Unter den Augen des Staates - Massimo Bognanni - E-Book + Hörbuch

Unter den Augen des Staates Hörbuch

Massimo Bognanni

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Beschreibung

Endlich kommt die Wahrheit ans Licht Banker, Topanwälte, Wissenschaftler – ein perfides Netzwerk von Experten hat sich formiert, um deutsche Steuerzahler zu bestehlen. Die Beute: rund zwölf Milliarden Euro. Die Staatsanwältin Anne Brorhilker nimmt es seit Jahren mit der weltweiten Finanzelite auf, um den Cum-Ex-Skandal aufzuarbeiten. Dabei wird offenbar: Der Staat war keinesfalls ahnungslos. Zahlreiche Finanzbeamte, Steuerfahnder, Amtsträger wussten von diesem Diebeszug, doch niemand setzte ihm ein Ende. Auf Basis investigativer Recherche und exklusiven Materials leuchtet Massimo Bognanni die Machenschaften der Betrüger und das Staatsversagen tiefgehend aus – ein packend erzählter Wirtschaftskrimi, der unhaltbare Missstände in unseren Behörden und der Politik aufdeckt. - Erweitert und aktualisiert: neue Enthüllungen, neue Skandale, neue Gerichtsverfahren - Zahlreiche Prozesse mit namhaften Beschuldigten - Die umfassendste Ermittlung in Wirtschaftsstrafsachen in der Bundesgeschichte

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Zeit:9 Std. 38 min

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Über das Buch

Banker, Topanwälte, Wissenschaftler – ein perfides Netz von Experten hat sich formiert, um deutsche Steuerzahler zu bestehlen. Die Beute: zwölf Milliarden Euro, die der öffentlichen Hand für Investitionen in Kindergärten, Krankenhäuser und eine moderne Infrastruktur fehlen. Der Cum-Ex-Skandal ist der größte Steuerbetrug der deutschen Geschichte.Die mutige Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker nimmt es seit Jahren mit der weltweiten Finanzelite auf, um den Skandal aufzuarbeiten. Ihre Ermittlungen haben erste Banker und Berater hinter Gitter gebracht, eine Prozesslawine steht bevor. Die Staatsanwältin bringt aber auch eine andere Tatsache ans Licht: Der Staat war keinesfalls ahnungslos. Zahlreiche Finanzbeamte, Steuerfahnder, hohe Amtsträger wussten von diesen kriminellen Umtrieben, doch niemand setzte ihnen ein Ende.Warum ignorierte man die Warnungen von Whistleblowern? Wie kam die fragwürdige Gesetzgebung in dieser Sache zustande? Wie konnte diese unheilvolle Nähe von Politik und krimineller Finanzbranche überhaupt entstehen? Auf Basis jahrelanger investigativer Recherche und exklusiven Materials leuchtet Massimo Bognanni die Machenschaften der Betrüger und das Staatsversagen tiefgehend und vollumfänglich aus – ein packend erzählter Wirtschaftskrimi, der auf den Spuren der Kölner Staatsanwältin unhaltbare Missstände in unseren Behörden und der Politik aufdeckt.

Massimo Bognanni

Unter den Augen des Staates

Der größte Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik

Hinweis an die Leserinnen und Leser

Dieses Buch soll eine spannende wie tiefgründige Rekonstruktion dessen liefern, wie es zum größten Steuerdiebstahl in der deutschen Geschichte kommen konnte und wie es dem Team um die Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker gelungen ist, die weltweit geplante, bestens getarnte und aggressiv verteidigte Cum-Ex-Industrie zu entlarven und vor Gericht zu bringen.

Das Buch stützt sich auf unzählige Interviews mit Menschen, die unmittelbar mit Cum-Ex zu tun hatten, darunter Aktienhändler, Steueranwälte, Topjuristen, Finanzbeamte, Ermittler und hochrangige Politiker. Aus Gründen des Quellenschutzes vereinbarte ich mit ihnen, dass wir lediglich »im Hintergrund« miteinander sprechen. Das bedeutet, dass ich die Informationen verwenden, jedoch nicht die konkreten Quellen benennen darf. Neben den Gesprächsnotizen konnte ich Hunderttausende Seiten teils streng vertraulicher Dokumente nutzen. Darunter E-Mails und andere Kommunikationsdaten von Cum-Ex-Akteuren, interne Bankdaten, vertrauliche Unternehmenspräsentationen, Vernehmungsprotokolle, Durchsuchungsberichte, Behördenvermerke und Ministeriumsberichte, aber auch Unterlagen, die mithilfe von Anträgen über das Informationsfreiheitsgesetz zugänglich wurden. Sollten Akteuren in diesem Buch Gedanken oder Gefühle zugeschrieben werden, so basieren diese entweder auf Aussagen der Personen selbst, auf deren direktes Umfeld oder schriftlichen Belegen der Betroffenen.

