Love and Confess - Colleen Hoover - E-Book
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Love and Confess E-Book

Colleen Hoover

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Beschreibung

Große Gefühle & Geheimnisse Vor fünf Jahren hat Auburn ihre erste große Liebe in Dallas zurücklassen müssen, verbunden mit einem Schmerz, den sie bis heute nicht ganz überwunden hat. Als sie eines Abends im Schaufenster einer Kunstgalerie Briefe mit anonymen Bekenntnissen entdeckt, ist sie zutiefst berührt, denn auch sie trägt ein Geheimnis mit sich. Niemand soll von ihrer Vergangenheit wissen – vor allem nicht Owen, der junge Künstler mit den grünen Augen, der sich von den Geschichten anderer Menschen für seine Bilder inspirieren lässt. Vom ersten Augenblick an fühlt sie sich zu ihm hingezogen und Owen geht es nicht anders. Die beiden verlieben sich mit ungeahnter Wucht ineinander. Doch auch Owen hat ein Geheimnis, das alles zu zerstören droht, was ihnen wichtig ist . . . 

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Seitenzahl: 440

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Colleen Hoover

LOVE AND CONFESS

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Katarina Ganslandt

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Es kostet Mut, seine tiefsten Geheimnisse zu offenbaren. Sämtliche in ›Love and Confess‹ vorkommenden Geständnisse sind echt und wurden mir anonym von Leserinnen zugeschickt. Ihnen möchte ich diesen Roman widmen.

Prolog

AUBURN

In dem Wissen, dass ich heute zum letzten Mal hier sein werde, stoße ich die Schwingtür auf und trete in die Eingangshalle.

Ein letztes Mal drücke ich auf den Knopf am Aufzug und sehe, wie das Lämpchen aufleuchtet.

Als im dritten Stock die Türen auseinandergleiten, begrüße ich die Schwester hinter der Empfangstheke mit einem Lächeln und sie nickt mir ein letztes Mal mit mitfühlendem Blick zu.

Ein letztes Mal komme ich am Schwesternzimmer vorbei, an der Teeküche, am Andachtsraum …

Während ich weiter durch den Flur gehe, richte ich den Blick nach vorn und stähle mein Herz. Vor seiner Zimmertür bleibe ich stehen, klopfe leise und warte darauf, dass er mich ein letztes Mal hereinbittet.

»Herein.«

Mir ist unbegreiflich, wie es sein kann, dass seine Stimme immer noch so hoffnungsvoll klingt.

Als ich den Raum betrete, strahlt er mir entgegen und schlägt einladend die Decke zurück. Ich klettere zu ihm ins Bett, lege einen Arm um seine Brust und schlinge meine Beine um seine. Mein Gesicht an seinen Hals geschmiegt, dränge ich mich seiner vertrauten Wärme entgegen.

Doch heute spüre ich sie nicht.

Wie immer richtet Adam sich ein Stück auf, schiebt einen Arm unter meinen Körper und zieht mich mit dem anderen dicht an sich. Es dauert, bis er eine für ihn bequeme Position gefunden hat, und mir fällt auf, dass sein Atem noch schwerer geht als sonst.

Obwohl ich in den wenigen Stunden, die wir jeden Tag miteinander verbringen konnten, immer versucht habe, mich auf die guten Dinge zu konzentrieren, ist mir nicht entgangen, wie er immer schwächer und schwächer wurde. Seine Haut ist blasser, seine Stimme brüchiger. Er gleitet langsam davon, und ich kann nichts tun, als hilflos zuzusehen.

Seit sechs Monaten wissen wir, dass es so enden wird. Natürlich haben wir um ein Wunder gebetet, aber die Art von Wunder, die wir brauchen, gibt es im wahren Leben nicht.

Als ich Adams kühle Lippen auf meiner Schläfe spüre, schließe ich die Augen. Ich hatte mir so fest vorgenommen, nicht zu weinen. Das schaffe ich nicht, klar, aber ich kann zumindest versuchen, die Tränen so lange wie möglich zurückzudrängen.

»Ich bin so traurig«, flüstert er.

Sonst ist er immer unfassbar positiv gewesen, aber irgendwie tröstet es mich, dass er das jetzt sagt. Obwohl ich nicht will, dass er traurig ist, tut es gut, dass ich es mit ihm gemeinsam sein kann.

»Ich auch«, sage ich leise.

In den vergangenen Wochen haben wir über Gott und die Welt geredet und auch viel gelacht und herumgealbert, selbst wenn wir uns manchmal vielleicht dazu zwingen mussten. Ich möchte nicht, dass das heute anders ist, doch die Gewissheit, dass wir uns zum allerletzten Mal sehen, macht es mir unmöglich, an etwas zu denken, worüber wir lachen könnten oder auch nur reden. Am liebsten würde ich einfach bloß zusammen mit ihm darüber weinen, wie verdammt ungerecht das alles ist. Aber dann wäre das unsere letzte Erinnerung aneinander und das will ich nicht.

Adam und ich sind jetzt seit einem Jahr zusammen. Wir haben uns vor vierzehn Monaten kennengelernt, als er mit seinen Eltern von Texas nach Portland gezogen ist. Einige Zeit später wurde er dann krank. Nachdem die Ärzte verkündet hatten, dass sie nichts mehr für ihn tun könnten, beschlossen seine Eltern, ihn nach Dallas verlegen zu lassen. Nicht weil sie doch noch auf Heilung hofften, sondern weil sein älterer Bruder und ihre ganzen Verwandten hier leben.

Adam wollte zuerst absolut nicht und sagte, er würde nur nach Dallas zurückgehen, wenn ich mitkommen dürfte. Seine und meine Eltern haben sich lange dagegen gesträubt. Irgendwann hat er sie dann doch überzeugt: Er sei schließlich derjenige, der im Sterben läge, weshalb sie ihm das Recht zugestehen müssten, selbst darüber zu entscheiden, mit wem er seine wenige verbleibende Zeit verbringt.

Aber jetzt bin ich schon seit fünf Wochen hier und unser Mitleidsbonus ist anscheinend aufgebraucht. Die Schule in Portland hat meinen Eltern angedroht, das Jugendamt einzuschalten, falls ich noch länger ohne ärztliches Attest fehle. Adams Eltern hätten mir vielleicht sogar erlaubt zu bleiben, aber Mom und Dad wollten, dass ich zurückkomme. Sie können es sich nicht leisten, Ärger mit den Behörden zu bekommen und womöglich ein Bußgeld zahlen zu müssen.

Adam und ich haben gekämpft, um das Unausweichliche so lange wie möglich hinauszuschieben, aber heute ist es endgültig so weit. Ich fliege zurück nach Portland, und es gibt rein gar nichts, was wir dagegen tun können. Als ich gestern noch einmal mit seiner Mutter gesprochen und sie unter Tränen angefleht habe, uns noch eine kleine Schonfrist zu geben, hat sie mir zum ersten Mal gesagt, was sie wirklich über mich und Adam denkt. Ich habe beschlossen, ihm nichts davon zu erzählen.

»Du bist erst fünfzehn, Auburn«, hat sie gesagt. »Ich weiß, dass du dir einbildest, Adam wirklich zu lieben, aber ihr kennt euch erst ein Jahr, und in einem Monat wirst du über ihn hinweg sein. Sein Vater und ich, sein Bruder und seine anderen Verwandten lieben ihn aber schon seit seiner Geburt, und wir werden es bis zu unserem eigenen Tod nicht verkraften, dass er so früh gehen musste. Deswegen ist es jetzt wichtiger, dass wir bei ihm sind.«

Es ist ziemlich heftig, wenn man erst fünfzehn ist und weiß, dass man eben mit hoher Wahrscheinlichkeit die grausamsten Sätze gesagt bekommen hat, die man im Leben jemals hören wird. Ich war so vor den Kopf gestoßen, dass mir nicht einfiel, was ich darauf antworten sollte. Was habe ich als Jugendliche einer so viel älteren und erfahreneren Frau schon entgegenzusetzen, die meine Gefühle nicht ernst nimmt? Oder hat sie vielleicht sogar recht? Aber nein – das glaube ich nicht. Möglicherweise ist die Liebe zwischen Adam und mir nicht exakt so wie die zwischen Erwachsenen, aber ich weiß ganz sicher, dass unsere Gefühle füreinander genauso tief sind. Und jetzt in diesem Moment fühlt es sich an, als würden sie mir das Herz zerreißen.

