Lübsche Wut - Jobst Schlennstedt - E-Book

Lübsche Wut E-Book

Jobst Schlennstedt

0,0

Beschreibung

Ein rasanter, spannungsgeladener Kriminalroman, der erschütternde Wahrheiten ans Licht bringt. Der wahrscheinlich bekannteste Insasse der Lübecker JVA Lauerhof ist tot. Ralf Blum, vor dreißig Jahren für den Missbrauch und Mord an einem achtjährigen Jungen verurteilt, verblutete in seiner Zelle. Als es Hinweise darauf gibt, dass Blum vor seinem angeblichen Suizid bedroht wurde, übernehmen KHK Birger Andresen und seine Kollegin Ida-Marie Berg die Ermittlungen – und geraten in einen Strudel aus Rache und Verschwörungen, der bis in die höchsten politischen Kreise Schleswig-Holsteins reicht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 319

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jobst Schlennstedt, 1976 in Herford geboren und dort aufgewachsen, studierte Geografie an der Universität Bayreuth. Seit Anfang 2004 lebt er in Lübeck. 2006 erschien sein erster Kriminalroman. Hauptberuflich ist er Geschäftsführer eines Lübecker Beratungsunternehmens. Im Emons Verlag erschienen die Westfalen Krimis »Westfalenbräu« und »Dorfschweigen«. Außerdem die Küsten Krimis »Tödliche Stimmen«, »Der Teufel von St.Marien«, »Möwenjagd«, »Traveblut«, »Küstenblues«, »Todesbucht«, »Spur übers Meer«, »Lübeck im Visier«, »#hanseterror«, »Hafenstraße

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: iStockphoto.com/javarman3 Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Hilla Czinczoll eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-355-4 Küsten Krimi Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Rache beendet die Ohnmacht der Wut.

Gerhard Uhlenbruck

Prolog

28.Oktober 1988

Die Außentreppe zum Keller lag jetzt direkt vor ihnen. Birger Andresen konnte kaum etwas erkennen, während sich die Einsatzleute der Spezialeinheit leise und dennoch energisch an ihm vorbeidrängten. Der ganze Fahndungsdruck der letzten Tage, der ihn und seine Kollegen an den Rand der totalen Erschöpfung gebracht hatte, wuchs in diesem Moment ins Unermessliche. Die blanke Angst stand jedem in seiner Umgebung ins Gesicht geschrieben.

Hoffnung war alles, was sie noch antrieb. Ralf Blum war vor wenigen Stunden festgenommen worden und hatte ausgesagt, dass der Junge noch am Leben sei. Die verzweifelte Suche der letzten Tage konnte in wenigen Minuten vorbei sein. Und ein gutes Ende war greifbar nahe.

Plötzlich wurde alles um Andresen herum ganz still. Die Männer der Spezialeinheit bezogen Stellung und zeigten an, dass alle Einsatzleute in Deckung gehen sollten. Andresen blickte sich suchend um. Schließlich brachte er sich mit einem Sprung hinter einen Mauervorsprung in Sicherheit.

Zu gerne wollte er sich beweisen. Ganz vorne mit dabei sein, wenn sie den Keller betraten. Als einer der Ersten bei dem Jungen sein. Aber seine Unerfahrenheit und der Respekt vor der Situation ließen ihn dort verharren.

Im nächsten Moment gab einer der Männer der Spezialeinheit lautlos das Zeichen. Sekunden später wurde die Tür aufgebrochen, der Keller unter dem Mehrfamilienhaus wurde gestürmt.

Andresen war überrascht, mit welcher Vehemenz die Männer vorgingen. Und das, obwohl nichts darauf hindeutete, dass Ralf Blum Komplizen hatte, die sich womöglich noch in dem Keller aufhielten.

Rettungskräfte rannten an ihm vorbei. Sein Chef, der Leiter der Lübecker Mordkommission, gestikulierte mit den Händen und versuchte, Anweisungen zu geben, ohne dass ihm jedoch jemand zuhörte.

Andresen sah sich um und erkannte im Hintergrund die Leute von der Presse, die seit Tagen kein anderes Thema kannten als den Fall Ralf Blum. Sie waren ihnen in den letzten Stunden gefolgt, wussten bereits viel zu viel.

Blitzlichter ihrer Kameras zuckten in der einsetzenden Dämmerung. Zusammen mit dem Blaulicht der vielen Einsatzfahrzeuge vor dem Haus sorgten sie für eine gespenstische Szenerie.

Andresen tauschte einen kurzen Blick mit einem seiner Kollegen und nickte ihm zu. Dann ging er die wenigen Treppenstufen hinunter und betrat den Keller des Hauses in der Schenkendorfstraße.

Er war sechsundzwanzig Jahre alt. Kriminalpolizist war er aus einem einzigen Grund geworden– er wollte dafür sorgen, dass die Welt um ihn herum eine bessere und gerechtere wurde. Dass Menschen nicht ungestraft davonkamen, wenn sie schwerste Verbrechen begangen hatten. Dass sie der Gesellschaft keinen weiteren Schmerz zufügen konnten. Wenigstens einen kleinen Teil dazu wollte er beitragen.

An Situationen wie diese hier hatte er bei seiner Entscheidung für diesen Beruf allerdings keinen einzigen Gedanken verschwendet. Natürlich waren sie während ihrer Ausbildung für solche Einsätze geschult worden. Die Theorie konnte den Ernstfall aber nicht ansatzweise simulieren. Egal, wie gut sie vorbereitet waren, das, was in diesem Moment um ihn herum geschah, war derart surreal, dass er bezweifelte, überhaupt für so etwas präpariert sein zu können.

Der Junge war tot. Alle Hoffnungen waren umsonst gewesen. Und das Entsetzen und der Schock darüber, dass Blum das Leben eines kleinen Kindes ausgelöscht hatte, so groß, dass Andresen beinahe schlecht wurde. Er wollte nicht wahrhaben, dass es kein gutes Ende gegeben hatte. Die Kollegen, die Blum verhört hatten, waren sich sicher gewesen, dass er den Jungen am Leben gelassen hatte. Doch offenbar hatte er sie eiskalt angelogen.

