Schattenjunge - Vaelis Vaughan - E-Book

Schattenjunge E-Book

Vaelis Vaughan

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Beschreibung

"Ob es mir gut geht? Erst verschwindet mein bester Freund spurlos, dann schöpfe ich endlich neue Hoffnung, verliebe mich und plötzlich wache ich angekettet in einem Keller auf ... Nein, es geht mir nicht gut, verflucht!" Schattenjunge (Einzelband - in sich geschlossene Geschichte) Print 502 Seiten inkl. Illustrationen Genre: Gay Dark Romance / LGBT / Abduction (Entführung) Jessie und Levin sind seit der Oberstufe des Gymnasiums beste Freunde, obwohl sie nicht viel gemeinsam haben. Im Grunde eint sie nur ihre Vorliebe für attraktive Männer und die Sehnsucht, der homophoben Kleinstadt, in der sie leben, schnellstmöglich den Rücken zu kehren. Ihr Plan, eine Zweier-WG in der Großstadt zu gründen, gerät jedoch ins Wanken, als der extrovertierte Jessie, kurz vor den Prüfungen zum Abitur, einen heißen Beachboy im Internet kennenlernt und sich in ihn verliebt. Aufgeregt vereinbart er nur wenig später ein Treffen mit seinem Schwarm, doch nach dieser Begegnung verschwindet er spurlos. Levin kann und will nicht glauben, dass ihn sein Freund ohne ein Wort zurückgelassen hat, um mit dem Fremden durchzubrennen, auch wenn alle anderen genau davon überzeugt sind. Er beschließt, ihn auf eigene Faust zu suchen, aber was er dabei herausfindet, übertrifft seine schlimmsten Befürchtungen. Warnung: Diese Geschichte beinhaltet mehrere explizite, sexuelle Szenen und ist auf ihre ganz eigene, besondere Art ironisch, witzig und romantisch. Trotzdem ist sie in erster Linie ein Thriller und enthält daher auch Handlungsstränge, die für sensible Menschen vielleicht verstörend sind. Eine Auflistung der einzelnen Trigger findest du im Impressum, diese spoilern jedoch Teile der Story und könnten dich gegenüber einigen Protagonisten voreingenommen werden lassen!

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Schattenjunge - Klappentext
Prolog
Kapitel 1 - Aufbruchstimmung
Kapitel 2 - Ruhelos
Kapitel 3 - Im Dunkeln
Kapitel 4 - An der Leine
Kapitel 5 - Nähe und Hass
Kapitel 6 - Wendepunkt
Kapitel 7 - Reue
Kapitel 8 - Schneeengel
Kapitel 9 - Schattenjunge
Nachwort
Danksagungen
Impressum
Triggerwarnung
Fußnoten

Schattenjunge - Klappentext

Thriller / Crime / Dark Romance / LGBT / Abduction

Jessie und Levin sind seit der Oberstufe des Gymnasiums beste Freunde, obwohl sie nicht viel gemeinsam haben. Im Grunde eint sie nur ihre Vorliebe für attraktive Männer und die Sehnsucht, der homophoben Kleinstadt, in der sie leben, schnellstmöglich den Rücken zu kehren. Ihr Plan, eine Zweier-WG in der Großstadt zu gründen, gerät jedoch ins Wanken, als der extrovertierte Jessie, kurz vor den Prüfungen zum Abitur, einen heißen Beachboy im Internet kennenlernt und sich in ihn verliebt. Aufgeregt vereinbart er nur wenig später ein Treffen mit seinem Schwarm, doch nach dieser Begegnung verschwindet er spurlos. Levin kann und will nicht glauben, dass ihn sein Freund ohne ein Wort zurückgelassen hat, um mit dem Fremden durchzubrennen, auch wenn alle anderen genau davon überzeugt sind. Er beschließt, ihn auf eigene Faust zu suchen, aber was er dabei herausfindet, übertrifft seine schlimmsten Befürchtungen.

 

Warnung: Diese Geschichte beinhaltet mehrere explizite, sexuelle Szenen und ist auf ihre ganz eigene, besondere Art ironisch, witzig und romantisch. Trotzdem ist sie in erster Linie ein klassischer Thriller und enthält daher auch Handlungsstränge, die für sensible Menschen vielleicht verstörend sind. Eine Auflistung der einzelnen Content-Punkte findest du im Abschnitt „Triggerwarnung“, diese spoilern jedoch Teile der Story und könnten dich gegenüber einigen Protagonisten voreingenommen werden lassen.

 

Vaelis Vaughan

 

Prolog

 

Quälend langsam zieht mich ungleichmäßiges Rauschen ins Bewusstsein zurück, doch mein Kopf ist vollkommen leer. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, liege nur bewegungslos auf dem Rücken und habe das Gefühl, als würde ich schweben.

Alles um mich herum scheint sich zu drehen, obwohl meine Augen geschlossen sind. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit verliert sich dieser seltsam watteartige Zustand, und zusammen mit einem dumpfen, anschwellenden Schmerz versuche ich, die Augen zu öffnen.

Es geht nicht. Verwirrt fasse ich mir ins Gesicht und ertaste dicke Krusten.

‚Nicht schon wieder eine Bindehautentzündung‘, ist der erste, wirklich klare Gedanke, der mir in den Kopf kommt. Meine Wimpern sind so verklebt, dass ich mit den Fingern nachhelfen muss, die oberen von den unteren zu lösen. ‚Oh Mann, so schlimm war es ja ewig nicht mehr!‘

„Aaau“, keuche ich, als ich meine Lider schließlich trotz Schmerzen auseinanderziehe, aber auch nachdem meine Augen endlich offen sind, sehe ich nichts als absolute Finsternis um mich herum.

‚Was ...? Bin ich in meinem Bett?‘

Ich fühle etwas durchgehend Weiches unter mir, vermutlich meine Matratze, außerdem bin ich zugedeckt. Der Schmerz wird immer schlimmer, je wacher ich werde. Ein furchtbares Pfeifen quält meine Ohren und ich habe keine Ahnung, was passiert ist. So langsam werde ich mir auch des muffigen Geruchs bewusst, der mich umgibt. Eine Mischung aus feuchtem, modrigen Stoff und verschwitzten Socken.

Es dauert noch eine Weile, bis ich es schaffe, die Arme über die Bettkante Richtung Boden zu bewegen, der sich wie kalte, nasse Feldsteine anfühlt. Was das bedeutet, liegt allerdings außerhalb meiner Vorstellungskraft. Mein Mund ist klebrig-trocken, mein Bauch tut weh und mir ist furchtbar übel, aber viel schlimmer ist das hämmernde Pochen in meinem Kopf, das Stück für Stück all die übrigen Sinne übertönt.

Dann ertaste ich einige Schürfwunden an meinen Schienbeinen und erinnere mich, dass ich auf Betonboden gekniet habe.

‚Aber warum?‘

Ich weiß nur noch, dass ich zu Hause war.

‚Ja, ich war alleine in meinem Zimmer und dann ... Was ist denn bloß passiert?‘

Mit einem Mal fällt mir ein, dass mir kalt war und dass ich gesehen habe, wie die Straßenlaterne vor unserer Haustür geflackert hat.

‚Ich muss rausgegangen sein ... aber wieso? Hat es geklingelt?‘

Beim Heranziehen meiner Beine an den Körper bemerke ich, wie etwas außerhalb der Zudecke rasselt, kurz darauf berühren meine Finger eine kalte Metallmanschette an meinem linken Fußgelenk.

‚Was ... Was ist ... Ich bin angekettet!‘

„Oh nein! Nein, nein, nein, nein!!!“ Augenblicklich bekomme ich Panik. „Hilfe!!! Ist da irgendwer? Hallo?“, rufe ich ängstlich in die Dunkelheit, brüchig und wimmernd wie sonst nie, und prompt höre ich Schritte, die sich rasch nähern. Ehe ich mich versehe, reißt jemand die Tür auf und grelles Licht blendet mich so sehr, dass ich die Augen zukneifen muss.

„Halt die Klappe!“, schnauzt mich mein Gegenüber lautstark an und ich hebe den Arm, um meine schmerzenden Augen zu schützen. „Wenn du nicht still bist, zieh ich dir noch eine über den Schädel und dann wachst du nicht mehr auf. Hast du verstanden?“

‚Diese Stimme ...?‘

Ich zittere vor Angst, als ich mir des winzigen, zellenartigen Raumes bewusst werde, in dem ich mich befinde, aber als ich die Person vor mir ansehe, bekomme ich kein Wort mehr heraus. Sofort macht er einen bedrohlichen Schritt auf mich zu und brüllt erneut, wobei er drohend den Finger hebt. „Ob du verstanden hast, hab ich gefragt!?“

Ich schaffe es, zu nicken, und zum Glück reicht ihm das, denn mehr bringe ich gerade nicht zustande. Erst hatte ich ihn gar nicht erkannt, doch jetzt weiß ich genau, wer da vor mir steht. Sein Gesicht war das Letzte, was ich sah, bevor ich das Bewusstsein verlor.

Tränen steigen mir in die Augen. Ich weine sonst nie, doch in diesem Augenblick überkommt mich die Angst so heftig, dass ich ungebremst losschluchze.

‚Was hat der mit mir vor? Was hab ich ihm getan, um so etwas zu verdienen?‘

„Hör auf zu flennen, du Pussy!“, grollt mein Peiniger angewidert und zeigt auf eine alte, ranzige Metallschüssel in der Ecke des kleinen Raumes. „Wasch dich lieber mal und putz dir die Zähne, du stinkst ekelhaft!“

Daraufhin dreht er sich um und geht. Kein weiteres Wort, keine Erklärungen, keine Prophezeiungen. Die Tür knallt hinter ihm zu und ich sitze wieder im Dunkeln.