»Wann geht dein Flug?« Adam zeichnet mit den Fingerkuppen zum letzten Mal zarte Kreise auf meinen Arm.

»In zwei Stunden. Deine Mutter und Trey warten unten auf mich. Sie haben gesagt, dass wir in zehn Minuten losfahren müssen, um rechtzeitig am Flughafen zu sein.«

»Zehn Minuten«, wiederholt er leise. »Das reicht leider nicht, um auf dem Sterbebett noch schnell meine gesammelten Weisheiten an dich weiterzugeben. Dafür bräuchte ich mindestens fünfzehn Minuten. Ich tippe sogar eher auf zwanzig.«

Darauf reagiere ich mit dem kläglichsten Lachen, das jemals aus meinem Mund gekommen ist. Ich glaube, Adam hört die Verzweiflung darin, weil er mich noch etwas fester an sich drückt, auch wenn es nicht besonders fest ist. Es kommt mir vor, als wäre er seit gestern noch schwächer geworden. Er streichelt mir über den Kopf und drückt seine Lippen in meine Haare.

»Danke, Auburn«, flüstert er. »Ich bin dir so dankbar. Im Moment vor allem dafür, dass du genauso sauer bist wie ich.«

Ich staune darüber, dass er es immer noch schafft, Witze zu machen.

»Kannst du dich etwas konkreter ausdrücken?«, bitte ich ihn. »Ich bin nämlich gerade aus ziemlich vielen verschiedenen Gründen sauer.«

Adam zieht seinen Arm unter mir hervor, dreht sich auf die Seite und wendet mir das Gesicht zu. Schon diese einfache Bewegung kostet ihn Kraft. Ich lege den Kopf zurück und schaue ihm in die Augen. Auf den ersten Blick könnte man denken, sie wären haselnussbraun, aber das sind sie nicht. Die Iris besteht aus braunen und grünen Ringen, die sich nicht mischen, sondern klar voneinander abgegrenzt sind. Es sind die intensivsten Augen, von denen ich je angesehen worden bin. Augen, die immer der strahlendste Teil von ihm waren und jetzt in dem Maß verblassen, in dem seine Lebenskraft schwindet.

»Wir sind beide sauer auf dieses raffgierige Arschloch von Tod, das den Hals nicht vollkriegen kann. Aber auch auf unsere Eltern. Warum kapieren sie nicht, wie wichtig es für uns ist, diese Zeit noch zusammen zu erleben? Warum tun sie nicht alles, um dafür zu sorgen, dass ich den einzigen Menschen hier bei mir haben kann, auf den es mir wirklich ankommt? Warum schicken sie dich fort?«

Ja, er hat recht, das macht mich stinksauer. Aber darüber haben wir in den letzten Tagen oft genug geredet. Sie geben uns keine Chance. Deswegen möchte ich mich jetzt lieber nicht auf die Wut in mir konzentrieren, sondern auf Adam. Solange ich noch bei ihm sein kann, will ich so viel wie möglich von dem, was ihn ausmacht, in mich aufnehmen.

»Du hast gesagt, dass du mir dankbar bist«, sage ich. »Wofür denn genau?«

Adam legt lächelnd seine Hand an mein Gesicht und streicht mit dem Daumen über meine Lippen. Mein Herz macht einen Satz, als würde es ihm in einem letzten verzweifelten Versuch entgegenspringen, um bei ihm bleiben zu können, während meine leere Hülle allein nach Portland zurückfliegt. »Für ganz vieles. Auch dafür, dass ich dein Erster sein durfte«, sagt er leise. »Und dass du meine Erste sein wolltest.«

Einen kurzen Moment lang verwandelt sich sein Gesicht von dem eines todkranken Sechzehnjährigen in das eines wahnsinnig süßen, vor Kraft und Lebendigkeit strotzenden Jungen, der an sein erstes Mal zurückdenkt.

Ich lächle, als ich mich an den Abend erinnere. Damals wussten wir noch nicht, dass er nach Dallas verlegt werden würde, aber die Ärzte hatten uns kurz vorher gesagt, dass es keine Rettung für ihn gibt. Wir versuchten irgendwie, mit diesem Gedanken klarzukommen, und redeten stundenlang über all die Dinge, die wir tun würden, wenn wir für immer zusammenbleiben könnten. Reisen, heiraten, eine Familie gründen … wir dachten uns Namen für unsere Kinder aus, stellten uns die Städte und die Häuser vor, in denen wir wohnen würden, und waren uns darüber einig, dass wir natürlich den phänomenalsten, sensationellsten Sex aller Zeiten haben würden. Jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen, am Abend sowieso und oft auch einfach zwischendurch.

Am Anfang war es nur ein albernes Spiel, aber irgendwann wurde Ernst daraus, weil uns beiden bewusst wurde, dass das vielleicht der einzige Bereich unseres Lebens war, über den wir noch selbst bestimmen konnten. Auf unsere Zukunft hatten wir keinen Einfluss, aber uns blieb immer noch die Möglichkeit, eine einzigartige Erfahrung miteinander zu teilen, die uns keiner – noch nicht einmal der Tod – jemals nehmen konnte.

Wir sprachen nicht darüber, ob wir es tun sollten. Das war nicht nötig. Wir taten es einfach. Als Adam mich anschaute und ich meine eigenen Gedanken in seinen Augen lesen konnte, küssten wir uns und hörten nicht mehr damit auf. Wir küssten uns, während wir uns gegenseitig auszogen und uns am ganzen Körper streichelten. Wir küssten uns, während wir uns aneinander festklammerten und mit Tränen in den Augen den kleinen Sieg feierten, den wir in dieser Schlacht gegen den Tod und die Zeit errungen hatten. Selbst hinterher, als wir uns erschöpft in den Armen lagen und er mir sagte, wie sehr er mich liebte, küssten wir uns noch.

So wie jetzt.

Seine Hand liegt in meinem Nacken, und in dem Moment, in dem seine Lippen meine berühren und sanft teilen, fühlt sich das an wie das feierliche Öffnen eines Abschiedsbriefs.

»Ich werde dich immer lieben, Auburn«, flüstert er an meinem Mund. »Selbst dann noch, wenn ich es nicht mehr kann.«

Ich schmecke meine Tränen in unserem Kuss und wünschte, ich würde es schaffen, um seinetwillen stärker zu sein. Adam löst sich von meinen Lippen und presst seine Stirn gegen meine. Plötzlich steigt in mir Panik auf, die mich ganz erfüllt und es mir fast unmöglich macht, noch klar zu denken. Ich ringe nach Luft. Die Traurigkeit breitet sich in mir aus, und je näher sie meinem Herzen kommt, desto mehr Druck baut sich in mir auf, der mich zu ersticken droht.

»Erzähl mir was über dich, das sonst keiner weiß«, sagt Adam, und jetzt sehe ich auch in seinen Augen Tränen. »Etwas, das ich für mich behalten kann.«

Er bittet mich jeden Tag darum, und jeden Tag erzähle ich ihm ein Geheimnis, das ich noch nie laut ausgesprochen habe. Es tröstet ihn, Dinge über mich zu wissen, die niemand anderes jemals hören wird. Ich schließe die Augen und denke nach, während seine Hände über jede Stelle meines Körpers gleiten, die sie erreichen können.

»Ich habe noch nie jemandem von den Gedanken erzählt, die mir nachts vor dem Einschlafen durch den Kopf gehen.«

Seine Hand bleibt auf meiner Schulter liegen. »Was sind das für Gedanken?«

Ich öffne die Augen und sehe ihn an. »Ich denke an all die Menschen, von denen ich mir wünschte, sie würden an deiner Stelle sterben.«

Er antwortet erst nicht, sondern streicht weiter meinen Arm hinab, bis seine Hand auf meiner liegen bleibt. »Ich wette, die Liste ist nicht besonders lang«, sagt er und verschränkt seine Finger mit meinen.

