Lore-Roman 136 - Ina Ritter - E-Book

Lore-Roman 136 E-Book

Ina Ritter

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Beschreibung

Hille Korschen und ihre junge, bezaubernde Tochter Dorit haben vor einigen Jahren Gut Moorhall geerbt. Albert Kramer hatte es ihnen in Dankbarkeit vermacht, nachdem sich beide in aufopfernder Weise bis zu seinem Tode um ihn gekümmert hatten.
Eines Tages erscheint ein Fremder auf Gut Moorhall. Frau Hille nimmt den Mann, der wie ein Landstreicher aussieht, gastfreundlich in ihr Haus auf. Sie ahnt nicht, dass sich mit diesem Tag das Leben auf dem einsamen Gut dramatisch ändert. Denn der Fremde stiftet nicht nur Verwirrung und Unruhe. Das Geheimnis, das ihn umgibt, kann Mutter und Tochter ins Unglück stürzen ...


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Seitenzahl: 130

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

Der fremde Gast auf Moorhall

Vorschau

Impressum

Der fremde Gast auf Moorhall

Ein erschütternder Roman um Schuld und Liebe

Von Ina Ritter

Hille Korschen und ihre junge, bezaubernde Tochter Dorit haben vor einigen Jahren Gut Moorhall geerbt. Albert Kramer hatte es ihnen in Dankbarkeit vermacht, nachdem sich beide in aufopfernder Weise bis zu seinem Tode um ihn gekümmert hatten.

Eines Tages erscheint ein Fremder auf Gut Moorhall. Frau Hille nimmt den Mann, der wie ein Landstreicher aussieht, gastfreundlich in ihr Haus auf. Sie ahnt nicht, dass sich mit diesem Tag das Leben auf dem einsamen Gut dramatisch ändert. Denn der Fremde stiftet nicht nur Verwirrung und Unruhe. Das Geheimnis, das ihn umgibt, kann Mutter und Tochter ins Unglück stürzen ...

Die Landstraße lag im weißen Mondlicht grau und endlos vor dem Mann, der mit langausgreifenden Schritten an ihrem Rande entlangging. Die Bäume hoben sich wie Schatten von dem nachtdunklen Himmel ab. Irgendwo krächzte ein Vogel, aber den Mann schreckte der heisere Ruf nicht.

Das Land war flach und eben, und die Landstraße sehr einsam. Ein Graben trennte ihn von der dunklen Wiese, er übersprang ihn und blieb aufatmend auf der anderen Seite stehen.

Jetzt wurde das Geräusch seines Schrittes vom weichen Boden verschlungen. Nur ab und zu gab es ein saugendes, gefährlich gurgelndes Geräusch, Frösche quakten, das Gras wich braunem Gestrüpp, und das Mondlicht spiegelte sich in kleinen Wasserlachen.

Der Mann ging über ein gefährliches Moor, und er ging wie ein Mensch, der jeden Weg und Steg kennt. Ein Vogel erhob sich dicht vor seinen Füßen und stieg mit schwerem Flügelschlag in die Luft. Der Mann blieb stehen und schaute ihm nach, bis die Finsternis ihn verschlungen hatte.

Ganz in der Ferne war Licht von erleuchteten Fenstern, und je mehr er sich dem Haus näherte, desto deutlicher hörte er verwehte Musik und menschliche Stimmen.

Ein bitteres Lächeln glitt über sein zerfurchtes, von der Sonne dunkelbraun verbranntes Gesicht. Auf Moorhall wurde ein Fest gefeiert, die breiten Flügeltüren zur riesigen Terrasse standen offen. Der Mann sah die Umrisse von Menschen, die sich im Raume bewegten, und das Aufglühen von Zigaretten auf dem kurz geschnittenen Rasen vor dem Gebäude.

Er kam sich wie ein Eindringling vor, als er jetzt zögernd weiterging. Die Sonnenbräune der Haut verbarg seine Erregung, nur in seinen Augen stand ein düsterer Schein.

Ein Pfahl in Kreuzesform stand vor ihm. Er hätte ihn fast umgerannt, so plötzlich tauchte er vor ihm auf. Das Mondlicht reichte gerade, um ihn die in das Holz geschnitzte Inschrift erkennen zu lassen.