Erst bin ich so geschockt, dass ich mich gar nicht bewegen kann. Doch dann verlasse ich wie an Fäden gezogen das Bett. Dabei spüre ich, wie mir eine sämige Flüssigkeit über die Innenschenkel gen Boden rinnt.

 

 

Kapitel 1 - Aufbruchstimmung

Donnerstag, 23. März 2006

 

„Wo bleibt der nur?“

Seit fast zwanzig Minuten tigere ich nämlich bibbernd um das Wartehäuschen der Bushaltestelle, schaue immer wieder auf mein Handy und kann nicht fassen, dass er ausgerechnet heute zu spät kommt, wenn wir zur ersten Stunde Bio haben.

In meinem Discman dreht Elizium seine Kreise, meine Lieblings-CD von Fields Of The Nephilim. Gerade läuft Sumerland, der Song, den ich praktisch seit Jahren in Dauerschleife höre, und passend dazu ist meine Laune des Todes!

Zähneknirschend drehe ich noch eine Runde und lehne mich dann, auf der Bordsteinkante balancierend, nach vorn, um etwas mehr vom Kreisverkehr am Straßenende zu erkennen, doch ich kann ihn nirgends entdecken. Und das würde ich, denn Jessies Kleiderschrank beinhaltet ausschließlich Leuchtbojen-Klamotten in allen möglichen Neonfarben, die einem schon auf hundert Meter Entfernung die Netzhaut von den Augen ätzen. Vor allem mir, der immer nur augenfreundliches Tiefschwarz trägt.

„Mann ey, diese Bummeltrine! Wenn der in fünf Minuten nicht hier ist, gehe ich ohne ihn rein!“

Seitdem ich Jessie, also eigentlich Jesper, in der Abiturstufe kennengelernt habe, besucht er praktisch nahezu alle Kurse mit mir zusammen und das, obwohl ich ihn anfangs nicht mal wirklich leiden konnte. Ich war zu dem Zeitpunkt bereits auf dem Gymnasium, er aber wechselte erst nach Abschluss der zehnten Klasse von der Realschule rüber, mit Ach und Krach. Optisch könnten wir nicht weiter voneinander entfernt sein und auch charakterlich sind wir sehr konträr, aber trotzdem verstehen wir uns ... irgendwie. Na ja, wie war das noch? Gegensätze ziehen sich an?

Inzwischen sind wir jedenfalls in unserem Abschlussjahr, die schriftlichen Prüfungen stehen kurz bevor und die mündlichen sind spätestens Anfang Juli vorbei. Dann haben wir es geschafft! Bis dahin treffen wir uns aber noch jeden Morgen hier an der Bushaltestelle und gehen dann gemeinsam in den Unterricht. Das Gymnasium ist keine zweihundert Meter von der Haltestelle entfernt, an der ich täglich um Punkt sieben Uhr dreißig aussteige. Im Gegensatz zu mir wohnt Jessie praktisch um die Ecke und kommt deshalb immer mit dem Fahrrad oder zu Fuß, meistens auf den letzten Drücker.

Abermals schaue ich auf mein schickes, neues Nokia 6280, das ich zum Geburtstag bekommen habe, und schnaufe genervt, während ich mir durch die dunkelbraunen Haare fahre, die vor einem halben Jahr mal so was wie einen Bro-Flow-Haircut hatten. Die fünf Minuten sind um, also reiße ich mich schweren Herzens los und laufe zügig in Richtung Haupteingang der Schule. Mit dem Schrillen der Unterrichtsklingel öffne ich die Tür zum Kursraum, ernte einen strafenden Blick von Frau Moers und setze mich schnell.

„Na, aber gerade noch so!“, mahnt mich die abgemagerte Mittvierzigerin und klimpert demonstrativ, so wie immer, mit ihrem Schlüssel. Dann geht sie zur Tür und betätigt den kleinen Riegel, den sie angebracht hat, seit sie wegen dem Brandschutzgesetz nicht mehr richtig abschließen darf. Der Riegel ist zwar genauso fies, aber rechtens, soweit ich weiß, auch wenn die meisten anderen Lehrer mit Zuspätkommern deutlich lockerer umgehen. Nach dieser Aktion gibt sie einen Stapel mit umgedrehten Fragebögen an Erwin weiter, ihren Lieblingsschüler, der sofort aufspringt und diesen dienstbeflissen entgegennimmt. „Wir beginnen heute mit einem kleinen Zwischentest!“ Der ganze Kurs stöhnt auf, doch das entlockt ihr nur ein schiefes Lächeln. „Ja, ja! Ich hatte Ihnen eingebläut, übers Wochenende zu lernen! Wenn ich Sie dabei erwische, wie Sie spicken oder vom Nachbarn abschreiben, bekommen Sie direkt 0 Punkte!“ Sie erinnert uns jedes Mal daran, als ob wir die Regel nicht längst kennen würden, aber manchmal glaube ich, sie will einfach auf ihrem Fünkchen Macht herumreiten, um sich besser zu fühlen. Dann wartet sie, bis ihr kleiner Lemming alle Blätter verteilt hat, kontrolliert noch einmal, dass wir nichts außer einem Stift auf dem Tisch liegen haben, und hebt ihren Zeigefinger. „Sie haben zwanzig Minuten Zeit! Also, jetzt den Zettel umdrehen und lo-“ In dieser Sekunde drückt jemand wuchtig die Klinke und will rein, kann aber nicht. Moers bleibt eiskalt und keift nur biestig in Richtung Tür: „Zu spät! Sie dürfen die Stunde verbummeln und sich den Stoff nachher von Ihren Mitschülern geben lassen!“

Nicht nur das. Selbstverständlich sind auch alle unentschuldigt Nichtanwesenden automatisch durchgefallen, weshalb es inzwischen kaum einer ihrer Kursteilnehmer mehr wagt, zu spät zu kommen.

„Echt jetzt? Wegen zwei verfickten Minuten?“, verteidigt sich der Ausgesperrte in angekotztem Tonfall und sofort erkenne ich, dass es Jessie ist.

„Entfernen Sie sich oder ich rufe die Polizei!“, reagiert die Moers schroff.

„Boah ey! Haben Sie etwa noch nie verschlafen? So was ist menschlich! Ziehen Sie sich mal den Stock aus dem Arsch!“

Ja, eindeutig Jessie.

Der gesamte Kurs kichert. Frau Moers wird ganz rot im Gesicht und braucht einige Sekunden, ehe sie zur Tür stapft, um die Identität des Übeltäters herauszufinden, denn außer Jessie fehlen noch drei weitere Kursteilnehmer. „Dafür erhalten Sie einen Verweis! Solche Aussagen sind eindeutig unter der Gürtellinie!!!“

„Genau wie Ihre Titten!“

„Was?“ Wutentbrannt zieht die Lehrerin den Riegel zurück, reißt die Tür auf, doch da scheint ihr Widersacher bereits verschwunden zu sein, denn sie keift in den augenscheinlich leeren Flur.

Wenigstens hatten wir anderen während dieser kleinen Show genügend Zeit, um zu spicken.

***

„Alter, was war das denn vorhin für ‘ne Nummer?“, frage ich Jessie lachend, als ich ihn auf dem Pausenhof entdecke und auf ihn zulaufe. Er raucht dort, wie immer.

„Es waren zwei verdammte Minuten!“, murrt er und bläst dabei eine Rauchschwade in die Luft. „Meine Fresse, ich kann ja verstehen, dass der Stock in ihrem Arsch der einzige Sex ist, den sie noch hat, aber bin ich schuld daran? Ganz sicher nicht!“

Ich schüttle grinsend den Kopf und setze mich neben ihn auf die Raucherbank, auch wenn ich selbst kein Anbeter des heiligen Glühstummels bin. Dabei reiche ich ihm kommentarlos meine Aufzeichnungen aus der letzten Doppelstunde, wofür er sich nicht bedankt, aber das bin ich gewohnt. Er bedankt sich nie für irgendwas, das mit Lernen zu tun hat.

Obwohl er recht egoistisch ist, mag ich Jessie mittlerweile echt gern. Ja, er ist ein Chaot, ziemlich unzuverlässig und manchmal etwas derb, aber mit ihm gibt es immer was zu lachen, und abgesehen davon ist er, neben mir, der einzige geoutete Schwule an unserer Schule. Wobei geoutet in meinem Fall eigentlich gar nicht stimmt, denn die meisten vermuten es nur, weil ich mit ihm abhänge.

„Du hast echt Glück, dass heute noch drei andere gefehlt haben und sich die Moers unsere Stimmen nicht merken kann. Sonst wärst du längst beim Direx.“

„Die Sechs hab ich trotzdem drin.“ Abermals nimmt er einen tiefen Zug, wobei der türkise Metalliclack auf seinen Nägeln in der Sonne schimmert. Dann schnippen seine grazilen Finger die Fluppe zu Boden, die er gleich darauf mit einem seiner pinken Sneaker austritt. „Wenn mein Alter davon Wind kriegt, kann ich mir wieder was anhören!“

„Wird er nicht. Die Moers geht mit den Sechsen fürs Fehlen nicht hausieren“, versuche ich ihn zu beruhigen, denn ich weiß, wie schwierig das Verhältnis zu seinem Vater ist. Seine Mutter starb vor Jahren an Krebs und sein Erzeuger ist ein homophober Arsch, wegen dem er kaum zu Hause ist. Oft muss er sich mehrfach umziehen, damit er ihn nicht in seinen flippigen Klamotten sieht. Glücklicherweise arbeitet sein alter Herr als Taxifahrer, kommt meist erst sehr spät heim und schläft dann bis mittags, ehe er wieder abhaut.