Julian war missbraucht und schließlich erstickt worden. Von einem Mann, dessen Gesicht in den nächsten Wochen und Monaten wahrscheinlich die Medienlandschaft Deutschlands bestimmen würde. »Die Bestie aus Lübeck« oder irgendeine andere reißerische Überschrift würde sich der Boulevard mit Sicherheit ausdenken.

Als die abgedeckte Leiche eine knappe Stunde später an ihm vorbei die Kellertreppe hochgetragen wurde, schloss Andresen die Augen. Er versuchte, einen Mechanismus zu finden, der verdrängte, was er sah.

Erfolglos. Er ahnte bereits, dass er diese Bilder nie mehr loswerden würde. Sie hatten sich tief auf der Festplatte hinter seiner Stirn festgebrannt.

Der Augenblick, in dem er dastand und nicht wusste, wohin mit seinen Gefühlen, wollte einfach nicht enden. Wohin mit der Traurigkeit, dem Hass und der Machtlosigkeit? In diesem Moment war er vollkommen auf sich allein gestellt.

Zum ersten Mal, seit er beschlossen hatte, Kriminalpolizist zu werden, überkamen Andresen Zweifel. Er verstand plötzlich, dass das reale Leben um ein Vielfaches grausamer war als die Vorstellungen in seinem Kopf. Wollte er das hier tatsächlich? Der Grausamkeit des Lebens so direkt ausgesetzt sein?

Doch noch während er nachdachte, verfestigte sich eine Überzeugung in ihm. Der Tod dieses Jungen würde ihn nicht abschrecken. Im Gegenteil, er musste aus dieser Grausamkeit die Motivation ziehen, alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen, um solche Taten in Zukunft zu verhindern. So befremdlich es für Außenstehende klingen mochte, er musste lernen, aus den abscheulichen Bildern dieser Tat neue, notwendige Kraft zu tanken. Und wenn er tief genug in sich hineinhörte, wusste er, dass er genau deshalb Kriminalpolizist geworden war.

Andresen nahm plötzlich aufgeregte Stimmen wahr, die sich schnell näherten. Er verstand sofort, dass es die verzweifelten Stimmen der Eltern des Jungen waren.

Unauffällig entfernte er sich von der Menge. So rasch, dass er die Stimmen schon bald nicht mehr hören konnte.

So weit war er noch nicht. Den Angehörigen eines Opfers, noch dazu eines Kindes, in die Augen zu sehen war ebenfalls etwas, das ihm während seiner Ausbildung niemand beigebracht hatte.

Er versuchte sich diesen Moment vorzustellen. Den Schmerz in ihren Augen. Die Mischung aus Verzweiflung, Wut und völliger Leere. Die Stille und Unfähigkeit, die richtigen Worte zu finden. Es würde wohl noch Jahre dauern, bis er tatsächlich ein richtig guter Kriminalpolizist war.

Das Fenster zur Straße

Die Rasierklinge hat schon seit Ewigkeiten in einer kleinen Ritze in der Wand hinter meinem Bett gesteckt. Woher ich sie habe, weiß ich nicht mehr, aber sie ist der einzige Gegenstand, den ich mir hier jemals als Waffe besorgt habe. Dabei könnte ich an alles herankommen. Messer in allen Größen, selbst Schusswaffen sind nicht unmöglich, wenn man die richtigen Leute kennt.

Gerade in den ersten Jahren hat es viele Momente gegeben, in denen ich davon hätte Gebrauch machen können. Immer dann, wenn sich mir die Zellennachbarn im Innenhof oder in den gemeinsamen Duschräumen genähert haben. Mich bedroht und verprügelt haben. Mich mit Gegenständen vergewaltigt haben. Mich so sehr erniedrigt haben, dass jeder andere Mensch wahrscheinlich in die Knie gegangen wäre. Dem Ganzen schon vor Jahren ein Ende gesetzt hätte.

Typen wie ich stehen nun mal ganz unten. Das ist hier im Knast nicht anders als draußen, nur mit dem Unterschied, dass es hier keinerlei Skrupel gibt. Niemanden, der davor zurückscheut, zu zeigen, was er von mir hält. Welcher Abschaum ich in seinen Augen bin. So lange zuzuschlagen, bis ich am Boden liege. Bis ich mich nicht mehr rühre. Es gibt kein Mitleid mit mir. Und das vollkommen zu Recht. Denn was ich getan habe, ist schlimmer und unverzeihlicher als all die ganzen Dinge, die diese schweren Jungs verbrochen haben.

Die Klinge in meiner Hand fühlt sich stumpf an. Schwer zu glauben, dass sie überhaupt scharf genug ist, um die Haut an der Innenseite meiner Unterarme aufzuritzen.

Das Blut tritt anfangs nur langsam durch die oberste Hautschicht. Ich helfe noch einmal mit der Klinge nach, bis ich zum ersten Mal einen Schmerz wahrnehme.

Ab dem Moment ist alles anders. Die rote Suppe quillt nur so aus meinen Unterarmen. Ich spüre sofort, dass mir schwindelig wird. Es ist so weit. Diesmal hat man mich in die Knie gezwungen. Nach all den Jahren bin ich bereit, dafür zu bezahlen, was ich verbrochen habe.

Im Bewusstsein, dass ich sterben werde, fahren mir die seltsamsten Erinnerungen durch den Kopf. Ich muss plötzlich an einen Urlaub vor sehr langer Zeit denken. Ich hatte ein paar Tage zuvor meinen fünften Geburtstag gefeiert. Damals war ich noch in den Kindergarten gegangen. Ich war ein kleiner Knirps gewesen. Schmächtig und blass, schüchtern und still. Aber einigermaßen glücklich. Die Schulzeit, während deren der Alptraum begonnen hatte, war noch sehr weit weg gewesen.