»Zur Erinnerung an Michael Kramer, der die Heimat vergessen hat und in fremdem Lande begraben liegt. Möge seine Seele Ruhe finden.«

Ein bitteres Lächeln zuckte um den schmalen, harten Mund des Mannes.

Michael Kramer war tot, begraben in einem fremden Land. Aber seine Seele hatte keine Ruhe gefunden, wie es der Mensch, der diese Tafel aufgestellt, gewünscht hatte.

Seine Seele war unstet, fand nirgends einen Ort, an dem sie verweilen mochte – und niemand wusste es so gut wie er, denn er kannte Michael Kramer, den Toten.

Noch ein paar Meter, dann hatte er die breite Treppe, die zur Terrasse hinaufführte, erreicht.

Er blieb in der Terrassentür stehen, schaute mit ruhigen Augen über die Gäste hinweg und suchte bekannte Gesichter ...

Aber er fand sie nicht. Fremde waren um ihn. Ein Diener packte ihn, um ihn aus seiner Versunkenheit zu reißen.

»Was wollen Sie hier? Gehen Sie in die Küche, die Mamsell kann Ihnen etwas Essen geben, es ist genügend übriggeblieben.«

Der Mann schaute ihn mit seltsamem Lächeln an. »Ich möchte zu Herrn Kramer«, sagte er. »Zu Herrn Albert Kramer.«

Der Diener wurde eisig. »Der gnädige Herr ist tot. Und für Sie wäre er wohl sowieso nicht zu sprechen.« Er warf einen hochmütigen Blick auf den zerschlissenen Anzug des Mannes.

»So, tot«, wiederholte der Fremde leise. »Und Walter, wo ist er, und Georg?«

Der Diener stutzte. Dieser abgerissene Mensch schien die Familienverhältnisse ja recht gut zu kennen. Er durchforschte sein Gesicht, entdeckte aber keine bekannten Züge.

»Gefallen«, sagte er kurz.

»So, tot«, sagte der Fremde noch einmal. Sie waren alle tot, die den Namen Kramer trugen, niemand von ihnen war übriggeblieben. Der alte Herr gestorben, seine beiden ältesten Söhne gefallen, der jüngste in fremdem Land verschollen.

»Und wem gehört Moorhall jetzt?«

Der Diener zögerte mit der Antwort, denn er hatte schließlich etwas Besseres zu tun, als sich mit einem Landstreicher zu unterhalten. Aber irgendetwas in der Haltung dieses Fremden bewog ihn doch, höflich Auskunft zu geben.

»Frau Korschen und ihrer Tochter. Die gnädige Frau hat dem verstorbenen gnädigen Herrn den Haushalt geführt, und weil kein Erbe mehr da war, hat der gnädige Herr bestimmt, dass die gnädige Frau Moorhall übernimmt.«

Das Gesicht des fremden Mannes blieb unbewegt. Er wandte sich um und schaute in die Nacht hinaus. Hinter ihm war das Schluchzen der Geigen und das Scharren vieler Füße auf dem spiegelblanken Parkett, und vor ihm die schweigende Nacht und der Geruch der Wiesen und der Bäume.

»Ich möchte die gnädige Frau sprechen«, sagte er leise.

»Ich werde fragen, ob die gnädige Frau Zeit hat.« Erst als Franz vor Hille Korschen stand und ihre klaren, blauen Augen auf sich ruhen fühlte, wurde ihm bewusst, dass er im Begriff war, etwas ganz Verrücktes zu tun.

»Ein Landstreicher«, stotterte er und schlug die Augen nieder. »Er möchte Sie sprechen, gnädige Frau.« Er hob den Kopf und blickte Frau Hille bittend an. »Ich glaube, es ist etwas Wichtiges«, fügte er entschuldigend hinzu.

»Gut, ich komme.« Frau Hille lächelte ihrer Tochter Dorit, die neben ihr stand und verwundert den Kopf schüttelte, freundlich zu und folgte Franz auf die Terrasse.

»Sie wollten mich sprechen?«, fragte Frau Hille, als der Mann sich knapp vor ihr verbeugte und sie dann nur stumm anschaute. Sein Blick war ihr peinlich, er war prüfend, abschätzend und eigentlich unverschämt.