„Wieso bist du heute eigentlich so spät aufgetaucht? Verpennt?“

Von der einen Sekunde zur anderen verfliegt Jessies schlechte Laune und er grinst bis zu den Ohren. „Ne, ich wurde sogar pünktlich um sechs geweckt. Ich kam nur nicht so schnell aus dem Bett raus, wenn du verstehst ...“

„Nein! Dieser geile Typ aus dem Netz?“ Sofort reiße ich interessiert die Augenbrauen hoch und versuche, meinen aufkeimenden Neid niederzudrücken.

„Genau der!“, flötet Jessie geradezu beschwingt und fächelt sich Luft zu. „Ich sag‘s dir Levi, der Kerl ist ein Tier!“

„Mäuse sind auch Tiere“, grummle ich eifersüchtig, doch darüber lacht er nur.

Ich kenne mich nur mäßig mit Computern und diesem ganzen Internet-Zeug aus, weil ich selbst immer noch keinen besitze, aber Jessie will mal in der IT-Branche arbeiten. Bei allem, was Technik betrifft, ist er ein richtiger Nerd, der sofort den neuesten Scheiß hat, sobald der auf dem Markt ist. Handys, PCs, Konsolen ... einfach alles. Woher er das Geld dafür nimmt, sagt er nicht, aber ich vermute, er klaut regelmäßig was aus dem Safe seines Vaters, seit er ihn mal heimlich bei der Eingabe des Codes beobachtet hat. Der Typ ist nämlich ziemlich staatsparanoid, lagert alles zu Hause und hat keinen Cent auf der Bank. Als Jessie mir nun Ende letzter Woche von seiner Begegnung der dritten Art berichtete, wollte ich ihm erst gar nicht so richtig glauben. Er übertreibt nämlich gerne und verliebt sich ständig in irgendwelche Heten, sobald die ihn auch nur einmal anlächeln. Aber dann hielt er mir ein gutes Dutzend heißer Fotos unter die Nase, die ihm dieser Kerl geschickt hatte, und ich dachte wirklich, er will mich auf den Arm nehmen. Sie zeigen einen traumhaft athletischen Beachboy mit blonder Surfermähne, aber auf keinem der Bilder war sein Gesicht richtig zu sehen. Die beiden haben sich auf irgendeiner dieser neumodischen Single-Seiten kennengelernt, die gerade wie Pilze aus dem digitalen Boden schießen, und schon nach der ersten Nachricht haben sie angeblich stundenlang telefoniert. Trotzdem klingt der Flirt mit seinem großen, durchtrainierten, witzigen Traumprinzen einfach zu schön, um wahr zu sein.

„Sag bloß, ihr hattet -“

„Nein, noch nicht“, zischt er mir dazwischen, streicht sich ungewohnt verlegen eine seiner blondierten Strähnen zurück und schaut sich um, ob die anderen auch ja außer Hörweite sind. „Er hat mich heute früh angerufen, um mich zu wecken, weil ich ihm erzählt hab, dass ich immerzu verschlafe.“ Er seufzt sehnsüchtig. „Ich meine ... welcher Typ macht so was? Gott, er ist so süß!“

‚Sollte ich ihm sagen, dass mir seine Schwärmerei tierisch auf den Sack geht? Nein, lieber nicht.‘

„Ich hatte natürlich wieder ’ne Morgenlatte vom Feinsten“, dabei formt er Daumen und Zeigefinger zu einem O. „Und als ich dann auch noch seine geile Stimme gehört hab, musste ich einfach wichsen. Er kam selber gerade erst aus dem Bett und hatte so einen verpennten Bass in seiner Stimme, da schoss mir jedes Wort direkt in die Kuppe. Tja, daraus entwickelte sich dann spontan eine saftige Runde Telefonsex ... und so was ist verdammt nochmal wichtiger als der scheiß Pollenflug in Zentral-fucking-China!“

Seufzend nicke ich und kann natürlich verstehen, dass man sich so eine Gelegenheit nicht entgehen lassen will. Vor allem nicht Jessie, der seit über zwei Jahren von nichts anderem mehr redet, als endlich unser Kaff zu verlassen und sich durch alle Gay-Bars der umliegenden Städte zu lutschen. Ich bin da etwas konventioneller. Ich möchte erst mal einen festen Freund ... und dann an dem herumlutschen! Außerdem ist mir ein gutes Abizeugnis wichtig und das würde ich für keinen Kerl der Welt aufs Spiel setzen. Allerdings will auch ich möglichst bald von hier abhauen. Wenn alles glattgeht, haben Jessie und ich noch in diesem Jahr unser Abitur und dann gründen wir eine WG! Zumindest haben wir uns das fest vorgenommen und schmieden sogar schon handfeste Pläne dafür. Wenn wir bei ihm sind, suchen wir im Internet bereits bezahlbare Dreiraumwohnungen in schwulenfreundlichen Städten heraus, stöbern nach Einbauküchen, streiten über Tapeten für unser gemeinsames Wohnzimmer und so weiter. Natürlich ist das alles noch mehr Jux als Ernst, aber es macht Spaß und der Gedanke, möglichst schnell aus diesem kleinkarierten Kacknest wegzuziehen, fühlt sich einfach richtig an.

Ein Blick auf mein Handy sagt mir, es ist Zeit. „Wir sollten langsam rüber, sonst lässt uns der Meyer auch nicht mehr rein.“

Jessie verdreht die Augen, erhebt sich jedoch und zieht sich die neongrüne Hose zurecht, ehe er nach seinem violetten Plüschfellrucksack greift. Der Tuschkasten-Style war schon immer seins. „Ich sag’s dir, wenn mich die Lehrer weiter so ankotzen, scheiß ich aufs Abi, Schätzchen! Mal ernsthaft, für mich gibt es gerade so viel Wichtigeres!“

„Zum Beispiel?“

„Dicke Schwänze!“, blökt uns Steveplötzlich durch den Zaun dazwischen, lacht und packt sich an die Klöten, was seine beiden Gefolgsleute, Andy und Mike, exorbitant witzig finden.

„Ach, für dich auch?“, kontert Jessie und lacht ebenfalls, aber ich merke gleich, dass es aufgesetzt ist. „Siehst du, Levi! Ich hab dir doch gesagt, dass klein Stevie gerne an dicken Riemen nuckelt!“

Ich schlucke geschockt.

‚Das hast du jetzt nicht ernsthaft laut gesagt!‘

Unmerklich gehe ich einen Schritt rückwärts, denn die drei homophoben Vollpfosten, die beinahe jeden Tag am Zaun unseres Gymnasiums stehen, um ihre Mädels zu checken, gehören zu den Neonazis im Ort, und gerade dieses Alpha-Brot hat uns auf dem Kieker! Wenn auch in erster Linie Jessie, mit dem er in derselben Grundschule war. Er selbst hat mit Mühe die sechste Klasse geschafft. Seitdem hartzt er fröhlich mit seiner Familie vor sich hin, reißt permanent dämliche Sprüche, pöbelt rum und mobbt eigentlich alles und jeden, genau wie sein älterer Bruder, der ebenfalls zur rechten Szene gehört. Allerdings scheint Steve auch ein heimlicher Hip-Hopper zu sein, denn seine viel zu großen Hosen hängen ihm grundsätzlich auf halb acht, sodass die Hälfte seiner Unterbuxe herauslugt. Immer wenn ich ihn sehe, überkommt mich das dringende Bedürfnis, ihm die Hose bis zu den Nippeln hochzuziehen und Hosenträger mit rotem Karomuster dranzupappen, damit er aussieht wie sein Namensvetter Steve Urkel!

„Du, nicht ich!!!“, korrigiert er nun sofort und krempelt die Ärmel hoch. „Ihr zwei seid die einzigen Perversen hier!“

„Da wär ich mir nicht so sicher.“ Mein bester Freund lässt kurz die Augenbrauen hüpfen und sieht den Proll vielsagend an, ehe er zu meinem Entsetzen noch einen drauflegt. „Du bist doch einer von denen, die andere vom Fahrrad schubsen, um am Sattel zu riechen, da bin ich mir sicher!“

„Jessie!“ Ein beträchtlicher Schweißausbruch überkommt mich.

„Pass auf, was du sagst, Schwuchtel!“, zischt Steve plötzlichplump drohend, doch in diesem Moment deutet Jessie auf den Aufsichtslehrer, der soeben aus der Turnhalle kommt und die drei Zaunfinken in Springerstiefeln bereits argwöhnisch beobachtet. Angesichts dessen bleibt er gelassen.

„Wie war das noch mit den getroffenen Hunden, die bellen? Na ja, egal. Wie wär‘s denn, wenn ihr drei Schwachmaten endlich mal eine Ausbildung macht? Dann wäre euch auch nicht immer so langweilig und ihr würdet der Menschheit nicht den ganzen Tag auf den Sack gehen!“

Manchmal denke ich echt, er möchte eins auf die Schnauze. Steves Schläfe pocht jedenfalls schon sichtbar.

„Lass uns abhauen! Los!“, zische ich Jessie zu und will endlich raus aus der angespannten Situation, aber mein Freund bleibt stehen und nutzt den fragilen Schutz, den er gerade hat, um seinem Gegenüber weiter die Meinung zu geigen.