Ich erinnere mich genau. An diesen Urlaub. An diese schöne Zeit am Meer. Irgendwo im Süden, wo jeden Tag die Sonne geschienen hatte. Das sind die letzten und einzigen Momente aus diesem anderen Leben, dieser Phase, in der ich noch ein fröhliches Kind gewesen war, die ich mir heute noch vor Augen rufen kann.

Alles andere aus dieser Zeit ist verschwunden. Wie weggewischt. Als hätte jemand mit einem großen Laubbläser alles in meinem Kopf einmal kräftig durcheinandergewirbelt.

Die nächste Szene aus meiner späteren Kindheit, an die ich mich erinnern kann, ist dunkelgrau und trüb. Aber leider nicht komplett verschwommen. Die Bilder sind präsent, als wäre es erst gestern geschehen.

Ich blicke hinaus auf die Straße vor unserem Haus. Der Verkehr rollt unaufhörlich vorbei. Ein durchdringender Krach, doch durch die doppelt verglasten Fensterscheiben dringt lediglich ein schwaches, monotones Geräusch zu uns herein. Schlimmer sind die Abgase, sobald wir die Fenster auch nur kippen.

Ich kann mich selbst sehen, wie ich mit meinen acht Jahren da am Fenster stehe. Mein Blick ist leer. Die Stimme, die aus der Küche bis zu mir ins Wohnzimmer dringt, jagt mir längst keine Angst mehr ein.

Heute weiß ich, dass damals schon so viel in mir kaputt war, dass ich einfach über mich ergehen ließ, was er mir in regelmäßigen Abständen antat. Ich hatte keine Angst mehr vor ihm, weil ich mich aufgegeben hatte. Weil es keinen Ausweg gab, nicht die geringste Hoffnung, dass das, was in mir zerbrochen war, jemals wieder heilen würde. Vielleicht habe ich es tief im Innern damals schon geahnt, dass ich kein normales Leben mehr führen würde.

An das erste Mal erinnere ich mich nur noch schemenhaft. Es war in der Umkleidekabine passiert, als wir in diesem neuen Schwimmbad waren. Er hatte darauf gedrängt, dass wir endlich für den Freischwimmer üben. Ich hatte mich auf den Tag gefreut, schließlich hatte er so selten Zeit für mich gehabt.

Ich spürte plötzlich seine Hand auf meiner Haut. Es fühlte sich nicht normal an. Irgendetwas war komisch. Unangenehm. Eklig.

Ich sah ihn an, wollte ihm sagen, dass er das lassen soll. Doch er legte nur den Zeigefinger auf seine Lippen. Sein Blick hatte sich in diesem Moment verändert. Es schien auf den ersten Blick so, als wolle er mich anlächeln, doch in Wirklichkeit strahlte er plötzlich etwas Böses aus. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich mir eingestand, dass er mir Angst einjagte. Er. Mein eigener Vater.

Ich senkte meinen Blick und wandte mich angewidert ab. Ich wollte ihn nicht ansehen, während seine Hände weiter über meinen nackten Oberkörper fuhren und er dabei zufrieden grinste.

Ich sehe mich wieder vor dem Fenster stehen und auf die Straße hinabblicken. Mit einem Mal ist da etwas, das mich viel mehr verunsichert als seine wütende Stimme.

Schweigen.

Vielleicht ist es auch ein Flüstern. Das macht keinen Unterschied. Ich komme damit zurecht, wenn er herumschreit. Wenn er sich nicht mehr unter Kontrolle hat und mich behandelt wie Dreck. Aber wenn er flüstert, dann stimmt etwas nicht.

Leise drehe ich mich um und gehe auf Zehenspitzen in Richtung Küche. Verstecke mich hinter der Tür und versuche zu lauschen.

Es fällt mir schwer, zu verstehen, worüber meine Eltern sich gerade unterhalten. Vielleicht will ich es auch gar nicht verstehen. Es darf nicht sein, was sie sagen. Es ist nicht vorstellbar. Noch verletzender. Es reißt mir den Boden unter den Füßen weg. Aber ich höre es doch mit eigenen Ohren. Ja, sie weiß Bescheid. Meine eigene Mutter weiß tatsächlich, was er mir antut. Dass er mich beinahe tagtäglich anfasst. Nachts zu mir in mein Bett kommt und Dinge macht, die ich nicht will…

Vielleicht war dieser Augenblick der Punkt in meinem Leben, in dem auch der letzte Glaube an etwas Gutes in mir verloren gegangen war. Meine Mutter hatte es zugelassen, dass mein Leben mit gerade einmal acht Jahren zerstört wurde. Von ihrem eigenen Ehemann.

Jetzt, wo das Blut immer schneller aus meinem Körper tritt und ich kurz davor bin, das Bewusstsein zu verlieren, frage ich mich, warum ich mich niemals gewehrt habe. Gegen diesen Dämon, der irgendwann Jahre später bei mir eingezogen ist. Dem ich mich jedes Mal kampflos ergeben habe, wenn er die Kontrolle über meinen Körper und mein Handeln übernommen hat. Der mit der Person, die ich ursprünglich einmal war, nichts zu tun hatte.

Es war über die ganzen Jahre immer eine einseitige Beziehung gewesen. Ich war machtlos, habe meistens willenlos darauf gewartet, dass er, der Dämon, aufwacht und wieder das Kommando übernimmt. Ich erinnere mich, dass ich manchmal regelrecht froh war, wenn er auftauchte und mich zu steuern begann. Ich war zufrieden damit, überhaupt irgendwohin zu steuern. Egal, wie krank es war, was ich dank ihm dachte und tat.

Um ehrlich zu sein, habe ich größtenteils vergessen, was mit mir geschah, wenn er da war. Manchmal kam es mir vor, als hätte ich mir einen Schuss gesetzt. Mein eigentliches Ich war wie ausgeschaltet, ich trug nur noch die Hülle meines Körpers spazieren. Das Sagen über mich hatte der Teufel in mir.

Trotz alledem bin ich mir im Klaren darüber, was für Dinge mein Körper getan hat. Es spielt keine Rolle, wer in diesen Momenten die Kontrolle über ihn gehabt hat. Es war mein Körper. Und ich habe es zugelassen.

