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Hauspflegerin Katrin Engel trägt ihren Namen zurecht. Sie ist ein wahrer Engel. Als Schwester der Gemeinde steht sie Familien jederzeit, rund um die Uhr zur Verfügung. Krankheiten und Gebrechen kennen eben kein freies Wochenende. Katrin opfert sich auf, um allen ihren Patienten gerecht zu werden. Ein Privatleben kennt sie nicht.
Vor allem ihr neuer Patient Andreas Schellenberg weckt in Katrin großes Mitgefühl. Der junge Ingenieur sitzt seit einem Unfall im Rollstuhl und wird vermutlich nie wieder laufen können. Andreas ist verbittert, störrisch und möchte weder Hilfe noch Mitleid. Aber Katrin hat ein dickes Fell. So schnell lässt sie sich nicht verjagen. Sie ahnt, dass es sein Stolz ist, der ihn so handeln lässt. Katrin versucht ganz zaghaft, seinen Panzer zu knacken und ihm seinen Lebensmut zurückzugeben ...
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Seitenzahl: 160
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Sie liebte den Gelähmten
Vorschau
Impressum
Sie liebte den Gelähmten
Ein Roman um die Allgewalt der Liebe
Von Ina Ritter
Hauspflegerin Katrin Engel trägt ihren Namen zurecht. Sie ist ein wahrer Engel. Als Schwester der Gemeinde steht sie Familien jederzeit, rund um die Uhr zur Verfügung. Krankheiten und Gebrechen kennen eben kein freies Wochenende. Katrin opfert sich auf, um allen ihren Patienten gerecht zu werden. Ein Privatleben kennt sie nicht.
Vor allem ihr neuer Patient Andreas Schellenberg weckt in Katrin großes Mitgefühl. Der junge Ingenieur sitzt seit einem Unfall im Rollstuhl und wird vermutlich nie wieder laufen können. Andreas ist verbittert, störrisch und möchte weder Hilfe noch Mitleid. Aber Katrin hat ein dickes Fell. So schnell lässt sie sich nicht verjagen. Sie ahnt, dass es sein Stolz ist, der ihn so handeln lässt. Katrin versucht ganz zaghaft, seinen Panzer zu knacken und ihm seinen Lebensmut zurückzugeben ...
Katrin trank ihren Kaffee. Den ganzen Tag war sie auf den Beinen gewesen, sie genoss es, ein Viertelstündchen in Schwester Wilhelmines Arbeitszimmer sitzen zu können.
»Müde?«, fragte ihre Mitarbeiterin verständnisvoll und streifte sie mit einem mitleidigen Blick. »Aber trösten Sie sich, Sie haben den schönsten Beruf der Welt erwählt. Wenn auch nicht gerade den leichtesten.«
»Ich denke gar nicht daran, mich zu beklagen«, versicherte Katrin Engel aufrichtig.
Nur manchmal wünschte sie sich etwas mehr Freizeit. In den letzten Monaten hatte sie kaum einmal ein Wochenende für sich gehabt. Eine Hauspflegerin musste ihren Familien jederzeit zur Verfügung stehen. Krankheiten und Gebrechen kannten kein freies Wochenende.
»Ich mache mich jetzt auf den Weg. Weiß dieser Herr Holland, dass ich morgen komme?«
»Ich habe es ihm gesagt.« Katrin bekam den kräftigen Händedruck der Gemeindeschwester zu spüren.
Sie schwang sich aufs Fahrrad und fuhr die Straße entlang. Als Hauspflegerin trug sie keine Uniform und unterschied sich so nicht von den vielen anderen Frauen und Mädchen, die um diese Zeit heimwärts strebten.
Nur in einem unterschied sie sich: durch ihre Schönheit. So mancher Blick folgte ihr, und vielleicht war es der zufriedene Ausdruck auf ihrem Gesicht, der in den Herzen der Männer die Sehnsucht weckte, sie näher kennenzulernen.
»Endlich!«, empfing ihre Mutter sie, als sie eine knappe Viertelstunde später ins Haus trat. »Wann wirst du einmal pünktlich Feierabend haben, Katrin? Es ist schon wieder acht Uhr vorbei. Du rackerst dich ab, und niemand dankt es dir. Müde siehst du aus. Komm, setz dich erst einmal, ich bring dir sofort dein Essen.«
Katrin gab ihrer Mutter einen Kuss. »Ich bin gar nicht müde, Muttchen.«
»Dann sieh mal in den Spiegel, der lügt nicht. Warum suchst du dir keinen anderen Beruf, Katrin? Du bist doch jetzt nichts weiter als ein besseres Dienstmädchen. Sieh nur mal deine Hände an!«
»Was gefällt dir an ihnen nicht?«, fragte Katrin schmunzelnd.