Der Text wird zwei Erzählsträngen folgen und damit inhaltliche Schwerpunkte setzen. Zum einen hat dieses Buch zum Ziel, das jahrzehntelange Versagen des Staates und seiner Institutionen zu dokumentieren. Alle jene Kapitel, die das Staatsversagen verdeutlichen, sind zu Beginn mit einem Bundesadler gekennzeichnet. Der zweite Erzählstrang folgt im Sinne einer »True Crime«-Erzählung der Staatsanwältin und ihren Ermittlungen. Diese Kapitel sind mit einem Lupen-Symbol markiert. Da dieses Buch Schritt für Schritt den Fortgang der Ermittlungen abbilden wird, ist es wichtig zu betonen, dass die geschilderten Informationen lediglich den jeweiligen Kenntnisstand der Fahnder wiedergeben. Keinesfalls sind sie so zu verstehen, dass bereits die Schuld oder Unschuld der handelnden Personen belegt sei. Dies obliegt den Gerichten und ist in den allermeisten Fällen zum Redaktionsschluss dieses Buches noch nicht erfolgt. Es gilt selbstverständlich die Unschuldsvermutung bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung.

Ziel des Buchs ist es, das Staatsversagen aufzuzeigen, um im besten Fall Lehren für die Zukunft aus den Geschehnissen ziehen zu können, und gleichzeitig den Krimi der Ermittlung herauszuarbeiten, um zu zeigen, dass der Staat durchaus wehrhaft sein kann, selbst gegen eine global agierende Steuermafia. Es braucht nur die richtigen Menschen an der richtigen Stelle.

Die Recherchen beinhalten all jene Informationen, die ich bis zum Redaktionsschluss dieses Buchs Anfang November 2023 zusammentragen konnte. Nach bestem Wissen und Gewissen habe ich die Fakten zu diesem Milliardendiebstahl, der zu unser aller Lasten ging, recherchiert und stets auch die Meinung und Ansichten derjenigen eingeholt und einfließen lassen, die in dieser Geschichte sicherlich nicht als Heldenfiguren taugen.

Mir ist bewusst, dass ich keinesfalls jede Ecke dieser gigantischen Steuerbetrugsindustrie und jeder zuständigen Beamtenstube beleuchten konnte. Aber vielleicht erhellt dieses Buch die Machenschaften hinter Cum-Ex derart, dass ein größeres Publikum diesen größten Steuerskandal zu verstehen beginnt.

 

Massimo Bognanni, November 2023

Prolog

Ruhig liegt der scharfkantige, fünfstöckige Flachdachbau in der Morgendämmerung. Ein paar Lichter brennen, ein paar Gestalten huschen durch die Drehtür ins Innere des Landeskriminalamtes Düsseldorf. Die Luft riecht mehr nach Frühling denn nach Herbst. Das Nordseetief »Livia« kann an diesem 14. Oktober 2014 dem Rheinland nichts anhaben. Und so ist die Luft schon am frühen Morgen milde elf Grad warm, als eine zierliche Gestalt mit aschblonden, schulterlangen Haaren das LKA-Gebäude ansteuert.

Hastig durchquert Staatsanwältin Anne Brorhilker den modernen Glaskubus, der dem Kriminalamt als Eingangsbereich dient. Die junge Frau mit der Hornbrille eilt in den linken Teil des Gebäudes, der für Ermittlungen vorgesehen ist. Sie hastet ein paar Stufen hinauf, durch eine Sicherheitstür, dann betritt sie die Einsatzzentrale. Hier arbeitet jener Trupp der »Besonderen Aufbauorganisation« (BAO) der bei der Kriminalpolizei für »besondere Lagen« zuständig ist.

In ihrem jungen Berufsleben hat Brorhilker, zu diesem Zeitpunkt 41 Jahre alt, schon manch eine Razzia miterlebt. In der Regel gab es dann einen einzelnen Einsatzleiter, der eine Schar von Polizisten unterwies. Nicht selten war sie selbst mit vor Ort und durchkämmte Schubladen auf der Suche nach Beweismitteln.

Doch die Aktion an diesem Dienstagmorgen, die spielt in einer anderen Liga.

Vor Brorhilker öffnet sich ein Großraumbüro etwa so groß wie eine Gymnastikhalle. Die Wände sind weiß und kahl, der Boden – wie fast überall im LKA – mit dunkelroter Teppichware ausgelegt. Die Fenster der Einsatzzentrale sind von außen nicht einsehbar. An der Stirnseite des Raums sitzt der Polizeiführer. Er hat heute das Kommando. Neben ihm rücken weitere Verantwortliche die Stühle an den Führungstisch heran. Heute ist eine halbe Fußballmannschaft nötig, um diesen Großeinsatz mit mehr als tausend Beamten in elf Ländern zu koordinieren.