Ich habe mich nicht gewehrt. Kein einziges Mal. Ich habe nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, den Teufel zu bekämpfen. Obwohl ich wusste, was er anrichtet. Jedes einzelne Mal.

In diesem Augenblick, in dem ich verblute und meine Umgebung mehr und mehr verschwimmt, verstehe ich endlich, weshalb ich die Besitznahme meines Körpers durch diesen Dämon über mich habe ergehen lassen. Auch wenn diese Erkenntnis das Ganze noch schlimmer macht.

Denn die Wahrheit ist fürchterlich. Und doch wehre ich mich auch jetzt nicht mehr dagegen. Vielleicht hätte ich all das verhindern können, wenn ich nur gewollt hätte. Wenn ich stark genug gewesen wäre. Aber ich war es nicht. Ich bin schwach. Ein ganz armes Würstchen.

Das Krankhafte in mir ist nur eine Reaktion auf das, was ich damals als Achtjähriger erlebt habe. Dass mein Leben schon als Kind zerstört wurde, kann mir nicht zum Vorwurf gemacht werden. Auch ich bin schließlich ein Opfer. Ein Opfer, das niemals die Chance gehabt hat, darüber zu reden, was mein Vater mir angetan hat.

Jetzt ist es zu spät, um sich darüber Gedanken zu machen, was ich hätte anders machen können. Mein Leben, das vor knapp fünfzig Jahren sein Fundament verloren hat und seitdem für andere eine Gefahr und für mich selbst eine Qual gewesen ist, wird in wenigen Minuten ein Ende finden.

Ich verliere mein Bewusstsein. Ich werde sterben, weil ich es wahrscheinlich verdient habe. Aber in diesen letzten Momenten meines verkorksten Daseins bin ich mit einem Mal überzeugt davon, dass ich nicht hätte verhindern können, was passiert ist. Die Krankheit, die mich wie ein Virus befallen hat, steckt so tief in mir drin, dass dagegen anzukämpfen sinnlos gewesen wäre.

In diesem Zustand, in dem meine Seele abschweift, habe ich plötzlich das Gefühl, als gelinge es mir, die Hülle meines Körpers zu verlassen und diesen Menschen, in dem ich fast zeit meines Lebens gefangen gewesen bin, zu beobachten. Es lässt mich resignieren, festzustellen, dass dieser Mensch vollkommen machtlos gewesen ist. Ich will kein Mitleid, von niemandem. Aber die Leute sollen wissen: Ich hatte niemals eine echte Chance auf ein normales Leben.

Tropische Nacht

Das T-Shirt klebte auf seiner Haut. Das dünne Bettlaken hatte er längst beiseitegeschoben. Verstohlen richtete Andresen seinen Blick nach links. Agnes schlief oben ohne, ihr Laken bedeckte nur notdürftig ihren braun gebrannten Körper.

Er war mit dem Gedanken an den kommenden Freitag wach geworden. Andresen hatte einen Entschluss gefasst und einen Tisch reserviert, und nun rückte das gemeinsame Essen gnadenlos näher. Andresen spürte eine seltsame Mischung aus Unbehagen, Anspannung und Freude bei dem Gedanken daran.

Agnes und er waren sich so nah, wie seine letzte Freundin Wiebke und er sich wohl nie gewesen waren. In diesem Moment allerdings spürte er keinerlei Verlangen, sich an sie zu schmiegen. Die schwüle Luft, die seit knapp zwei Wochen wie ein brodelndes Gemisch über der Stadt hing und nur wenige Male von sich entladenden Cumulonimbus-Wolken für kurze Augenblicke abgekühlt worden war, war derart unerträglich, dass Andresen seit gestern ernsthaft in Erwägung zog, die Koffer zu packen, nach Fuhlsbüttel zu fahren und gemeinsam mit Agnes in den nächstbesten Flieger zu steigen, der sie irgendwohin brachte, wo die Temperaturen erträglicher waren als in diesem Sommer in Norddeutschland.

Großbritannien vielleicht. Oder Skandinavien. So wie damals mit seiner Exfrau Rita und seinem Sohn Ole. Sie waren viel unterwegs gewesen, zumindest in den ersten Jahren. Im Sommer ans Meer und im Winter in die Berge. Und selbst an den Wochenenden hatten sie viel unternommen. Mit Wiebke dagegen war er nie verreist.

»Schottland«, sagte er plötzlich lauter als beabsichtigt.

Es vergingen einige Sekunden, ehe Agnes blinzelte und langsam ihren Kopf hob.

»Was ist los?«, fragte sie verschlafen.

»Lass uns einfach abhauen«, antwortete Andresen. »Dorthin, wo ich nachts schlafen kann. Dorthin, wohin der norddeutsche Wind hoffentlich verschwunden ist. Wo es auch mal regnet, ohne dass es gleich zu Unwettern kommt. Was hältst du davon?«

»Klingt gut. Sprichst du mit meinem Chef?« Agnes blickte ihn aus müden, aber lächelnden Augen an. »Dürfte nicht ganz einfach werden, ihn davon zu überzeugen, dass ich so kurzfristig Urlaub bekomme.«

»Kein Problem, ich rufe ihn an.«

»Du meinst das wirklich ernst?«

»Ich halte es hier nicht mehr aus«, stöhnte Andresen. »Diese Hitze macht mich wahnsinnig. Außerdem muss ich einfach mal wieder raus. Sosehr ich die Stadt auch liebe, mir fällt die Decke auf den Kopf. Ich kann mich kaum mehr daran erinnern, wann ich zuletzt meinen Urlaub außerhalb Lübecks verbracht habe.«

Andresen richtete sich auf und strich Agnes durchs Haar. »Die Zeit ist günstig«, sagte er leise. »Bei uns ist momentan verhältnismäßig wenig los. Es scheint, als würde auch das Böse Urlaub machen. Hitze und die langen Tage sind nichts für Kriminelle.«

Noch ehe Andresen ganz ausgesprochen hatte, vibrierte sein Handy, das auf dem Nachttisch lag.