»Doch.« Ich lächle gepresst. »Sie ist sogar sehr lang. Oft sage ich die Namen von allen Leuten, die ich kenne, und danach die von Leuten, von denen ich nur den Namen weiß, und wenn mir kein Name mehr einfällt, erfinde ich manchmal sogar welche.«

Adam weiß natürlich, dass ich anderen Menschen nicht wirklich den Tod wünsche, aber es tut ihm gut, mich das sagen zu hören. Er wischt mir mit dem Daumen die Tränen von der Wange, und wieder macht es mich wütend, dass ich es nicht einmal geschafft habe, sie diese zehn Minuten lang zurückzuhalten.

»Tut mir leid. Ich hatte mir so fest vorgenommen, nicht zu weinen.«

Sein Blick wird weich. »Weißt du, was mich echt fertiggemacht hätte? Wenn du heute aus diesem Zimmer gegangen wärst, ohne zu weinen.«

Ich gebe den Kampf auf und verkralle meine Finger in seinem T-Shirt, während er mich an sich drückt. Durch mein Schluchzen hindurch versuche ich, seinen Herzschlag zu hören, und verfluche zum unzähligsten Mal die Ungerechtigkeit von alldem.

»Ich liebe dich so, Auburn.« Sein Atem geht keuchend und seine Stimme ist jetzt auf einmal doch voller Angst. »Ich werde dich immer lieben«, sagt er noch einmal. »Selbst dann noch, wenn ich es nicht mehr kann.«

Meine Tränen fallen schneller. »Genau wie ich dich immer lieben werde, Adam. Selbst dann noch, wenn ich es nicht mehr sollte.«

Wir klammern uns aneinander, und die Traurigkeit, die mich zu verschlingen droht, ist so groß, dass ich nicht weiß, wie ich es schaffen soll, mit ihr weiterzuleben. Ich sage ihm, dass ich ihn liebe, weil ich die Gewissheit brauche, dass er es wirklich weiß. Um ganz sicherzugehen, sage ich es ihm gleich danach noch einmal. Und noch mal. Ich sage es öfter, als ich es je zuvor gesagt habe. Und seine Antwort ist jedes Mal: »Ich liebe dich.« Wir beteuern uns so oft hintereinander, dass wir uns lieben, bis ich nicht mehr unterscheiden kann, wer von uns es zuerst sagt und wer reagiert. Irgendwann berührt Adams Bruder mich an der Schulter und gibt mir zu verstehen, dass es Zeit ist zu fahren.

Wir sagen uns, dass wir uns lieben, als wir uns zum letzten Mal küssen. Wir halten uns aneinander fest und sagen uns noch einmal, dass wir uns lieben, als wir uns zum wirklich allerletzten Mal küssen.

Und ich sage es ihm immer noch …

Erster Teil

erstes kapitelAUBURN

Als er mir eröffnet, wie hoch sein Stundensatz ist, sacke ich unmerklich in meinem Stuhl zusammen. Mit dem, was ich verdiene, kann ich ihn mir auf gar keinen Fall als Rechtsanwalt leisten.

»Sie haben nicht zufälligerweise günstigere Sätze für Mandanten, die finanziell nicht ganz so … gut gestellt sind?«, frage ich.

Er versucht, sich seinen Unwillen nicht anmerken zu lassen, aber die Falten um seinen Mund vertiefen sich. »Ihr Fall wird Zeit kosten.« Er faltet die Hände auf seinem Mahagonischreibtisch und drückt die Daumen aneinander. »Und Zeit ist Geld.«

Ach was.

Jetzt lehnt er sich in seinem Sessel zurück und streicht sich mit gespreizten Händen über den Bauch. »Wissen Sie, mit Anwälten funktioniert das so ähnlich wie mit Hochzeitsfeiern. Man bekommt immer nur so viel, wie man bereit ist auszugeben.«

Ich sage ihm nicht, wie geschmacklos ich diesen Vergleich finde, sondern betrachte frustriert seine Visitenkarte, die ich in der Hand halte. Er ist mir als besonders gut empfohlen worden, und ich habe damit gerechnet, dass er teuer sein würde, aber mir war nicht klar, wie teuer. Ich werde mir einen Zweitjob oder gleich auch noch einen Drittjob suchen müssen … am besten überfalle ich eine Bank.

»Und trotzdem können Sie mir wahrscheinlich nicht garantieren, dass das Urteil am Ende zu meinen Gunsten ausfallen wird, oder?«

»Garantieren kann ich gar nichts.« Er seufzt. »Aber ich kann Ihnen zumindest versprechen, dass ich alles in meinen Kräften Stehende tun werde, um das Gericht dazu zu bringen, in Ihrem Sinne zu entscheiden. Nachdem ich allerdings einen Blick in Ihre Unterlagen aus Portland geworfen habe, kann ich Ihnen gleich sagen, dass das keine einfache Aufgabe wird. Ich wiederhole mich nur ungern, aber ich muss es noch einmal sagen: Ihr Fall wird Zeit kosten.«

»Das ist das Einzige, von dem ich mehr als genug habe«, murmle ich und stehe auf. »Okay. Dann würde ich gerne wiederkommen, sobald ich meinen ersten Lohn habe.«

Der Anwalt schickt mich ins Vorzimmer zu seiner Sekretärin, um einen Termin zu vereinbaren, und wenig später finde ich mich draußen in der brütenden texanischen Hitze wieder.

Ich wohne jetzt seit drei Wochen in Dallas, und es ist genau so, wie ich es erwartet hatte: heiß, schwül und einsam.

Eigentlich bin ich immer davon ausgegangen, dass ich mein ganzes Leben an der Westküste in Portland, Oregon, verbringen würde, wo ich aufgewachsen bin. In Dallas bin ich vor meinem Umzug hierher erst einmal gewesen. Als Fünfzehnjährige habe ich einige Wochen hier verbracht. Und obwohl der Anlass für meinen Aufenthalt damals ein verdammt trauriger war, möchte ich keine einzige Sekunde dieser Zeit missen.

Diesmal ist es genau umgekehrt. Im Moment habe ich keinen sehnlicheren Wunsch, als so schnell wie möglich wieder nach Portland zurückfliegen zu können.

Ich ziehe meine Sonnenbrille aus den Haaren, setze sie auf und mache mich auf den Weg in die Innenstadt, die so ganz anders ist als das Stadtzentrum von Portland. Dort kann man fast alles zu Fuß erreichen. Dallas ist viel weitläufiger und unpersönlicher, auf den Straßen sind kaum Menschen unterwegs, alle fahren nur mit dem Auto und … habe ich schon erwähnt, wie unerträglich brütend heiß und schwül es hier ist? Geradezu unmenschlich. Um den Umzug zu finanzieren, musste ich meinen Wagen verkaufen, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen oder zu Fuß zu gehen. Und weil ich jeden Cent zweimal umdrehen muss, spare ich sogar an den Bustickets.

Ich bin wirklich ziemlich verzweifelt über meine momentane Situation. Weil ich mir im Salon noch keinen eigenen Kundenstamm aufbauen konnte, werde ich diesen Monat auf keinen Fall genug verdienen, um den Anwalt bezahlen zu können. Ich muss mir also tatsächlich einen Nebenjob suchen. Das Dumme ist nur, dass Lydia noch nie bereit war, sich auf mich und meine Lebensumstände einzustellen, weshalb ich keine Ahnung habe, wie ich zwei Jobs mit ihren Terminvorstellungen vereinbaren soll. Vielleicht lässt sie ja mit sich reden.

