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"Das Beste, was mir auf einer Reha passieren kann, ist ein Kurschatten! Eine Affäre mit einem heißen Arzt, nächtliches Gefummel mit einem geilen Pfleger oder ein Quickie mit einem süßen Mitpatienten. Vielleicht auch von jedem etwas ..." Love and other Handicaps Von heißen Pflegern, fetten Lügnern und komischen Fantasie-Diagnosen Genre: Gay Romance / Humor Print 336 Seiten (in sich abgeschlossene Geschichte) Hackedicht bis in die Haarwurzeln flutscht Leo von einem Brückengeländer, landet erst in der kalten Spree und anschließend im Rollstuhl. Dieser äußerst unerfreuliche Zwischenfall passt nicht wirklich in seinen Zeitplan, und dann verordnet ihm der Arzt auch noch eine elendig lange Reha, auf die er mal so gar keinen Bock hat. In Leos Augen sind Rehas nämlich was für dicke Kinder mit Asthma oder rheumageplagte Rentner. Er, ein junger Mann in der Blüte seines Lebens und noch dazu ein Arbeitstier, will nichts weiter als zurück an seinen Schreibtisch. Leider lässt ihm der Doc keine Wahl, denn dieser sieht einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Tatsache, dass Leo erst kürzlich von seinem Lebenspartner verlassen wurde. Aus diesem Grund bescheinigt er ihm auch noch eine Depression und gibt nicht nach, bis Leo in die physische und psychologische Weiterbehandlung einwilligt. Als er vor Ort den Stahlschnitten-Pfleger Elgar kennenlernt, wird die Sache aber doch noch interessant. Suchst du eine lockere, fluffige Geschichte mit viel Humor und einem Hauch Liebeskitsch für die Seele? Magst du authentische, schwule Protagonisten, die auf liebenswerte Weise einen an der Klatsche haben? Dann ist diese Story genau richtig für dich!
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Von heißen Pflegern, fetten Lügnern und komischen Fantasie-Diagnosen
Hackedicht bis in die Haarwurzeln flutscht Leo von einem Brückengeländer, landet erst in der kalten Spree und anschließend im Rollstuhl. Dieser äußerst unerfreuliche Zwischenfall passt nicht wirklich in seinen Zeitplan, und dann verordnet ihm der Arzt auch noch eine elendig lange Reha, auf die er mal so gar keinen Bock hat. In Leos Augen sind Rehas nämlich was für dicke Kinder mit Asthma oder rheumageplagte Rentner. Er, ein junger Mann in der Blüte seines Lebens und noch dazu ein Arbeitstier, will nichts weiter als zurück an seinen Schreibtisch. Leider lässt ihm der Doc keine Wahl, denn dieser sieht einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Tatsache, dass Leo erst kürzlich von seinem Lebenspartner verlassen wurde. Aus diesem Grund bescheinigt er ihm auch noch eine Depression und gibt nicht nach, bis Leo in die physische und psychologische Weiterbehandlung einwilligt. Als er vor Ort den Stahlschnitten-Pfleger Elgar kennenlernt, wird die Sache aber doch noch interessant.
Als das Taxi über die schier endlose Allee den Hügel hinauffährt, wirbeln einige rote, gelbe und orangefarbene Blätter vor dessen Fensterscheiben.
‚Unglaublich, dass es Herbst geworden ist, ohne dass ich es mitbekommen habe.‘
Ich unterdrücke den Wunsch, das Seitenfenster zu öffnen und eines der blutroten Blätter zu fangen. Vermutlich würde mein betagter Fahrer einen Herzkasper kriegen und eine Vollbremsung machen, aus Angst, dass ich mich aus dem fahrenden Auto stürzen könnte. Die Tür hat er zu Beginn der Fahrt bereits verriegelt, aber das Fenster lässt sich mit einer prähistorischen Handkurbel bewegen, wenn ich wollte.
Mit jedem Kilometer, den wir fahren, verstärkt sich die Erleichterung parallel zu meiner Frustration. Ein seltsames Gemisch, aber was soll man auch fühlen, wenn man über Wochen von Ärzten festgehalten wird, weil sie einem eine Fantasie-Diagnose stellen, die von vorne bis hinten an den Haaren herbeigezogen ist? ... Zumindest teilweise.
„Drei Wochen Reha. Mindestens! Besser sechs! Ansonsten lasse ich Sie nicht gehen“, hallen noch immer die Worte von Doktor Eichenbaum durch meinen Kopf und ich sehe sofort wieder seinen strengen Blick, der mich besorgt mustert. Ich hatte genickt und auf diese lautlose Weise in den Deal eingewilligt, denn das war er nun mal, der Preis für meine Freiheit. Mein Ticket vor die vergitterten Fenster der Geschlossenen, in der sie mich fast einen Monat festgehalten und vollgepumpt haben. Nur leider nicht mit dem geilen Zeug.
Ganz ehrlich? Eigentlich hatte ich Schlimmeres erwartet: ein anstrengendes, zehn Wochen dauerndes Resozialisierungsprogramm und ambulante Therapie für die nächsten drei Jahre, irgendwie so etwas in der Richtung. Ich hätte alles getan, um aus dieser Klinik rauszukommen! Weg von dem Dreierzimmer mit den beiden schnarchenden Mittfünfzigern, die den ganzen Tag über ihre schlimmen Exfrauen debattierten, die praktisch an allem schuld waren, was in ihrem Leben schiefgelaufen war. Sie hatten sie zum Saufen verleitet, ihnen die Kinder weggenommen und sie schlussendlich in den Wahnsinn getrieben. Ich bin so froh, dass ich mir ihre Tiraden nicht mehr anhören muss.
Der hagere Taxifahrer hat mich heute früh direkt aus der Klinik abgeholt und wirkt von Anfang an sehr nervös. Offenbar kutschiert er nur selten Durchgeknallte in seiner alten Eierkiste zur nächstgelegenen psychosomatischen Rehabilitationseinrichtung[Fußnote 1]. Ja, ich hab es gesehen. In seinem vermeidenden Blick, seiner Haltung, einfach allem. Er hält mich für geisteskrank, dabei bin ich völlig normal. Also so normal, wie man heutzutage eben noch sein kann. Reif für die Insel, ja! Das bin ich auf jeden Fall! Aber statt auf ein schickes, schwül-heißes Südsee-Eiland schickt mich der Doc zur Reha nach Meck-Pomm, denn mehr zahlt die Kasse nicht. Ich könnte immer noch darüber lachen, wenn es nicht so zum Heulen wäre.