»Tja, das hättest du wohl nicht so laut sagen dürfen.« Agnes verzog ihren Mund zu einer mitleidigen Grimasse. »Lass mich raten. Ida-Marie?«

Andresen warf einen Blick auf sein Handy und schüttelte genervt den Kopf. »Morten, unser Neuer.«

»Hast du nicht gesagt, er wäre ein guter Mann?«

»Ist er auch, aber er ist leider auch ziemlich kommunikativ. Soll heißen, er fragt wegen jeder kleinen Sache nach, ohne selbst auch mal Entscheidungen zu treffen. Das muss ich ihm noch austreiben.«

»Gehst du nicht ran?«

»So wie ich Morten kennengelernt habe, reicht es vollkommen aus, ihn später im Präsidium zu sprechen.«

»Also doch kein spontaner Urlaub?«

»Gib mir die Nummer von deinem Chef. Ich rufe ihn an, und dann machen wir den Abflug.«

»Falls du es vergessen haben solltest, du leitest nicht nur die X-Einheit, sondern derzeit zudem wieder die Mordkommission.« Jetzt richtete sich auch Agnes auf. »Vielleicht solltest du rangehen, wenn einer deiner Leute dich morgens um Viertel nach sieben versucht anzurufen.«

Zu spät, Andresens Handy verstummte. »Soll er sich bei Ida-Marie melden«, sagte er, »die kann ihm genauso gut helfen.«

Erneut begann sein Telefon zu vibrieren.

»Hartnäckiger Kerl«, sagte Agnes, »das muss man ihm lassen. Jetzt geh schon ran.«

Ohne hinzusehen, griff Andresen nach seinem Handy und meldete sich mit einem unterkühlten »Ja«.

»Moin, Birger, hat Morten dich schon erreicht?«

»Du?« Andresen war so überrascht, Ida-Maries Stimme zu hören, dass er abrupt aufstand und an das große Fenster im Schlafzimmer trat. Sein Blick fiel auf die glitzernde Wasseroberfläche der Wakenitz hinter den Baumwipfeln. Eine Aussicht, an der er sich nicht sattsehen konnte.

»Wer außer einem deiner Kollegen klingelt dich denn sonst um diese Uhrzeit aus dem Bett?«, fuhr Ida-Marie ungerührt fort. »Du weißt also noch nicht, was passiert ist?«

»Nein, Morten hat sich noch nicht bei mir…« Er brach ab und räusperte sich. »Sag’s mir einfach.«

»Es wäre gut, wenn du einfach herkommst und es dir selbst ansiehst.«

»Was denn ansehen?« Andresen wurde ungeduldig. »Und wohin soll ich kommen?«

»Lauerhof«, antwortete Ida-Marie. Sie klang müde. »Wir sind schon seit einer knappen Stunde hier.«

»In die JVA? Weshalb denn das?«

»Ein Todesfall.«

»Das kommt meines Wissens dort nicht selten vor. Was haben wir damit zu tun?«

»Was ist wohl passiert, wenn ich dich morgens um kurz nach sieben anrufe?«, entgegnete sie, nun ebenfalls voller Ungeduld. »Sicherlich kein Herzinfarkt.«

Andresen stöhnte innerlich auf. Unschöne Vorfälle hatte es in der JVA Lauerhof in letzter Zeit zur Genüge gegeben. Rebellierende Gefangene. Aufruhr und gewalttätige Auseinandersetzungen. Berichte über viel zu wenig Personal. Vollzugsbeamte, die verbotenerweise Post für Häftlinge geöffnet hatten. Häftlinge, die während ihres Freigangs geflohen waren. Und jetzt etwa auch noch ein Tötungsdelikt?

»Das heißt, es ist zweifelsfrei klar, was passiert ist?«

»Nein, sonst hätte ich dich nicht aus dem Bett geklingelt«, sagte Ida-Marie. »Auf den ersten Blick deutet alles auf Suizid hin, aber ich glaube, es ist keiner. Zumindest kein richtiger. Also eigentlich schon, aber möglicherweise nicht aus freien Stücken.«

»Ein Freitod, der nicht aus freien Stücken gewählt wurde? Verstehe ich dich richtig?«

»Ja, so könnte es wohl gewesen sein. Zumindest deutet eine Zeugenaussage darauf hin.«

»Es gibt einen Zeugen?«, fragte Andresen überrascht.

»Nicht direkt, aber… Lass uns nicht am Telefon darüber reden. Komm einfach so schnell wie möglich her, dann erfährst du, was ich meine.«

»Na schön«, seufzte Andresen. »Eine Frage noch: Kenne ich den Sträfling?«

»Jeder kennt ihn.«

Andresen wartete noch darauf, dass Ida-Marie weiterredete, doch das Geräusch in der Leitung war eindeutig. Sie hatte aufgelegt.

»Alles in Ordnung?«

Andresen sah sich um und blickte Agnes an, die splitterfasernackt vor ihrem Kleiderschrank stand und ihre Unterwäsche durchwühlte.

»Könnte sein, dass das mit dem spontanen Urlaub doch nichts wird«, murmelte er. »Aber bei diesem Anblick hätte ich zumindest große Lust, mich noch einmal für ein paar Minuten mit dir ins Bett zu legen.«

»Was ist passiert?«, fragte Agnes unbeirrt.

»Ehrlich gesagt mag ich es mir gar nicht vorstellen. Aber wenn es wirklich stimmt, was Ida-Marie gerade angedeutet hat, dann könnten wir ein ziemlich großes Problem haben.«

»Wer ist der Tote?«

»Es kann sich nur um Ralf Blum handeln.«

»Blum?« Agnes klang ungewohnt höhnisch. »Hat es dieses Schwein jetzt etwa endlich erwischt?«

»Das ist nicht gerade die Art, wie ich über solche Menschen spreche und denke«, antwortete Andresen streng.