Ihre Hände waren rot, und die Haut war ein wenig aufgesprungen, aber das ließ sich nun einmal nicht vermeiden. Auch die Nägel waren weder lackiert noch besonders gepflegt.
»Du könntest dir doch irgendeine Büroarbeit suchen, Katrin. Dann hast du eine regelmäßige Arbeitszeit und verdienst auch mehr Geld. Jetzt reicht es doch kaum mal für ein neues Kleid.«
»Wann sollte ich es auch tragen?«, fragte Katrin freundlich. »Du, Muttchen, ich habe Hunger.«
»Du willst mich nur ablenken.« Frau Aline schüttelte energisch den Kopf. »Zwei Jahre sehe ich mir das nun schon an mit dir, und ich muss sagen, es gefällt mir immer weniger. Wo willst du einen Mann kennenlernen, der dich heiratet, wenn du niemals frei hast? In deinem Alter muss man tanzen gehen, überhaupt etwas unternehmen. Oder glaubst du, die Leute dankten dir deine Arbeit?«
»Darauf kommt es doch gar nicht an. Irgendjemand muss sich um die Kranken und Hilflosen kümmern. Wilhelmine kann nicht alles allein machen.«
»Dann soll sie sich andere suchen. Du bist zu schade, Katrin. Hast du wenigstens dieses Wochenende frei? Hast du Wilhelmine klargemacht, dass dir jetzt ein paar Tage Urlaub zustehen?«
Katrin wich ihrem Blick aus.
»Du hast es also nicht getan. Du hast dir wieder irgendeine Stelle anhängen lassen. Aber ich verbiete dir, dass du dich so ausnutzen lässt! Widersprich mir nicht! Was Schwester Wilhelmine mit dir macht, das ist nichts anderes. Nur weil sie selbst keine anderen Interessen hat als ihren Beruf, glaubte sie, auch du ...«
»Muttchen, hör doch auf davon, wir haben doch alles schon hundertmal besprochen. Es wird ja bestimmt einmal besser werden. Wenn Pastor Wieder erst einmal ein paar neue Mitarbeiterinnen gewonnen hat ...«
»Davon sprichst du seit zwei Jahren. Er wird sich gar nicht energisch darum bemühen, solange du und Wilhelmine mit der Arbeit fertigwerdet. Kündige, Katrin, bitte! Ich kann nicht mit ansehen, wie du Raubbau mit deiner Gesundheit treibst. Du kommst spät nach Hause, dann isst du etwas, duschst und legst dich ins Bett. Ist das ein Leben für ein junges Mädchen?«
»Mir gefällt es. Ich glaube, um das Essen muss ich mich selbst kümmern.« Katrin stand auf und machte Anstalten, in die Küche zu gehen.
Selbstverständlich ließ Frau Aline es sich nicht nehmen, ihrer Tochter das Essen auf den Tisch zu stellen. Wenigstens abends sollte Katrin ihre Ruhe haben, nachdem sie sich den ganzen langen Tag für andere Leute abgerackert hatte.
»Was hast du denn morgen zu tun?«, fragte sie, als Katrin es sich schmecken ließ.
»Ich muss zu einer Familie mit drei Kindern. Die Mutter erwartet ihr viertes. Sie ist nachmittags in die Klinik gekommen.«
»Drei Kinder! Fremde Kinder. Du solltest eigene haben, Katrin.« Frau Alines Stimme klang energisch.
»Das kommt später. Es hat großartig geschmeckt, Muttchen. Wir waschen das Geschirr gemeinsam ab.«
»Soweit kommt das noch! Ich habe den ganzen Tag Zeit. Lies doch ein bisschen die Zeitung oder in einem Buch. Oder erzähl mir, was du gemacht hast.«
Katrin gähnte verstohlen.
