich des Tages zweimal herein, und die Ebbe bringt das Wasser zweimal hinaus, immer durch denselben Weg in denselben Richtungen. Die Flut bedeckt die innern morastigen Stellen und läßt die erhöhteren, wo nicht trocken, doch sichtbar. […] Dieses zu verhüten, müssen sie das Lido verwahren, was sie können, damit das Element nicht dasjenige willkürlich angreifen, hinüber und herüber werfen möge, was die Menschen schon in Besitz genommen, dem sie schon zu einem gewissen Zweck Gestalt und Richtung gegeben haben.

Johann Wolfgang von Goethe

Das Meer vermittelt aber auch ein Gefühl, eine Ahnung von Unbeständigkeit und Vergänglichkeit. Alles kommt aus dem Wasser und löst sich wieder in ihm, zu ihm auf. Das Wasser ist ein umschlingendes Element. Es gibt keinen Beleg dafür, dass die Venezianer das Meer jemals wirklich geliebt haben. Es stellte in erster Linie einen Feind dar. Byron erklärte, dass die Venezianer nicht schwimmen könnten und von Angst »vor tiefem oder sogar auch seichtem Wasser« besessen seien. Die Venezianer hielten sich immer etwas darauf zugute, sich das Meer untertan gemacht zu haben, doch war das eine jederzeit gefährdete Herrschaft, um die man bangen musste. Ständig war man von Überflutung bedroht. Natürlich öffnete das Meer ihnen den Weg zu Wohlstand und Reichtum, doch bedeutete das auch, dass ihre Vorrangstellung auf dem Gebiet des Handels und der Weiterbestand ihrer Macht von der Gnade des Meeres abhingen. Es repräsentierte auch das Böse und stand für Chaos, war grausam und entzweiend. Die Angst vor einem völligen Versinken kann zum Teil auch als Besorgnis aufgefasst werden, dass Gott der Stadt, ihren Bewohnern zürnen könnte. Aus diesem Grund gab es Zeremonien, die den Gott oder die Götter des Wassers beschwichtigen sollten. Nominell mögen sie sich an den christlichen Gott gerichtet haben, doch machte sich im Denken und Handeln der Bewohner Venedigs immer ein Element der Furcht oder Ehrfurcht bemerkbar, das aus viel älteren religiösen Empfindungen übernommen worden war.

Die Stadt war auch Wächterin über das Wasser. Im Dogenpalast war der Sitz des Vorstehers des Magistrato sulle Acque mit einer Inschrift geschmückt, welche besagte: »Die Stadt Venedig wurde dank göttlicher Vorsehung im Wasser gegründet, von Wasser umgeben und von Wasser anstelle von Wällen geschützt. Daher muss jeder, der es wagen würde, auf welche Weise auch immer diesen Wassern Schaden zuzufügen, für einen Feind dieses Territoriums gehalten werden …« Es endete mit der Erklärung, dass »dieses Gesetz für ewig gültig angesehen wird«.

Die Stadt der Veneter, durch göttliche Fügung in den Gewässern gegründet, von Wassern rings umflutet, ist durch ihre Gewässer als ihre Mauern geschützt. Wer daher, auf welche Weise auch immer, es wagen sollte, den öffentlichen Wassern Schaden zuzufügen, soll als Feind des Vaterlandes betrachtet und von nicht geringerer Strafe betroffen werden, als wer die heiligen Mauern der Vaterstadt verletzt hätte.

Devise des Magistrato sulle Acque

In jedem Frühjahr wurde am Himmelfahrtstag eine rituelle Handlung vorgenommen, die als Sposalizio del mare bekannt war, als »Vermählung mit dem Meer«; der Bräutigam war der jeweilige Doge, seine Auserwählte waren die schäumenden Wellen. Nach einer im Markusdom zelebrierten Messe wurde der Doge mitsamt seinem Gefolge auf der Staatsgaleere, dem Bucintoro (Bucentaurus), auf die Lagune hinausgerudert; die Adligen und Vertreter der Gilden schlossen sich in kleineren Booten an. Dort, wo das Wasser der Adria und das der Lagune sich vermischten, hielt die Prozession an, und der Patriarch von Venedig entleerte ein großes Gefäß voll Weihwasser in die Fluten. Damit wurden die Wasser der Erde und die des Geistes untrennbar miteinander verbunden. Der Bucintoro wurde von Goethe als »eine wahre Monstranz« bezeichnet; er sah in ihm also ein Behältnis, in dem die geweihte Abendmahlshostie zur Schau gestellt wird. Die Galeere wird zu einem auf den Wogen tanzenden heiligen Gral, der bei einem Heilungsritual Segen spendet.

Im Bug des Buzentaur stehend, nahm der Doge einen goldenen Ring und übergab ihn der Tiefe, wobei er die Worte sprach: »Ich vermähle mich dir, Meer, zum Zeichen unserer wahren und ewigen Herrschaft.« Doch was für eine Art von Herrschaft konnte aus einer solchen Verbindung entstehen? Eines der Attribute des Rings ist Fertilität, die Zeremonie kann also als der ältesten Kategorie von derartigen Ritualen zugehörig angesehen werden: Sie ist – auch –ein Fruchtbarkeitsritus. Sie kann aber auch als Bittzeremonie gedeutet werden, dazu bestimmt, die vom Sturm aufgewühlte, bedrohliche See zu beruhigen. Schließlich könnte es sich auch um eine maritime Version des Buchstabenwerfens handeln. Schon seit undenkbaren Zeiten werden Ringe ins Wasser geworfen, um Vorhersagen für die Zukunft zu treffen. In dieser uralten rituellen Vereinigung mit dem Meer, die im Frühjahr an dem Ort vorgenommen wird, wo »drinnen« und »draußen« ineinanderfließen, verschmelzen wohl alle diese verschiedenen Funktionen miteinander. In späterer Zeit war Ertränktwerden eine der möglichen Strafen für Ketzerei: Der Verurteilte wurde aufs Meer hinausgerudert und über Bord gestoßen. Diese maritime Exekutionsart kann wiederum als das Darbringen eines Opfers an die Götter angesehen werden.

Dieses einzigartige Schauspiel ist edel und großartig. Der feierliche Gang des Bucintoro und der ihn begleitenden Galeeren, der Schall der Kanonen, der Glocken, der Hörner, der Trompeten, der durchdringende Schall der Pfeifen auf den Galeeren, die Rufe der Gondelführer, das dumpfe Brausen der Zuschauermenge, das trotz der großen Entfernung zu hören ist: alles ergibt ein Schauspiel, das verdient, gesehen zu werden, und wovon die genaueste Beschreibung kaum eine Vorstellung zu geben vermag.

Abbé Richard im Jahr 1766