Von den Plätzen der Einsatzleitung aus ragen vier Reihen weißer Tische in den tiefen Raum. Überall stehen Monitore, Telefone, Computer. Dazwischen: Kabelgewirr. Schier unaufhörlich strömen Frauen und Männer herein. 60, vielleicht 70 Personen. Rechner fahren hoch, Headsets werden aufgesetzt. Experten für die Rechtshilfe im Ausland richten sich ebenso auf einen langen Tag ein, wie die »Unterabschnittsführer«. Sie sind Ansprechpartner für die Polizisten, die heute vor Ort bei den Durchsuchungsobjekten im Einsatz sind.

Auf der anderen Kopfseite des Raums, gegenüber der Einsatzleitung, sind große Leinwände angebracht. Beamer füllen sie mit Leben. An diesem Dienstagmorgen ist dort eine Landkarte zu sehen. Länder wie Malta, Luxemburg und die Schweiz sind zu erkennen. Neben der Landkarte erscheint eine Tabelle. Sie stellt eine Art Einsatztagebuch dar. Minute für Minute wird hier eingetragen werden, was vor Ort bei der Durchsuchung geschehen ist. Noch sind ihre Zeilen jungfräulich.

Etwas am Rande, an einem Schreibtisch mit Telefon, hat auch Brorhilker ihren Platz gefunden. Sie sitzt dort beinahe wie eine Zuschauerin. Dabei sind wegen ihr heute alle hier. Wegen ihr lauern gerade Hunderte Fahnder in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, England, Irland, Liechtenstein, Luxemburg, auf Malta, den Britischen Jungferninseln, in den USA und selbst in Australien auf das Startzeichen des Einsatzleiters. Anne Brorhilker ist die leitende Staatsanwältin. Ein Jahr lang hat sie für diese Großrazzia gekämpft. Diese umfassende Maßnahme gegen alle Widerstände durchgeboxt, sie gemeinsam mit Kriminalbeamten akribisch vorbereitet.

Um 7.30 Uhr erteilt der Polizeiführer das Kommando. »Zugriff«. Über das Handy geben Polizisten Rückmeldung vom Einsatzort, die Kollegen in der Einsatzzentrale erteilen weitere Anweisungen. Der Lärmpegel in dem Raum schwillt an. In diesen Minuten verschaffen sich Polizisten, Steuerfahnder und Staatsanwälte gleichzeitig Zutritt zu namhaften Unternehmen. Sie gehen in Büros, aber auch in Wohnhäuser und eine Lagerhalle. Sie suchen nach Aktenordnern, E-Mails, persönlichen Notizen. Beweise für mögliche Steuerbetrügereien, die Banker, Aktienhändler und Berater »Cum-Ex« getauft hatten.

Gebannt blickt Brorhilker auf die große Leinwand. Im Einsatztagebuch rattern die Meldungen nur so herunter. Ein Ampelsystem veranschaulicht den Status einer jeden Durchsuchungsmaßnahme. Rot bedeutet »Ausführung steht noch aus«, gelb symbolisiert »Wir sind drin«, grün steht für »erledigt«.

Die Razzia an diesem Dienstagmorgen markiert den Anfang der größten Ermittlung in Wirtschaftssachen, die Deutschland je gesehen hat. Die Cum-Ex-Fälle werden Staatsanwältin Brorhilker in die höchsten Ebenen einiger der größten Banken und Beratungsfirmen der Welt führen. Sie werden ihr auch tiefe Einblicke in die Verstrickung des Staates mit einer regelrechten Steuerbetrugsindustrie verschaffen.

Gleichzeitig bedeutet die Razzia aber auch ein Ende. Drei Jahrzehnte, in denen Banker, Aktienhändler und Berater weitestgehend ungestört und oftmals unter den Augen des Staates die deutsche Staatskasse plündern konnten, sind nun für viele maßgebliche Akteure vorbei.

Seit dem Tag der Razzia ist Anne Brorhilker für viele der angesehenen, reichen und mächtigen Cum-Ex-Hinterleute eine ungebetene Mieterin im Kopf. Eine lästige Plage, die sie nicht mehr loswerden sollen.

Anfänge

Anne Brorhilker ist endlich angekommen. Lange Zeit wusste sie nicht genau, in welchem Beruf sie einmal arbeiten wollte. Und als sie es wusste, stand sie erst einmal im Abseits.

Jetzt, im Herbst 2013, stapeln sich in Brorhilkers »Karnickelstall« die Unterlagen. Die Strafverfolgerin hat ihr knapp zehn Quadratmeter großes Büro im vierten Stock der Staatsanwaltschaft. Unter den Bergen von Leitz-Ordnern und Aktenkladden ist ihr Schreibtisch nur noch schemenhaft zu erkennen.

Gemeinsam mit dem Landeskriminalamt, der Steuerfahndung und dem Zoll hat sich Brorhilker dieser Tage an die Fersen einiger Mitglieder der Gerüstbau-Mafia geheftet. Monatelang hatten sie mutmaßliche Schlüsselfiguren abgehört – und wurden so Zeugen eines ausgeklügelten Systems von Service- und Scheinfirmen. Hunderte Gerüstbauer arbeiteten auf den Baustellen schwarz zu Dumpinglöhnen, während ihre Vorsteher 6000 Euro im Monat nach Hause brachten. Der Chef des Systems hat womöglich Millionen gemacht. Alles auf Kosten des Staates, dem die Millionen an Sozialabgaben in der Kasse fehlen.