»Du bist natürlich schon wieder müde. Kein Wunder bei dem Leben, das du führst. Meinetwegen leg dich ins Bett. Aber wenn die Frau aus dem Krankenhaus zurückkommt, dann lass dich bei Schwester Wilhelmine auf nichts ein, versprichst du es mir?«
»Soweit es sich machen lässt ...«
»Dir ist nicht zu helfen, Katrin. Eines Tages wirst du zusammenklappen, und dann wird sich niemand um dich kümmern. Nur ich. Deine vielen Freunde haben dich dann längst vergessen. Oder erwartest du Dankbarkeit?«
»Ich trinke noch ein Glas.«
Als sie das hohe Glas leer hatte, lächelte sie schon wieder. Sie hatte gern mit Kindern zu tun. Sie waren viel angenehmer als manche alten Leute, denen man nichts recht machen konnte. Die drei waren noch nicht im schulpflichtigen Alter.
Als sie im Bett lag, fielen ihr die Augen sofort zu. Ihre Mutter stellte das Radio ab, um sie nicht zu stören. Aber das war überflüssig, Katrins Schlaf war so tief, dass schon einiges dazu gehörte, sie zu wecken.
***
»Guten Morgen«, wünschte Katrin fröhlich, als Herr Holland ihr am nächsten Morgen die Haustür öffnete.
Das Gesicht des Mannes wirkte grau und übernächtig. Seine Augen lagen tief in den Höhlen.
»Ich bin Katrin Engel, die Hauspflegerin«, stellte sie sich vor.
Holland murmelte seinen Namen. »Kommen Sie doch herein.«
»Darf man Ihnen schon gratulieren?«, wollte Katrin wissen.
Der Mann holte tief Luft, während sich ein mattes Lächeln um seine Lippen legte.
»Wieder ein Mädchen«, sagte er. »Meiner Frau und dem Kind geht es gut. Sie macht sich Sorgen um den Haushalt. Bevor ich ins Büro fahre, besuche ich sie noch rasch im Krankenhaus und sage ihr, dass Sie sich um die Kinder kümmern.«
»Ich werde Ihre Gattin auch einmal besuchen. Sicherlich möchte sie mich persönlich kennenlernen«, meinte Katrin verständnisvoll. »Haben Sie schon gefrühstückt?«, fragte sie ihn.
»Nur eine Tasse Kaffee getrunken. Morgens habe ich keinen Hunger. Die Kinder sind noch in den Betten. Ob Sie sich wohl hier allein zurechtfinden werden, Fräulein Engel?«
»Sicherlich doch. Machen Sie sich keine Sorgen. Grüßen Sie Ihre Frau unbekannterweise von mir.«
»Danke.« Niels Holland schüttelte ihr die Hand und verließ dann eilig das Haus.
Er machte auf Katrin einen sehr sympathischen Eindruck. An seiner Frau schien er sehr zu hängen. Das sprach für ihn, fand sie.
Zuerst schaffte sie im Wohnzimmer etwas Ordnung, lauschte dabei aber mit einem Ohr hinaus. Die Kinder würden sich wahrscheinlich melden, wenn sie wach wurden.
Eine Viertelstunde später war es so weit. Ein Mädchen in langem Nachthemd mit hellblondem Haar trat auf den Flur und schaute Katrin großäugig an.
»Ich bin Fräulein Engel. Und wie heißt du?«
»Lieselotte. Bleibst du jetzt bei uns, bis Mutti wiederkommt?«
»Ja. Wann stehen die anderen auf?«
»Die sind schon wach. Machst du uns was zu essen, Tante Engel? Auch Kakao?«
»Selbstverständlich. Milch ist ja da. Zeigst du mir, wo das Kakaopulver ist? Aber vorher musst du dich waschen und anziehen.«
»Immer das Waschen ... Ich hab mich doch gestern Abend erst gewaschen. Sogar den Hals.«
Katrin schmunzelte. »Dann tu es heute Morgen noch einmal. Vergiss nicht, dir die Zähne zu putzen.«
»Ich hole die anderen. Bis die immer so aufstehen ...«
Lieselotte kam sich wohl sehr erwachsen vor.
»Kochst du auch heute Mittag was zu essen?«, fragte sie dann, den Türgriff in der Hand haltend.
»Ja.«
»Und was?«, wollte Lieselotte wissen.
»Darüber können wir beim Frühstück sprechen. Vielleicht habt ihr etwas, das ihr besonders gern esst.«
»Pudding«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Was anderes brauchst du nicht zu kochen, Tante Engel. Für mich Schokoladenpudding, für Heini Vanille und für Marlies Götterspeise. Du kannst dir ja kochen, was du am liebsten magst«, erlaubte sie großzügig.