„Mal ehrlich, Steve, du wärst sicher ein fabelhafter Straßenfeger-Assistent! So halbwegs freundlich jemandem einen Besen reichen, wirst doch selbst du können, oder?“

Steve tritt impulsiv gegen den Zaun. „Na warte, du kleiner, räudiger -“, er unterbricht sich kurz, denn die Aufsicht führende Lehrkraft kommt bereits auf uns zu. „Du bist tot, Schwuchtel!“, droht er unmissverständlich, bleckt dabei seine gelb verfärbten Zähne und tritt erneut gegen den Pfosten, ehe er sich mit seinen Freunden vom Acker macht.

Jessie packt mich am Arm und zieht mich in Richtung des Haupteingangs, wobei ich deutlich merke, wie seine Hand zittert. „Komm Levi, wir müssen jetzt zu unserem zauberhaften Mathekurs!“

Wir verschwinden um die Ecke und ich reiße mich los. „Alter, bist du von allen guten Geistern verlassen? Du kannst die Typen doch nicht so provozieren! Willst du, dass die uns nach der Schule irgendwo auflauern?“

„Nun mach dir mal nicht ins Hemd“, sagt er großspurig, dennoch sehe ich genau, dass die Sache nicht spurlos an ihm vorbeigegangen ist. Er ist kalkweiß und zittert, trotzdem scheint er es nicht zu bereuen und atmet nur einmal tief durch, um sich zu beruhigen. „Ich bin es einfach so leid, Levi! Wie lange sollen wir uns die dummen Sprüche von diesen Pissern denn noch gefallen lassen? Der Wichser schikaniert mich schon seit meiner Kindheit, aber seit er volljährig ist, packt er mich nicht mehr an, so schlau ist er immerhin. Soll er mich doch verkloppen, dann hab ich endlich einen rechtskräftigen Grund, ihn und seine ganze inzestuöse Sippschaft vors Gericht zu ziehen! Jahrelanges Mobbing ist dem Staat scheißegal, es muss immer erst handgreiflich werden!“

Ja, Jessie musste sich schon so manches anhören, allein wegen seines Kleidungsstils, mit dem er ja auch auffällt wie der sprichwörtliche bunte Hund. Einmal wurde er von völlig Fremden sogar auf offener Straße bespuckt und beschimpft. Doch was ich bis heute insgeheim an ihm bewundere, ist, dass er seinen Bullys nie zeigt, wie sehr ihn solche Dinge emotional verletzen. Erst wenn er zu Hause ist, weint er manchmal und schreit seine Wut heraus, sofern sein Vater nicht da ist, und selbst mir hat er das erst vor wenigen Wochen anvertraut.

„Zwischen sich alles gefallen lassen und bis aufs Blut reizen gibt es aber einen Unterschied“, gebe ich zu bedenken und lege den Kopf in den Nacken. „Du weißt, wozu die fähig sind! Wenn der dich den Bordstein fressen lässt,[Fußnote 1] dann war‘s das endgültig und du kannst ihn von einem schwulen Wölkchen aus verklagen!“

Jessie schnauft, als würde er lachen, doch dabei beißt er bereits die Zähne zusammen. „Ich schwöre dir“, verkündet er schließlich, „sobald sich die erstbeste Gelegenheit ergibt, bin ich weg! Ich kann‘s kaum erwarten, all diese ignoranten, kleinkarierten Wichser meinen Staub fressen zu lassen!“

„Nicht nur du ...“, antworte ich ihm seufzend und klopfe auf seine Schulter. „Wir ziehen das gemeinsam durch, aber lass uns bitte damit warten, bis wir den Abschluss in der Tasche haben.“

„Kann ich nicht versprechen“, wehrt er ab, aber zumindest grinst er wieder, denn in dieser Sekunde bimmelt sich eine neue MMS auf sein golden glitzerndes Handy, die er sofort öffnet. Es ist ein Foto der zugegeben echt stattlichen, steifen Gurke seines Lovers ...

‚Super. Die wird jetzt den Rest des Tages mein Hirn penetrieren!‘

***

„Hi, Spatz“, ruft mir meine Mutter bereits zu, als ich zur Haustür hereinkomme.

„Hi“, antworte ich knapp und werde schon im Eingangsbereich von äußerst intensivem Gulaschgeruch erschlagen. Die Frage, was es zu essen gibt, erübrigt sich damit.

Ich werfe meinen Rucksack vor die Treppe, denn mein Zimmer ist oben und ich hab gerade keinen Bock, ihn hochzutragen, nur um direkt danach wieder runterzukommen. Im Anschluss trete ich mir selbst in die Hacken, um die Schuhe von den Füßen zu ziehen, ohne mich bücken zu müssen, und lasse gleich darauf meine graue Winterjacke auf die kleine Flurbank fallen, ehe ich in die Küche gehe.

„Na? Wie lief‘s in der Schule?“, stellt meine Mutter ihre Standardfrage, wuselt jedoch weiter zwischen Kühlschrank und Herd umher, ohne mich anzuschauen.

„Ging so“, antworte ich möglichst unverfänglich und setze mich an den Tresen. Hier essen wir meistens, denn für zwei reicht der Platz völlig und so müssen wir nicht von der Küche zum großen Esstisch im Wohnzimmer pendeln. Ich glaube, das letzte Mal, als wir den benutzt haben, lebte mein Vater noch hier. Meine Mutter ist Single, seit er sie und mich ganz klassisch für eine Jüngere sitzen gelassen hat. Seitdem ist vieles anders.

„Magst du auch einen Tee?“, fragt sie, während sie bereits den Wasserkocher in Betrieb nimmt.

„Ja, Kräuter. Danke.“

Sie nickt und streckt sich zum Hängeschrank. „Welche Tasse?“

Ich pruste. „Mama ... ich bin neunzehn! Die Farbe meiner Tasse ist mir scheißegal, solange sie schwarz ist.“

Sie schaut mich an, verdreht kurz die Augen, grinst dabei aber, denn seit ich auf der Welt bin, mache ich immer ein Riesentheater, wenn man mir die falsche Tasse gibt. Deshalb fragt sie mich bis heute, auch wenn es kindisch ist.

„Räumst du nachher bitte noch dein Zimmer auf?“, verpackt sie ihre Forderung in eine Frage und drückt mir dabei bereits Teller und Besteck in die Hände. Entgegen dem Klischee bin ich nicht gerade der ordentliche Typ. Mein Kabuff sieht immer aus wie Sau, sehr zum Ärgernis meiner Mutter, die ihrerseits ein leidenschaftlicher Putzteufel ist. „Und wisch bitte gleich noch durch, dein ganzer Boden ist voller Krümel. Ach ja und deine dreckige Wäsche könntest du auch endlich mal in die -“

„Jessie hat jetzt einen Freund“, werfe ich ein, bevor ich noch die Fenster putzen muss, und sie macht große Augen.

„Ach, wirklich?“ Ihre Tonlage erhöht sich und zum ersten Mal an diesem Nachmittag treffen sich unsere Blicke. „Einer von hier?“

„Natürlich nicht!“

„Hätte mich auch gewundert“, stellt sie fest. „In so einem kleinen Ort kennt man ja irgendwann seine Pappenheimer.“

Dass dieser diffamierende Begriff ihren Grufti-Sohn einschließt, stört sie offenbar nicht, aber sie hat nicht ganz unrecht. In unserem kleinen Städtchen scheint es außer Jessie und mir keine weiteren Homosexuellen zu geben, obwohl das statistisch gesehen unmöglich ist. Diejenigen, die es gibt, verstecken sich vermutlich vor der hier sehr aktiven und im Gegensatz zu uns deutlich sichtbaren rechten Szene.

„Er hat den Kerl auf einer Seite kennengelernt“, erkläre ich, doch ihr fragender Blick verstärkt sich nur.

„Im Internet?“

„Nein, auf einer Buchseite ... Natürlich im Internet!“

„Wie geht das denn?“, will sie sofort wissen, vermutlich nicht ganz uneigennützig, doch sie ist ein noch größerer Technikkrüppel als ich. Mich erwartungsvoll ansehend, holt sie den Gulaschtopf vom Herd, um ihn auf einen herzförmigen Korkuntersetzer auf den Tresen zu stellen. „Na? Raus mit der Sprache!“

Ich überlege kurz, wie ich den Kram möglichst unkompliziert beschreibe. „Na ja, da gibt es so neue Portale, um Leute kennenzulernen. Auf denen kann sich jeder, der will, ein Profil erstellen, angeben, was man so für Interessen und Vorlieben hat und ob man auf der Suche nach einer Beziehung ist.“

„Auch schwule Beziehungen?“, hakt sie völlig entgeistert nach, als ob das ein Frevel sei.

„Ja, Ma, auch schwule Beziehungen. Man kann von vornherein angeben, ob man bi-, homo- oder heterosexuell ist[Fußnote 2].“

„Aber“, verlegen streicht sie sich eine ihrer braunen Dauerwellenlocken zurück hinters Ohr, „dann weiß das doch jeder?“

Überflüssig zu erwähnen, dass sie nicht weiß, dass ich schwul bin, oder? Sie hält mich tatsächlich nur für etwasspeziell und sehr tolerant, weil ich jemanden wie Jessie zu meinem besten – und einzigen – Freund auserkoren habe.