Mal ernsthaft, Rehas sind doch was für Omis mit Arthritis oder dicke Kinder mit Asthma. Vielleicht auch noch für Leute, die einen wirklich schweren Unfall hatten. Profisportler mit Oberschenkelbruch oder so, wobei die vermutlich eher privat betreut werden. Aber für Menschen wie mich? Ich gehöre nicht in eine Reha, verdammt! Ich bin gerade mal achtundzwanzig und kerngesund! Na ja, von meinem geprellten rechten und der Sprunggelenkfraktur am linken Fuß mal abgesehen. Und der geprellten linken Schulter.
Ich gebe ja zu: Seit mich mein Ex verlassen hat, habe ich eine depressive Phase, aber wer hätte die nicht, wenn einen die große Liebe nach neun Jahren Beziehung von heute auf morgen sitzenlässt? Einfach so! Dieser Wichser! Dass man da eine Weile rumheult und mehr Alkohol anstatt Nahrung zu sich nimmt, ist doch wohl völlig nachvollziehbar! Wen so eine Trennung kaltlässt, der hat kein Herz! Oder bereits einen neuen Kerl im Bett und das ist bei mir, leider, nicht der Fall.
Ja, ich hätte nicht von dieser dämlichen Brücke fallen sollen, aber mal ehrlich: Darunter fließt Wasser! Vermutlich wäre ich sogar freiwillig gehüpft, denn wenn ich an all die Klippenspringer denke, die ich früher in billigen Teenagerfilmen gesehen habe, hätte ich mir über die Höhe selbst in einem weniger alkoholvernebelten Zustand einfach keine Platte gemacht. Wie soll ich denn auch ahnen, dass man sich dabei ernstlich wehtut?
Na ja. Glücklicherweise waren schon vor meinem Abrutscher zwei Passanten auf mich aufmerksam geworden, da ich mich etwas lauter als üblich über die Ungerechtigkeit des Seins und die mir allnächtlich fehlenden neunzehn Zentimeter echauffiert hatte. Eben diese Passanten haben dann auch sofort einen Rettungswagen gerufen, sind seitlich an der Brücke hinunter zum Ufer gerannt und haben mich aus dem Wasser gezerrt. Zumindest wurde es mir später so erzählt.
Aufgewacht bin ich im Krankenhaus und sah aus wie Two-Face[Fußnote 2]. Keine Ahnung, welche Pirouetten ich gedreht habe, während ich fiel. Meine linke Gesichtshälfte, eine Hämatomlandschaft vom Feinsten, aber darüber hinaus schillerte auch der Rest meiner linken Seite in den ersten Wochen nach dem Unfall in wundervollen Blau-, Grün- und Rottönen. Nach der Operation, an die ich mich nicht erinnere, bekam ich eine Weile einen Spaltgips für mein Fußgelenk und durfte nicht aufstehen, bis die Schwellung zurückgegangen war. Seitdem trage ich nur noch feste Bandagen und an meinem linken Bein zusätzlich eine Fußgelenkschiene, bestehend aus seitlichen Metallplatten, Plastik und dicken Polyesterkissen. Der noch immer aufgedunsene nackte Fuß guckt trotzdem ein Stück raus.
Meinen Rettern wollte ich zum Dank ein kleines Präsentkörbchen schicken. So ein richtig fettes, peinliches Ding mit Herzchen und all dem Gedöns, denn wären die zwei einfach weitergegangen, würde ich vermutlich immer noch irgendwo in der Spree treiben oder inzwischen eine kleine Schlagzeile in der BILD haben. Leider war es mir jedoch nicht möglich, mich zu bedanken, denn bis heute konnte ich nicht rausfinden, wer meine Retter sind. Die Daten des Anrufers bei der Notrufzentrale, Name und Telefonnummer, werden zwar bei der Leitstelle im Einsatzprotokoll vermerkt, aber aus Gründen des Datenschutzes durfte man mir diese nicht weitergeben. Auch der Beamte der Polizeibehörde, der die beiden als Zeugen aufgenommen hatte, meinte, ich bräuchte einen Anwalt, um bei Gericht Antrag auf Akteneinsicht zu stellen. Und das für zwei Namen! Danke Deutschland!
Nun ja, ich gebe zu, das ist alles etwas unglücklich gelaufen und ja, davon abgesehen bin ich auch ein Workaholic, leide an Erschöpfungszuständen und chronischem Schlafmangel, aber ist das nicht inzwischen Standard in unserer Leistungsgesellschaft?
Eine Erholungskur - das hätte ich mir vorstellen können! Schwimmen, saunieren, mich massieren lassen, Fangopackungen dreimal die Woche, Yoga und ausgedehnte Traumreisen in Gruppenschlafräumen, in denen sich jeder dritte heimlich den Kasper knetet, während einem der Therapeut in künstlich langgezogener Sprache die Ohren vollsäuselt. Ja, damit könnte ich etwas anfangen! Aber auf Frühsport, Psychotherapien, Nordic Walking und darauf, dass die mich nebenbei noch auf meine Erwerbsfähigkeit überprüfen lassen, hab ich ja mal so gar keinen Bock. Egal! Grundlegend soll ich ja einfach nur von meinem „kleinen Missgeschick“ genesen, meine „Reaktion auf die unterstützenden Medikamente beobachten lassen“ und „neue Kräfte mobilisieren“, wie es der Doc formulierte. Ob ich nun will oder nicht. Erholung auf Zwang, sozusagen. Klappt ja immer besonders gut.
Meine Ohren drücken, als wir auf einer abschüssigen Straße in ein vor uns liegendes Tal fahren. Ich lehne mich nach vorn, um sie zu massieren, wobei mein Blick unweigerlich auf meine noch immer leicht geschwollenen Füße fällt, die sich in wenig formschöne Adiletten pressen. Heute Morgen war ich noch einmal zur letzten Nachkontrolle mit Röntgen. Alles sieht gut aus. Anhand der Beweglichkeit hat der Arzt entschieden, dass ich ab heute anfangen darf, mit Krücken das Laufen zu üben, aber nur unter Aufsicht. Normalerweise können Patienten mit einer Sprunggelenkfraktur spätestens fünf Wochen nach der OP wieder ganz ohne Hilfsmittel gehen, aber durch die lange Sedierungszeit hinke ich ja praktisch drei Wochen hinterher, zumindest, was den Muskelaufbau betrifft. Wenn ich mich wegen des Muskelschwunds oder der Medikamente noch zu wackelig fühle, kann ich vorerst den Rollstuhl weiterbenutzen, so seine Empfehlung, aber ich will ja schnell gesund werden.