»Vielen Dank«, erwiderte Katrin ernsthaft. »Aber ich denke, ich werde ein richtiges Mittagessen kochen und Pudding nur als Nachtisch.«
»Genau wie Mutti.« Lieselotte verzog die Lippen. »Wenn ich mal groß bin, dann koche ich jeden Tag Pudding, das kann ich dir sagen. Und Kartoffeln kommen bei mir nie auf den Tisch. Die machen bloß dick«, setzte sie altklug hinzu.
Sie war hochaufgeschossen und mager, Kartoffeln konnten ihrer Figur bestimmt nichts schaden. Katrin strich ihr lächelnd über das lange blonde Haar.
Marlies war die jüngste, Katrin schätzte ihr Alter auf drei Jahre. Sie hatte große Ähnlichkeit mit ihrer Schwester. Sie hatte das gleiche blonde Haar, aber dabei fiel es in natürlichen Locken um den Kopf.
»Wir müssen uns waschen«, erklärte Lieselotte missmutig. »Und Pudding gibt es nur zum Nachtisch.«
Das schien Marlies weiter nicht zu beeindrucken. In kindlicher Neugierde ließ sie den Blick nicht von Katrin. Die junge Dame war es gewohnt, von Kindern so gemustert zu werden. Sie hob Marlies aus dem Bett und stellte sie auf den Boden.
»Kannst du dich schon allein anziehen?«
»Na klar, was dachtest du denn?«, fragte die Kleine und krauste das Näschen.
»Die Knöpfe auf dem Rücken tu ich ihr immer zu machen«, warf Lieselotte ein. »Und die Schnürbänder, die mach ich ihr auch zu. Marlies ist einfach zu dumm dazu.«
»Bist selbst dumm«, schnob die Kleine wütend. »Die ist richtig doof, Tante!«
Es sah aus, als würde es gleich zu einer Prügelei kommen, und Katrin beeilte sich, die beiden abzulenken.
»Lieselotte wäscht sich jetzt zuerst. Und wir beide, Marlies, wecken deinen Bruder.«
»Weißt du was? Den lassen wir lieber schlafen«, schlug Marlies vor. »Heini ist nämlich frech. Er haut mich immer.«
»Hast es ja auch verdient«, warf Lieselotte ein. »Mir tut er jedenfalls nichts.«
»Weil du stärker bist als er«, erklärte Marlies überzeugend. »Aber wenn ich mal groß bin, dann kriegt er alles wieder! Dann hau ich ihm ordentlich auf den Kopf.«
Sie machte einen sehr kriegerischen Eindruck, wie sie in ihrem langen Nachthemd dastand, die kleinen Händchen zu Fäusten geballt.
»Ich denke, ihr vertragt euch lieber. Wo schläft Heini?«
»Der hat ein Zimmer für sich. Nur weil er ein Junge ist. Findest du das gerecht, Tante Engel? Ich möchte auch viel lieber ein Junge sein und ein Zimmer für mich haben.«
»Wasch dich jetzt!«, sagte Katrin und schickte Lieselotte endgültig hinaus. Dann nahm sie die Hand der Kleinen. »Freust du dich, dass ihr noch ein Schwesterchen bekommen habt?«
»Nee!«, erklärte Marlies im Brustton der Überzeugung.
Katrin wunderte sich sehr.
»Die will dann bloß noch was vom Pudding abhaben«, vertraute Marlies ihr den Grund ihrer Abneigung an. »Und würdest du gern Pudding teilen? Wir wollen überhaupt kein Schwesterchen mehr. Mutti soll es im Krankenhaus lassen und verschenken. Ich habe mit Tante Gerda gesprochen, die will gern ein Kind haben. Der geben wir es einfach, dann sind wir es los. Und bei Tante Gerda kann es den ganzen Pudding allein haben.«
Heini, etwa vier Jahre alt, war schon angezogen. Er ging höflich auf Katrin zu und gab ihr die Hand.
»Hast du schon gehört, dass wir ein Mädchen kriegen?«, fragte er Katrin bekümmert. »Mensch, das ist vielleicht ein Mist. Da dachte ich, die hätten sich noch 'nen Jungen bestellt ... Was meinst du, ob wir sie nicht vielleicht umtauschen können?«
»Ich fürchte, das wird nicht gehen«, erwiderte Katrin schmunzelnd.
