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An einem Sommertag 1888 setzt sich eine Frau mit ihren beiden Söhnen in eine motorisierte Kutsche, die ihr Mann gebaut hat - mit ihrer waghalsigen Probefahrt verhilft Bertha Benz dem Automobil zum Durchbruch. 1945 übernehmen zwei Brüder in Essen den Tante-Emma-Laden ihres Vaters - Karl und Theo Albrecht begründen damit das Discountmodell im Einzelhandel. Sternstunden wie diese prägten die deutsche Wirtschaftsgeschichte. Sie legten die Grundsteine für Weltkonzerne, für die soziale Marktwirtschaft und den Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland. Die Pioniere von damals glänzten durch Eigenschaften, von denen "die Entscheider von heute" noch immer vieles lernen können. 20 Meilensteine "Made in Germany" stellt dieses Buch in packenden Reportagen vor. Es verdeutlicht anschaulich, wie wir von diesen Errungenschaften profitieren.
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Seitenzahl: 214
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Massimo Bognanni, Sven Prange
MADE IN GERMANY
Große Momente der deutschen Wirtschaftsgeschichte
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
An einem Sommertag 1888 setzt sich eine Frau mit ihren beiden Söhnen in eine motorisierte Kutsche, die ihr Mann gebaut hat – mit ihrer waghalsigen Probefahrt verhilft Bertha Benz dem Automobil zum Durchbruch. 1945 übernehmen zwei Brüder in Essen den Tante-Emma-Laden ihres Vaters – Karl und Theo Albrecht begründen damit das Discountmodell im Einzelhandel. Sternstunden wie diese prägten die deutsche Wirtschaftsgeschichte. Sie legten die Grundsteine für Weltkonzerne, für die soziale Marktwirtschaft und den Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland. Die Pioniere von damals glänzten durch Eigenschaften, von denen »die Entscheider von heute« noch immer vieles lernen können. 20 Meilensteine »made in Germany« stellt dieses Buch in packenden Reportagen vor. Es verdeutlicht anschaulich, wie wir von diesen Errungenschaften profitieren.
Vita
Massimo Bognanni ist Reporter im Investigativteam beim Handelsblatt. Sven Prange ist Mitglied der Chefredaktion und Textchef der WirtschaftsWoche.
Vorwort
1817 — Friedrich List –Wegbereiter des Deutschen Zollvereins
Die Auswandererbefragung von Heilbronn
König Wilhelm I. läuft das Volk davon
Notausgang: Amerika
Die Wut der Bürger
Was daraus wurde
Lesetipp
1827 — Ernst-Wilhelm Arnoldi –Erste Lebensversicherung
Kleiner Kniff mit großer Wirkung
Schlauer Trick oder eiskalter Betrug?
Solidarität, nicht Gewinnmaximierung
Was daraus wurde
Lesetipp
1848 — Karl Marx und Friedrich Engels –Gründungsdokument der Arbeiterbewegung
Ein Gespenst geht um
Brüsseler Bürgerschrecks
Der Gründungsakt des Kommunismus
Was daraus wurde
Lesetipps
1851 — Alfred Krupp –Startschuss für die industrielle Aufholjagd
»Großpapas Gruß«
Das »Monsterpiece«
Training für die Sensation
Inkognito bei der Konkurrenz
Ein merkwürdiger Denkstein
Was daraus wurde
Lesetipp
1868 — Carl Isambert –Geburtsstunde der Technischen Überwachungsvereine
Unter Dampf
Die Katastrophe von Mannheim
Lebensgefährliche Sorglosigkeit
Mehr Glück als Verstand
Vorbild für die Nation
Was daraus wurde
Lesetipp
1875 — Carl, Werner und Wilhelm Siemens –Pioniere der Globalisierung
Nerven wie Kupferkabel
Eine Verbindung zwischen Europa und Amerika
Die »Faraday« sticht in See
Was daraus wurde
Lesetipps
Hörtipp
1883 — Carl Ferdinand von Stumm-Halberg –Grundstein für die Sozialpartnerschaft
Eiserne Fürsorge
König, Kanzler, Industrieller
Ökonomisch progressiv, politisch reaktionär
Was daraus wurde
Lesetipps
1888 — Bertha Benz –Erste Fernfahrt mit dem Auto
Mannheimer Verschwörung
Auf nach Pforzheim!
Ein ungleiches Paar
Endlich am Ziel
Was daraus wurde
Lesetipps
1909 — Carl Bosch und Fritz Haber –Kunstdünger gegen den Welthunger
Brot aus der Luft
Macht Stickstoff satt?