Ich ziehe das Handy aus der Tasche und wähle ihre Nummer. Als ihre Mailbox anspringt, überlege ich kurz, ob ich ihr eine Nachricht hinterlassen soll. Aber ich habe sie im Verdacht, meine Nachrichten zu löschen, ohne sie angehört zu haben, also stecke ich das Telefon wieder zurück. Die Hitze kriecht mir den Hals hinauf, meine Wangen glühen und hinter meinen Lidern spüre ich das mittlerweile vertraute Stechen. Ich habe mitgezählt: Das ist jetzt das dreizehnte Mal, dass ich unter der glühend heißen Sonne quer durch diese riesige anonyme Stadt zu Fuß nach Hause gehe, aber ich bin fest entschlossen, es diesmal bis zum Apartment zu schaffen, ohne in Tränen aufgelöst zu sein. Das wäre eine Premiere. Meine Nachbarn halten mich bestimmt jetzt schon für schwer gestört.

Leider ist es ein verdammt langer Weg. So lang, dass ich gar nicht anders kann, als über mein Leben nachzudenken, und mein Leben ist etwas, das mich unweigerlich zum Weinen bringt.

Vor einem Schaufenster bleibe ich stehen und schiebe die Brille in die Stirn, um in der Scheibe zu überprüfen, ob meine Wimperntusche verlaufen ist. Beim Anblick meines Spiegelbilds schüttle ich frustriert den Kopf. Was ich sehe, gefällt mir gar nicht.

Ich sehe ein Mädchen, das die Entscheidungen, die es in seinem Leben getroffen hat, schwer bereut.

Ein Mädchen, das seinen Beruf hasst.

Ein Mädchen, das Portland vermisst.

Und das dringend einen Nebenjob braucht, weil … was sehe ich da?

An der Tür hängt ein Schild.

Assistentin gesucht.

Bitte klopfen.

Ich trete einen Schritt zurück und betrachte das Gebäude, vor dem ich stehe. Auf meinem Arbeitsweg bin ich jeden Tag zweimal daran vorbeigekommen und trotzdem ist mir dieser Laden nie aufgefallen. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich auf dem Hinweg immer mit Lydia telefoniere und auf dem Rückweg zu viele Tränen in den Augen habe, um überhaupt irgendetwas von meiner Umgebung wahrzunehmen.

CONFESS

Das ist das Einzige, was auf dem Schild über dem Briefkastenschlitz in der Tür steht. Nur dieses eine Wort: »confess«. Soll das eine Aufforderung sein? Gestehe! Ist das hier womöglich gar kein Geschäft, sondern eine Art Kirche? Aber die vielen in unterschiedlichen Handschriften vollgekritzelten Zettel, mit denen die Schaufenster zugepflastert sind, sehen irgendwie nicht nach Gotteshaus aus. Es sind so viele, dass man nicht in den dahinterliegenden Laden hineinschauen kann.

Sind das Kleinanzeigen? Ich trete wieder näher und beginne zu lesen.

Ich danke dem Schicksal jeden Tag dafür, dass sich mein Mann und sein Bruder so unglaublich ähnlich sehen, weil das bedeutet, dass mein Mann wahrscheinlich niemals Verdacht schöpfen wird, unser Sohn könnte nicht von ihm sein.

Ich balle unwillkürlich die Hand und drücke sie auf mein Herz. Das liest sich tatsächlich wie ein Geständnis! Mein Blick fällt auf den Zettel daneben.

Vor vier Monaten habe ich das letzte Mal mit meinen Kindern gesprochen. Sie rufen an den Festtagen und an meinem Geburtstag an, melden sich ansonsten aber nie bei mir. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Ich war ein schrecklicher Vater.

Ich lese den nächsten Zettel.

Bei meiner Bewerbung habe ich in meinem Lebenslauf gelogen. Ich habe gar keinen Uniabschluss. In den fünf Jahren, die ich jetzt schon in der Fima arbeite, wollte nie jemand mein Zeugnis sehen.

Ich kann nicht aufhören zu lesen, stelle mich auf die Zehenspitzen, um die Zettel in den oberen Reihen zu entziffern, und bücke mich nach denen, die weiter unten hängen. Mir ist nach wie vor völlig unklar, was das für ein Laden ist oder welche Organisation dahintersteckt. Ich kann mir nicht erklären, warum diese Geständnisse hier aushängen, sodass jeder sie sehen kann. Aber aus irgendeinem Grund gibt es mir ein gutes Gefühl, sie zu lesen. Wenn sie echt sind, dann ist mein Leben vielleicht doch nicht so verpfuscht, wie es mir manchmal vorkommt.

Nach einer Viertelstunde bin ich beim zweiten Schaufenster angelangt und habe fast alle Zettel gelesen, die rechts neben der Eingangstür kleben, als sie plötzlich mit einem Ruck aufgestoßen wird. Ich trete hastig einen Schritt zur Seite, um nicht getroffen zu werden. Leider stehe ich jetzt so, dass ich nicht in den Laden hineinschauen kann.

Das Einzige, was ich sehe, ist eine Männerhand, die das Schild abnimmt. Dann höre ich das energische Quietschen eines Markers, und als das Schild gleich darauf wieder hingehängt wird, steht da:

Assistentin gesucht.

Bitte klopfen.

SUPERDRINGEND gesucht!

BITTEANDIETÜRHÄMMERN!!!

Ich muss über die radikale Änderung der Formulierung lachen und denke gleichzeitig, dass das vielleicht eine schicksalhafte Fügung ist. Ich brauche dringend einen Job, und hier ist jemand, der offensichtlich dringend Unterstützung braucht.

Im nächsten Moment öffnet sich die Tür ein Stück weiter und vor mir steht ein Typ, der ein paar Jahre älter ist als ich und mich mit großen Augen ansieht, die mich sofort faszinieren. Sie strahlen in mehr Grüntönen, als ich sie auf seinem farbverklecksten T-Shirt finden könnte. Volle schwarze Haare fallen ihm widerspenstig ins Gesicht. Nachdem er mich einen Moment lang überrascht gemustert hat, schüttelt er kurz den Kopf und stößt dann einen Seufzer aus. Es kommt mir fast so vor, als wäre er erleichtert, dass ich vor der Tür stehe.

Weil er aber trotzdem nichts sagt, sondern mich nur weiter ansieht, wende ich verlegen den Blick ab. Nicht weil es mir unangenehm wäre, sondern weil es merkwürdig tröstlich ist, von jemandem so angeschaut zu werden. Wahrscheinlich ist es das erste Mal, seit ich in Texas lebe, dass ich das Gefühl habe, jemand freut sich, mich zu sehen.

»Kann es sein, dass dich der Himmel schickt?«, fragt er, und mein Blick wird unwillkürlich wieder von seinen grünen Augen angezogen. »Komm rein.« Er strahlt mich an und hält die Tür einladend auf.

Ich werfe zögernd einen Blick auf das »Assistentin gesucht«-Schild und frage mich, was gleich passieren wird, wenn ich ihm tatsächlich in diesen Laden folge.

Das schlimmste Szenario, das mir einfällt, endet mit meiner Ermordung. Aber angesichts der hinter mir liegenden höllischen drei Wochen kann mich traurigerweise selbst diese Vorstellung nicht wirklich abschrecken.

»Bist du derjenige, der eine Assistentin sucht?«, frage ich.

»Falls du diejenige bist, die sich bewirbt?«

Er klingt total nett und irgendwie verunsichert mich das. Ich bin so nette Menschen nicht gewöhnt.

»Könnte sein, dass ich mich bewerbe. Aber vorher hätte ich noch ein paar Fragen an dich«, sage ich, stolz darauf, dass ich mich nicht einfach so von einem Mörder in den Hinterhalt locken und abschlachten lasse.

Der Typ zieht das Schild von der Scheibe, stemmt sich mit dem Rücken gegen die Tür, um sie aufzuhalten, und winkt mich herein. »Eigentlich haben wir keine Zeit, uns vorher noch lange zu unterhalten, aber ich schwöre dir, dass ich dich garantiert nicht foltern, vergewaltigen oder umbringen werde, falls dich das beruhigt.«

Seine Stimme ist unheimlich sympathisch, genau wie sein Lächeln, bei dem er zwei Reihen nahezu makelloser Zähne zeigt, wenn man von dem leicht schief stehenden linken Schneidezahn absieht. Aber womöglich ist es gerade dieser kleine Makel, der ihn mir so sympathisch macht. Ach, was soll’s, eigentlich habe ich meine Entscheidung schon getroffen. Ich beschließe, auf meine Fragen zu verzichten.