»Aber doch nicht noch ein Mädchen. Mit denen kann man nicht spielen, die haben bloß immer ihre Puppen im Kopf.«
»Und du bloß immer deine Indianersachen! So was Blödes.«
»Davon verstehst du nichts. Gibt es bald Frühstück?«
»Wenn ihr euch gewaschen habt«, erklärte Katrin.
»Ich brauche mich nicht zu waschen, ich bin noch von gestern sauber«, versicherte Heini. »Sag doch selbst, bin ich nicht sauber?«
»Ich auch«, meldete sich Marlies rasch. »Und es gibt Kakao, hat Lieselotte gesagt.«
»So viel man trinken will?«, erkundigte sich Heini erwartungsvoll.
Kathrin zog es vor, sich nicht festzulegen. Jedenfalls machten ihr die drei in ihrer frischen, offenen Art einen Heidenspaß. Man merkte, dass ihre Mutter sie gut erzogen hatte, ohne ihre Eigenart gewaltsam zu unterdrücken.
Eine knappe halbe Stunde später saßen sie einträchtig um den Küchentisch versammelt. Katrin hatte ein paar Brötchen gekauft, und die Kinder ließen es sich schmecken. Ihre Münder standen keinen Augenblick still.
***
»Das ist Vati!«, kreischte Lieselotte, als die Türklingel am Abend anschlug.
Ihren Geschwistern voran stürmte sie aus dem Wohnzimmer, um die Tür zu öffnen.
Ein erwartungsvolles Lächeln lag auf ihrem schönen Gesicht, als Liselotte die Tür aufriss.
»Du bist ja gar nicht unser Vati!«, stellte sie dann endlich enttäuscht fest. »Tante Engel, da ist eine fremde Frau.«
»Schwester Wilhelmine!« Katrin reichte ihr die Hand. »Kommen Sie herein. Eine Tasse Kaffee habe ich auch für Sie.«
»Vielen Dank, ich könnte sie zwar gebrauchen, habe aber keine Zeit. Wann machen Sie hier Feierabend?«
»Sobald Herr Holland nach Hause kommt. Ich erwarte ihn jeden Augenblick. Die Kinder haben schon gegessen, das Essen für ihn habe ich warm gestellt ...«
»Ich habe noch eine große Bitte. Fräulein Engel. Ich weiß, ich dürfte es Ihnen eigentlich nicht zumuten ...«
»Um was handelt es sich denn?«, wollte Katrin wissen.
»Dieser junge Mann, von dem ich Ihnen erzählt habe. Eine Nachbarin hat mir Bescheid gegeben, dass sich niemand um ihn kümmert. Ich habe beim besten Willen keine Zeit, einmal nach ihm zu sehen. Würden Sie auf dem Nachhauseweg bei ihm vorbeischauen?«
»Selbstverständlich gern.« Katrin notierte sich den Namen und die Adresse. »Wollen Sie wirklich keine Tasse Kaffee, Schwester Wilhelmine?«
»Ich will schon, aber die Zeit ... Ich muss noch zu Frau Reuter. Ihr Junge ist krank. Ein richtiges Sorgenkind ist er. Sie wird mir bestimmt eine Tasse Kaffee kochen. Rufen Sie mich morgen im Büro an und sagen Sie mir, was mit diesem Herrn Schellenberg los ist? Vielleicht hat die Nachbarin nur übertrieben. Er soll ein bisschen schwierig sein, ein Mann, der sich nicht gern helfen lässt.«
»Ach, so etwas gibt es auch?«, fragte Katrin verschmitzt. Bisher hatte sie nur den anderen Typ kennengelernt, der sich die Arbeit gern aus der Hand nehmen ließ, soweit es sich um Hausarbeiten handelte.
»Die ist aber nicht so nett wie du«, urteilte Lieselotte vernichtend, als Schwester Wilhelmine wieder gegangen war. »Die sieht so streng aus. Ich möchte wetten, dass die kleine Kinder haut.«
»Die Wette würdest du bestimmt verlieren, Lieselotte.«
»Glaub ich nicht. Wir haben Glück gehabt, dass du zu uns gekommen bist, nicht? Und dürfen wir unsere Mutti wirklich nicht im Krankenhaus besuchen?«
»Leider nicht, ihr müsst warten, bis sie zurückkommt. Es wird sie freuen, zu hören, wie brav ihr heute gewesen seid.«
Die drei strahlten sie an. So brav fanden sie ihr Verhalten ja eigentlich nicht, aber es war doch nett von Tante Engel, dass sie nichts von ihren Ungezogenheiten erwähnte.