Im Dienst der BASF
Was daraus wurde
Lesetipps
1918 — Hugo Stinnes und Carl Legien –Beginn der deutschen Tarifautonomie
Das Zweckbündnis
Abhängig vom Krieg
Die Not wird größer
Was daraus wurde
Lesetipps
1934 — Ferdinand Porsche –Dunkle Stunde der Automobilindustrie
Des Führers Beifahrer
Motorisierung der Massen
Auf dem Weg zum »Volkswagen«
Was daraus wurde
Lesetipp
1942 — Berthold Beitz –Widerstand gegen das NS-Regime
Der Widerstandskämpfer
Dem Wahnsinn Einhalt gebieten
Denunzianten und Neider
Was daraus wurde
Lesetipps
1948 — Edward Tenenbaum –Einführung der D-Mark
Die Väter der D-Mark
Fünf Parteien, fünf Ideen
Der Amerikaner, der die Mark erfand
Offene Opposition
Was daraus wurde
Lesetipps
1953 — Hermann Josef Abs –Abschluss des Londoner Schuldenabkommens
Mit Witz, Charme und Melone
Melone, Bowler, Dreiteiler
Es knirscht im Getriebe
»Warten, warten, weitermachen«
Eine »gerechte und billige Regelung«
Was daraus wurde
Lesetipps
1956 — Dieter Rams –Erfindung einer neuen Formensprache
Der Mann hinter Schneewittchen
Von Wiesbaden nach Frankfurt
SK4 (Farbe RAL 9002, grauweiß)
Was daraus wurde
Lesetipp
1962 — Karl und Theodor Albrecht –Revolution im Einzelhandel
Billig will ich
Der Beginn einer Ära
Große Ideen, wenig Kapital
Brüderlicher Wettstreit
Was daraus wurde
Lesetipps
1965 — Ludwig Bölkow –Geburtsstunde von Europas Flugzeugindustrie
Das Prinzip Vogelflug
Kampf gegen die Blockbildung
Keine halben Sachen
Was daraus wurde
Lesetipps
1972 — Dietmar Hopp –Neustart in der Computerwelt
Sturm und Drang aus Mannheim
Sprung in die Selbstständigkeit
Was daraus wurde
1977 — Martin Herrenknecht –Weltmarktführer aus der Provinz
»German Mittelstand«
Zur Not durch Stock und Stein
Allein unter Eigenbrötlern
Was daraus wurde
Lesetipp
1991 — Birgit Breuel –Machtwechsel bei der Treuhandanstalt
Verblühte Landschaften
Im Zweifel: Für den Markt
Ossis gegen Wessis?
Was daraus wurde
Lesetipps
Danksagung
Die Stimmungslage der Deutschen könnte widersprüchlicher kaum sein. Einerseits durchlebt das Land heute eine der wirtschaftlich stärksten Epochen seiner Geschichte. Deutsche Unternehmen sind Exportweltmeister, deutsche Premiumprodukte in aller Welt gefragt und nie war die Arbeitslosigkeit niedriger.
Einerseits. Andererseits ist dieses Deutschland auch verzagt. Man mag »die Moderne« nicht mehr so gerne, man hat Angst vor offenen Grenzen und freiem Handel. Man schaut neidisch auf die amerikanischen Internetkonzerne und fragt bange: Was lassen die wohl von meinem Arbeitsplatz, meinem Unternehmen übrig, wenn die digitale Revolution erst mal über uns geschwappt ist?
Sie denken dann an Fragen wie: Ist unser einzigartiger Mittelstand weiterhin die Zier der Ökonomie, wenn demnächst der Geist der digitalen Revolution die Leitwährung der globalen Industriegesellschaft wird? Wovon wollen wir leben, wenn die Weltgesellschaft demnächst in Google-Cars statt Daimlers durch die Metropolen fährt? Und was macht der deutsche Tüftler demnächst, wenn ihn intelligente Roboter aus der Werkshalle verdrängt haben?
Wie so oft hilft »der Blick zurück« dabei, Ängste zu nehmen. Denn die derzeitige Phase des Umbruchs ist für den Kern der deutschen Wirtschaft keine neue Erfahrung. Zweimal musste sie sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten neu erfinden. Das erste Mal zu Beginn der Industrialisierung. Und das zweite Mal nach dem Zweiten Weltkrieg, als Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland einen moralischen wie wirtschaftlichen Bankrott zu verzeichnen hatten und schon deswegen wieder von vorn beginnen mussten.