»Tut mir leid, du weißt selbst, dass ich solche Worte normalerweise nicht in den Mund nehme, aber bei Typen wie Blum setzt es selbst bei mir aus. Oder bist du etwa der Meinung, dass er es verdient gehabt hätte, eines Tages wieder frei herumzulaufen?«

»Erstens wäre er nie wieder auf freien Fuß gekommen«, stellte Andresen klar. »Und zweitens geht es darum doch gar nicht. Vollkommen egal, was er getan hat, es steht niemandem zu, über sein Leben zu richten. Und sich darüber zu freuen, dass er offenbar nicht eines natürlichen Todes gestorben ist, ist nicht mein Verständnis von einem Rechtsstaat.«

»Du hast ja recht.« Agnes gab sich kleinlaut. »Aber bei dieser Sache fällt es mir nun mal schwer, mich im Zaum zu halten. Auch wenn ich selbst keine Kinder habe, könnte ich durchaus nachvollziehen, wenn die Mutter seines Opfers ihr Leben lang auf Rache aus gewesen wäre.«

Die Erinnerungen an den Fall Ralf Blum waren– wie wohl bei den meisten Lübeckern, die ihn damals miterlebt hatten– auch für Andresen noch immer greifbar. Obwohl seither dreißig Jahre vergangen waren. Er selbst war noch ein Frischling gewesen. Mit Mitte zwanzig noch grün hinter den Ohren. Seine Ausbildung zum Kriminalpolizisten hatte er damals gerade erst abgeschlossen.

Ralf Blum war der mit Abstand bekannteste Insasse der JVA Lauerhof gewesen. In einem spektakulären Prozess Ende der achtziger Jahre war er zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt worden, weil er einen achtjährigen Jungen sexuell missbraucht und anschließend umgebracht hatte.

Monatelang hatte es in Lübeck kein anderes Thema als dieses brutale Verbrechen gegeben. Der Fall war auch deshalb in Erinnerung geblieben, weil es während des Prozesses zu einem dramatischen Zwischenfall gekommen war, als die Mutter des getöteten Jungen mit einem Messer auf Ralf Blum losgegangen war. Obwohl Blum nur durch großes Glück kaum Verletzungen erlitten hatte, war dieser Fall von Selbstjustiz bundesweit Thema in den Medien gewesen.

»Wer hat ihn umgebracht?«, fragte Agnes plötzlich.

»Er sich selbst, glaube ich jedenfalls.«

»Dann können wir ja doch in den Urlaub fahren.«

Andresen wollte etwas erwidern, konnte sich jedoch selbst nicht erklären, weshalb der Tod von Ralf Blum ein Fall für die Mordkommission war, wenn er offenbar den Suizid gewählt hatte. Er stand auf und verließ wortlos das Schlafzimmer.

Kurz bevor er die Tür zum Badezimmer hinter sich zuziehen wollte, hielt er noch einmal inne. Er konnte Agnes nicht einfach so dastehen lassen. Nicht wieder den gleichen Fehler begehen, den er schon bei Rita und Wiebke gemacht hatte, nämlich in den schwierigen Momenten zu schweigen und sich aus dem Staub zu machen. Nicht zuletzt wollte er auch sich selbst beweisen, dass er dazugelernt hatte.

Eine knappe halbe Stunde später steuerte Andresen seinen VolvoV60 durch die von Baustellen geplagte Stadt in Richtung Marli. Trotz Klimaanlage stand ihm schon zu so früher Stunde der Schweiß auf Stirn und Oberlippe. Die Digitalanzeige in seinem Wagen zeigte bereits fünfundzwanzig Grad.

Er war froh, dass er noch einmal auf Agnes zugegangen war und die Unstimmigkeiten aus dem Weg geräumt hatte, bevor sie zu einem Problem geworden waren.

Andresen hatte ihr versprochen, sich baldmöglichst um die gemeinsame Urlaubsplanung zu kümmern. Auch wenn es vielleicht nicht Schottland, sondern nur die Lüneburger Heide werden würde. Agnes hatte gelacht und ihm zum Abschied einen ausgiebigen Kuss auf den Mund gegeben.

Das, was sie so besonders machte, war ihre Art, mit auf den ersten Blick schwierigen Situationen umzugehen. Ihre Gelassenheit war einer der Hauptgründe, weshalb er sich in sie verliebt hatte. Manchmal erinnerte ihn ihre Beziehung sogar an die Anfangszeit mit Wiebke. Aber Agnes war vollkommen anders. Sie war älter und reifer als Wiebke. Weniger impulsiv, stattdessen besonnen und überlegt. Vor allem wusste sie genau, was sie wollte. Und ließ ihm dabei seine Freiheiten, weil sie sich auch selbst welche nahm.

Andresen passierte den Kaufhof auf der Schlutuper Straße und spürte eine leichte Nervosität. In seiner Zeit als Kriminalpolizist hatte es vielleicht zwei Handvoll Fälle gegeben, die ihn auch persönlich an seine absolute Grenze geführt hatten. Wenn es stimmte, was Ida-Marie vermutete, nämlich dass Blum nicht ganz so freiwillig Suizid begangen hatte, dann würde das, was ihn in dieser Angelegenheit an öffentlichem Interesse erwartete, womöglich alles, was er zuvor erlebt hatte, übertreffen. Und mit Sicherheit nicht in positiver Hinsicht.

Was auch immer in der JVA geschehen war, wenn es irgendetwas mit Ralf Blums Mord an dem Jungen zu tun hatte, würde es nicht nur ihn aufwühlen, sondern in der ganzen Stadt Emotionen hervorrufen, auf die er gut und gerne verzichten konnte. Es graute ihm davor, dass all das, was die Stadt damals vor eine harte Belastungsprobe gestellt hatte, erneut hochkochen könnte.

Andresen stellte seinen Wagen im Marliring ab und lief die letzten Meter in Richtung Hauptportal der JVA Lauerhof. Sein mulmiges Gefühl im Bauch verstärkte sich noch, als er plötzlich einen Reporter des NDR samt Kamerateam erkannte.