Eine Razzia steht nun an. Läuft alles nach Plan, werden danach einige Gerüstbauer im Gefängnis sitzen. Dann dürfte es noch hektischer werden. Anwälte werden Sturm laufen gegen die Untersuchungshaft der Mandanten. Und die Anklagen mit all den Beweisen gegen alle Inhaftierte müssen schnell geschrieben werden. Haftsachen haben Vorrang. Auf Brorhilker warten turbulente Tage.

Und dann gibt es noch Samir A., Brorhilkers derzeit wichtigsten Fall. Seit Monaten ermittelt sie gegen den 25-jährigen Afghanen. A. soll, so der Verdacht, mithilfe eines Umsatzsteuerkarussells Millionensummen für die Terrororganisation al-Qaida eingesammelt haben. Brorhilker hatte die Geschäfte von rund einem Dutzend Firmen A.s unter die Lupe genommen. Unternehmen mit Namen wie Hamster Mobile GmbH, My iCell GmbH oder Wega Mobile GmbH. Mit den Firmen soll A. zum Schein Handys über die Grenzen gekarrt und sich dann Umsatzsteuern vom jeweiligen Finanzamt erstattet haben lassen. In Wahrheit aber gab es wohl gar keinen echten Handel. Die Handys landeten am Ende wieder dort, wo sie am Anfang losgeschickt worden waren. Ein Karussell, getarnt durch Scheinrechnungen. Die ergaunerten Steuergelder sollen dann an Terroristen geflossen sein.

Ausgerechnet jetzt hat sich auch noch eine kleine Delegation aus dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) angekündigt, Deutschlands oberster Steuerbehörde, die direkt dem Bundesfinanzministerium unterstellt ist. Eine Kollegin und zwei Herren sind an diesem 10. September 2013 aus Bonn angereist, um einen Fall vorzustellen.

Nun sitzen sie einen Stock höher, im Büro von Brorhilkers Chef und beugen sich über Schaubilder mit Kästchen und Pfeilen. Die Staatsanwältin hört den Ausführungen der Steuerbeamten aufmerksam zu. Es geht um die Kapitalertragssteuer. Wer in Deutschland Geld verdient, ohne sich die Hände schmutzig zu machen, muss seine Einnahmen mit 25 Prozent versteuern. Finanzminister Peer Steinbrück hatte die Steuer einst eingeführt. Auf die Kritik, dass normale Arbeiter auf ihre Einkommen viel mehr Steuern zahlen müssen als Menschen, die ihr Geld am Finanzmarkt mehren, reagierte der Sozialdemokrat trotzig: »Lieber 25 Prozent auf X, als nix!«

Und so zahlen beispielsweise Aktienbesitzer 25 Prozent Steuern, wenn sie einmal im Jahr eine Gewinnausschüttung ihres Unternehmens erhalten: die Dividende. Schüttet ein Unternehmen eine Dividende von 100 Euro an jeden Aktionär aus, kommen bei ihm nur 75 Euro an. Die anderen 25 Euro gehen automatisch an das Finanzamt.

Doch nicht jeder muss die Steuer abführen. Es gibt Ausnahmen. Manche Investoren können sich die Steuern vom Finanzamt erstatten lassen. Auf genau solche Erstattungen, so erklären es nun die Besucher vom Bundeszentralamt, hätten es womöglich Betrüger abgesehen, indem sie sich vom Fiskus Steuern zurückholen, die zuvor niemand bezahlt habe.

Schnell schwirrt Brorhilker der Kopf. Stichworte wie »Zentralverwahrer«, »Leerverkäufer«, »Kompensationszahlungen« fallen, von Folie zu Folie kommen mehr Kästen und Pfeile hinzu. Die Staatsanwältin kann den Finanzbeamten nur mit Mühe folgen.

Abends, am Küchentisch in ihrer Kölner Wohnung, will sie nochmals das Gesamtbild des Falls ausbreiten. Sie holt einen Block, malt eigene Kästen, vollzieht den Weg der Gelder nach. Schritt für Schritt erscheint vor ihr: ein Kreislauf. Allmählich erkennt sie Parallelen zu ihren anderen Fällen. Etwa zu Samir A.s Umsatzsteuerkarussell. Auch hier gibt es ein Kreisgeschäft, an dessen Ende der Staat Steuern erstattet, die nie gezahlt wurden. Nur, dass es in diesem Fall keine Handys sind, die zum Schein bewegt werden. Sondern Aktien. Und das Geld landet nicht bei Terroristen, sondern bei Bankern.