„In zehn Minuten sind wir da“, brabbelt der Fahrer in seinen schütteren Rauschebart und holt mich damit aus meinen Gedanken.
„Okay“, gebe ich von mir und bemerke gleichzeitig, wie meine Hände schwitzig werden. Ich reibe sie an meiner blaugrünen Yogahose trocken, auch wenn ich den geprellten Arm nur eingeschränkt bewegen kann, und atme tief durch, doch meine Anspannung steigt kontinuierlich.
‚Warum macht mich das so nervös? Schlimmer als in der Psychiatrie wird es ja wohl kaum sein ... wobei ich da ja fast nur in meinem Zimmer lag und auf der Station gerade mal zwanzig Patienten behandelt wurden. Wie viele sind in so einer Rehaklinik? Zweihundert? Dreihundert?‘
Ich mag keine großen Menschenansammlungen, außer in Clubs, da finde ich es skurrilerweise sogar ganz schön, wenn ich in der Masse an Leuten untertauchen kann. Normalerweise bin ich aber kein sehr hibbeliger Mensch oder jemand, der sich schnell aus der Ruhe bringen lässt. Vielleicht sind es die Pillen, die sie mir geben? An die ersten drei Wochen nach meinem Unfall kann ich mich kaum noch erinnern. Nur Erinnerungsfetzen von weißen Zimmerdecken, flackernden Leuchtstoffröhren und Ärzten, die sich über mich beugen, hängen in meinem Hirn fest, aber sonst ist da nichts als Watte. Sediert haben sie mich, damit ich erst mal zur Ruhe komme und keine Dummheiten mache, denn immerhin dachten sie ja, ich hätte mich umbringen wollen. Gleichzeitig bekam ich Antidepressiva, die antriebssteigernd wirken und meine Grundstimmung aufhellen sollen. Ziemlich konträr, diese Medikation, aber es dauert wohl eine Weile, bis die Muntermacher Wirkung zeigen.
‚Ich stehe das durch. Es sind nur drei Wochen! Ich muss nicht verlängern, wenn ich nicht will! Danach kann ich endlich zurück in mein altes Leben.‘
Fahrig ziehe ich mir die Ärmel über die schon wieder feuchten Hände. Das letzte Mal, dass ich so nervös war, ist ewig her. Vor der Abschlussprüfung auf jeden Fall, und plötzlich erinnere ich mich an einen ganz speziellen Abend, den ich heute am liebsten für immer vergessen würde.
‚Nein! Jetzt bloß nicht daran denken, sonst flenn ich gleich wieder los!‘, befehle ich mir selbst, denn ich spüre bereits, wie mir die Tränen kommen, und in diesem schäbigen, alten Taxi will ich auf keinen Fall einen Heulkrampf kriegen!
Ich richte mich auf, atme tief durch und denke daran, was sie mir in der Klinik beigebracht haben: Gleichmäßig atmen, innerlich von zehn auf eins runterzählen, dann neunzig Sekunden lächeln wie eine unterbelichtete Bockwurst mit Pulsschlag. Die Muskeln im Gesicht, die daran beteiligt sind, drücken auf bestimmte Nerven und signalisieren dem Gehirn, dass gelächelt wird. Dieses setzt Endorphine frei, also Glückshormone, und überflutet uns mit einer Welle des Wohlbefindens. Soweit die Theorie. In der Praxis kommt man sich einfach nur saudämlich vor und hat nach spätestens dreißig Sekunden Muskelkater in den Wangen, aber es hilft zumindest in dem Maße, dass ich meine zitternden Hände in den Griff kriege.
Ich streiche mir die Haare hinter die Ohren und ertaste dabei eine ordentlich verfilzte Stelle an der Seite, auf der ich meistens schlafe. Fast täglich verfluche ich meine dunkelbraunen Locken, besonders morgens, wenn ich aus dem Bett krieche und aussehe wie eine geplatzte Sofaecke. Doch gerade hab ich ganz andere Sorgen. Wir sind da.
Als wir in die Zufahrtsstraße zur Rehaklinik einbiegen, kommt uns eine kleine Gruppe von schwitzenden Jogginghosenträgern entgegengeschlurft, die aussehen, als kämen sie direkt aus einem Werbespot für Rheumamedikamente. Angeführt von einer schlanken, enthusiastisch wirkenden Trainerin in einer schnieken Tchibo-Sportkombi, ächzt die kleine Stockzieh-Parade an uns vorbei und ich möchte im muffigen Kunstleder des Autositzes versinken. Mein Blick schwenkt nach vorn, zur schütteren Hinterhauptplatte meines Vordermanns, die über die Kopfstütze ragt. Ich muss mich extrem zusammenreißen, ihm keine überzubraten, um dann die Karre zu übernehmen, mit quietschenden Reifen zu wenden und mit Schmackes wieder nach Hause zu brettern. Zurück in meine Wohnung, in mein kleines Home-Office, an meinen Schreibtisch mit einem XL-Pott schwarzen Kaffees, verfeinert mit Blütenhonig! Aber dort bin ich wieder allein. Allein mit all den Erinnerungen an Ben.
Schon wieder verschwimmt meine Sicht. Ein dicker Kloß macht sich in meinem Hals breit und ich verfluche mich für die dämliche Gefühlsduselei.
‚Grinsen! Loooos! Grins dich froh, als seist du der verdammte Joker!‘
Ein weitläufiger Backsteinkasten mit insgesamt vier Nebengebäuden erhebt sich vor uns und verströmt wenig erquickliche Gefängnis-Vibes. Immerhin, die Rehaklinik befindet sich inmitten eines schönen, großen Parks, und die Menschen, die davor herumlaufen, wirken nicht wie geprügelte Häftlinge, aber besonders glücklich sehen sie auch nicht aus. Bis auf einen, der sitzt auf einer Parkbank und grinst dem Himmel entgegen. Vermutlich hat er gerade ein paar Glückspillen bekommen.
Der Wagen hält vor dem Haupteingang und der Taxifahrer wählt sofort die Nummer der Klinik über seine Freisprechanlage. Es bimmelt. Eine Gruppe von altersmäßig bunt gemischten Leuten in schlecht sitzenden Ich-bleib-heut-auf-der-Couch-sitzen-Kluften schaut rauchend zu uns rüber. Wie Pilger stehen sie alle im Kreis um den heiligen Aschenbecher, der auf einer steinernen Säule in ihrer Mitte thront.