„Ja, leider ist es genau deswegen schon zu einigen Problemen gekommen“, gebe ich zu und erinnere mich an einen Artikel, den ich gerade erst letztens dazu gelesen habe. „Es hat schon Fälle gegeben, bei denen sich irgendwelche homophoben Idioten alle schwulen und lesbischen Mitmenschen in ihrer Stadt rausgesucht und diese dann aufs Schlimmste tyrannisiert und öffentlich bloßgestellt haben. Mit Flyern, Warnhinweisen, Briefen an ihre Arbeitgeber und diffamierenden Graffiti an den Wänden ihrer Wohnhäuser und auf ihren Autos. Sie haben sie so lange fertiggemacht, bis sie weggezogen sind. Jessie sagte, dieses Portal hat aber darauf reagiert und schaltet seitdem auch Fotos mit geschwärztem oder abgeschnittenem Gesicht frei. Außerdem reicht es jetzt, wenn man nur die ersten zwei Ziffern seiner Postleitzahl angibt.“

„Hm“, murmelt meine Mutter mit vollem Mund, hat mir jedoch die ganze Zeit aufmerksam zugehört. Auch ich beginne nun zu essen und wir schweigen eine Weile, doch ihre Neugier ist sichtlich geweckt. „Und weiter?“, fragt sie, als sie merkt, dass ich keine Anstalten mache, von selbst mehr zu erzählen. „Haben sich die zwei schon getroffen?“

Ich schlucke runter und trinke erst mal was, ehe ich ihr kopfschüttelnd antworte. „Noch nicht. Aber sie telefonieren inzwischen jeden Tag. Jessie schwärmt mir die ganze Zeit vor, wie toll der Typ ist, liest mir seine SMS vor und zeigt mir dessen heiße Nacktfotos.“

‚Wink mit dem Zaunpfahl, Ma.‘

Ein kurzes „Hm“ ist jedoch das Einzige, was ihre Kehle verlässt, so wie gefühlte zweihundert Mal am Tag, doch sie ist offensichtlich in ihre eigenen Gedanken vertieft. „Wie viel kostet denn so was?“

„Nichts Ma, diese Portale sind alle kostenlos. Aber du brauchst dafür natürlich Internet. Jessie hat eine dieser neuen Flatrates, die kostet ihn dann immer denselben Monatsbeitrag.“

„Hm.“ Sie nickt, damit ist das Gespräch beendet. Sobald es ums Geld geht, ist sie raus. Was nicht daran liegt, dass sie schlecht verdient oder so, denn sie ist verbeamtet und arbeitet für die Gemeinde. Nein. Der Grund ist ein anderer. Seit der Scheidung sind das Einzige, wofür sie hobbymäßig Geld ausgibt, Produkte vom Teleshoppingkanal. Meistens für irgendwelche abstrusen Kombi-Sportgeräte, die dann, einmalig benutzt, in unserem feuchten Keller vor sich hin rosten.

Ich esse auf und stelle mein Geschirr in den Spüler, nachdem ich, wie von meiner Mutter gewünscht, kurz Wasser habe drüber laufen lassen. Den Sinn dahinter werde ich vermutlich nie verstehen, aber ich habe keine Lust auf Streit mit ihr, also tue ich es einfach. Generell bin ich, im Gegensatz zu Jessie, eher ein Harmoniemensch oder der Vermeidungstyp. Ich kleide mich schwarz, aber dezent, ich benehme mich unauffällig und gehe jeder Auseinandersetzung, so gut es geht, aus dem Weg. Ich weiß nicht, ob es dafür einen speziellen Begriff gibt, aber ich würde mich selbst als eine männliche Variante der grauen Maus beschreiben. Ich denke, das trifft es am ehesten.

„Ich muss jetzt für Mathe lernen!“, verkünde ich, um nicht mehr gestört zu werden. „Nächsten Monat beginnen die schriftlichen Prüfungen, da muss ich jetzt echt nochmal ranklotzen!“

Meine Mutter nickt kauend. „Ja, ja ich weiß, dann mach mal!“ Plötzlich fällt ihr noch etwas ein, denn als auch sie ihren Teller abräumen will, dreht sie sich zu mir um. „Ach, apropos Prüfungen! Gerda hat uns zur Abifeier von Sarah und Susanne eingeladen. Die ist ja erst zwei Wochen nach deiner, weil es ein anderes Bundesland ist. Die drei würden sich sehr freuen, wenn wir kommen könnten, und für uns zwei wäre es doch ein toller Mama-Sohn-Trip, bevor du mit dem Studium anfängst. Wir fahren am Freitag hin, bleiben übers Wochenende und können uns auf der Rückfahrt noch das neue Museum anschauen. Das wird sicher lustig!“

‚Super! Wie bringe ich ihr jetzt schonend bei, dass ich zu dem Zeitpunkt längst in einer WG mit Jessie in Berlin wohnen will? Außerdem löst der Gedanke, mir von meinen allzeit perfekten Zwillingscousinen ihr ach so perfektes Abschlusszeugnis unter die Nase halten zu lassen, jetzt nicht unbedingt Freudentränen aus. Nein danke!‘

„Also wenn es für dich okay ist, würde ich lieber hierbleiben“, beginne ich vorsichtig und ernte sofort einen scharfen Blick.

„Wieso? Mit deinem Abi bist du doch dann schon durch und die Wintersemester der Universitäten beginnen erst im Oktober!“

„Ja, aber wenn ich bestehe, heißt das -“

„Was heißt denn hier, wenn ...?“, unterbricht sie mich. „Natürlich bestehst du sie! Eine andere Option gibt es gar nicht!“

Ich schnaufe und verdrehe kurz die Augen, was sie zum Glück nicht sieht. „Also, nachdem ich meine Prüfungen dann ganz sicher bestanden habe“, korrigiere ich mich und ernte ein zufriedeneres Nicken, „muss ich ja erst mal schauen, welche Studienplätze ich mit meinem finalen Schnitt bekomme! Dazu wollte ich eigentlich auch nochmal eine Studienberatung in Anspruch nehmen und ich glaube nicht, dass ich zu dem Zeitpunkt die Wochenenden durchfeiern sollte.“

„Sag doch einfach, dass du keine Lust auf Zweisamkeit mit deiner Mutter hast. Aber schön! Fahr‘ ich eben alleine.“ Passiv aggressiv - oh ja, das kann sie.

„Sorry, Ma. Bei der nächsten Gelegenheit komme ich sicher wieder mit.“ Damit verlasse ich die Gefahrenzone, gehe in den Flur, schnappe mir meinen Rucksack, laufe die Treppen hoch und verschwinde in mein Zimmer.

Was ich ihr neben meinen Ausziehplänen auch nicht erzählt habe, ist, dass ich Jessie versprechen musste, mit ihm, als letzte Amtshandlung in dieser engstirnigen Vorstadthölle, auf die Geburtstagsparty eines Mitabiturienten zu gehen, die exakt zwei Wochen nach unserem Abiball stattfindet. Der Typ, Philipp Christopher von Bergen, ein arroganter Schickimickischnösel, ist von Beruf Sohn, denn beide Eltern sind Anwälte und schwimmen in Kohle. Jedes Jahr schmeißt er deshalb eine megafette Kostümparty zu seinem Geburtstag, zu der wir selbstverständlich noch nie eingeladen wurden. Letztes Jahr hat es Snob-Junior in der Villa seiner Homies jedoch ein bisschen übertrieben und mit seinen Freunden das halbe Wohnzimmer mit Kotze geflutet, weshalb ihm sein Daddy in diesem Jahr unsere Gemeindehalle gemietet hat, inklusive anschließender Putzkolonne. Zwar wird es auch hier wieder einen Einlasser geben, der nur Leute reinlässt, die auf der Liste stehen,[Fußnote 3] aber da meine Mutter bei der Gemeinde arbeitet, hat sie für alle öffentlichen Gebäude der Stadt Zugriff auf die Türcodes der Notausgänge, welche man benötigt, wenn man von außen in das Gebäude will. Die hab ich mir in einem stillen Stündchen abgeschrieben und natürlich auch an Jessie weitergeleitet. Das bedeutet, wir kommen dieses Jahr definitiv unerkannt auf diese Party und die Gelegenheit wollen wir uns nicht nehmen lassen. Jessie hat da diese Schnapsidee, sich mit Silikonbrüsten zum Umschnallen und einem Ganzkörpercatsuit als glitzernde Catwoman zu verkleiden und mit all den homophoben Wichsern unseres Jahrgangs, ganz besonders Philipp, herumzuknutschen, während er heimlich davon Bilder macht. Zum Schluss will er sich dann outen und die Fotos an sämtliche Freunde dieser Typen schicken. So als kleine Racheaktion, bevor wir endgültig verschwinden. Leider hat er jedoch weder die Möpse noch die Ganzkörperpelle, was Plan A hinfällig macht. Plan B ist: Wir panieren ihre Visagen mit einer Ladung Schaum aus dem Feuerlöscher ... ist auch weniger kompliziert!

Erst wollte ich mich von der Nummer distanzieren, denn, wie gesagt, ich bin nicht so der Konfrontationstyp, aber Jessie traut sich das nicht alleine durchzuziehen, was er natürlich niemals zugeben würde. Letztendlich hat er mich so lange genervt, bis ich zugestimmt habe, obwohl ich die Party lieber einfach genießen würde.

Allerdings kann ich mir gut vorstellen, dass er jetzt lieber mit seinem Surferboy geht ... oder womöglich gar nicht, sofern aus der Beziehung der beiden tatsächlich was Ernsthaftes wird. Vielleicht gehen wir ja auch zu dritt, aber mit der heißen Schnitte fallen wir wohl dann doch zu sehr auf.