»Ich hatte gehofft, Herrn Kramer hier zu finden«, begann der Mann mit brüchiger Stimme. »Oder einen seiner Söhne.«

»Wer sind Sie?«, fragte die hochgewachsene Frau in dem enganliegenden Seidenkleid.

»Ich war mit Michael zusammen, und kannte ihn sehr gut. Und er hat mich gebeten, hierherzukommen.«

»Michael ...« Die Frau packte unwillkürlich erregt seinen Arm. »Was ist mit ihm? Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört!«

Sie sagte wir, als gehörte sie dazu, dachte der Mann und lächelte bitter. »Sein Schicksal liegt Ihnen am Herzen?«

Frau Hille befeuchtete mit der Zungenspitze ihre Lippen.

»Wenn er wiederkommt, gehört Moorhall ihm. Sein Vater hat auf ihn gewartet, Jahr für Jahr, und er hat nie wieder etwas von ihm gehört.«

Der Mann nickte. »Ich habe die Tafel gesehen«, sagte er leicht spöttisch. »Er hat sich einen schönen Nachruf ausgedacht.«

Sie standen noch immer auf der Terrasse, und jetzt erst hatte Frau Hille ihre Überraschung so weit gemeistert, dass sie imstande war, den Fremden ins Haus zu bitten.

»Bleiben Sie als Gast bei uns, Herr ...«

»Wittig«, stellte sich der Fremde mit einer knappen Verbeugung vor. »Rolf Wittig.«

»Seien Sie unser Gast, Herr Wittig, Sie müssen uns alles von Michael erzählen, Sie wissen ja nicht, was sein Schicksal für uns alle bedeutet.«

»Vielleicht doch«, meinte der Mann mit leichtem Lächeln.

Er folgte der Hausfrau durch den Haupteingang und ging an ihrer Seite über den Läufer. Es schien, als spürte er nicht, dass Frau Hille ihn manchmal verstohlen von der Seite musterte.

»Es ist unser schönstes Gastzimmer«, erklärte die Hausfrau, als sie die Tür am Ende des Ganges öffnete. Rolf Wittig wirkte deplatziert in dieser schönen Umgebung, in der alles geschmackvoll und harmonisch aufeinander abgestimmt war.

Er schaute sich langsam um, und in seinen Augen stand eine abgrundtiefe Traurigkeit, die das Herz der Frau rührte und auf seltsame Art und Weise bewegte.

Der Mann hatte kein Gepäck, er sah abgerissen aus.

»Haben Sie ... haben Sie Michael sehr gut gekannt?«, fragte sie dann scheu.

»Ja«, nickte der Mann verschlossen.

»Es sind noch Anzüge von ihm da, wenn Sie ... wenn Sie erst einmal damit vorliebnehmen wollten, bis Ihr Gepäck ...«

»Ich habe kein Gepäck«, erklärte der Mann kurz. »Michaels Anzüge ...« Er schüttelte den Kopf, als sei es unbegreiflich, dass er imstande sein könnte, die Sachen des jüngsten Sohnes des Hauses zu tragen.

»Ich glaube, Sie würden Ihnen passen«, drängte Frau Hille, als sie sein Zögern bemerkte.

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau.« Rolf Wittig strich sich mit dem Handrücken über die Stirn, und zum ersten Mal zuckte ein feines Lächeln in seinem Gesicht.

Sie lief fort und ließ einen nachdenklichen Mann zurück.

»Hier sind ein paar Anzüge und die übrigen Sachen.« Frau Hilles Gesicht verschwand fast hinter dem Stapel Kleider, die sie auf den Armen vor sich hertrug.

Rolf beeilte sich, sie ihr abzunehmen.

»Ich danke Ihnen«, sagte er warm und umschloss ihre Hände. Die Finger der Frau bebten, und die Röte ihres Gesichtes kam nicht nur vom hastigen Gehen.

»Ich muss wieder hinunter, meine Gäste ...« Sie drehte sich verwirrt herum und lief schnell hinaus.

***

Der Gong schallte laut durch das Haus und rief zum Frühstück.