Zweimal hat dieser Neuanfang sehr stabile ökonomische Fundamente für die folgenden Epochen gelegt. Wenn wir jetzt also in einer Phase sind, in der die digitale Revolution und die große Krise des Finanzkapitalismus unser Wirtschaftssystem zum dritten Mal grundlegend verändern, hilft der Blick auf die Essenzen der ersten zwei Umwälzungen – auf die Meilensteine der deutschen Wirtschaftsgeschichte.
Es sind Ereignisse, die die Grundsteine dafür legten, dass Deutschland der große Gewinner der derzeitigen Globalisierung ist. Aus diesen Meilensteinen kristallisieren sich Tugenden heraus, die unser Wirtschaftssystem charakterisieren, wenn es sich heute auf den Weg in die Zukunft macht – Lehren, aus welchen Eigenschaften sich welche Stärken unseres Wirtschaftssystems entwickelten. Exemplarisch seien da genannt:
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die Aufmüpfigkeit, mit der Friedrich List und Karl Marx den deutschen Obrigkeitsstaat herausforderten und die soziale Frage thematisierten,
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die Schlitzohrigkeit, mit der Ernst-Wilhelm Arnoldi oder Alfred Krupp große Konzerne gründeten,
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Moral, ohne die Wirtschaft nicht funktioniert, wie die Biografien von Berthold Beitz im Positiven und Ferdinand Porsche im Negativen zeigen,
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das Gespür für die soziale Frage, mit dem Ferdinand von Stumm-Halberg und Hugo Stinnes das deutsche Miteinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern begründeten,
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der Wagemut, mit dem Bertha Benz das Auto durchsetzte,
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das Verhandlungsgeschick und die Kompromissbereitschaft, mit der Hermann Josef Abs an der Spitze der Deutschen Bank brillierte und Birgit Breuel die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft vorantrieb,
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die Geradlinigkeit, mit der die D-Mark ins Leben gerufen wurde und, ganz wörtlich genommen, Dieter Rams deutsche Designgeschichte schrieb,
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die Kooperationsbereitschaft, die bei der Gründung der deutschen Chemie-Branche und der deutschen Luftfahrt so wichtig war,
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die Fantasie, mit der nach dem Krieg die Brüder Karl und Theo Albrecht das Discount-Prinzip erfanden oder die SAP-Gründer später den einzigen deutschen IT-Konzern von Weltgeltung formten,
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die Weltoffenheit, ohne die Industriekonzerne wie Siemens oder der komplette deutsche Mittelstand nie zu Größe gelangt wären.
Das also sind zehn Eigenschaften, die zeigen: Die Wirtschaft braucht Macher, die bereit sind, Bestehendes zu hinterfragen, und die mit den gewonnenen Erfahrungen Neues errichten wollen. Dieses Buch will helfen, anschaulich und nah an den Protagonisten, die Erinnerung an diese Erfahrungen zu bewahren. Die Entdeckungsreise durch die Wirtschaftsgeschichte unseres Landes bringt dabei erstaunlich aktuelle Lehren zutage.
Friedrich List– Wegbereiter des Deutschen Zollvereins
1781
Immanuel Kant veröffentlicht die Kritik der reinen Vernunft, ein Schlüsselwerk der europäischen Aufklärung.
1782
Friedrich Schillers Drama Die Räuber wird in Mannheim uraufgeführt. Zusammen mit Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther (1774) läutet es die Epoche des literarischen »Sturm und Drang« ein.
1785
Eine Personenreise von Paris nach Straßburg dauert nach dem Ausbau eines Chausseenetzes aus befestigten Straßen rund viereinhalb Tage.
1800
Schätzungsweise 900 Millionen Menschen leben auf der Erde, davon 50 Millionen in Städten über 10 000 Einwohnern.
1815
Der auf dem Wiener Kongress ins Leben gerufene Deutsche Bund umfasst 41 souveräne Staaten.
Friedrich List ist unbequem. Schonungslos sagt er selbst dem König, was im Lande Württemberg schief läuft. Das Leid Tausender Auswanderer erregt ihn so sehr, dass er nach Lösungen sucht. Er wird zum Vordenker der Deutschen Zollunion.
Die Sondermission ist heikel. Seine Königliche Majestät hat sie persönlich angeordnet. Und der Innenminister hat im größtmöglichen Gehorsam seinen besten Mann ausgewählt: Es ist Friedrich List, ein junger Rechnungsrat in Stuttgart, der am 29. April 1817, 17 Uhr, das Briefkuvert mit dem königlichen Siegel aufschlitzt. Aufgeregt überfliegt der 28-jährige Beamte das Schreiben mit dem königlichen Auftrag.