Nun ist Brorhilker ganz in ihrem Element. Dabei hatte sie nie davon geträumt, einmal bei der Staatsanwaltschaft zu arbeiten, und noch weniger, sich eines Tages mit Steuermodellen und Wirtschaftsbetrügern herumzuschlagen.

Anne Brorhilker wuchs in einer Kleinstadt bei Dortmund auf. Ihre Mutter, Lehrerin für Politik, Sozialwissenschaften und Geschichte, war Schulleiterin an einer Realschule. Ihr Vater, ein Mann der Zahlen, seines Zeichens Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, der für den Prüfkonzern Ernst & Young arbeitete. Unter den beiden Kindern waren die Interessen klar verteilt: Während ihr kleiner Bruder als Sportler glänzte, galt Annes Leidenschaft der Musik. Lange Zeit träumte sie davon, eines Tages mit der Musik ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

In der Grundschule war sie mit Begeisterung bei der Sache. Das Gymnasium jedoch war für die hochbegabte Schülerin eher Last denn Lust. Das änderte sich höchstens, wenn sie als Klassensprecherin Unrecht walten sah. Etwa, als der Lateinpauker die Klasse immer wieder mit Tests überzog und so Angst und Schrecken verbreitete. Mit der Allgemeinen Schulverordnung unter dem Arm suchte die Siebtklässlerin den gefürchteten Lehrer auf, wies ihn darauf hin, dass es klare Regeln dafür gebe, wie viele Tests geschrieben werden dürften. Dann war Ruhe.

An der Uni fühlte sich Anne Brorhilker regelrecht befreit. Bei der Jobwahl war für sie ein Kriterium besonders wichtig: finanzielle Unabhängigkeit. Als den Lehramtsstudenten in Dortmund gleich zu Beginn des Studiums eingebläut wurde, es gebe keine Stellen für Lehrer, beerdigte sie nach einem Semester den Plan, Musiklehrerin zu werden. Brorhilker war gewillt, auf ein in ihren Augen noch sichereres Pferd zu setzen. Sie schrieb sich in Bochum für Jura ein.

Zu ihren ersten Vorlesungen zählte die Einführung ins Straf- und Prozessrecht von Professor Gerd Geilen. Der kleine rundliche Herr entfachte bei der Studentin die Begeisterung für das Strafrecht. Als Schwerpunkt im Studium wählte sie Kriminologie. Nach dem ersten Staatsexamen jobbte sie bei großen Kanzleien – und wusste danach, was sie nicht werden wollte: Rechtsanwältin.

Auch das zweite Staatsexamen schloss sie mit Prädikat ab. Im darauffolgenden Referendariat platzten jedoch gleich mehrere Illusionen. Ihre Station bei einer Gerichtskammer für Baurecht empfand sie als so frustrierend, dass sie ihren Wunsch, einmal Richterin werden zu wollen, ad acta legte. Als sie sich als einzige Juristin in der Stadtverwaltung eines kleinen Kaffs mit der Kampfhundeverordnung herumschlug, fiel auch die Option weg, in der Kommunalverwaltung zu arbeiten. Und selbst die lang ersehnte Station bei Amnesty International in Berlin war eine Enttäuschung, ließen hier doch alle Festangestellten um 16 Uhr den Griffel fallen, während sich die Ehrenamtler bis tief in die Nacht engagierten.

Per Ausschlussverfahren kam Brorhilker schließlich zu ihrem Beruf: Staatsanwältin. Die Bewerbung in Köln glückte 2002. Das Ziel der frischgebackenen Strafverfolgerin stand fest. Sie wollte es mit der organisierten Kriminalität aufnehmen. Doch die junge Karriere stockte. Ihre ersten Berufsjahre verbrachte sie in der sogenannten Gnadenstelle. Einem Ort, der sonst Staatsanwälten am Ende des Berufslebens vorbehalten war, und zwar nicht gerade den besonders beliebten.

Hier hatte sie es mit Drogenabhängigen und Kleinkriminellen zu tun. Wiederholungstätern. Schlimme Schicksale oftmals. Menschen am Rand der Gesellschaft. Brorhilker prüfte in der Gnadenstelle, ob der Staat bei einigen dieser traurigen Gestalten Gnade vor Recht walten lassen und ihnen eine weitere Haftstrafe ersparen könne. Mit gezielten Auflagen vielleicht sogar eine neue Perspektive bieten. Ihr Alltag ähnelte mehr dem einer Sozialarbeiterin als dem einer Juristin. Nach zwei Jahren in der Gnadenstelle kannten auch die Verantwortlichen der Staatsanwaltschaft Gnade – und versetzten sie in die Steuerabteilung.

Zunächst klang auch das wie eine Strafe, hatte sich Brorhilker bis dato doch stets in den Fußstapfen ihrer politisch engagierten Mutter gewähnt. Umweltschutz, Flüchtlinge, das waren Themen, die sie umtrieben. Und nun saß sie plötzlich in ihrem Büro und wälzte – ganz der Vater – Steuerthemen. Zu ihrer großen Überraschung jedoch war sie damit in ihrem Traumberuf angekommen. Denn viele der millionenschweren Steuerbetrügereien entpuppten sich als jene organisierte Kriminalität, die sie schon immer bekämpfen wollte. Ob Gerüstbauer oder Terror-Finanzierer. Sollten jetzt auch Banker und namhafte Berater hinzukommen?