„Bad Schnietlingstein[Fußnote 3], Rezeption?“, schallt eine leicht gestresst klingende Frauenstimme durchs Auto und ich zucke zusammen.
‚Hat die gerade ernsthaft Schniedelstein gesagt? Nein. Ich muss mich verhört haben.‘
„Ja, guten Tag, Taxi Bibers“, antwortet mein Fahrer leicht nasal. „Ich steh vor Ihrer Tür und hab hier den Herrn Leopold Heidrich für Sie. Bitte mal um Übernahme mit Rollstuhl.“
„Ich schicke jemanden raus“, tönt es kurz angebunden und sie legt grußlos auf, wobei ich wieder einmal bemerke, wie sehr ich es hasse, wenn jemand meinen vollen Vornamen ausspricht. Alle meine Freunde nennen mich Leo und dabei soll es auch bleiben!
Wir warten stillschweigend. Die Rauchlinge beobachten uns währenddessen unverhohlen neugierig. Einige grinsen, scheinen Witze zu reißen, die ich zum Glück nicht höre, trotzdem gebe ich mir Mühe, mich auf meinem Sitz unsichtbar zu machen.
‚Ich will nicht hierbleiben. Ich will nach Hause! Jetzt!‘
„Ah! Da kommt ein Pfleger“, kündigt der Fahrer nach einer gefühlten Ewigkeit an und klingt richtig erleichtert, woraufhin er seine Tür öffnet und aussteigt. Auch ich strecke mich ein klein wenig, bis ich einen Mann in einem hellblauen Oberteil und weißer Hose aus dem Haupteingang kommen sehe, der einen Rollstuhl vor sich her schiebt. Augenblicklich bekomme ich Schnappatmung. Er ist ein Riese! Oder kommt mir das nur so vor? Nein. Selbst als mir der Taxifahrer die Tür öffnet, als wäre ich die Queen, wird dieser Kerl, der sich mit der wippenden Eleganz eines Nashorns nähert, einfach nicht kleiner. Wäre ja irgendwie auch unlogisch.
„Schönen guten Tag, Herr Heidrich“, sagt er in einem tief vibrierenden Bariton, der mir durch Mark und Bein geht, und ich traue mich kaum, mit meiner fahlen Vier-Wochen-indoor-Visage zu ihm aufzuschauen, doch schließlich muss ich.
Scheiße! Der Kerl hat das Kreuz eines kanadischen Holzfällers und das Gesicht einer griechischen Statue. Mit seinem Sechstagebart und den braunen, langen Haaren, die er zu einem Knödel auf dem Kopf geschnürt hat, könnte man ihn fast für eine Pornoversion von Hagrid[Fußnote 4] halten.
„Herzlich willkommen in Bad Schnietlingstein“, begrüßt er mich freundlich und streckt mir die Hand hin. „Ich bin Elgar.“
Augenblicklich muss ich mir verkneifen zu lachen, denn würde ich den Namen nicht zeitgleich auf dem zierlichen Namensschildchen lesen, das an seinen monumentalen Muskeltitten hängt, könnte ich schwören, er hätte gerade Helga gesagt! Dabei schaut er auf mich herunter, was aufgrund seiner imposanten Größe und meiner in den Sitz gesunkenen Wenigkeit durchaus bedrohlich wirken könnte, allerdings lächelt er dazu so charmant, dass sich sogar ein paar Grübchen in seinen Wangen bilden. Trotz der Valium, die ich seit einigen Wochen täglich verabreicht bekomme, kriege ich augenblicklich Herzrasen und traue mich kaum, ihm in die moosgrünen Augen zu sehen.
‚Warum muss mich ausgerechnet so eine gottgleiche Stahlschnitte in dieser beschämenden Lage sehen?‘
„Hi“, ist alles, was ich schließlich herausbekomme. Ja, ich weiß, nicht besonders eloquent, aber angesichts meines sexuell ausgehungerten Zustandes und seines Anblicks kann niemand von mir große Wortgewandtheit erwarten!
Der Berg grinst nur noch breiter und beugt sich dabei zu mir herunter. Ich bemerke, dass seine Eckzähne ein wenig hervorstehen, aber das tut seinem heißen Gesamtbild keinen Abbruch. „Schaffen Sie es alleine oder soll ich Sie aus dem Wagen heben?“, fragt er fast schon gurrend und augenblicklich schießt mir eine Ladung Blut in die südliche Mitte. Furchtbar kitschige Bilder fluten mein Hirn, in denen mich Muskel-Helga auf seinen gigantischen Walfängerarmen über die Schwelle einer Blockhütte in den Bergen trägt, mich auf ein riesengroßes Himmelbett wirft und daraufhin vollkommen hemmungslos - „Herr Heidrich?“
„Was? ... Ich ... äh ...“
Der Mann muss mich inzwischen für grenzdebil halten und bugsiert jetzt den Rollstuhl direkt vor meine Tür, um mir die Herausforderung vor Augen zu führen. „Schaffen Sie das oder soll ich helfen?“
Sein Helfen besteht vermutlich darin, das Taxi hochzuwuchten und mich rauszuschütteln, bis ich in den Rollstuhl klatsche!
„Nein, nein, ich ... ich krieg das hin!“, versichere ich, um mir wenigstens noch ein kleines bisschen Restwürde zu erhalten. Dazu richte ich meinen Schlabberhoodie und wiege mich mit dem Arsch in meiner ästhetisch gewagten Yogahose voran ins Freie, da ich mit dem geschienten Bein noch immer nicht auftreten kann.
‚Zum Glück hab ich keins dieser halboffenen Krankenhausleibchen mehr an.‘
Schon während ich mich, den Schmerz in meiner Schulter ignorierend, mit der linken Hand an der Stütze des geräderten Stuhls stabilisiere und mich mit der anderen am Einstiegsgriff des Taxis festkralle, bemerke ich das Zittern meines kümmerlichen Bizeps. Natürlich. Immerhin lag ich seit meinem Unfall fast ausschließlich im Bett.
„Gehts?“, hakt Helga irgendwann erneut nach und macht ein besorgtes Gesicht.
„Klar!“, stoße ich keuchend aus und schenke ihm einen knappen, zuversichtlichen Blick, doch er erwidert ihn nur mitleidig und schaut mich dabei an, als wäre ich fünfundachtzig, was mich maximal wurmt!
Endlich plumpse ich in mein manuell zu betreibendes Klappgefährt und beiße mir auf die Unterlippe, denn mein angeknackster Fuß schlägt dabei unsanft auf dem Betonboden auf.