Seufzend schiebe ich mich an ihm vorbei in den Laden. »Worauf lasse ich mich da nur ein?«

»Vielleicht auf etwas, aus dem du so schnell nicht mehr herauswollen wirst«, antwortet er. Die Tür fällt hinter uns ins Schloss und sperrt das Sonnenlicht aus, was nicht weiter schlimm wäre, wenn der Innenraum beleuchtet wäre. Das ist er aber nicht. Er ist stockfinster und nur durch einen Spalt in der geöffneten Tür am anderen Ende des ziemlich großen Ladenlokals fällt ein schwacher Lichtschein herein.

In dem Moment, in dem mich mein rasend schnell klopfendes Herz wissen lässt, dass ich gerade eine lebensgefährliche Dummheit begangen habe, erwachen an der Decke mehrere Leuchtstoffröhren summend zum Leben.

»Tut mir leid.« Seine Stimme ist so nah, dass ich zusammenzucke. »Normalerweise arbeite ich nicht in diesem Teil des Ateliers, deswegen lasse ich das Licht aus, um Strom zu sparen.«

Jetzt, wo der Raum erleuchtet ist, sehe ich, dass überall an den in neutralem Weiß gestrichenen Wänden große Gemälde hängen. Ich schaue mich neugierig um. »Ist das hier … eine Galerie?«

»Es als Galerie zu bezeichnen, wäre leicht übertrieben«, sagt er lachend und geht auf die Tür am anderen Ende des Raums zu. »Was hast du für eine Klamottengröße?«, fragt er über die Schulter.

Er hat mir immer noch nicht gesagt, wobei er Hilfe braucht, und dass er jetzt meine Kleidergröße wissen möchte, beunruhigt mich etwas. Fragt er sich, welche Maße die Grube haben muss, in der er mich verscharren wird? Geht es um die Größe der Handschellen?

Okay, ich bin sehr beunruhigt.

»Wie meinst du das?«, frage ich und folge ihm in den Flur hinaus, obwohl es wahrscheinlich klüger wäre abzuhauen und um mein Leben zu rennen. »Wozu musst du meine Kleidergröße wissen?«

Er dreht sich um und läuft rückwärts vor mir her. »Na ja, weil …« Er zeigt auf meine Jeans und das Top, »du die Sachen da nachher schlecht anbehalten kannst.«

Vom Flur aus führt eine Treppe ins obere Stockwerk. Dieser Typ ist wirklich süß, und sein schiefer Schneidezahn ist vertrauenerweckend, aber ich habe trotzdem das starke Gefühl, dass jetzt endgültig der Moment gekommen ist, in dem ich die Reißleine ziehen sollte. Ich gehe garantiert nicht mit ihm da hoch.

»Moment«, sage ich und bleibe am Treppenabsatz stehen. Mein neuer Arbeitgeber, der schon halb hinaufgegangen ist, dreht sich mit fragender Miene um. »Kannst du mir wenigstens stichpunktartig verraten, was da oben passieren soll? Allmählich kriege ich nämlich leichte Zweifel, ob es klug ist, jemandem, den ich überhaupt nicht kenne, ins Ungewisse zu folgen.«

Er wirft einen Blick nach oben, sieht mich an und kommt wieder ein paar Schritte herunter. Etwas oberhalb von mir setzt er sich auf eine der Treppenstufen, sodass wir auf Augenhöhe sind. »Sorry.« Er stützt die Ellbogen auf die Knie und beugt sich freundlich lächelnd vor. »Du hast natürlich vollkommen recht. Also: Ich heiße Owen Gentry, ich bin Maler, und das da ist mein Studio und Verkaufsraum, in dem gleich so eine Art Ausstellung stattfindet. In einer knappen Stunde erwarte ich die ersten Besucher, und ich brauche dringend eine Assistentin, die den Verkauf meiner Bilder für mich regelt, die Adressen der Käufer notiert und so weiter, weil das einfach professioneller wirkt. Normalerweise hat den Job meine Freundin übernommen, aber … die hat sich letzte Woche von mir getrennt.«

Er ist Maler.

Er macht eine Ausstellung.

In weniger als einer Stunde.

Über die Freundin oder jetzige Exfreundin denke ich erst mal nicht nach.

»Verstehe …«, sage ich und werfe einen Blick die Treppe hinauf, bevor ich ihn wieder ansehe. »Bekomme ich vorher irgendeine Art von Einweisung?«

»Kannst du mit einem Taschenrechner umgehen?«

Ich verdrehe die Augen. »Ja.«

»Dann betrachte dich damit als eingewiesen. Ich brauche dich ungefähr für zwei Stunden und du bekommst dafür zweihundert Dollar. Sobald die Ausstellung vorbei ist, kannst du gehen.«

Zwei Stunden.

Zweihundert Dollar.

Irgendwas stimmt hier nicht.

»Wo ist der Haken?«

»Es gibt keinen.«

»Wenn du hundert Dollar pro Stunde zahlen kannst, dürftest du eigentlich kein Problem haben, jemanden zu finden, der für dich arbeitet. Aber du hast eben ziemlich verzweifelt gewirkt. Also muss es einen Haken geben.«

Owen reibt sich über sein stoppeliges Kinn, als würde er versuchen, seine Anspannung wegzumassieren. »Als meine Freundin mit mir Schluss gemacht hat, hat sie mir nicht gesagt, dass sie damit gleichzeitig auch aufhört, für mich zu arbeiten. Das habe ich erst vorhin erfahren, als ich bei ihr angerufen habe, weil sie nicht zur üblichen Zeit aufgetaucht ist. Betrachte die zweihundert Dollar als so eine Art Dringlichkeitszuschlag und freu dich drüber. Vielleicht warst du gerade zur richtigen Zeit am richtigen Ort.« Er steht auf und dreht sich um.

Ich bleibe unten an der Treppe stehen. »Du hast deine Freundin bei dir angestellt? Davon rät einem doch immer jeder ab.«

»Anders herum. Ich habe meine Angestellte zur Freundin gemacht. Das ist noch viel weniger empfehlenswert.« Er geht wieder nach oben, bleibt stehen und sieht zu mir herunter. »Wie heißt du eigentlich?«

»Auburn.«

Er runzelt die Stirn. Das kenne ich schon. Jeder denkt natürlich automatisch, ich hätte meinen Namen wegen der Farbe meiner Haare bekommen, aber sie sind nicht kastanienbraun. Ich bin blond. Mit viel gutem Willen könnte man behaupten, blond mit zartem Rotschimmer.

»Und mit vollem Namen?«

»Auburn Mason Reed.«

Owen legt den Kopf in den Nacken, sieht zur Decke und atmet langsam aus. Ich folge seinem Blick, kann da oben aber nichts als Weiß sehen. Er hebt die Hand, berührt erst seine Stirn, dann sein Brustbein, danach die linke und dann die rechte Schulter. Was macht er da? Sich bekreuzigen?

»Du heißt mit zweitem Namen Mason?«, fragt er.

Ich nicke. Ja, okay, Mason ist vielleicht nicht gerade ein gängiger Mädchenname, aber ich finde es trotzdem übertrieben, dass er sich deswegen gleich gezwungen sieht, religiöse Rituale durchzuführen.

»Ich auch«, sagt er.

Ich sehe ihn schweigend an. »Ohne Witz?«

Er nickt und zieht seinen Geldbeutel aus der Jeans. Dann kommt er die Treppe herunter und hält mir seinen Führerschein hin. Ich greife danach. Er heißt tatsächlich mit zweitem Namen Mason. Ich muss mir ein Grinsen verkneifen, als ich seine Initialen sehe. »Owen Mason Gentry. Oh, mein Gott –OMG!«, kichere ich und gebe ihm das Kärtchen zurück. Das ist mir so rausgerutscht, eigentlich hatte ich es nicht laut sagen wollen.