Es ist extrem selten, dass es solche Gelegenheiten zum Feiern in unserer ruhigen Gegend gibt, zumal es sich darüber hinaus ja auch noch um eine Kostümparty handelt. Das hat natürlich einen besonderen Reiz. Was einem auf einer solchen ja doch recht anonymen Veranstaltung alles passieren kann, wenn so viele betrunkene, gut gelaunte Männer und Frauen auf einem Haufen sind, brauche ich wohl nicht erläutern.

Erschöpft vom Tag feuere ich nun den Schulrucksack in die Ecke meiner kleinen, abgedunkelten Zimmerhöhle und tausche die Jeans gegen eine ausgeleierte, aber dafür sehr bequeme Jogginghose. An der Innenseite meines Kleiderschrankes hängt ein runder Spiegel, in den ich eher zufällig einen Blick werfe und dabei feststelle, dass mir dieser dämliche, rausgewachsene Haarschnitt mal so gar nicht steht. Ich bin fast zwanzig, aber mit diesen kinnlangen Zotteln sehe ich aus wie sechzehn, außerdem ähnelt mein Gesicht dadurch noch mehr einem Ei! Blöderweise bin ich jedoch ein mega Carl McCoy-Fan und der hat nun mal lange Haare! Leider dümpelt aber auch mein Bartwuchs nur so vor sich hin. Wenn ich den Fleckenteppich wachsen lasse, sehe ich aus, als hätte ich irgendeine Krankheit, also rasiere ich mir lieber alles ab und hoffe auf mehr Fülle im Alter, zumindest haartechnisch. Generell bin ich kein sehr testosteronstrotzender Typ, genau wie Jessie. Mit meinen eins vierundsiebzig bin ich darüber hinaus auch noch um ein paar Zentimeter kleiner als er, sehe aus wie eine Bubi-Kopie von Ville Valo[Fußnote 4] ... und der ist schon nicht besonders männlich.

Eine Weile dümple ich so vor mich hin, blättere im aktuellen Orkus herum und höre in die Sampler-CD hinein, die bei all diesen Musikmagazinen dabei ist. Ich wippe zu der recht schwergängigen, neoklassischen Rockmusik von Weltenbrand mit dem Kopf und verliere mich ganz in einem Bericht über Blutengel, als sich meine Mutter mal wieder in meine Gehörgänge keift.

„Levin!“, ruft sie in energischem Ton nach oben und ich schlage, wieder mal die Augen verdrehend, das Heft zu.

‚Was hab ich jetzt wieder falsch gemacht? Die Schuhe zu weit rechts auf die Ablage gestellt? Meine Jacke zu schräg an den Haken gehängt? Ach nein, die liegt ja auf der Flurbank.‘

„Jesper ist hier!“, ergänzt sie jedoch und meine Laune bessert sich schlagartig. Schon als ich die Tür öffne, steht er etwas abgehetzt und breit grinsend vor mir, ist aufgetakelt, als würde er auf den CSD gehen wollen, und wirft mich beinahe um, als er sich in mein Zimmer drängt.

„Oh mein Gooooooott“, beginnt er quietschend und wedelt mit den Händen wie Bernd das Brot[Fußnote 5]. „Du wirst nicht glauben, was -“ Er unterbricht sich selbst, um die Nase zu rümpfen. „Buäh, Levi, hier stinkt‘s voll nach frustrierten Teenagerfürzen und vollgewichster Bettwäsche! Du musst dringend mal lüften ... und aufräumen!“ Schon reißt er eins der Fenster auf und beleuchtet so mein kleines, schändliches Chaos. „Tse, tse, tse!“, rügt er mich, als er sich umsieht. „Schäm dich, Levi! Wie willst du in diesem Saustall jemals jemanden flachle-“

„Du wolltest mir was erzählen?“, unterbreche ich ihn und verschränke leicht genervt die Arme, denn ich habe jetzt echt keinen Bock auf einen zweiten Reinigungsvortrag.

„Ooooh jaaaa!“, quietscht er sofort weiter, schubst mit dem Handrücken beiläufig das Häufchen Kram von meinem Bürostuhl und setzt sich. „Rate, mit wem ich vorhin telefoniert habeeeeee.“

„Mit deinem Sunshine-Boy?“

„Jaaahaaaaa!“

‚Mit wem auch sonst? Bei einem Anruf seiner Oma würde er wohl kaum so sichtbar in Ekstase geraten, und wenn doch ... dann bräuchte er dringend eine Therapie!‘

„Gerade als ich nach Hause kam, hat er mich angerufen, da hab ich ihm gesagt, dass ich keine Geduld mehr habe und dass wir uns jetzt endlich verabreden müssen!“

„Aufdringlich bist du gar nicht, oder?“

„Ja, ja, shh! Er wirkte anfangs ein bisschen überrumpelt, aber daaann hat er Ja gesagt!“

„Deswegen die drei Tonnen Lipgloss?“ Ich setze mich aufs Bett und deute mit dem Finger auf seine dick glasierte Schnute, in der ich mich beinahe spiegeln kann. Da funkelt er mich entrüstet an.

„Levi, niemand will mit spröden Lippen herumknutschen! Niemand!“

‚Mit zwei Nacktschnecken aber auch nicht.‘

Plötzlich kündigt sein Handy eine SMS an und er zieht es sofort aus seiner Hosentasche. „Oh nein ... bitte sag nicht ab, bitte sag nicht ab!“ Er liest mit gefurchter Stirn, aber nach drei Sekunden entspannt sich sein Gesicht wieder. „Ooooohhh, ist das süß! Schau mal!“ Schon hält er mir ungefragt sein grelles, hochmodernes Farbdisplay vor die Nase und ich lese:

>Magst du Blumen? Oder ist dir das zu kitschig? Sorry, ich freu mich so auf dich, bin aber echt nervös.<

„Okay. Das ist wirklich niedlich.“ Bei so einer Nachricht muss selbst ich seufzen und das, obwohl ich eigentlich kein sehr romantischer Typ bin.

Aufgeregt tickert Jessie eine Antwort und wirkt so kindisch hibbelig, wie ich ihn noch nie erlebt habe.

„Und wo verabredet ihr euch? Hinten an der Hauptstraße vor Maikes Café wäre ein guter Treffpunkt ... oder im Park?“

„Spinnst du?“ Empört drückt er sein Handy aufs Herz. „Neee! Da hätte ich viel zu viel Schiss, dass wir auf die braune Bande treffen!“

Ich bin verwirrt. „Und wo dann? Nehmt ihr euch gleich ein Hotelzimmer?“

Jessie wackelt mit dem Kopf hin und her, als sei er sich nicht sicher. „Hat er auch schon vorgeschlagen, erst ins Restaurant und dann ins Hotel, aber da müssten wir uns die Kosten bestimmt teilen und ich bin gerade blank. Mein werter Erzeuger hat den Code für den verdammten Safe geändert.“

‚Wusste ich‘s doch.‘

„Außerdem ist es nicht nötig“, plappert er weiter. „Mein Alter ist heute nur noch bis sechs zu Hause, dann fährt er zur Nachtschicht und kommt vor vier Uhr früh nicht wieder! Also hab ich meinem Süßen angeboten, dass wir uns bei mir treffen und einen netten Abend machen ... wenn du verstehst.“ Dabei zwinkert er bedeutungsvoll. „Wenn der Kerl nur halb so geil ist wie auf seinen Fotos, kann er auch gerne auf direktem Weg in mein Bett!“

„Super“, pruste ich und schüttle den Kopf. „Hältst du es nicht für ein wenig riskant, irgendeinen wildfremden Typen zu dir nach Hause einzuladen?“

„Ach quak“, winkt Jessie ab. „Man muss auch mal was wagen! Immerhin lebt man nur einmal!“

„Falsch“, korrigiere ich ihn und streiche mir meine Zotteln hinters Ohr zurück. „Man stirbt nur einmal. Leben tun wir viele Tage ... Es sei denn, wir werden von einem Serienkiller zerhäckselt oder von Nazis zertreten.“

Jessie lacht und wirft den Kopf in den Nacken. „Auch wenn du ein Goth bist, manchmal geht mir deine Schwarzmalerei echt auf den Sack! Jetzt schieb mal deinen Pessimismus zur Seite und lass mir die Freude auf diese heiße Nacht!“

Ja, klasse. Jessie hat heute Sex mit einem Kerl, der, so wie er aussieht, wahrscheinlich Werbung für Unterwäsche macht, und ich darf für die Schule pauken ... Nicht dass ich irgendwie eifersüchtig wäre oder so.

„Und was, wenn dein Vater etwas vergisst und nochmal zurückkommt?“, bohre ich weiter, denn es gäbe so viele Möglichkeiten, warum die Sache nach hinten losgehen könnte.

„Was soll er denn vergessen? Sein Auto?“ Jessie sieht mich an, als sei meine Angst vollkommen unbegründet, und zieht sogar die gezupften Augenbrauen hoch. „Außerdem hab ich natürlich einen Puffer eingeplant. Der Alte verschwindet um sechs, bis dahin bleib ich hier bei dir, damit er mir nicht auf den Sack geht. Mein Süßer kommt um acht. Dann haben wir theoretisch bis morgens um vier Zeit, uns das Hirn rauszuvögeln!“

„Mal davon abgesehen, dass du dann nur noch zwei Stunden Schlaf hast, bevor du wieder aufstehen musst! Da kommst du doch niemals pünktlich zum Unterricht! Morgen schreiben wir den Aufsatz in -“

„Jaaaaaa, jaaaaaa“, motzt er mir dazwischen und verdreht genervt die Augen. „Mein Gott, sei doch nicht immer so pessimistisch! Was ist denn nur los mit dir? Bist du depressiv, oder was?“

Naserümpfend hebe ich das Kinn. „Ich bin nicht depressiv, ich bin naturtrüb!“

Da lacht er und schüttelt den Kopf. „Du bist schlimmer als mein Alter, wenn‘s um diese verkackte Schule geh-“ Just in dieser Sekunde bimmelt sein Handy, und als hätte er es heraufbeschworen, steht auf dem Display Erzeuger. „Ach du scheiße!“ Postwendend schaltet Jessie den Ton aus und legt das Telefon mit dem Bildschirm nach unten auf meinen Schreibtisch, um es nicht mehr sehen zu müssen. Dabei steht ihm sichtbar der Schweiß auf der Stirn.