Es hat Eile, denn die Auswanderungswelle sorgt für Druck. Seit Januar 1816 haben 19 000 Menschen die Ausreise beantragt. Pächter, Bauern, Handwerker – sie alle wollen das kleine Königreich Württemberg verlassen. Am 1. Mai soll ein Transporter mit Auswanderern von Heilbronn losschippern, über den Neckar, auf den Rhein, bis zu den Atlantikhäfen der Niederlande – und von dort geht es auf die große Überfahrt nach Amerika, ins Land der Freiheit und des steigenden Wohlstands.
»Seine Königliche Majestät haben sich zu dem Befehle gewogen gefunden, dass hierüber nähere Untersuchung durch Vernehmung der Auswanderer eingeleitet werden soll«, heißt es in dem Brief, der List erreicht hat. Und, falls möglich, solle der Regierungsrat die Auswanderungswilligen »durch angemessene Belehrung« gleich von ihrem Vorhaben abbringen.
Ein Grinsen huscht über Lists bubenhaftes, von franseligen Koteletten eingerahmtes Gesicht. Innenminister Karl von Kerner scheint ihm wohlgesonnen, denn es ist nicht der erste Sonderauftrag für das junge Talent. Wie vor einem Jahr, als er die Verwaltung seiner Heimatstadt Reutlingen prüfen sollte. Die Bürger der einst unabhängigen Reichsstadt hatten es nicht verkraftet, fortan von Oberamtmann Veiel verwaltet zu werden, diesem ihrer Meinung nach korrupten und inkompetenten Autokraten. List prüfte seine Verwaltung schonungslos. Da halfen auch die Proteste Veiels nicht, List sei doch als gebürtiger Reutlinger parteiisch. Der Nachwuchsbeamte List schlug vor, die Buchführung zu vereinfachen, ausstehende Steuern sofort einzutreiben und verlustbringende städtische Betriebe zu verkaufen: eine Ohrfeige für den Oberamtmann. Veiel wurde strafversetzt – unter dem Jubel der Reutlinger.
Zum Dank bekam List eine Festanstellung als Rechnungsrat und fortan ein ansehnliches Monatssalär von 1 200 Gulden. Jetzt soll er also in Heilbronn tätig werden. Einmal mehr ist Lists kritischer Blick gefragt. Am frühen Morgen passiert er den Fleiner Torturm, eilt durch die Fleiner Straße, vorbei an der Kilianskirche, durch die Kirchbrunnenstraße zum Brückentor, in die dicht bebaute Altstadt. Enge Gassen, schiefe Fachwerkhäuser, kleine Marktplätze: ein beschauliches Städtchen, das weniger als 10 000 Einwohner zählt.
Bevor er seine Mission beginnt, meldet sich der Rechnungsrat beim Oberamt der Stadt Heilbronn, mit dem königlichen Kuvert wedelnd. Ordnung muss sein. Zwei Einheimische begleiten ihn zum Hafen. Als wolle sie sich anschauen, welch Unheil sie über Württemberg gebracht hat, steigt an diesem April-Morgen über dem Hafen die Sonne auf. Endlich Sonne – ein ganzes Jahr hat sie sich nicht blicken lassen. »Achtzehnhundertunderfroren« hatten sie das düstere, eisige Jahr 1816 geschimpft. Die Getreide- und Kartoffelernte war ausgefallen, es folgte die große Teuerung. Brot kostete ein Vermögen. »Herr, gib uns täglich Brot aus Gnaden immerdar. Vor Mangel, teurer Zeit uns fernerhin bewahr«, beteten die Menschen. Es half nichts. Vor allem die Arbeiter mussten ihre bescheidenen Besitztümer verkaufen, um zu überleben. Zehntausende verarmten völlig.
Wie wimmelnde Ameisen laufen Hunderte Menschen vor dem Heilbronner Hafenkai umher. Voll bepackte Pferdekarren knarzen über das Kopfsteinpflaster. Ächzend hievt der hölzerne Kran unentwegt Fracht auf die Schiffe. Auf dem Hafenvorplatz hausieren Menschen zwischen Habseligkeiten, andere drängen schon auf die Schiffe. Insgesamt 600 bis 700 Württemberger bereiten sich auf die lange Reise vor. Acht Kähne haben am Ufer festgemacht, fertig für die Abfahrt in 48 Stunden.
Es wird ein Wettrennen. Immerhin ist List als Journalist, als der er sich nebenher versucht, das Befragen von Menschen nicht fremd. Er quartiert sich direkt am Hafen ein, im Gasthaus Zum Kranen. Gleich vor seiner Bleibe werden Auswanderungswillige ins Verzeichnis aufgenommen und geben ihre Fracht auf. Check-in ins gelobte Land. List packt einen Mann bei der Schulter, beugt seinen pausbäckigen Wuschelkopf vor, redet mit ruhiger Stimme. Er bitte um Entschuldigung, und dies im Namen der Königlichen Majestät. Er sei aus Stuttgart angereist. Keineswegs sei gemeint, der Auswanderung irgendein Hindernis in den Weg legen zu wollen. Es gehe lediglich um eine Erkundung der Gründe.