Die Akte des Bundeszentralamtes liegt vor ihr, sie ist noch überschaubar, birgt jedoch einen Schatz. Es ist ein Schreiben des Stuttgarter Rechtsanwaltes Eckhart Seith. Im März 2013 hatte er sich an das Bundeszentralamt gewandt. Er vertrete einen südwestdeutschen Unternehmer, der sich um 47 Millionen Euro geprellt fühle. Dieser Unternehmer war niemand Geringeres als der Gründer der Drogeriemarktkette Müller, Erwin Müller. Ein Mann, dem ein Milliardenvermögen attestiert wird.

Eigentlich sei es dem Anwalt nur darum gegangen, nach einem missglückten Investment Müllers Geld zurückzuholen. Unwissend sei Müller, so schreibt sein Anwalt Seith, in eine fragwürdige Geldanlage gelockt worden. Erst durch eine intensive Recherche sei er auf ein System namens »Cum-Ex« gestoßen, bei dem die Akteure eine riskante Wette eingingen: nämlich die, nicht von den Finanzbehörden erwischt zu werden. Beteiligt seien Privatbanken wie das Schweizer Geldhaus Safra J. Sarasin und die feine Hamburger Adresse M.M. Warburg, ebenso wie eine Investmentbank aus Australien und amerikanische Pensionsfonds. Sie alle hätten zusammengewirkt, um sich Kapitalertragssteuern erstatten zu lassen, die zuvor niemand abgeführt habe. Sprich: ein Griff in die Staatskasse.

Eckhart Seith entstammt einer Anwaltsfamilie in fünfter Generation. Sein Studium absolvierte er zur gleichen Zeit wie ein gewisser Olaf Scholz an der Universität Hamburg im Rahmen der einstufigen Juristenausbildung. Die Uni galt als links. Seith bezeichnet sich selbst als »bürgerlicher Linker«, macht keinen Hehl daraus, die Grünen zu wählen. Als der Experte für Steuerstrafrecht den Cum-Ex-Fall auf den Schreibtisch bekam, ging es für ihn auch um die Gerechtigkeitsfrage. Eliten, die sich zu Lasten der Allgemeinheit die Taschen vollstopfen? Ein Unding. Der Anwalt, der in seiner Freizeit als Rennradfahrer, Bergsteiger und Tourengänger den Kick sucht, scheut auch beruflich das Risiko nicht. Er fuchste sich in die Sache rein. In vielem, das er herausfand, wird er Recht behalten. Nur an einer Stelle hat er sich verzettelt. Er hätte nie damit gerechnet, dass ihm selbst irgendwann eine Gefängnisstrafe drohen würde. Doch die Schweiz wird später den deutschen Anwalt wegen der Anstiftung zur Wirtschaftsspionage verfolgen.

Dass es in Sachen Cum-Ex überhaupt zu einem Streit zwischen Erwin Müller und den Initiatoren des Geldgeschäfts gekommen war, lag daran, dass die Wette in diesem Fall eben nicht aufgegangen war. Der Fiskus hatte Lunte gerochen, die Millionen nicht ausgezahlt. Plötzlich flossen nicht die versprochenen zwölf Prozent Rendite. Müller und andere Investoren blieben auf dem Trockenen sitzen. So etwas mögen nicht nur Schwaben gar nicht gerne. Und so hinterfragten Müllers Anwälte jene Aktiengeschäfte kritisch, denen der Milliardär blind zu vertrauen schien, solange seine Gewinne flossen.

Mit dem Eifer eines Ermittlers ging nun der Anwalt des Milliardärs der Sache nach, nutzte seine vielen Kontakte in der Steuer- und Finanzszene, gewann sogar Insider der Privatbank Sarasin als Informanten – und richtete sich auch an die Strafverfolgungsbehörden, um weiteren Schaden von der Bundesrepublik abzuwenden, wie er schrieb.

Besonders beim Blick auf die Zahlen, die Seith in seinem Schreiben zusammengetragen hatte, schnellt Brorhilkers Puls in die Höhe. Nur bei diesem einen Geschäft, bei dem Erwin Müller geprellt worden sei, hätten die Initiatoren Anlegergelder in Höhe von 250 Millionen Euro eingesammelt. Dieses Kapital sei wiederum »gehebelt« worden. Mit anderen Worten: Weitere Banken hätten bis zu eine Milliarde Euro an Kredit hinzugegeben. Mit dieser Riesensumme habe man schließlich versucht, den Staat um 300 bis 600 Millionen Euro zu prellen.