„Sehr schön. Gut gemacht!“, lobt mich mein Ein-Mann-Empfangskomitee dennoch und tätschelt mir die Schulter, als wäre ich ein Vorschulkind, das ihm einen korrekt ausgemalten Otter hinhält.
„Wenn Sie das schon beeindruckt, sollten Sie erst mal sehen, wie ich mir selber die Schuhe zubinde“, flachse ich daraufhin ironisch, obwohl ich genau genommen nicht mal das könnte.
Noch während ich meine Beine auf die Fußrasten hebe, öffnet der alte Taxifahrer bereits wortlos den Kofferraum und will meinen hundertzwanzig Liter Trolley herauswuchten. Da stoppt ihn auch schon der Hüne mit einem zuvorkommenden „Oh nicht doch! Schonen Sie Ihren Rücken, ich mach das“ und hebt meinen bis oben hin vollgepackten Koffer aus dem Taxi, als wäre der eine Damenhandtasche. „Ihren Transportschein bekommen Sie an der Rezeption ausgezahlt! Also alles Gute für Sie!“
„Danke. Gleichfalls“, brummelt sein Gegenüber, gesellt sich aber erst mal zu den Patienten in die offene Raucherecke. Mein Rollstuhl ruckt kurz und Helga schiebt mich beeindruckend einhändig zum Haupteingang, während ich nur minimal mithelfen muss. In der anderen Hand trägt er mein Gepäck am Seitengriff und dennoch ist sein Schritt so leichtfüßig federnd, als befände er sich in einem Boxring.
Wir betreten, oder eher berollen, die Eingangshalle, einen durch mehrere Dachfenster lichtdurchfluteten Raum mit gut zwanzig großen Plastikpalmen zwischen den abgewetzten Kunstledersofas, die U-förmig den Empfangstresen umrahmen. Bevölkert werden diese von Knickmenschen, wie ich sie nenne, also Leuten, die den Kopf stets ungesund nach vorn geneigt halten, um auf das Handy oder Tablet in ihrer Hand zu starren. Keiner von ihnen würdigt uns auch nur eines Blickes.
Von der Rezeption erkenne ich nicht viel mehr als ein elendig langes, leicht gebogenes Brett in Eiche rustikal, auf das eine Trennwand aus transparentem Plastik gegen feuchte Aussprache montiert wurde. Dahinter erspähe ich wackelnde dunkelrote und blonde Haarbüschel. Links vom Tresen türmen sich mehrere Koffer mit Schildchen, die darauf warten, abgeholt zu werden. Entweder von der Post oder von ihren Besitzern, die ebenfalls heute angereist sind.
Gut zwei Meter vor dem Empfangskonstrukt stellt Helga mich und meinen Koffer ab, ehe er sich neben mich hockt und mich mit seinen strahlenden Augen freundlich ansieht. „Wären Sie so lieb und sagen mir, wo Sie Ihren Ausweis, Ihre Krankenkassenkarte und die Unterlagen der Klinik haben?“
‚Wärst du mal so lieb, wie ein Erwachsener mit mir zu reden? Das kann doch unmöglich dein normaler Umgangston sein?!‘
Seine Hand legt sich auf meine, fast schon vertraut. Ich schlucke schwer. Sein aromatisch frischer Deoduft bahnt sich seinen Weg in meine Nase und ich werde hart.
‚Verfluchte Abstinenz!‘
„Herr Heidrich? Die Ärzte müssten Ihnen einen Entlassungsbericht und noch ein paar Übernahmepapiere mitgegeben haben. Die will sich unser leitender Oberarzt sicher einmal durchlesen, bevor er mit Ihnen spricht.“
„Ist alles in einer blauen Mappe in der großen Fronttasche“, antworte ich leicht krächzend, denn je länger mir der Kerl so nah ist, desto mehr bleibt mir die Luft weg.
Er nickt, zieht meine Dokumente aus dem Koffer und reicht sie einer der Empfangsdamen durch eine viereckige Aussparung im Spritzschutz. Eine Sache, über die ich mich im Übrigen immer wieder wundere. Also die Papierverschwendung, meine ich! Wir leben im 21. Jahrhundert, im Zeitalter der Digitalisierung, und trotzdem müssen Behörden, Ärzte und Konsorten immer noch alles ausdrucken, die Papiere per Post versenden oder sie, wie in meinem Fall, per Bote schicken. Fehlt eigentlich nur noch ein Eilantrag auf Herunterlassen der Zugbrücke bei Überbringung!
Die kräftige Mitarbeiterin am Empfang, die kurz aufsteht, um mich zu begutachten, schaut über ihre mit Glitzersteinen besetzte Brille an Helga vorbei zu mir herunter und ich hebe krampfhaft lächelnd die Hand. Sie erwidert meine Geste, wobei ich registriere, dass sie allein an ihrer Linken sieben Ringe trägt!
‚Wenn die jemals sauer wird und Helga eine schallert, hat der noch drei Wochen später Abdrücke im Gesicht, das steht mal fest!‘ Übler als jeder Schlagring, so ein Schmuck-Bataillon.
„Seid ihr so lieb und checkt alles?“, fragt er seine Kolleginnen und stützt sich auf den Tresen, während sie sich mit meinen Akten beschäftigt. Er verlagert das Gewicht seines Körpers von einem Bein auf das andere, was ich an seiner beeindruckenden Po-Muskulatur beobachten kann, die sich in dieser Position hervorragend durch den dünnen Baumwollstoff seiner Hose abzeichnet. Zeitgleich kann ich mir jetzt sehr bildlich vorstellen, wie sich genau diese Muskelpartie rhythmisch zusammenzieht, wenn er sein Becken beim Sex nach vorn hämmert. Aber vielleicht gehört er ja auch eher zur Sparte genießender Presser, so wie mein Ex?
‚Muss ich mich jetzt schämen? Nein! Viele Männer haben Fantasien mit heißen Krankenschwestern. Also warum sollten schwule Männer dann keine Fantasien über heiße Krankenpfleger haben dürfen? Außerdem tut mir jede Ablenkung von Ben gut. Dafür bin ich doch hier ... um ihn zu überwinden ... oder nicht?‘
Die Rezeptionistin zieht offenbar ein paar Papiere aus einer ihrer Ablagen, locht sie wie ein cholerischer Ochse und holt mich mit dem unangenehmen Rumms-Geräusch aus meiner Fantasiewelt. Anschließend heftet sie alles ab.