»Komm, Mutsch!« Dorit zerrte Frau Hille zur Tür, konnte es offenbar gar nicht erwarten, endlich den fremden Mann zu sehen, auf den sie so gespannten war.

»Ob er hierher findet?«, meinte sie besorgt, als sie im kleinen Frühstückszimmer saßen und warteten. »Das Haus ist doch so groß. Er kann doch nicht wissen ...«

Sie irrte sich. Rolf Wittig hatte den Weg gefunden und kam jetzt langsam und zögernd näher. Er war vollkommen verwandelt, und sogar Frau Hille erkannte ihn im ersten Augenblick nicht wieder.

Die Anzüge des toten Michael Kramer passten ihm ganz gut, wenn sie auch etwas zu weit waren. Rolf beugte sich tief über Frau Hilles Hand und wartete dann, dass sie ihm ihre Tochter vorstellte.

Dorit musterte ihn verstohlen, denn die Worte ihrer Mutter hatten sie sehr neugierig gemacht. Sie sah einen hageren, hochgewachsenen Mann vor sich, dessen Augen düster in dem braunen Gesicht glühten.

Es wäre zu viel gesagt, wollte man behaupten, dass er ihr gefiel, aber sie fand ihn »interessant«. Er sah aus wie ein Filmheld in einem tollen Abenteuerreißer, und die Narbe, die quer über seine rechte Wange ging, ließ vermuten, dass er auch schon gefährliche Kämpfe bestanden hatte.

Rolf Wittig sah ihren Blick und deutete ihn richtig.

»Es war ein Jaguar«, sagte er und lächelte mit schmallippigem Mund. »Ich hatte ihn gut getroffen, aber er war schon gesprungen und hat mich im Todeszucken noch verletzt.«

»Es muss weh getan haben«, stieß Dorit schnell hervor, während das Lächeln des Mannes herzlicher wurde.

»Man gewöhnt sich an Schmerzen, Fräulein Korschen, und solch eine kleine Verletzung ist nicht das Schlimmste, was einen treffen kann.«

Frau Hille wusste, dass er die anderen Schmerzen kannte, die viel schlimmer sind – die Qualen der Einsamkeit, sie las sie in seinen Augen.

»Sie waren mit Michael zusammen?«, fragte Dorit unumwunden, als der seltsame Gast nicht weitersprach.

»Wir waren bei der Expedition zusammen, und hinterher auch – in der Gefangenschaft.«

»Gefangenschaft?«, echote Dorit atemlos.

»Ja, wir waren einige Jahre bei Eingeborenen in Gefangenschaft. Sie haben uns gut behandelt, aber der Weg durch den Urwald war zu weit, und an Flucht war deshalb nicht zu denken.«

»Und Michael?« Zu spät trat Frau Hille ihrer Tochter auf den Fuß, die voreilige Frage hing in der Luft und schien die Atmosphäre mit Kälte zu erfüllen.

»Entschuldigen Sie, bitte«, stammelte Dorit schuldbewusst und senkte errötend den Kopf. »Aber wissen Sie, Herr Kramer war so gut zu uns, und er hat uns so viel von Michael erzählt. Ich glaube, er hat sehr an ihm gehangen.«

Der Mann stieß ein heiseres Lachen aus, während offener Spott in seinen Augen funkelte.

»Ich glaube, Sie täuschen sich, gnädiges Fräulein«, widersprach er. »Michael hat mir viel von sich erzählt – und von seinem Vater auch. Aber kaum etwas Gutes. Ich glaube, er hat seinen Vater ... gehasst.«

Zwei Frauen schüttelten gleichzeitig die Köpfe.