Hinter all dem, behauptet Seith, steckten Berater, die nicht nur Anleger wie Erwin Müller angeworben hätten, sondern das ganze Modell auch mitinitiiert. Diese Hintermänner hätten sich selbst hemmungslos die Taschen vollgestopft, über eine Firma in Luxemburg riesige Millionensummen für sich selbst eingestrichen. Der Anwalt nennt die Namen zweier Rechtsanwälte: Hanno Berger und Kai-Uwe Steck.

Brorhilker ist auf Betriebstemperatur. Ein Steuermodell, mit dem der Staat um dreistellige Millionensummen geprellt wird? Bei dem Luxemburger Firmen, internationale Investmentbanken, hochangesehene Privatbankiers und milliardenschwere Investoren mitmachen? Hinter all dem sollen zwei Rechtsanwälte stehen?

Und wenn das alles stimmen sollte: Wie konnte dem Fiskus angesichts der astronomischen Summen ein solcher Diebstahl entgangen sein?

Schäferhund

August Schäfer springt an diesem Wintermorgen 1991 an der Haltestelle Frankfurt-Hauptwache aus der Bahn und steuert geradewegs den monumentalen Kuppelbau der Wertpapierbörse an. Durch die Vorhalle mit ihren Doppelsäulen aus Sandstein geht es zum Eingang. Schäfer zeigt seinen Dienstausweis, Nummer 0001, vor, der ihm Zugang zu allen Räumlichkeiten der Frankfurter Börse garantiert. Stimmen schwirren durch die Luft. Bei jedem Schritt werden sie lauter. Je näher Schäfer dem Handelssaal kommt, desto deutlicher stechen einzelne Rufe heraus. Makler, die per open outcry, per Zuruf, ihre Angebote für Aktien herausbrüllen.

Im Saal angekommen, bietet sich ihm ein turbulenter Anblick. Männer in weiten weißen Hemden rennen über das abgewetzte Mosaikparkett und sprechen dabei in klobige, schwarze Mobiltelefone. Vor kastigen Monitoren drängeln sich Grüppchen. Was zunächst wie das pure Chaos aussieht, entpuppt sich mit der Zeit als gut geordnet. In dem Handelsbereich rechts werden die Aktien von Banken und Versicherungen gehandelt. In der Mitte sind es die Papiere von Verkehrs- und Industriekonzernen. Auf der linken Seite wird mit Optionsscheinen Geschäft gemacht.

Über dem Saal thront die berühmte schwarze Tafel, die den Zickzack des Deutschen Aktienindex abbildet. August Schäfer, die grauen Haare zur Seite gescheitelt, schwarze Augenbrauen, Brille auf der Nasenspitze, betritt das Szenario im Dreiteiler. Er ist nicht gekommen, um neue Freunde zu finden. Tatsächlich braucht er nur eine Woche, um einer der meistgehassten Männer auf dem Parkett zu werden.

Bis hierher hat Schäfer einen langen Weg hinter sich. Aufgewachsen im »hessischen Sibirien«, einem kalten und armen Landstrich an der Grenze zu NRW, wurde Schäfer als Halbwaise groß. Sein Vater, ein Maurer, war 1943 im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront gefallen. Da war August gerade drei Jahre alt. In der Nachkriegszeit schlug sich die Mutter mit ihrem Sohn und 28 Mark Kriegswaisenrente durch. In der Volksschule fiel der wissbegierige Junge schnell auf. Doch die Mutter konnte das Schulgeld für das Gymnasium nicht aufbringen. Schon der Bus zur Mittelschule im Nachbarsort verschlang die Hälfte des monatlichen Waisengeldes.

Lange sollte er der Mutter nicht auf der Tasche liegen. August übersprang an der Mittelschule eine Klasse. Nach der Mittleren Reife hatte er Großhandelskaufmann bei Esso gelernt und sich im Anschluss bei der Bundesbank als Inspektor erfolgreich beworben. Der talentierte »Aufstiegsbeamte«, der es ohne Studium zu diesem Status gebracht hatte, wurde dann mit 37 Jahren Chef einer kleinen Landesbank in Wiesbaden. Elf Jahre lang machte er den Job, dann kam das Aus: 1989 krachte es mit dem FDP-Wirtschaftsminister. Schäfer teilte seinem Chef per Brief mit, dass er, Schäfer, ihm, dem Minister, nicht mehr vertraue. Schäfer war seinen Job los – und landete im Wirtschaftsministerium. Als Ministerialrat hockte er ohne besondere Aufgaben dort herum. Er war drauf und dran, ein »Edeka«-Beamter zu werden. Ende der Karriere. Sein einst ratternder Karrierezug stand auf dem Abstellgleis.

Die hessische Landtagswahl im Januar 1991 brachte für SPD-Spitzenkandidat Hans Eichel überraschend das Amt des Ministerpräsidenten – und für Schäfer die Wende. Die SPD bildete mit den Grünen die Regierung. Ins Wirtschaftsministerium zog der Sozialdemokrat Ernst Welteke ein. Der Minister reanimierte Schäfer. Der frühere Bankchef habe doch Ahnung von Finanzgeschäften – ob er nicht Aufseher an der Frankfurter Börse werden wolle? Und wie er wollte.