Wie zum Teufel konnte es sein, dass die Medien schon informiert waren? Wenn es bereits jetzt undichte Stellen gab, schwante ihm Böses für die Ermittlungen.

Innerhalb der Mauern

Mit Unbehagen schlug er das Laken zurück. Erst nach einigen Sekunden öffnete er die Augen und blickte auf den toten Körper, der da vor ihm auf der Pritsche in seiner Gefängniszelle lag.

Andresen hatte mit vielem gerechnet, was ihm in diesem Moment womöglich durch den Kopf gehen würde. Umso überraschter war er, dass er ausgerechnet an seine Exfrau Rita denken musste, mit der er noch am Abend dieses verhängnisvollen Tages vor mittlerweile dreißig Jahren zusammengekommen war.

Es war der Tag gewesen, der ihn rückblickend vielleicht erst zu einem richtigen Kriminalpolizisten gemacht hatte. Er hatte das größtmögliche Leid erlebt, als sie im Keller eines Hauses in St.Gertrud die Leiche des achtjährigen Julian Christensen gefunden hatten. Bis zuletzt hatten sie gehofft, dass er noch am Leben wäre. Doch sein Peiniger, dem Andresen in diesem Moment in die toten Augen sah, hatte sie angelogen. Er hatte behauptet, den Jungen nicht umgebracht zu haben. Nicht einmal in dem Moment, wo sie ihn bereits überführt hatten, war er Manns genug gewesen, die Wahrheit zu sagen. Etwas, das Andresen niemals vergessen hatte. Denn das, was seine Kollegen und er und auch die ganzen Rettungskräfte in diesem Keller letztlich gesehen hatten, hatten die meisten von ihnen nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Jeder Einzelne von ihnen würde diese Bilder mit ins Grab nehmen.

Dass Andresen noch an diesem Abend in der Lage gewesen war, sich auf Rita einzulassen und das Herz der Frau zu erobern, die er anschließend geheiratet und mit der er einen Sohn bekommen hatte, erschien ihm aus heutiger Sicht kaum vorstellbar. Vielleicht war er mit Mitte zwanzig noch in der Lage gewesen, Job und Privates stärker voneinander zu trennen. Etwas, das ihm in den Folgejahren immer schlechter gelungen war.

»Bevor du dich fragst, warum er noch immer auf seiner Pritsche liegt: Alles andere hätte hier nur zu Aufruhr geführt.«

Andresen wandte sich um. Ida-Marie, die ihn einige Minuten lang mit Blum allein gelassen hatte, war in die Zelle getreten und blickte ihn nachdenklich an.

»Wir müssen aufpassen«, sagte sie mit deutlich gesenkter Stimme. »Blum war nun mal kein normaler Häftling.«

»Vielen Dank für die Aufklärung.« Andresen verzog den Mund und wandte sich wieder der Leiche zu. »Hilfreicher wäre es, zu wissen, was genau hier passiert ist.«

»Wüsste ich das so genau, hätte ich dich wahrscheinlich gar nicht angerufen«, antwortete Ida-Marie nüchtern. »Um kurz nach sechs heute Morgen ging der Notruf aus der JVA bei uns ein. Morten war als Erster hier, kurz danach traf ich dann ein. Was wir vorgefunden haben, ist im Wesentlichen das, was du hier siehst. Die Wärter haben Blum allerdings hoch auf die Pritsche gelegt, nachdem sie ihn auf dem Boden liegend gefunden haben.«

»Es wäre besser gewesen, sie hätten ihn nicht angerührt.«

»Schon klar. Es besteht aber meines Erachtens kein Zweifel, dass Blum sich selbst das Leben genommen hat.«

»Und trotzdem hast du mich angerufen«, sagte Andresen.

»Wie ich bereits am Telefon sagte, haben wir einen Zeugen.«

»Der was genau weiß?«

»Als Morten hier aufgekreuzt ist, hat ihm ein Häftling im Vorbeigehen etwas zugeflüstert.«

Andresen sah Ida-Marie erwartungsvoll an.

»Morten hat die Worte nicht ganz genau verstanden, aber er ist sich ziemlich sicher, dass der Mann gesagt hat, es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, dass Blum stirbt. Nach allem, was in den letzten Wochen passiert wäre. Das spricht zwar nicht unbedingt gegen Suizid, klingt aber allemal seltsam.«

»Das ist alles?« Andresen war überrascht.

»Leider ja.«

»Dann sollten wir so schnell wie möglich noch einmal mit diesem Zeugen sprechen«, sagte Andresen.

»Habe ich schon versucht«, erklärte Ida-Marie. »Das Problem ist, er schweigt mittlerweile. Kein einziges Wort habe ich aus ihm herausbekommen.«

»Wie ist sein Name?«

»Markus Thelen.«

»Nie gehört.«

»Kommt aus Geesthacht. Er sitzt seit vier Jahren wegen Totschlag ein.«

»Wir werden es später noch einmal versuchen.« Andresen kratzte sich nachdenklich. »Warum ist Seelhoff noch nicht hier?«

»Im Urlaub.«

Andresen nickte. Ihm fiel wieder ein, dass er sich letzte Woche vom Leiter der Kriminaltechnik verabschiedet hatte.

»Siederdissen und ein Kollege sind auf dem Weg. Sie werden sich Blums Zelle vornehmen. Aber Seelhoff ist auch verständigt, sofern es denn notwendig ist, dass er zurückkommt.«

»In Ordnung, dann müssen wir uns wohl noch ein paar Stunden gedulden, bis wir uns sicher sein können, dass es wirklich Suizid gewesen ist.« Andresen klang ernüchtert. »Was ist mit Sydow?«

»Eben erst gekommen. Er sah noch übellauniger als sonst aus.«

Andresen kannte Karsten Sydow schon seit mehr als zwanzig Jahren. Der Leiter der JVA Lauerhof gehörte mittlerweile fast zum Inventar, genau wie einige seiner Häftlinge. Er hatte aber niemals mehr als nur ein paar Floskeln mit dem Mann ausgetauscht.