Nach einigem Zögern spricht der Auswanderer Jakob Strähle, Zimmermann aus Eggolsheim (Oberamt Ludwigsburg), verheiratet, drei Kinder. Offenherzig, so bittet List, solle Strähle die Ursachen schildern, warum er sein Vaterland verlassen wolle, um in ein entferntes, noch nicht entwickeltes Land zu ziehen.
Zum ersten Mal wird Strähle von offizieller Seite nach seinem Befinden gefragt. Der Zimmermann lässt sich nicht lange bitten. Keinen Verdienst habe er, klagt Strähle. Dazu noch dieser ständige Druck: »Wir mögen klagen, wo wir wollen, so finden wir kein Recht. Die Abgaben sind eben zu groß. Anno 1811 haben wir dem König die Straßenkosten vorschießen müssen, aus unserem Beutel, und man sagte uns, es werde wieder zurückbezahlt. Jetzt hören wir, der Amtspfleger, der die Kasse verwaltet, habe das Geld schon vor zwei Jahren erhalten und treibe es um.«
Strähles Stimme bebt. Als sei ein Damm gebrochen, sprudelt der aufgestaute Verdruss ganzer Jahre aus ihm heraus. Die Getreideabgabe zum Beispiel: Dieses Frühjahr habe man sie von ihm erhoben, ungeachtet, dass er selbst überhaupt keine Güter besitze. Als er dem Bürgermeister und dem Schultheiß, dem städtischen Schuldeneintreiber, vor der ganzen Gemeinde klagte, er selbst habe seit Monaten kein Mehl mehr, habe es nur geheißen: »So ist der Befehl. Und wenn ihr nicht liefert, so schicke ich euch den Presser!«
Hinzu kommen die ständigen Demütigungen. Bei den Beamten höre man nichts als Schimpfwörter – »Flegel« sei noch das mindeste. Beim Eintreiben der Steuer und bei Straßen- und anderen Verträgen sei der Beamte immer der Unternehmer und nehme den Bürgern das Brot vor dem Munde weg. Strähle, der frustrierte Zimmermann, redet sich in Rage, er holt mit seinen Pranken aus, schlägt durch die Luft. »Er lässt durch seinen minderjährigen Sohn, der nicht verheiratet ist, draufschlagen«, schreit Strähle, »und wenn ein anderer Bürger draufschlägt, ist er in Verdammnis.«
Mehr als hundert Auswanderer befragt der als Sonderbotschafter eingesetzte List an den kommenden Tagen, und zwar nicht nur in Heilbronn, sondern auch in Neckarsulm und Weinheim. Was er hört, stimmt ihn nachdenklich. Korrupte Beamte allerorten, die autokratisch, unehrenhaft und unfähig sind. Geschichten von Despoten werden ihm berichtet, die ganze Städte unter sich aufteilen, von Beamten, die Spenden des Königs für die Hungerleidenden höchstbietend verscherbeln.
Gleichzeitig schmilzt die große Teuerung die Einkommen der Bürger dahin – verschlimmert durch Gemeindesteuern, Kirchenzehnten, Abgaben. Schließlich fordert auch noch der Adel seinen Tribut. Dessen Wildschweine für die Jagd zerstören die Felder der Bauern. Eine Entschädigung gibt es nicht. Selbst das Sammeln von Feuerholz in ihren Wäldern verbieten die Aristokraten. So unsicher das Leben des einfachen Volkes, so sicher ist ihm nur eines: die Willkür vor den Gerichten. Auch hier hat die Korruption Einzug gehalten.
Kaum ist List an seinen Schreibtisch zurückgekehrt, schreibt er seinen Abschlussbericht (»Stuttgart, der 7. Mai 1817«). Mit spitzer Feder prangert er die »mangelhaften Institutionen des Staates an«, ferner Korruption, Armut, Arbeitslosigkeit. Als Medizin schlägt er vor, die Macht der Feudalherren zu beschneiden. Es sind keine leicht bekömmlichen Worte, keine einfache Rezeptur, die List seinem Monarchen, König Wilhelm I., da serviert. Und damit nicht genug: Die ganze Gemeindeverwaltung müsse neu geordnet werden, schimpft List nach der Expedition in ein geknechtetes Land.