Owen schiebt den Geldbeutel wieder in die Jeans zurück und sieht mich mit hochgezogenen Brauen an. »Wow, du hast eine schnelle Auffassungsgabe.«

Meine Schultern zucken vor unterdrücktem Lachen. Gleichzeitig fühle ich mich mies. Es tut mir echt leid, dass ich gelacht habe.

Owen verdreht die Augen und grinst. »Ich weiß schon, warum ich nie jemandem verrate, wie ich mit zweitem Namen heiße«, sagt er.

Mit schlechtem Gewissen gehe ich hinter ihm die Treppe hinauf. Hoffentlich nimmt er es mir nicht übel, dass ich mich über seine Initialen lustig gemacht habe.

Im ersten Stock angekommen, geht er auf eine Kommode zu, zieht die oberste Schublade heraus und beginnt, darin zu wühlen. Ich nutze die Gelegenheit und sehe mich in dem großen Raum um. In einer Ecke steht ein breites Doppelbett, im hinteren Teil sehe ich eine offene Küche mit einer in den Raum hineingebauten Theke. Es gibt noch zwei weitere Türen, die aber verschlossen sind.

Anscheinend wohnt er hier.

Owen dreht sich um und drückt mir ein schwarzes Kleidungsstück in die Hand. Als ich es auffalte, sehe ich, dass es ein Rock ist.

»Vielleicht hast du ja die gleiche Größe wie die Verräterin, die mich heute hängen gelassen hat. Das wäre dann so was wie ausgleichende Gerechtigkeit.« Er geht zu einem Schrank, öffnet ihn und zieht eine weiße Bluse von einem Bügel. »Hier. Schau mal, ob die dir passt. Deine Schuhe sind okay.«

Ich greife nach der Bluse und nicke in Richtung der Türen. »Hinter welcher ist das Bad?«

Er deutet auf die linke.

»Und was mache ich, falls mir die Sachen nicht passen?«, frage ich, weil ich plötzlich Angst bekomme, dass er mich wieder wegschickt, wenn ich nicht seriös angezogen bin. Ich brauche diese zweihundert Dollar unbedingt.

»Wenn sie dir nicht passen, verbrennen wir sie zusammen mit allem anderen, was sie dagelassen hat.«

Ich lache, gehe ins Bad und ziehe mich schnell um. Zum Glück haben Rock und Bluse tatsächlich meine Größe. Aber als ich mich im Spiegel betrachte, stelle ich erschrocken fest, dass meine Haare katastrophal aussehen. Zum letzten Mal habe ich sie mir heute Morgen nach dem Aufstehen gekämmt. Ich bin eine Schande für meinen Berufsstand. Als Frisörin müsste ich mich eigentlich viel sorgfältiger stylen. Schließlich ist mein Äußeres so etwas wie meine Visitenkarte. Mithilfe von Owens Kamm und dem Haargummi, das ich zum Glück dabeihabe, binde ich sie mir im Nacken zu einem Knoten. Danach falte ich meine Jeans und das Top zusammen und lege beides auf den Waschtisch.

Als ich aus dem Bad komme, steht Owen an der Küchentheke und gießt Weißwein in zwei Gläser. Ich überlege kurz, ob ich ihm sagen soll, dass ich noch nicht einundzwanzig bin und erst in ein paar Wochen offiziell Alkohol trinken darf, entscheide mich dann aber dagegen. Ein Schluck kann nichts schaden. Vielleicht beruhigt der Wein mich ja sogar. Ich bin ziemlich nervös.

»Passt wie angegossen«, verkünde ich und drehe mich einmal im Kreis. »Und? Sehe ich adrett genug aus?«

Owen hebt den Kopf und betrachtet mich einen Moment länger als nötig. Dann räuspert er sich und blickt wieder auf die Gläser. »Die Sachen stehen dir sogar viel besser als ihr«, sagt er trocken.

Ich setze mich auf einen der Barhocker und muss mich schwer anstrengen, nicht zu breit zu grinsen. Es ist schon eine Weile her, dass mir jemand ein Kompliment gemacht hat, und ich hatte ganz vergessen, wie gut sich das anfühlt. »Ach was, das glaub ich nicht. Du bist bestimmt bloß sauer, weil sie Schluss gemacht und dich hängen gelassen hat.«

Owen schiebt mir ein Weinglas hin. »Ich bin kein bisschen sauer, sondern erleichtert, und das ist die Wahrheit.« Er prostet mir zu. »Lass uns darauf trinken, dass ich eine verflossene Freundin und eine neue Assistentin habe.«

Unsere Gläser stoßen klirrend aneinander und ich lache. »Auf jeden Fall besser als eine verflossene Assistentin und eine neue Freundin.«

Das Glas an den Lippen, hält er kurz inne und nimmt dann einen tiefen Schluck.

Als mich etwas Weiches an der Wade berührt, ist mein erster Impuls, laut aufzuschreien. Okay, vielleicht schnappe ich auch nur erschrocken nach Luft. Jedenfalls ziehe ich instinktiv die Beine hoch und schaue nach unten. Eine schwarze Katze reibt sich genüsslich schnurrend an dem Hocker, auf dem ich sitze. Ich beuge mich sofort begeistert herunter, um sie zu streicheln. Die Katze lässt es sich gefallen und erlaubt mir sogar, sie auf den Schoß zu nehmen. Die Tatsache, dass Owen eine Katze hat, lässt den letzten Rest von Misstrauen schmelzen, den ich vielleicht noch hatte. Als könnte jemand, der mit einem Haustier zusammenlebt, einem anderen Menschen niemals etwas Böses antun. Bescheuert, ich weiß, aber ich fühle mich gleich viel sicherer.

»Wie heißt sie … oder er?«

Er beugt sich vor und streicht durch das dichte Fell. »Owen.«

Ich lache über seinen Witz, aber er bleibt vollkommen ernst.

»Ohne Quatsch? Dein Kater heißt genau wie du?«

Jetzt spielt ein Lächeln um seine Mundwinkel und er zuckt fast verlegen mit den Schultern. »Irgendwie hat sie mich an mich erinnert.«

Ich muss wieder lachen. »Sie? Und du hast ihr einen Männernamen gegeben?«

Owen krault Owen liebevoll den Nacken. »Schsch«, flüstert er. »Mach dich nicht über sie lustig. Sie versteht alles, was wir sagen. Ich will nicht, dass sie Komplexe kriegt.«

Als hätte Owen-die-Katze tatsächlich verstanden, dass ich über ihren Namen gelacht habe, springt sie aus meinen Armen und landet anmutig auf dem Boden. Sie verschwindet blitzschnell um die Theke, und ich muss mich zwingen, mir mein dämlich seliges Lächeln aus dem Gesicht zu wischen. Ich finde es unfassbar originell, dass er seine Katze nach sich selbst benannt hat.

»Okay, OMG.« Ich stütze die Ellbogen auf die Theke. »Was genau erwartest du heute Abend von mir?«

Owen greift nach der Weinflasche und stellt sie in den Kühlschrank. »Ich wäre dir schon mal sehr dankbar, wenn du mich nicht OMG nennen würdest.«

Wahrscheinlich sollte ich mich schämen, aber so viel scheint es ihm dann doch nicht auszumachen, denn er lächelt immer noch.

»Wird nicht wieder vorkommen. Versprochen.«

»Darf ich dich was fragen?« Er beugt sich über die Theke und mustert mich. »Wie alt bist du eigentlich?«

»Noch nicht alt genug, um Wein trinken zu dürfen«, gestehe ich und nehme einen Schluck.

»Ups«, sagt er unbeeindruckt. »Und was machst du sonst so? Studierst du hier?« Das Kinn in die Hand gestützt, wartet er auf meine Antwort.

»Inwiefern bereiten mich diese Fragen auf meine Arbeit heute Abend vor?«

Er lächelt. Liegt es am Wein, dass er mir immer sympathischer wird? Aber schon im nächsten Moment ist er wieder ernst, nimmt mir das Glas aus der Hand und stellt es auf die Theke. »Du hast recht. Ich zeig dir, was dich nachher erwartet. Wenn du mir bitte folgen würdest, Auburn Mason Reed.«

Ich tue, was er sagt, weil ich für einen Stundenlohn von hundert Dollar alles tun würde.