»Unmöglich!«, widersprach Frau Hille fest. Sie hielt dem erstaunten Blick des Mannes ruhig stand. »Jeder musste ihn gern haben«, sagte sie leise. »Sie haben ihn wohl nicht gekannt, sonst ... sonst würden Sie so etwas niemals sagen können. Albert war gut.«

»Und er hat seinen jüngsten Sohn fortgeschickt wie einen Fremden, hat kaum geduldet, dass ... dass Michael seine Ferien auf Moorhall verlebte. Er hat ihm verboten, auch nur einen Erntewagen vom Felde zu fahren. Und es war ihm gleichgültig, dass der Junge es wollte, dass Michael nicht verstehen konnte, weshalb seine Brüder das durften, was ihm verwehrt war. Einen Advokaten wollte der Vater aus ihm machen – und Michael liebte seine Heimat, er wollte den Boden bearbeiten. Er durfte es nicht – heimlich musste er es tun, sich mit den Knechten verbünden, seinen Vater hintergehen, belügen, heucheln.«

Der Fremde brach schweratmend ab. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und seine Hände lagen geballt neben dem Teller.

Ein langes Schweigen folgte seinen Worten. Es war beklemmend, weil die Frauen den Mann nicht verstanden.

»Entschuldigen Sie meine Heftigkeit«, bat Rolf Wittig zerknirscht und fuhr sich mit dem Taschentuch über die schweißnasse Stirn. »Sie haben Michael nicht gekannt, sonst würden Sie verstehen, weshalb ... weshalb ich Albert Kramer verachte.«

»Es muss ein Missverständnis sein«, versuchte Frau Hille, die unmögliche Situation abzuschwächen. »Albert war ein guter Mensch, er hing an seinem Boden wie kaum ein zweiter, er war sein Lebenszweck, er war ihm mehr als alles andere ...«

»Michaels Vater hat nie etwas anderes gekannt als diesen verfluchten Boden. Es war ihm gleichgültig, dass seine Söhne eigene Wege gehen wollten, er hat sie gezwungen, hart und unbarmherzig. Walter war kein Landwirt, er wollte studieren – er dufte es nicht, weil er der Älteste war, weil das Gut einmal an ihn fallen musste.«

»Sie scheinen sehr viel von dem zu wissen, was hier geschehen ist«, stellte Frau Hille nachdenklich fest. »Mehr als wir alle.«

»Ja, mehr als Sie alle«, wiederholte der Mann schwer. Es war die lautere Wahrheit, er wusste viel von Moorhall – und doch irrte er sich, wenn er meinte, alles zu wissen.

Frau Hille zerkrümelte ein Stückchen Brot in ihrer Hand.

»Albert wünschte so sehr, dass Michael wieder zurückkommen möge. Er hat Tag und Nacht an ihn gedacht. Aber es kam kein Lebenszeichen.«

»Und dann hat er diese Tafel aufgestellt«, meinte Rolf Wittig bitter. »Möge seine Seele Ruhe finden«, zitierte er spöttisch. »Dem Toten wünscht er es, dem Lebenden ... hat er es nicht gegönnt. Was interessierte ihn schon Michaels Ruhe, was seine Seele? Gleichgültig war ihm sein Junge, unwichtig, lästig sogar.«

»Her Wittig ... « Frau Hille hob den Kopf, ihr Gesicht war angespannt und sah plötzlich älter aus. Jetzt sah man, dass sie schon fast vierzig Jahre alt war.

Der Mann schaute sie an und wartete auf ihre Worte.

»Sie befinden sich hier im Hause des Mannes, den sie schmähen, ohne ihn zu kennen. Ich muss Sie bitten, in Zukunft nichts Böses über ihn zu sagen. Ich bin es Alberts Andenken schuldig, dass man unter seinem Dach so von ihm spricht, wie er es verdient hat.«

Rolf wurde totenbleich. Er erhob sich, der Stuhl rutschte ein ganzes Stück zurück, so heftig war die Bewegung.

»Ich habe Sie verstanden, gnädige Frau«, sagte er schwer. »Ich gehe.«

Auch Frau Hille erhob sich, aber sie schüttelte jetzt den Kopf und kam dicht an ihn heran.

»Sie sollen nicht mit Hass von hier fortgehen. Bleiben Sie noch, Herr Wittig, versuchen Sie, Ihr Vorurteil zu vergessen. Ich verwalte Moorhall selbst. Haben Sie Lust, mich heute Morgen zu begleiten? Wir haben Pferde genug, gute Tiere.«

»Reiten«, sagte der Mann, und seine Stimme war schwermütig. Er zögerte mit seiner Antwort, und als er schließlich nickte, geschah es fast widerstrebend.

***