Doch es gibt in seinen Augen ein übergeordnetes Übel. Wenn er, wie List schreibt, die Resultate seiner Untersuchung in einem Satz zusammenfasse, so gebe es eine Grundursache für die Auswanderung: »Übelbehagen, das heißt Druck, Mangel an Freiheit, in ihren bisherigen Verhältnissen als Staats- und Gemeindebürger.«
Der Mangel an Freiheit als Grundübel ist das Motiv, das den ehrgeizigen Beamten nicht mehr loslassen wird. Geprägt von den Armutsbefragungen im Jahr 1817 wird List ein Vordenker des Liberalismus. Wenig später überträgt er diese Denkweise auf die Wirtschaft und wird Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Handels- und Gewerbevereins. In einer Petition fordert er 1819 vor der Bundesversammlung einen gemeinsamen deutschen Binnenmarkt.
Die Schranken der 39 Einzelstaaten, die Händlern auf deutschem Grund das Leben erschweren, sollen fallen. »Zoll- und Mautlinien in Deutschland lähmen den Verkehr im Innern und bringen ungefähr dieselbe Wirkung hervor, wie wenn jedes Glied des menschlichen Körpers unterbunden wird, damit das Blut ja nicht in ein anderes überfließe. Um von Hamburg nach Österreich, von Berlin in die Schweiz zu handeln, hat man zehn Staaten zu durchschneiden, zehn Zoll- und Mautordnungen zu studieren, zehnmal Durchgangszoll zu bezahlen«, heißt es in der Philippika des einstigen württembergischen Beamten.
Jahrzehntelang wird Friedrich List für seine Vision kämpfen. Wegen Verleumdung der Regierung und Verletzung des Pressegesetzes sollte der glühende Patriot ins Gefängnis. Mit seiner Auswanderung in die USA 1825 entging er der Strafe. In den Vereinigten Staaten war er Farmer, Kohleförderer, Zeitungsredakteur und Eisenbahnpionier.
Trotz aller Widerstände sollten Lists Ideen Gehör finden: Am 1. Januar 1834 tritt der Deutsche Zollverein unter preußischer Führung in Kraft: Der erste gemeinsame deutsche Wirtschaftsraum ist geboren. Norddeutsche und süddeutsche Staaten bildeten im Herzen Europas eine Freihandelszone von 30 Millionen Einwohnern. Zölle und Abgaben, die den Warenaustausch bis dato behindert hatten, wurden eingeschränkt oder fielen gleich ganz weg. Ökonomisch war der Zusammenschluss rasch ein Erfolg. Vor allem Produkte aus Preußen und Sachsen fanden ihren Weg vermehrt in den Süden. Und auch bei den Zahlungsmitteln kam man sich näher: Die Staaten entwickelten ein Taler-Gulden-System.
Über 181 Jahre nach Inkrafttreten seines Herzensprojektes ist der Vordenker Friedrich List den meisten Menschen in Deutschland weitgehend unbekannt. Häufig werden sein Name und seine Lehren mit Schutzzöllen und Protektionismus in Verbindung gebracht – und gelten manchem Experten als historisch überholt. Dabei nimmt List in der deutschen Geschichte einen wichtigen Platz ein – den des Wegbereiters des Deutschen Zollvereins. Zwar hat er an den Verhandlungen, die zum Zollverein führten, nie direkt teilgenommen. List hat aber öffentlich wie kein anderer für den Zollverein geworben und mit seinen Ideen und Lehren die Freihandelsdebatte befeuert.
Dank des Zollvereins erwuchs aus vielen deutschen Kleinstaaten erstmals eine gemeinsame Wirtschaftszone. Der Verein sorgte für einen wirtschaftlichen Aufschwung und bildete den Grundstein für die Einigung Deutschlands 1871. Manchen gilt dieses seltene Beispiel gelungener Integration sogar als Referenzpunkt der europäischen Integration.
Eugen Wendler, Friedrich List (1789–1846). Ein Ökonom mit Weitblick und sozialer Verantwortung, Wiesbaden 2013.
Ernst-Wilhelm Arnoldi– Erste Lebensversicherung
1817
Friedrich Harkort richtet auf der Burg Wetter an der Ruhr – nach englischem Vorbild – eine der ersten Maschinenfabriken in Deutschland ein.
1819
Mit den »Karlsbader Beschlüssen« sucht Fürst Klemens von Metternich die liberalen und nationalen Bestrebungen im Deutschen Bund zu bekämpfen.
1824
Franz Schuberts Liederzyklus »Die schöne Müllerin« bildet in der Musikgeschichte den Auftakt der Romantik.
1825
Mit der Eröffnung der weltweit ersten Eisenbahnstrecke zwischen Darlington und Stockton beginnt das Zeitalter der Eisenbahn.