Okay, fast alles.

Als wir wieder unten sind, stellt er sich in die Mitte des Raums und breitet die Arme aus, als wollte er mir sein Reich präsentieren. Ich drehe mich einmal um die eigene Achse und nehme alles in mich auf. Über jedem der Gemälde an den Wänden ist ein kleiner Spot angebracht, der die Aufmerksamkeit auf das jeweilige Bild lenkt. Sehr viel mehr gibt es nicht zu sehen. Nur weiße Wände, ein glänzend lackierter Betonboden und die Kunst. Die Wirkung ist trotz oder gerade wegen dieser Schlichtheit überwältigend.

»Das sind meine Arbeiten.« Owen deutet auf die Gemälde. Danach zeigt er auf eine Art Ladentheke am anderen Ende des Raums. »Und da hinten wirst du nachher die meiste Zeit stehen. Ich unterhalte mich mit den Leuten, die kommen, beantworte ihre Fragen und gebe Erklärungen zu den Bildern ab. Falls jemand eins kaufen möchte, schicke ich ihn zu dir und du schreibst dir die Adresse auf. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen. Meinst du, du schaffst das?« Die Hände in die Seiten gestemmt, sieht er mich erwartungsvoll an.

»Wie alt bist du eigentlich?«, frage ich, von seiner lässigen Professionalität beeindruckt.

Seine Augen verengen sich, er neigt kurz den Kopf und schaut weg. »Einundzwanzig«, antwortet er, als wäre es ihm peinlich, dass er so jung und trotzdem schon ein so – zumindest macht es den Anschein – relativ erfolgreicher Künstler ist.

Ehrlich gesagt hätte ich ihn etwas älter geschätzt. Seine Augen wirken auf mich nicht wie die eines fast Gleichaltrigen. Sie sind unergründlich und wecken in mir das Bedürfnis, tief in sie einzutauchen, um zu sehen, was er schon alles gesehen hat.

Aber dann reiße ich mich von ihnen los und beschließe, dass es höchste Zeit ist, mir seine Kunst aus der Nähe anzuschauen. Ich gehe auf das Bild zu, das vor mir an der Wand hängt. Es sieht schon allein von der Farbgebung her interessant aus, und je näher ich komme, desto klarer wird mir, dass er ein wirklich talentierter Künstler ist. Als ich davorstehe, muss ich die Luft anhalten.

Das Bild ist wunderschön und unfassbar traurig zugleich. Es zeigt eine Frau, auf deren Gesicht sich sowohl tief empfundene Liebe als auch schmerzhafte Scham widerspiegeln und zugleich jede kleinste Emotionsfacette, die dazwischenliegt.

»Was benutzt du für Farben? Acryl?« Ich beuge mich dicht zur Leinwand und fahre mit dem Zeigefinger andächtig den kraftvollen geschwungenen Pinselstrichen nach, als ich seine Schritte hinter mir höre. Dann steht er neben mir, aber ich schaffe es nicht, den Blick von dem Bild zu lösen, weil ich so fasziniert bin.

»Nicht nur. Teilweise spraye ich auch. Im Grunde verwende ich alle Materialien, die sich mir so anbieten. Das ist von Arbeit zu Arbeit unterschiedlich.«

Plötzlich entdecke ich eine Karte mit einem gedruckten Text, die neben dem Bild an der Wand hängt, beuge mich vor und lese sie.

Manchmal frage ich mich, ob es vielleicht leichter wäre, tot zu sein, als weiterhin seine Mutter sein zu müssen.

Ich muss schlucken und richte den Blick dann wieder auf das Gesicht der Frau. »Ist das von einem der Zettel, die an den Schaufensterscheiben kleben?« Als ich mich zu Owen umdrehe, ist sein Lächeln verschwunden. Er verschränkt die Arme vor der Brust und drückt das Kinn an den Hals. Ich habe beinahe den Eindruck, als würde es ihn nervös machen, mein Urteil über seine Kunst abzuwarten.

»Ja, genau«, sagt er knapp.

Ich sehe zu den mit Zetteln vollgeklebten Schaufenstern, lasse den Blick durch den Raum schweifen und bemerke, dass neben jedem der Bilder so eine Karte hängt.

»Dann sind das alles solche … Geständnisse?«, frage ich. »Sind sie denn echt? Und stammen sie … von Menschen, die du kennst?«

»Nein.« Owen schüttelt den Kopf. »Sie sind anonym. Jeder, der etwas loswerden will, kann sein Geständnis durch den Briefkastenschlitz schieben.« Er zeigt zur Tür. »Ich lasse mich davon inspirieren.«

Ich gehe zum nächsten Bild und lese mir diesmal erst die Karte durch, bevor ich mir ansehe, wie Owen das, was darauf steht, umgesetzt hat.

Ich habe mich noch nie jemandem ungeschminkt gezeigt. Es ist mein schlimmster Horror, mir vorzustellen, wie ich aussehen werde, wenn ich nach meinem Tod aufgebahrt werde. Lieber lasse ich mich gleich verbrennen. Meine Komplexe sitzen so tief, dass ich sie nicht einmal im Tod ablegen kann. Danke dafür, Mutter.

Mir läuft ein Schauder über den Rücken. »Krass«, flüstere ich und betrachte das Bild. Anschließend gehe ich langsam die Längsseite des Raums ab und sehe mir die anderen Bilder an. Als ich am Schaufenster angekommen bin, fällt mir ein Zettel ins Auge, der mit roter Tinte geschrieben ist. Der Satz darauf ist zusätzlich dick mit gelbem Marker unterstrichen.

Ich habe Angst, dass ich niemals aufhören werde, mein Leben ohne ihn mit dem Leben mit ihm zu vergleichen.

Ich kann gar nicht sagen, was mich mehr berührt – Owens Kunst oder die Tatsache, dass ich die Gefühle, die hier zu Papier und auf die Leinwand gebracht worden sind, so gut nachvollziehen kann. Ich bin ein sehr verschlossener Mensch und lasse kaum jemanden in mich hineinschauen, obwohl das vielleicht manches einfacher machen würde. Diese teilweise erschütternden Lebensbeichten zu lesen und damit Einblick in die tiefsten Abgründe von Menschen zu erhalten – Abgründe, die sie höchstwahrscheinlich nie jemanden haben sehen lassen –, gibt mir das Gefühl, nicht ganz so alein zu sein. Das Gefühl, dass es andere gibt, denen es ähnlich geht wie mir.

Das alles erinnert mich an Adam.

»Erzähl mir was über dich, was sonst keiner weiß. Etwas, das ich für mich behalten kann.«

Ich kann gar nicht anders, als Adam in Gedanken automatisch immer in alles miteinzubeziehen, was ich erlebe, auch wenn ich weiß, dass es besser wäre, es nicht zu tun. Ich frage mich, wann das jemals aufhören wird – oder ob überhaupt. Mittlerweile ist es fünf Jahre her, seit ich mich von ihm verabschiedet habe. Fünf Jahre, seit er gestorben ist. Fünf Jahre …

Wird es mir so gehen wie demjenigen, der den Satz geschrieben hat, den ich eben gelesen habe? Werde ich mein Leben ohne ihn immer mit dem Leben vergleichen, das ich mit ihm hätte haben können?

Und wird jemals der Moment kommen, in dem ich vom Ergebnis dieses Vergleichs nicht enttäuscht sein werde?

zweites kapitelOWEN

Es ist unfassbar, aber sie ist es. Ganz sicher. Ich hab sie sofort erkannt. Und jetzt steht sie plötzlich hier in meinem Atelier und schaut sich meine Bilder an. Dabei hätte ich niemals, wirklich niemals geglaubt, dass wir uns noch mal begegnen würden. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal an sie gedacht habe. Die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Wege sich in diesem Leben noch einmal kreuzen könnten, war praktisch nicht vorhanden.

Aber jetzt ist sie auf einmal hier. Es liegt mir auf der Zunge, sie zu fragen, ob sie sich an mich erinnert, aber ich weiß, dass sie es nicht tut. Wie sollte sie? Wir haben ja nie auch nur ein Wort miteinander gewechselt.