„Doktor Burkhardt führt jetzt noch vier andere Aufnahmegespräche, er ist demzufolge frühestens in zwei Stunden wieder verfügbar. Ich melde Herrn Heidrich gleich an, damit er sich heute noch bei ihm vorstellen kann, aber es kann durchaus auch länger dauern. Hier steht, die Erstuntersuchung ist um dreizehn Uhr fünfzehn, da müsstest du ihn vermutlich noch hinbringen. Direkt danach kann sich der Patient in den Wartebereich C setzen.“ Sie steht auf, nimmt einen der unzähligen Schlüssel von den Haken hinter sich und legt diesen auf einen Stapel Papiere. „Gehst du mit ihm gleich alles durch? Auch den Check?“
„Na klar, kein Problem.“ Helga nickt und nimmt nun statt meiner alten Unterlagen die neuen in einem blauen Papphefter entgegen. „Dann bringe ich ihn jetzt erst mal auf sein Zimmer, damit er sich akklimatisieren kann.“
„Mach das.“ Sie lächelt knapp und nickt ihm zu, ehe sie sich wieder setzt und er sich umdreht, um den Dokumentenstapel mitsamt dem Schlüssel in meinen Koffer zu stecken.
„Muss ich denn gar nichts unterschreiben?“, frage ich etwas verwirrt. Mein Betreuer schüttelt nur lächelnd den Kopf.
„Doch, aber das machen wir gleich in Ruhe.“
Noch ehe ich mir überlegen kann, ob es jetzt gut oder schlecht ist, dass mich dieser Halbgott in mein Zimmer bringt, geht die schwungvolle Fahrt bereits weiter. Zu meiner Verwunderung verlassen wir das Gebäude und fahren zurück auf den Vorplatz, von dem aus wir nach rechts abbiegen.
‚Vielleicht werde ich ja jetzt in irgendeiner Garage zwischengeparkt?‘
Viele der Patienten, Männer wie Frauen, grüßen meinen Schieber und er grüßt stets freundlich zurück. Alle scheinen ihn zu kennen und zu mögen. Manche werfen mir sogar richtig neidische Blicke zu. Nach einer weiteren Kurve um einen Zierbrunnen entdecke ich eines der Nebengebäude, das ich schon vom Taxi aus gesehen habe.
„Hier?“, frage ich schließlich und Helga brummt zustimmend hinter mir.
„Hmhm. Das ist der Wohnbereich für die Herren mit Psychosomatik oberster Priorität. Sie haben Glück, das ist mit Abstand der ruhigste und schönste Bereich von allen. Direkt hinter dem Gebäude fließt ein kleiner Bach. Wenn Sie nachts das Fenster ankippen, hören Sie ihn plätschern.“ Er hält mir galant die Tür auf, damit ich hindurchrollen kann. Wahrscheinlich hat er das bei den Rentnern gelernt, die ihm dafür ein dickes Trinkgeld geben.
„Danke“, murmele ich und rolle skeptisch auf den Fahrstuhl zu. „Wie mach ich das hier, wenn ich Sie mal nicht bei mir habe? Sie werden ja jetzt kaum vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche für mich da sein?“
„Leider nein“, flachst er und drückt den Anholer. „Normalerweise ist immer einer der anderen Patienten in der Nähe und wird Ihnen sicher gerne helfen. Ansonsten gibt es auch eine Klingel. Dann kommt jemand herunter, um die Tür zu öffnen.“
„Klasse.“ Der Durchgangsfahrstuhl[Fußnote 5] öffnet mit einem hellen Bing seine Türen und ich zucke zusammen, als ich realisiere, wie winzig er ist. Als ich zögere, schiebt Helga jedoch kurzerhand erst meinen Koffer hinein, dreht mich samt Rollstuhl und bugsiert diesen rücklings so davor, dass mir die Gummilatschen nicht abgeknipst werden. Sich selbst quetscht er auch noch in den Aufzug, wobei die sich schließenden Türen bereits an seinem Knackarsch schleifen und sein linkes Knie gegen meine Sitzfläche stößt.
„Können Sie bitte die drei drücken?“ , fragt er mich und deutet auf die entsprechende Taste, welche schräg hinter mir ganz oben in der Leiste prangt.
‚Und was macht er jetzt, wenn ich nicht rankomme?‘
Die Frage reizt mich. „Ich kann leider noch nicht aufstehen“, rede ich mich heraus und verdrehe, so ungelenk ich kann, meinen Oberkörper, bis er Erbarmen zeigt.
„Schon gut, schon gut! Ich mach das ... Ich muss dafür nur kurz ...“ Er lehnt sich über mich und für einen kleinen Moment rutscht sein Hemd so weit nach oben, dass ich ein Stück seines schmalen, getrimmten Haarpfades sehen kann, der sich von seinem Schwanz bis zum Bauchnabel zieht. Ein heißer Schauer durchfährt mich und verpasst meiner Latte einen erneuten Aufschwung. „Sorry ...“, entschuldigt sich Helga, sich wieder aufrichtend, und grinst. „Der Fahrstuhl ist etwas eng, aber normalerweise sind hier auch selten Gäste mit Rollstuhl.“
‚Muss ich mich jetzt schuldig fühlen?‘
Ein Blick auf seine stattliche Beule, die sich höchstens dreißig Zentimeter von meinem Mund entfernt befindet, lässt mich diese Frage innerlich verneinen.
‚Ist das sein Normalzustand oder findet er die Situation genauso heiß wie ich?‘
„Schon gut. Stört mich nicht“, wispere ich. „Sie sind ja ein sehr attraktives Kerlchen.“
Als ich Helgas leicht perplexen Gesichtsausdruck bemerke, frage ich mich, ob ich das gerade ernsthaft laut gesagt habe, aber da lacht er plötzlich. „Also Herr Heidrich, ich bin ja schon als so einiges bezeichnet worden, allerdings noch nie als Kerlchen!“
„Verzeihung.“
Der Fahrstuhl stoppt. Es bimmelt erneut. Die Türen bewegen sich langsam auseinander und ein Typ in einer schwarzen Lederjacke will den Aufzug betreten, noch ehe dieser gänzlich geöffnet ist. Kein Wunder, denn den Blick hält er, so wie die meisten anderen Patienten, starr auf sein Handydisplay gerichtet.