Endlich kam Niels Holland. Er wirkte viel frischer als heute Morgen, und Katrin erfuhr auch sofort den Grund. Er war noch im Krankenhaus gewesen und hatte seine Frau besucht.
»Mutti lässt euch alle drei grüßen«, erzählte er seinen Kindern. »Wart ihr auch artig?«
»Tante Engel meint es«, machte sich Lieselotte zur Sprecherin ihrer Geschwister. »Hast du uns was mitgebracht, Vati?«
»Eine Tafel Schokolade. Aber schmiert euch nicht ein, wenn ihr sie esst, hört ihr!«
»Mensch, Vati, du bist ja prima. Ein Stückchen Schokolade kannst du morgen unserem Schwesterchen bringen.«
»Habe ich es nicht gesagt, dass wir mit der alles teilen müssen?«, murrte Marlies, die Schokolade für ihr Leben gern aß.
»Sie darf noch keine Schokolade essen«, beruhigte Herr Holland sie. »Wollen wir jetzt essen?«
»Wir haben schon.«
»Ich hielt es für besser, die Kinder früher abzufüttern«, erklärte Katrin ihm. »Sie werden abends Ihre Ruhe brauchen können. Sie haben ganz reizende Kinder, Herr Holland.«
Die reizenden Kinder fanden das auch und schauten erwartungsvoll zum Vater hoch, ob er das schmeichelhafte Urteil bestätigen würde. Der Mann strich gerührt über die drei Blondköpfe.
»Ich muss jetzt gehen, Herr Holland. Ich habe noch einen Hausbesuch zu machen. Ich denke, Sie werden jetzt allein fertigwerden.«
»Selbstverständlich. Und vielen Dank auch für die Mühe, die Sie sich gemacht haben.«
»Morgen kocht sie Vanillepudding«, strahlte Heini.
»Und übermorgen Götterspeise.« Marlies, eine kleine Schmuskatze, griff nach der Hand des Vaters. »Darf ich zugucken, wie du isst?«, fragte sie. »Und du erzählst uns dann von Mutti. Kommt sie bald wieder?«
»Ja. Und sie freut sich über euer Schwesterchen.«
»Das wollen wir weggeben, Vati«, teilte Heini ihm mit. »Wir haben schon genug Frauen im Haus.«
Katrin freute sich über das herzhafte Lachen des Mannes, der heute Morgen noch so ganz anders ausgesehen hatte. Wenn er diese Nacht gut schläft, werde ich ihn morgen kaum wiedererkennen, dachte sie.
Sie schwang sich auf ihr Fahrrad, aber bevor sie in die Pedale trat, blickte sie noch einmal auf das Haus zurück. Alle drei Kinder standen am Küchenfenster, hinter ihnen der Vater, und sie winkten ihr freudig zu.
***
»Der macht nicht auf«, sagte eine freundliche Frau in mittleren Jahren, als Katrin bald darauf an Herrn Schellenbergs Wohnungstür klingelte. »Ich habe einen Schlüssel. Es ist ein Jammer mit ihm. Ich kenn ihn ja von früher her — also war das immer ein netter junger Mann, so richtig zum Gernhaben. Aber seit dem Unfall ... Es ist auch alles so traurig. Es gibt Frauen, für die man sich nur schämen kann. Oder hätten Sie so etwas fertigbekommen?«
»Was?«, fragte Katrin.
»Ihn im Stich lassen. Nur weil er den Unfall hatte. Vielleicht kann er bald wieder gehen, seine Verletzung ist doch keineswegs hoffnungslos. Aber nein, sie hat ihm prompt den Ring zurückgegeben. Und das, als er noch im Krankenhaus lag.«
»Das ist doch nicht möglich!«, murmelte Katrin erschüttert.
»Das sollte man wirklich denken«, bestätigte die Frau. »Ich tu ja für ihn, was ich kann, aber ich muss in den nächsten Tagen verreisen. Meine älteste Tochter erwartet ihr erstes Kind, und Sie wissen ja, wie das ist — dann muss die Mutter wieder her. Und wer kümmert sich in der Zeit um Herrn Schellenberg?«
»Schwester Wilhelmine, wenn sie es irgendwie einrichten kann.«