Trotzdem habe ich sie nie vergessen. Ich erinnere mich noch genau an den Klang ihres Lachens, an ihre Stimme, das besondere Blond ihrer Haare … auch wenn sie damals kürzer waren. Mir wird erst jetzt klar, dass ich ihr Gesicht eigentlich nie so richtig aus der Nähe gesehen habe, obwohl ich mir immer eingebildet habe, ganz genau zu wissen, wie sie aussieht. Jetzt, wo sie vor mir steht, muss ich mich zwingen, sie nicht anzustarren. Sie ist wunderschön, aber vor allem sieht sie genau so aus, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Ich habe einmal versucht, sie zu malen, es dann aber wieder aufgegeben, weil meine Erinnerung einfach nicht mehr deutlich genug war. Könnte gut sein, dass ich nach heute Abend einen zweiten Versuch starte. Ich weiß auch schon, wie ich das Bild nennen werde: »Mehr als nur einer«.

Als sie sich umdreht, um auf ein anderes Bild zuzugehen, schaue ich hastig weg, bevor sie mich dabei ertappt, wie ich sie beobachte. Ich habe das Gefühl, sie würde mir sofort ansehen, dass ich gerade darüber nachdenke, aus welchen Farben ich ihren einzigartigen Hautton zusammenmischen oder ob ich sie mit zurückgebundenen oder offenen Haaren malen soll.

Schluss jetzt. Es gibt tausend andere Sachen, die ich im Moment dringender erledigen müsste, als solchen Gedanken nachzuhängen. Äh … was waren das noch mal für Sachen? Ach ja: duschen, umziehen und mich mental auf die Besucher vorbereiten, die gleich kommen und zwei Stunden lang unterhalten werden wollen.

»Ich muss noch schnell duschen«, sage ich. Auburn schreckt zusammen, als hätte sie vollkommen vergessen, dass ich auch noch da bin.

»Schau dich ruhig weiter um. Ich erklär dir den Rest, wenn ich fertig bin. Bin gleich wieder da.«

Als sie lächelnd nickt, denke ich an Hannah und verstehe plötzlich nicht mehr, was ich jemals in ihr gesehen habe.

Hannah, die ich ursprünglich als Assistentin eingestellt hatte und die dann auf einmal meine Freundin war. Hannah, die nicht damit klarkam, dass es Dinge in meinem Leben gibt, die mir wichtiger sind als sie, und die sich letzte Woche von mir getrennt hat.

Hoffentlich ist Auburn anders.

Aber gab es bei Hannah nicht schon von Anfang an zu vieles, was nicht wirklich gepasst hat? Hätte mir das nicht zu denken geben müssen? Zum Beispiel, dass eigentlich meistens nur oberflächliches Geplapper herauskam, wenn sie den Mund aufgemacht hat, was wahrscheinlich der Hauptgrund dafür war, dass wir nur sehr wenig miteinander gesprochen haben. Oder dass sie meinte, alle um sie herum ständig darauf hinweisen zu müssen, dass man ihren Namen sowohl vorwärts als auch rückwärts lesen kann.

»Wow. Du bist ein wandelndes Palindrom!«, habe ich gesagt, als sie es mir das erste Mal erzählt hat. Als sie mich daraufhin nur verständnislos angeschaut hat, hätte mir klar sein müssen, dass wir überhaupt nicht auf einer Wellenlänge waren. Das schöne Palindrom ist an Hannah leider verschwendet gewesen.

Aber ich weiß jetzt schon, dass Auburn nicht wie Hannah ist. Ich erkenne es an der Tiefe ihres Blicks. Ich kann sehen, dass sie meine Arbeiten wirklich versteht und im Innersten davon berührt ist, sogar so sehr, dass sie alles andere um sich herum vergisst. Ich hoffe wirklich sehr, dass sie nicht wie Hannah ist. Hannah, die Blenderin.

Sei fein, nie fies, ermahne ich mich selbst per Palindrom.

Als ich oben ins Bad komme und Auburns zusammengelegte Klamotten auf dem Waschtisch sehe, würde ich am liebsten zu ihr runtergehen und ihr sagen, dass sie wieder ihre eigenen Sachen anziehen soll. Ich würde ihr gern sagen, dass sie ruhig sie selbst sein kann, weil es mir wichtig ist, dass sie sich bei mir wohlfühlt. Dummerweise sind meine Kunden reich und elitär und erwarten, dass die Assistentinnen der Künstler, deren Bilder sie kaufen, die klassische Uniform aus schwarzem Rock und weißer Bluse tragen und nicht Jeans und pinke Tops. Die Farbe des Tops erinnert mich plötzlich an ein T-Shirt, das Mrs Dennis, bei der ich an der Highschool Kunst hatte, oft anhatte …

Mrs Dennis liebte die Kunst. Vor allem aber liebte sie Künstler. Eines Tages stellte sie sich hinter mich und sagte: »Unglaublich, wie du mit dem Pinsel umgehst, Owen«, und danach liebte sie mich.

Übrigens war Mrs Dennis zwar kein wandelndes Palindrom, aber auch ihr Name hatte einen doppelten Boden. Von hinten nach vorne gelesen ergab er das Wort sinned und entsprach damit ziemlich genau dem, was wir miteinander taten. Wir sündigten. Sie vielleicht ein bisschen mehr als ich. Weil ich schlecht jemandem von meinem Geheimnis erzählen konnte, ohne meine Lehrerin ans Messer zu liefern, verewigte ich unsere Tat in einem zum Bild gewordenen Geständnis, das ich Sie sündigt mit mir nannte. Es war eines der ersten Bilder, das ich verkaufen konnte. Halleluja.

Aber ich will jetzt nicht an meine Schulzeit oder an Mrs Dennis oder an Hannah denken, weil sie Teil meiner Vergangenheit sind, während hier gerade meine Gegenwart stattfindet und Auburn … irgendwie für beides steht. Sie wäre geschockt, wenn sie wüsste, wie sehr ihre Vergangenheit meine Gegenwart beeinflusst hat, deswegen werde ich es ihr auch nicht erzählen. Es gibt Geheimnisse, die niemals zu Geständnissen werden sollten. Das weiß ich besser als jeder andere.

Was hat es zu bedeuten, dass sie auf einmal vor meiner Tür stand und mich mit ihren großen Augen ansah? Ihr plötzliches Auftauchen in meinem Leben bringt mein ganzes Weltbild ins Wanken. Vor einer halben Stunde war ich jemand, der nur an den Zufall glaubte, nicht an Schicksal. Und jetzt? Die Vorstellung, dass es lediglich ein Zufall gewesen sein soll, der sie heute vor meine Tür geführt hat, kommt mir absurd vor.

~

Als ich frisch geduscht und umgezogen wieder nach unten komme, ist sie in die Betrachtung eines Bildes vertieft, das ich Du existierst nicht, Gott (und falls doch, solltest du dich schämen) genannt habe.

Den Titel habe ich mir natürlich nicht selbst ausgedacht. Das tue ich nie. Er ist das anonyme Geständnis, das mich zu dem Bild inspiriert hat. In diesem Fall dazu, meine Mutter zu malen. Nicht so, wie ich mich an sie erinnere, sondern so, wie sie vielleicht ausgesehen hat, als sie in meinem Alter war. Was mich an dem Geständnis fasziniert hat, war nicht die Glaubensfrage, sondern dass das exakt der Gedanke war, der mir in den Monaten nach ihrem Tod die ganze Zeit durch den Kopf ging.

Natürlich weiß ich nicht, ob Auburn an Gott glaubt, aber etwas in dem Bild scheint irgendwas in ihr ausgelöst zu haben. Jedenfalls sehe ich, wie ihr eine Träne über die Wange läuft. Sobald sie merkt, dass ich neben ihr stehe, fährt sie sich hastig mit dem Handrücken übers Gesicht und holt tief Luft. Schämt sie sich für ihre Rührung? Vielleicht ist es ihr auch nur peinlich, dass ich sie beobachtet habe.