„Hupps! Vorsicht, Herr Rhode“, stoppt ihn Helga und der Kerl bremst ab, ehe er gegen den hellblauen Schrank knallt. Unwirsch schaut er hoch. Unsere Blicke treffen sich und haften für einige verräterische Sekunden aneinander. Seine schwarzen Wimpern sind so lang und dicht, dass sie seinem sonst eher kantigen Gesicht etwas ungewollt Feminines verleihen. Er ist in meinem Alter und hat durch seinen Schlafzimmerblick fast schon was niedlich Verpenntes, was durch die schwarzen, offensichtlich kaputt gefärbten Haare noch unterstützt wird, die ihm in einem länger nicht mehr nachgeschnittenen high fade Schnitt vom Kopf abstehen. Nur sein Kinn ist so penibel rasiert, dass man kein einziges Follikelchen sieht.
Oh Mann. Ja, das ist einer dieser Typen, wo ich auf den ersten Blick erkenne, dass er mir sofort seinen Schwanz in den Mund schieben würde, wenn ich ihn darum bitte. Und wahrscheinlich auch woanders rein.
„Buster! Immer noch!“, grollt er plötzlich, ehe er seine Augen von mir abwendet und einen Schritt beiseite geht, damit wir ausparken können. Dabei mustert er uns auffällig und prustet kurz. „Scheiße, eure Schwänze sind ja geschwollener als die Vorträge von Doktor Buckelhart! Hab ich euch bei irgendwas unterbrochen? Wenn ihr in den Fahrstuhl gewichst habt, sagt es gleich, dann nehm ich die Treppe!“ Im ersten Moment kann ich gar nicht fassen, was der Kerl da raushaut, ohne auch nur die Miene zu verziehen. Helga scheint solche Äußerungen gewohnt zu sein, denn er belächelt die beleidigenden Worte des Patienten und ignoriert ihn, während er mich und meinen Koffer in den schmalen Flur schiebt. Ich hingegen empfinde die Situation als hochgradig unangenehm, vor allem, als der junge Bela B. Verschnitt völlig unverfroren meinen Rollstuhl festhält. „Hey! Nicht falsch verstehen, aber halt dich von unserem himmlischen Captain Polyester fern, der bricht dir nur das Herz.“
‚Ach ...? Hört sich fast an, als hätten die zwei was miteinander gehabt?!‘
Plötzlich stellt sich Helga wie eine Wand zwischen uns und schirmt mich ab. „Ich bitte Sie, sich zu entfernen, Herr Rhode.“ Jetzt scheint Schluss mit lustig zu sein. „Ihr provozierendes Verhalten ist absolut unangebracht.“
„Oh wirklich? Ist es das?“ Buster prustet. „Apropos unangebracht. War es nicht deine Zunge, die letzte Woche noch bis zum Anschlag in -“
„Sie fantasieren schon wieder, Herr Rhode! Haben Sie Ihre Medikamente genommen?“, unterbricht ihn Helga abrupt und seine Stimme klingt immer ernster. „Vielleicht sollte ich Doktor Burkhardt Bescheid geben, dass Sie schon wieder andere Patienten belästigen und sich abermals nicht an die Regeln halten!?“ Buster richtet seinen Blick auf mich, darauf verschränkt mein Schutzschild die imposanten Arme und schiebt sich erneut in seine Optik. „Er kann Sie auch genauso gut als nicht rehabilitierbar einstufen und Sie zurück ins Sankt Joseph schicken! Wie war das dort gleich mit den Vierbettzimmern und dem Segufix?“
‚Uuuuuh, Helga! Du kannst ja richtig fies sein.‘
Hörbar angepisst knirscht der Kerl nur noch mit den Zähnen, dreht wortlos ab und stiefelt die Treppe nach unten.
Helga schnaubt zufrieden wie ein alter Wasserbüffel, der einen Löwen von seiner Herde vertrieben hat, dreht um und packt meinen Rollstuhl, den er wuchtig anschiebt. „Bitte verzeihen Sie, Herr Heidrich“, entschuldigt er sich gleich, während wir an der langen Fensterfront vorbeirauschen. „Alle Menschen mit psychosomatischen Störungen haben ihr Päckchen zu tragen, besonders die mit den schweren Psychosen, aber manche sind dabei eben ... etwas anstrengender als andere.“ Er schnauft erneut, dann lächelt er wieder. „Die übrigen dreiundzwanzig Bewohner dieses Hauses sind aber deutlich erträglicher.“
„Das heißt, hier stehen nur fünfundzwanzig Plätze zur Verfügung?“, frage ich überrascht und da halten wir auch schon vor der letzten Tür im Gang, mit der Nummer fünfundzwanzig.
„Ganz genau. Hier oben ist der Wohnbereich. Der Flur geht einmal rundherum, aber ich gebe Ihnen nachher noch eine Führung und zeige Ihnen alles.“
Ich nicke. Er schließt die Tür auf und übergibt mir danach den Schlüssel, an dem ein blauer, tropfenförmiger Plastikanhänger baumelt. Ein Ikea-Traum, bestehend aus hellen Kiefermöbeln, tut sich vor mir auf. Ein Bett, ein kleiner Tisch, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank, flache Anrichten und zwei ziemlich unbequem aussehende Holzstühle, die mich an die Grundschule erinnern, schmücken den Raum. Komplettiert wird die Einrichtung von tiefroten Wandvertäfelungen, die auf Rückenhöhe enden. Dazu gleichfarbiges Linoleum! Meine erste Assoziation ist, dass dieses Zimmer wie der halbvolle Blutpool eines Vampirs aussieht, und die dämliche Holzverkleidung hasse ich jetzt schon. Wer auch immer das designt hat, gehört erschossen! Die abschließende Kante der Wandverkleidung ist viel zu schmal, um irgendwas draufzustellen, aber zu breit, als dass man sich auch nur zehn Minuten, auf dem Bett sitzend, daran anlehnen könnte, ohne die Rückenschmerzen des Todes zu kriegen.
„So, das ist jetzt Ihr kleines Reich für die nächsten drei Wochen ... oder länger.“ Er zwinkert mir zu, ich lächle hingegen nur verkrampft, denn wirklich begeistern tut mich das Ganze nach wie vor nicht, zumal der Zwischenfall mit dem Spinner eben meine Laune auch nicht gerade verbessert hat.
„Na ja ... zumindest ist es ein Einzelzimmer“, ist das Einzige, was ich derzeit an Wertschätzung über die Lippen bekomme, aber selbst dieses Fünkchen fängt Helga wie ein Positive-Energie-Junkie auf.