Er mochte ihn nicht, niemand mochte ihn. Sydow war unkooperativ, schikanierte Mitarbeiter und Häftlinge gleichermaßen und trug aus Andresens Sicht die Hauptschuld daran, dass die Haftanstalt in den letzten Jahren immer mehr in Verruf gekommen war.

»Meine Laune ist auch nicht besonders gut«, sagte Andresen schließlich. »Vielleicht nicht die besten Voraussetzungen für ein Gespräch mit ihm, andererseits habe ich aber nicht wenig Lust, ihn ein wenig in die Mangel zu nehmen.«

Karsten Sydows Büro war kaum größer als eine der üblichen Einzelzellen. Das war allerdings auch schon die einzige Gemeinsamkeit, denn die Ausstattung konnte nicht unterschiedlicher sein.

Sydow hatte sein Büro geschmacklos, aber aufwendig eingerichtet. Das ganze Ambiente erinnerte Andresen ein wenig an ein Kaminzimmer in herrschaftlichen Villen. Die kleine Ledercouch machte einen edlen Eindruck. Auf dem schweren Schreibtisch, der in jedem guten Anwaltsbüro besser aufgehoben gewesen wäre, stand eine messingverzierte Lampe, die das Zimmer in ein warmes Licht hüllte.

Als Andresen den Raum betrat, spürte er einen weichen Teppich unter seinen Füßen. Er hatte keine Ahnung von Teppichen, aber er war sich anhand des Musters einigermaßen sicher, dass es sich um einen Perser handelte.

»Und, freuen Sie sich jetzt?«

Andresen und Ida-Marie fuhren herum. Karsten Sydow hatte direkt hinter ihnen den Raum betreten und stand nun mit verschränkten Armen vor ihnen. Mit seinen lichten blonden Haaren, dem stämmigen Körper und der pockigen Gesichtshaut erinnerte er Andresen an einen Schauspieler, dessen Name ihm jedoch nicht einfallen wollte.

»Wir verstehen unseren Job keineswegs so, dass wir nach derartigen Vorfällen lechzen«, entgegnete Andresen. »Falls Sie das gemeint haben.« Er trat einen Schritt auf Sydow zu und streckte ihm die Hand entgegen.

Sydow ignorierte die Geste und schob sich an den beiden vorbei, um sich hinter seinen Schreibtisch zu setzen.

»Ich weiß selbst erst seit ein paar Minuten, was hier vorgefallen ist, und schon belästigen Sie mich in aller Frühe.« Er nahm ein Tablet vom Tisch und tippte eine Weile darauf herum, ohne Andresen und Ida-Marie zu beachten.

»Ralf Blum ist tot«, sagte Andresen und durchbrach die Stille.

»Hier sterben alle paar Wochen Häftlinge«, entgegnete Sydow gelangweilt. »Weshalb sollte das in diesem Fall etwas Besonderes sein? Nur weil der Tote Ralf Blum heißt? Wie ich gehört habe, gibt es nichts, das auf ein Fremdverschulden schließen lässt.«

»Interessant, dass Sie überhaupt in Erwägung ziehen, dass es sich um ein Fremdverschulden handeln könnte«, sagte Andresen. »Vielleicht haben Sie es ja noch nicht mitbekommen, aber einer Ihrer Häftlinge behauptet, geahnt zu haben, dass sich Blum umbringen wird. Uns würde interessieren, wie dieser Zeuge zu so einer Aussage kommen kann.«

»Jetzt bin ich aber mal gespannt, wer von diesem Pack meint, sich äußern zu müssen.«

»Hören Sie, Sydow, ich weiß, dass Sie das alles hier nur machen, weil Sie irgendwann in grauer Vorzeit mal auf diesen Posten gekommen sind. Aber glauben Sie nicht, dass es ernsthaft an der Zeit wäre, sich um das Notwendige zu kümmern, um den Laden hier mal vernünftig zum Laufen zu bringen?«

»Ich habe tatsächlich mal gedacht, Sie wären keiner von diesen Typen, die zu wissen glauben, wie das hier abläuft. Aber da habe ich mich wohl geirrt.«

»Wie läuft es denn? Sagen Sie es mir.«

»Sie wissen wirklich gar nichts«, antwortete Sydow und winkte müde lächelnd ab. »Genauso schlimm wie die meisten dieser Provinzpolitiker in Schleswig-Holstein, die mir ständig erzählen wollen, wie das hier besser zu managen wäre. Das langweilt mich.«

»Reden wir ganz einfach über Ralf Blum.« Andresen blieb unbeeindruckt. »Was können Sie über ihn sagen?«

»Was wollen Sie denn hören?«

»Ich will erfahren, was hier vorgefallen ist. Wurde Blum von jemandem so bedroht, dass er sich schließlich umgebracht hat?«

»Wer bitte schön wird hier nicht bedroht? Wegen solcher Lappalien bringt man sich doch nicht um.«

»Dann sagen Sie mir doch mal, weshalb man sich umbringt. Sie kennen Ihre Häftlinge wohl am besten.«

»Um es ganz deutlich zu sagen, mir ist es vollkommen egal, weshalb diese Typen hier des Lebens überdrüssig werden. Blum wurde Zurechnungsfähigkeit bescheinigt, deshalb saß er hier ein. Wir sind keine Psychoklinik.«

Aus dem Augenwinkel erkannte Andresen, dass Ida-Marie innerlich kochte und etwas entgegnen wollte. Mit einer Handbewegung hielt er sie zurück.

»Lassen wir das«, sagte er. »Der Innenminister wird sicherlich wissen, weshalb er das hier durchgehen lässt. Als leitender Ermittler der Kripo Lübeck erwarte ich jedoch von Ihnen, dass Sie meine Fragen beantworten und dabei helfen, den Tod von Ralf Blum aufzuklären.«

»Ich weiß zwar nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, aber stellen Sie schon Ihre Fragen.«

»Das tat ich bereits«, sagte Andresen. »Wir haben die Aussage Ihres Häftlings Markus Thelen, dass es nur eine Frage der Zeit gewesen sei, bis