„Willst du nicht lieber rangehen?!“, frage ich vorsichtig, denn es brummt dort echt lange vor sich hin, Jessie aber schüttelt vehement den Kopf.

„Nö. Ich hab keinen Bock, mir den Abend versauen zu lassen. Wahrscheinlich hat ihn die Moers wegen meines Fehlens heute früh angerufen und jetzt will er mir wieder die Hölle heißmachen.“ Das Vibrieren verstummt und seine geballten Fäuste entspannen sich. „Siehste? Schon erledigt! Solange er mich nicht ans Telefon kriegt, kann er mir keine Strafe aufdrücken! So einfach ist das!“

Nicht die beste Methode, um seinen Problemen aus dem Weg zu gehen, aber ganz ehrlich? Von seinem Vater würde ich auch keine Standpauke ertragen wollen. Der Mann ist Alkoholiker und eigentlich immer auf hundertachtzig.

„Levin!“, brüllt meine Mutter schon wieder von unten und wir hören, wie sie die Treppe nach oben gestampft kommt. „Jespers Vater ist am Telefon!“

„Scheiße!!!“, flucht Jessie und fährt hoch. Geistesgegenwärtig reiße ich das zweite Fenster auf und winke ihn durch.

„Los! Verschwinde! Ich geh ihr entgegen und verschaff dir mehr Zeit.“

„Danke! Bis morgen!“ Geschickt rutscht er vom Fenstersims aufs angrenzende Garagendach und von dort auf die große Papiertonne. Derweil renne ich zur Tür und fange meine Mutter keinen Meter davor ab.

„Jessie ist schon weg“, sage ich laut und deutlich, sodass es auch sein Vater im schnurlosen Festnetztelefon hört, das sie in der Hand hält. „Er hat sich nur den verpassten Stoff aus Bio abgeholt und ist gleich wieder los.“

„Ach? Und da sagt er mir nicht mal auf Wiedersehen?“ Meine Mutter sieht mich prüfend an, doch ich zucke mit den Schultern.

„Ja, er hatte es eilig und musste gleich weiter.“

Daraufhin mustert sie noch kurz mein Chaoszimmer und guckt sogar einmal in den Schrank, ehe sie sich den Hörer wieder ans Ohr drückt. „Tut mir sehr leid, Herr Scholz, Ihr Sohn ist wirklich nicht mehr hier.“ Ich höre deutlich, wie er sie in mürrischem Ton anranzt, auch wenn ich keine einzelnen Worte herausfiltern kann. Im Anschluss legt er wohl einfach auf. „Was für ein unangenehmer Mensch“, ist alles, was meine Mutter noch dazu sagt, allerdings hebt sie bereits den Finger. „Räum endlich auf! Ich ertrage diesen Saustall nicht länger! Vorher gehst du nicht mehr aus dem Haus!“

„Ja, Ma.“

„Und nicht nur oberflächlich!“ Flink wirbelt sie ihren leicht untersetzten Körper herum und zieht die Tür hinter sich zu. Ich atme tief durch und lege für einen Moment den Kopf in den Nacken.

‚Vielleicht ziehe ich doch früher aus!‘

Genervt schnappe ich mir meinen Papierkorb und beginne damit, die Wichstücher, Zettel und Schulblätter einzusammeln, die ich nicht mehr benötige. Dabei fällt mein Blick auf den Schreibtisch.

„Fuck!“ Jessie hat sein Handy liegen lassen.

***

‚Warum kriegt Jessie vor mir einen ab?‘

Grübelnd knirsche ich mit den Zähnen und werfe meinem Mathebuch ein paar giftige Blicke zu. Die Frage geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Ja, ich bin der Schwarz tragende Sonderling von uns, aber er ... Na ja, er ist halt er! Laut, aufdringlich, bunt, schrill ... Irgendwie hab ich immer geglaubt, er hätte es deshalb schwerer als ich, einen Freund zu finden. Und jetzt hat er auch noch so eine Sahneschnitte!

‚Was hat er, was ich nicht habe, verdammt?! Ach ja ... Internet.‘

Palimm, Palimm.

Pünktlich um acht Uhr abends bimmelt sich eine SMS auf Jessies Handy ein. Ich drehe es um, sehe jedoch nur, dass eine neue Nachricht von Sunshine eingegangen ist, und frage mich, ob Jessie überhaupt den Namen von dem Typen kennt. Mir gegenüber hat er bisher nämlich ausschließlich Kosenamen verwendet.

„Soll ich ...?“, murmle ich leise, lege aber bereits den Daumen auf die Entsperrtaste. „Vielleicht ist es was Wichtiges?“ Eigentlich dachte ich ja, er würde nochmal zurückkommen und es sich holen, aber das tat er nicht. Vermutlich bemerkte er es zu spät oder hatte Schiss, dass sein Dad doch noch zu uns kommt, um nach ihm zu suchen.

‚Was, wenn der Typ jetzt kurzfristig absagt? Dann wartet Jessie den ganzen Abend umsonst auf ihn. Oder wenn er das Haus nicht findet? Zur Not könnte ich ja auf dem Festnetz anrufen und Jessie Bescheid geben, dass er ihm entgegenlaufen soll.‘

Ich weiß, es gehört sich nicht, aber immerhin handelt es sich hier um meinen besten Freund und ich will nur helfen! Also entsperre ich das Teil und lese:

>Hey Süßer, bin da. Soll ich klingeln oder kommst du raus?<

Ein leicht eifersüchtiger Stich durchzieht mich. Ja, ich geb’s ja zu, irgendwie hab ich gehofft, dass der Kerl mit irgendeiner abstrusen Ausrede kurzfristig absagt oder sich als dicker, pickliger Nerd in den Fünfzigern erweist. Aber offenbar ist dem nicht so, und jetzt ist der auch noch pünktlich! Wie ätzend!

‚Na ja, der wird schon klopfen oder klingeln, wenn er merkt, dass keine Antwort kommt‘, beruhige ich mich selbst und lege das Telefon wieder beiseite, doch kaum fünf Minuten später bimmelt die nächste Nachricht rein.

>Ist die 24 die richtige Nummer? Gelbes Haus, schwarzes Dach? Hab schon 2x geklingelt.<

„Was ist denn da los?“, murmle ich verwundert. „Macht er ihm nicht auf?“ Erst während ich es ausspreche, fällt mir auf, wie taktlos ich mich gerade verhalte, indem ich einfach so weiter seine privaten Nachrichten lese. Sofort schiebe ich das dämliche Teil ein Stück weg, drehe es mit dem Display nach unten und lege sogar noch den Mathehefter drauf.

‚Das geht mich überhaupt nichts an! ... Aber warum sollte er ihn nicht reinlassen? Er hat sich doch so sehr auf den Kerl gefreut?‘

Ich schnaufe und muss mir plötzlich ein Grinsen verkneifen.

‚Vielleicht sieht er doch nicht so aus wie auf den Bildern?... Wobei er ja nur Body-Pics geschickt hat ... Aber möglicherweise hat er ja eine echt üble Hackfresse?‘

Ich schüttle den Kopf, als mir bewusst wird, wie schäbig meine Gedanken gerade sind.

‚Mann! Jetzt hör auf damit! Jessie ist dein bester Freund und er hat genug Scheiße durchgemacht! Gönn ihm ein bisschen Glück!‘

Plötzlich klingelt sein Handy mit der Melodie von Nelly Furtados Maneater fröhlich vor sich hin. Sunshine ruft an.

‚Verdammt, was soll ich jetzt machen? Rangehen??? Nein! Vielleicht lässt ihn Jessie ja absichtlich nicht ins Haus!?‘

Es verstummt, dann kündigt sich eine weitere SMS an und meine verfluchte Neugier siegt. Scheiß auf Diskretion! Jessie wird morgen den ganzen Tag von nichts anderem reden, egal, wie es läuft, also werde ich es so oder so erfahren!

Zipp – Tastensperre raus, SMS auf den Bildschirm. Zwei Stück.

>Ich hab dich eben hinter der Tür gehört. Ist alles ok?<

>Machst du mir noch auf oder nicht mehr? Sonst geh ich wieder ...<

Da kommt mir eine Idee. „Scheiße, vielleicht ist ja die Klingel kaputt und er hört ihn deshalb nicht?“ Flugs schnappe mir mein Telefon, wähle die Festnetznummer von Familie Scholz, aber selbst nach zehnmal Klingeln geht niemand ran. Das Handy ist nun ebenfalls still. Also entweder hat Jessie seinen Besuch doch noch reingelassen oder er ist tatsächlich wieder abgehauen.

‚Vielleicht war der Typ hinter der Tür gar nicht Jessie, sondern sein Vater ... Dann gab‘s eine böse Überraschung für den heißen Romantiker.‘

Je länger ich darüber nachdenke, desto flauer wird mir im Magen, aber das Handy schweigt und am Festnetztelefon erreiche ich auch nach drei weiteren Versuchen niemanden. So bleibt mir also nichts anderes übrig, als abzuwarten.