„Und darüber hinaus ist es eines der schönsten im ganzen Haus.“ Er zieht den Vorhang der zweiten Fensterreihe auf, über die wahrscheinlich nur die Eckzimmer verfügen, und präsentiert damit einen wirklich traumhaften Ausblick aufs Tal. Wie er bereits gesagt hat, fließt direkt hinter dem Haus ein Bach unter den Zäunen der Grundstücke entlang und ich atme innerlich auf.
‚Vielleicht wird die Zeit hier ja doch nicht so scheiße, wie ich befürchtet habe. Notfalls bleibe ich einfach im Zimmer und schreibe!‘
„Ich gebe ja zu, in Rehaeinrichtungen gibt es in der Regel nur Einzelzimmer, aber die anderen sind gerade mal halb so groß“, versucht er mir mein Domizil weiter schmackhaft zu machen. Und während ich mich frage, warum das in den Psychiatrien, wo es den Menschen ja mental noch sehr viel schlechter geht, nicht genauso Standard ist, deutet er auf meine Beine. „Das haben Sie Ihrem Rollstuhl zu verdanken.“
„Mensch. Na so ein Glück aber auch, dass ich mir den Fuß gebrochen habe! Allerdings hatte ich vor, die Woche noch mit den Krücken anzufangen. Muss ich dann nochmal wechseln?“
„Nein“, versichert er mir gleich, schließt die Tür hinter uns und fährt mich vor das holzgerahmte Bett mit der weißen Standardbettwäsche. „Sie bleiben für die Dauer Ihrer Reha hier, egal wie sich Ihr Gesundheitszustand verändert.“ Er schlägt sich entschlossen auf die Schenkel und beginnt, mir alles zu erklären und zu zeigen: das Oldschool-Telefon mit den Notruftasten auf dem Nachttisch, die unzähligen Haltegriffe und Hilfshebel auf Hüfthöhe sowie mein kleines Bad mit der Notrufschnur in der Dusche und am Klo. Außerdem erklärt er mir auch die besondere Entriegelungsmechanik der Fenster, die lediglich ein Ankippen selbiger ermöglicht. Aus Sicherheitsgründen, versteht sich. Offenbar gehen sie hier davon aus, dass man sich regelmäßig umbringen möchte. Sehr vertrauenerweckend! Deshalb vermutlich auch die blutroten Wandvertäfelungen und der gleichfarbige Fußboden, da sieht man die Flecken der ständigen Abnippler nicht so.
„Im Interesse aller Patienten herrscht ab zweiundzwanzig Uhr Nachtruhe, das heißt, dass Sie jedwede Geräuschkulisse bitte nur noch auf Zimmerlautstärke beschränken und nicht mehr im Gebäude umherlaufen.“ Nach dieser Belehrung zieht er meine neuen Dokumente aus dem Koffer, auf denen als erstes die Hausordnung prangt. „Hier steht alles im Einzelnen nochmal drauf. Lesen Sie sich die paar Seiten bitte heute Abend in Ruhe durch.“ Dann entdecke ich etwas, das wie ein Stundenplan aussieht, und auch diesen Zettel bekomme ich überreicht, zusammen mit einem Grundriss aller Gebäude. „Das ist Ihr Basisplan für die nächsten drei Tage. Ihre individuellen Kurse legen Sie mit Ihrem Psychologen und mit Doktor Burkhardt fest.“
„Aha.“ Ich nicke und schaue auf den Gebäudeplan. „Das heißt, ich roll hier morgen durch die Gegend und versuche, die Räumen zu finden, in die ich muss?“
„Ja, aber die Wege merkt man sich schnell“, versichert mir Helga und zieht sich den Stuhl heran. „Spätestens übermorgen wissen Sie schon, wo der Speisesaal ist und wo sich die Aufenthaltsräume befinden. Der medizinische Dienst ist direkt hier im Gebäude, damit Sie nicht ins Haupthaus rüber müssen, sollte es Ihnen mal nicht gut gehen, und der Morgentreff findet auch immer im selben Raum statt! Übrigens nehmen daran nur die Patienten dieser Station teil, damit sie mehr unter sich sind. Das ist wichtig für die Intimität bei den psychosozialen Gruppengesprächen.“
„Und was, wenn ich keine Intimität mit den anderen Patienten will?“, schnaufe ich frustriert. „Ich halte ehrlich gesagt nicht viel von Gruppentherapien und denke auch nicht wirklich, dass ich hierher gehöre! Ich brauch das alles nicht! Es geht mir gut!“
Ein weiterer Tätschler landet auf meiner Schulter und sein stirnrunzelndes Lächeln drückt Mitleid aus. „Das besprechen Sie am besten nachher mit unserem Oberarzt. Vielleicht entlässt er Sie ja auch schon eher.“
Ich sehe an seinem Gesichtsausdruck, dass diese Option äußerst unwahrscheinlich ist. Zumal ich dann die Vereinbarung mit meinem alten Doc brechen würde.
„Na schön, was solls.“ Ich gebe auf und bemerke nun, da sich meine Libido beruhigt hat, einen unangenehmen Druck in meiner Blase. „Wenn es für Sie okay ist, würde ich dann gern erst mal pinkeln gehen. Ich hab auf der Fahrt zwei von diesen großen Wasserflaschen ausgetrunken.“ Ohne seine Antwort abzuwarten, bewege ich den Rollstuhl mit den Händen Richtung Bad.
„Soll ich Ihnen dabei helfen?“, fragt er dienstbeflissen und springt auf, doch ich schüttle sofort den Kopf.
„Wenn Sie mir den Schwanz halten, kann ich nicht mehr schiffen. Also danke, aber nein.“
Da lacht er verschmitzt und zwinkert mir zu. „Eigentlich wollte ich Sie nur auf die Toilette heben, aber gut, dann lass ich Sie jetzt erst mal in Ruhe ankommen, damit Sie sich frisch machen und auspacken können. Wenn Sie Hilfe brauchen, ziehen Sie an einer der roten Notfall-Strippen oder rufen im medizinischen Dienst an.“ Dabei deutet er auf das prähistorische Telefon auf dem Nachttisch. „Durchwahl null, null, zwei, dann landen Sie direkt im häuslichen Schwesternzimmer.“
‚Witzig. Also ist er eine Schwester? Seltsam, dass es dafür noch keinen modernen Begriff gibt, der auch die Männer mit einschließt. Oder ist Schwesternzimmer tatsächlich ein Synonym für das hiesige Homostübchen?‘
„Alles klar“, bestätige ich knapp und manövriere mich ins Badezimmer, während Helga schon die Zimmertür öffnet.