Als Ernst-Wilhelm Arnoldi ins Versicherungsgeschäft einsteigt, nutzt er einen Trick. Er hat Erfolg und gründet daraufhin ein paar Jahre später die erste Lebensversicherung in Deutschland – eine Geldanlage, die die Deutschen bis heute lieben.
Er sitzt an jenem Abend wieder einmal in seiner Kammer und zerbricht sich den Kopf, wie so oft in den vergangenen Jahren. Es arbeitet in ihm, es drängt, er spürt dieses Gefühl aufgestauter Energie, das nur Menschen kennen, die wie er vor Ideen sprudeln und gar nicht damit hinterherkommen, sie umzusetzen. Es muss ihm doch gelingen, die Menschen zu überzeugen. Der Gedanke, den er mit sich herumträgt, ist doch so bestechend: Er will jetzt, da die Industrialisierung richtig Fahrt aufgenommen hat und »Handel und Wandel« immer größer werden, diese Geschäfte absichern: zunächst vor Feuerschäden, später auch vor anderen Risiken.
Ernst-Wilhelm Arnoldi weiß, dass dafür die kleinen Gemeinschaften auf Gegenseitigkeit, mit denen Menschen seit einigen Jahrhunderten sich und ihre Aktivitäten vor Risiken zu sichern versuchen, nicht mehr reichen. Man benötigt eine breitere Basis: Wenn ganz viele Menschen aus dem ganzen Reich in eine solche Versicherung regelmäßig ihre Prämien zahlen, dann könnte diese groß genug sein, auch einen großen Schaden in einem der Industriebetriebe, die sich nun auch im heimischen Thüringen ansiedeln, zu begleichen. Arnoldi hat in den Wochen zuvor die Idee verbreitet: beim Hof zu Gotha, seiner Heimatstadt, bei den Gewerbetreibenden vor Ort, im Bürgertum.
Ihm ist dabei klar geworden: Die Menschen vertrauen ihm nur, wenn ihm auch möglichst viele andere Menschen vertrauen. Nur dann haben sie die Gewissheit, dass Arnoldis Unternehmen aufgrund der Beitragszahlungen über ein so gutes Finanzpolster verfügt, dass es im Schadensfall auch zahlen kann. Es braucht also ausreichend viele Menschen, die den ersten Schritt gehen.
Es ist der Vorabend des Jahres 1821, und die Zeit drängt. Arnoldi, Backenbart, schütteres Haar, stechender Blick, hat ein halbes Jahr zuvor, am 2. Juli 1820, voller Optimismus sein Versicherungsunternehmen zu Gotha gegründet. In die Satzung hat er geschrieben: »Die Bank tritt erst in ihre volle Wirksamkeit, sobald die Summe der Versicherungen 4 Millionen Thaler erreicht.« Er hatte erwartet, dass sich bis zum 1. Januar 1821 schon eine noch größere Summe angesammelt haben werde.
Nun aber ist es Ende Dezember 1820, und die Anträge jener, deren Versicherungsbeginn auf den 1.1.1821 festgesetzt ist, belaufen sich nur auf 2,8 Millionen Thaler. Wenn er deswegen am nächsten Tag nicht startet, ist sein ganzer Plan hinüber. Merken die Vor-Zeichner, dass nicht ausreichend Policen verkauft wurden, werden sie womöglich misstrauisch und ziehen ihre Zusagen zurück.
Also beginnt er die Nummerierung jener Policen, die er ab dem nächsten Morgen ausgeben möchte, mit der Nummer 101 statt mit einer 1. Sein Kalkül: So glauben die ersten Policenbesitzer, bereits Mitglied einer größeren Gefahrengemeinschaft zu sein. Die Hand zittert, als sie den Wechsel fälscht – und dennoch gelingt der Trick.
Wenige Wochen später wird Arnoldis Feuerversicherungsbank mehrere hundert Kunden versichert haben. Einige Wettbewerber wittern zwar den Trick und schreien Betrug. Doch Arnoldis Kalkül geht auf: Nachdem einmal die kritische Masse erreicht ist, gibt es kein Zurück mehr. Ende 1821 wird der Bestand an Versicherungen auf 18,6 Millionen Thaler gewachsen sein. Und Arnoldi weiß: Sein Grundgedanke funktioniert. Er verwirklicht so zum ersten Mal in Deutschland ein Prinzip, das es im Vereinigten Königreich von Großbritannien bereits zu einigem Erfolg gebracht hat, im versprengten Deutschland aber noch seinesgleichen sucht: eine Großversion des Gegenseitigkeitsvereins mit nationalem Charakter, der die gesamte deutsche Wirtschaft anspricht.