***

‚Er hat ihn flachgelegt. Ganz sicher.‘

Den gesamten Morgen über rede ich mir ein, dass Jessie einen grandiosen Abend hatte, wenn auch mit Startschwierigkeiten. Warum sollte er es sonst nicht bis zum zweiten Block in die Schule schaffen?

‚Er kommt sicher jeden Moment ...‘

Wahrscheinlich war sein Traumkerl noch viel attraktiver als gedacht oder ein stiltechnisch spezieller Typ, weshalb sich Jessie einfach nochmal schnell was anderes angezogen hat.

Wundern würde es mich nicht. Immerhin wechselt er, seit ich ihn kenne, sehr gerne ganz kurzfristig das Outfit, nicht selten erst fünf Minuten, bevor wir loswollen. Trotzdem werde ich dieses drückende, ungute Gefühl in meiner Magengegend nicht los.

‚Es wird schon nichts passiert sein. Wenn der Kerl scheiße ausgesehen hat oder ein völlig anderer war, hätte er ihn gar nicht erst reingelassen. Und sollte sein Vater dagewesen sein, dann hat der ‚dem Fremden mit dem Blumenstrauß in der Hand‘ vermutlich nur die Meinung gegeigt und ihm gesagt, dass er sich verpissen soll.‘

Jessies Vater droht zum Glück nur. Zugeschlagen hat er noch nie, auch im Suff nicht. Aber er hat ihn schon öfter mal zur Strafe in seinem Zimmer eingesperrt, zumindest übers Wochenende.

Nervös schaue ich immer wieder mal auf Jessies Handy, aber da ist nichts. Keine neuen Nachrichten, keine verpassten Anrufe. Er könnte ja auch vom Festnetz aus darauf anrufen oder mich direkt, wenn irgendwas wäre, aber das hat er nicht. Er wird sich ja denken können, dass er das Teil bei mir vergessen hat und dass ich es heute mit mir herumschleppe.

‚Mann, Jessie ... Hoffentlich liegst du einfach noch im Bett und hast verpennt!‘

Sobald ich ihn sehe, ziehe ich ihm die Hammelbeine lang, das steht mal fest!

***

Weil Jessie selbst bis zum Ende des letzten Blocks nicht im Unterricht erscheint, beschließe ich, bei ihm zu Hause vorbeizugehen, ehe ich heimfahre. Er wohnt ja nicht weit von der Schule entfernt und diese Ungewissheit macht mich wahnsinnig! Außerdem muss ich ihm ja auch den verpassten Stoff und sein Handy bringen. Ohne das Teil dreht er vermutlich halb durch, selbst wenn nicht viel drauf ist, außer Pornobildern. Freunde hat er ja keine, bis auf mich, und meine Nummer kennt er auswendig.

Auf der Hauptstraße sehe ich schon von Weitem, wie mir Steve sowie sein älterer Glatzkopf-Bruder Rüdiger und dessen Bomberjacken-Kolonne auf der anderen Straßenseite entgegenkommen. Schnell ziehe ich mein Telefon aus meiner Hosentasche und tue so, als ob ich darauf eine Nachricht lese, um diesen Typen unter keinen Umständen ins Gesicht zu sehen. Trotzdem lassen sie mich nach der gestrigen Nummer natürlich nicht einfach so kommentarlos passieren. Ein durchdringender Pfiff ertönt in meine Richtung und die gehässige Stimme von Steve dringt an mein Ohr.

„Hey Grufti! Wo ist denn dein kleiner Schwulettenfreund abgeblieben?“

Wäre ich Jessie, würde ich jetzt vermutlich die Gegenfrage stellen, ob er ihn etwa vermisst, doch ich sage überhaupt nichts und hoffe bloß inständig, dass sie mich in Ruhe lassen, wenn ich sie ignoriere. Wunschdenken, versteht sich.

„Ey, du Penner! Mein Bruder hat dich was gefragt!“, setzt Rüdiger sofort in schärferem Ton nach und ich bekomme so schweißnasse Hände, dass mir fast das Handy aus den Fingern rutscht.

‚VerdammterMist!‘

Normalerweise habe ich immer Kopfhörer auf den Ohren, wenn ich alleine unterwegs bin, selbst wenn die Batterien meines Discmans leer sind. Dann kann ich wenigstens so tun, als ob ich nichts von meiner Umwelt höre.

„Ich weiß nicht, wo er ist!“, reagiere ich schließlich, um eine Eskalation zu vermeiden, und beschleunige dabei meine Schritte.

„Und, war das so schwer?“, blökt Rüdiger unverzüglich und spuckt in meine Richtung. „Antworte beim nächsten Mal sofort, sonst kriegst du auch eine aufs Maul!“

„Genau!“, stimmt Steve seinem Bruder zu. „Na dann such mal fein deine kleine Schwuppe, bevor du noch anfängst zu heulen!“ Daraufhin feixt die ganze widerliche Bande. Sie betiteln mich als Pussy, schwarzer Waschlappen, Arschlecker und Ähnliches, gehen dabei aber auf ihrer Seite der Straße weiter. Erst nachdem ich an ihnen vorbei bin, ruft Steve mir nach: „Ach ja, wenn du den Lutscher findest, sag ihm: Wenn er mir auch nur noch einmal unter die Augen kommt, war‘s das mit ihm!“ Erneut folgen Gelächter und Häme, dann lassen sie mich ziehen. Zügig biege ich in eine Seitengasse ab, obwohl ich dort gar nicht lang muss, und versuche erst mal, meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen.

‚Scheiße!‘ Ich atme hektisch und bemerke jetzt, wie sehr ich zittere. ‚Diese dämlichen, asozialen Penner!‘

In solchen Momenten verfluche ich mich dafür, dass ich so ein Weichei bin. Jessie mag ja durchaus tuckiger sein als ich, aber er hat trotzdem dickere Eier! Wäre er jetzt dabei gewesen, hätte er denen definitiv einen seiner Sprüche reingedrückt, vollkommen egal, was es für Konsequenzen hat. Ich hingegen kriege nie ein Wort raus ... was in dem Fall vermutlich sogar besser war, aber trotzdem.

‚Langsam wird's mir echt zu brenzlig mit diesen Typen. Wir müssen hier weg, bevor die Sache eskaliert!‘

Je öfter Jessie mit denen aneinandergerät, desto gewaltbereiter scheinen sie zu werden, und nach der Nummer gerade bin ich mir sicher, dass sie das nächste Mal eiskalt auf ihn losgehen, sofern nicht direkt ein Bulle neben uns steht.

‚Nein, wir können nicht mehr warten. Die machen ihn kalt! Sobald ich bei Jessie bin, schau ich mit ihm nach Wohnungen in Berlin und dann machen wir die verdammten Abschlussprüfungen eben dort!‘

***

Als ich vor dem alten, heruntergekommenen Siedlungshaus der Familie Scholz stehe, bemerke ich sofort, dass die silberfarbenen Vorhänge in Jessies Zimmer zugezogen sind, was normalerweise nie der Fall ist. Er ist ein Lichtkind, wie er selbst sagt, und hat sie deshalb für gewöhnlich offen.

‚Vielleicht ist sein Lover ja immer noch da?‘

Möglicherweise hat Jessies Vater gestern auch nur angerufen, um ihm zu sagen, dass er eine Doppelschicht schieben muss oder im Knast sitzt. Wenn ich da an seine ständigen Alkohol-am-Steuer-Geschichten denke, wegen denen er schon bei mehreren Arbeitgebern rausgeflogen ist, wäre das gar nicht so weit hergeholt.

Als ich jedoch die alte Treppe zum Hauseingang hinaufsteige, kann ich durch das schmale Seitenfenster der gemauerten Garage schauen und sehe das Taxi seines Vaters darin stehen. Außerdem flimmert der große Fernseher im Wohnzimmer. Sein Erzeuger ist also zu Hause und wach. Kein gutes Zeichen.

Normalerweise würde ich Jessie jetzt anrufen, um ihm zu sagen, dass er mir die Hintertür aufmachen soll, damit weder er noch ich seinem alten Herrn unter die Nase kommen. Leider geht das heute ja nicht und ich werfe daher erst mal ein paar kleine Steinchen an Jessies Fenster. Vergebens, an den Vorhängen bewegt sich nichts. Aber wenn sein Vater da ist, hat er ja auch immer Musik laufen, also hört er meine steinernen Kontaktversuche vermutlich nicht. Ich checke vorsichtshalber nochmal sein Handy auf Nachrichten oder Anrufe und stelle fest, dass dessen Akku inzwischen leer ist. „Na schöne Scheiße ...“, murmle ich und nach einer kurzen Überwindungsphase traue ich mich endlich, an der Haustür zu klingeln. Es braucht insgesamt drei Versuche, bis mir schließlich unwirsch die Tür geöffnet wird.

„Was is‘?“, mault mich Herr Scholz grußlos an und taxiert mich mit seinen geröteten Schweineaugen. Mein Blick haftet für einen Moment auf dem Krombacher Pils in seiner Hand, schwenkt zu der zerfledderten, dunklen Jeans und dem fleckigen, grauen Unterhemd, das von seinem biergeformten Körper nach vorne gespannt wird.

„Ähm ... Hallo, Herr Scholz. Ist Jesper da?“

„Nein, verdammt, und jetzt hau ab!“, schnauzt er mich an und will mir die Tür vor der Nase zuknallen, als sein Blick auf Jessies Handy fällt.

---ENDE DER LESEPROBE---