Arnoldi ist dort 32 Jahre alt und nun felsenfest davon überzeugt, dass sich Risiken am besten absichern lassen, wenn möglichst viele Menschen kleine Beiträge in eine Kasse zahlen, um im Notfall für die Mitversicherten einspringen zu können. Und Risiken gibt es ausreichend: Feuer, Diebstahl, Maschinenschäden, die Gesundheit – ja, sogar das Leben.
Er ist in diesen Tagen, während seine Frau die vier Kinder aufzieht, mit der Idee immer mal wieder in der Gothaer Innungshalle aufgetreten. Er hat extra einen Verein gegründet, der dort regelmäßig tagt. Dessen einziger Zweck lautet: Arnoldi will Gothas Kaufleute dazu bewegen, sich mit seiner Idee einer »Versicherungsbank«, wie er das Geschäftsmodell nennt, zu beschäftigen. Die Farbenfabrik bei Remstedt und die Steingutfabrik bei Ilmenau, die ihm sein Vater schon 1813 überlassen hat, lasten ihn, der in seiner Freizeit gerne Lyrik schreibt und sich mit einem gewissen Johann Wolfgang von Goethe aus dem nicht weit entfernten Weimar trifft, schon lange nicht mehr aus. Eine Zeit lang hat er neben der Lyrik auch noch Energie darauf verwendet, eine Exporthandlung für thüringische Erzeugnisse in Richtung der holländischen Überseehäfen aufzubauen; diese Form des traditionellen Kaufmannstums aber langweilt ihn zusehends. Stattdessen treibt ihn die Frage um, wie sich die mit wachsenden Geschäftsvolumina steigenden Risiken absichern lassen.
Er hat diese Idee schon mal an einem Sommerabend 1818 zu Papier gebracht. Er weilte seinerzeit auf einer seiner vielen Reisen in Köln. Er saß des Abends, wie er das durchaus zu tun pflegte, alleine in seiner Herberge, als ihm diese Zeilen in den Sinn kamen: »Wer nur gerecht ist, wird hart; wer nur natürlich ist, wird roh. Sei gerecht und billig, natürlich und gesittet. Verdienstliche Handlungen erwerben Achtung. Liebe ist der Bescheidenheit Lohn; Heuchelei ist falsche Münze; Wahrheit ist echtes Gold. Auf krummen Wegen gehst Du krumm; Du gleitest auf schlüpfrigen. Geradheit ist des Mannes Zier.« Und für ihn steht an diesem Abend fest, welche »Geradheit« er der Nachwelt hinterlassen möchte. So schreibt Arnoldi an seine Gothaer Mit-Kaufleute: Er hoffe, dass »durch die Vereinigung aller deutschen Fabriken und Manufakturen für gemeinschaftliche Zwecke eine Versicherungsanstalt zustande käme«.
Sein Vorbild sind die englischen Feuerversicherer, die sich rasant auf dem europäischen Festland ausdehnten – allen voran die Phoenix Assurance Company, die bereits 1786 ihre erste Filiale in Hamburg eröffnet hatte. Weil sie auf privater Initiative beruhte, kalkulierte sie sehr realistisch und taxierte die möglichen Risiken auf ihre Versicherbarkeit. Die geforderten Prämien waren nach dem Gefahrengrad differenziert und auf die bisherigen geschäftlichen Erfahrungen abgestellt.
Arnoldi war dort selbst Kunde und schaute sich das Geschäftsmodell somit quasi von innen an. Weil die Briten mit ihrer Vormachtstellung immer höhere Prämien durchsetzten, ahnte Arnoldi: Selbst eine solche Versicherungsbank aufzuziehen, könnte womöglich lukrativer für seine Unternehmen sein. Er entwarf ein Grundsatzpapier und ließ dies am 1. Oktober 1819 von 16 Gothaer Kaufleuten unterschreiben.
Die Stadt Gotha liegt verkehrsgünstig; die herzogliche Verwaltung ist im Vergleich mit den anderen Teilstaaten am wenigsten bürokratisch, und es fallen in Gotha keine Sonderabgaben für Versicherungen an. Innerhalb kürzester Zeit beteiligen sich 118 Kaufleute und Firmen an dem Unternehmen und sorgen so dafür, dass der Vorstand der Versicherungsbank am 2. Juli 1820 zur konstituierenden Sitzung zusammentritt. Es folgt eben jener Trick vom 1. Januar 1821, der aus dem Plan ein Unternehmen formt. Und Arnoldi wird Chef der ersten deutschen Versicherungsbank.