Schäfers Job begann mit einem Stapel Bilanzen. Ein neues Gesetz war Grund für den Papierberg. Demnach mussten freie Makler gegenüber dem Wirtschaftsministerium fortan ihre Bilanzen offenlegen. Ein kleiner Crash von 1987 hatte die staatlichen Marktaufseher beunruhigt, wurde doch deutlich, dass nicht alle dieser selbstständigen Vermittler von Wertpapiergeschäften genügend Geld auf der hohen Kante hatten, falls es Mal zu Turbulenzen käme. Genau das soll Schäfer nun überprüfen. Für ihn ein Leichtes. Als er noch Bankchef war, wurden oft Unternehmer bei ihm vorstellig, die um Bürgschaften baten. Bevor er solche Zusagen machte, prüfte Schäfer die Fälle eingehend. In dieser Zeit ackerte er sich durch unzählige Bilanzen – und lernte schnell die Spalten kennen, in denen sich die Risiken verbargen.

Während er sich also durch die Zahlenkolonnen der Makler grub, stieß er auf eine Fährte. Eine Spur, die er die nächsten drei Jahrzehnte verfolgen würde.

Börsenmakler führen tagsüber ein hektisches Leben. Sie warten in ihren kleinen Büros, die rund um das Börsenparkett verteilt sind, auf Anrufe. Sobald ein Kunde Aktien ordert, notieren sie die Bestellung, rennen raus, drängeln sich mit spitzen Ellenbogen durch die Männermasse – bis hin zu einer der drei »Schranken«, den Tischen, die das Fußvolk auf dem Parkett von den spezialisierten Brokern vor den Bildschirmen trennen. Wer mit einem kräftigen Organ gesegnet ist, hat Vorteile. Lauthals schreien die Makler ihre Angebote den Aktienhändlern entgegen. Bekommen sie den Zuschlag, notieren sie alles in kleinen Notizbüchern. Nach Börsenschluss werden die Deals in den Zentralcomputer eingegeben.

So laut es tagsüber zugeht, so sehr wollen Makler nachts ruhig schlafen. Gegen Ende eines jeden Tages versuchen sie »glattzustellen«, also alle noch offenen Geschäfte zu schließen. Ist ein Deal nicht abgeschlossen, drohen große Risiken. Schließlich könnten sich die Aktienkurse über Nacht zu ihrem Nachteil verändern.

Doch die Bücher, die man Schäfer vorlegte, waren alles andere als ausgeglichen und bargen somit Risiken, die Makler normalerweise mieden wie der Teufel das Weihwasser. In der linken Spalte der Bilanz, der Vermögensseite, standen hohe Forderungen gegenüber dem Finanzamt. Steuererstattungsansprüche. Und auf der Gegenseite, dort, wo normalerweise die Vermögensherkunft festgehalten wurde, fanden sich extrem hohe Handelsverluste. Schäfer, ohnehin kein Mann mit ausgeprägtem Grundvertrauen, nahm Witterung auf. Irgendwas stimmte hier nicht.

Mit seinen ersten Erkenntnissen muss Aufseher Schäfer seinen Boss nicht lange überreden. Hier stank etwas, das man sich näher anschauen sollte. Wirtschaftsminister Welteke zögerte nicht lange und schickte ihn tatsächlich für eine Woche aufs Börsenparkett. Vor Ort sollte Schäfer ergründen, was es mit den Auffälligkeiten auf sich habe.

Plötzlich ist Schäfer also Statist im täglich aufgeführten Schauspiel an der Wertpapierbörse. Neugierig pickt sich der Aufseher einen Makler nach dem anderen heraus und grillt ihn. Schäfer neigt zur Schärfe. Es dauert nicht lange, bis hinter vorgehaltener Hand vom »Schäferhund« die Rede ist.

Schäfer lernt schnell, dass hinter den Auffälligkeiten in den Bilanzen Geschäfte stecken, die Insider »Dividendenstripping« getauft haben. Deals um den Dividendenstichtag herum. Also jenen Tag der Hauptversammlung, an dem Aktiengesellschaften die Dividende beschließen und ausschütten.

Beim Dividendenstripping werden die Aktien kurz vor der Hauptversammlung verkauft und gleichzeitig ein Rückkauf für kurze Zeit nach der Hauptversammlung vereinbart. Normalerweise macht ein solches Geschäft überhaupt keinen Sinn. Denn wer eine Aktie besitzt, möchte in der Regel die Dividende kassieren und verkauft eben nicht kurz vor der Ausschüttung sein Papier, um es direkt danach wieder zu erwerben. Sinn ergeben die Deals nur, wenn man es auf die Steuer abgesehen hat.

1991 müssen nicht alle Aktienbesitzer ihre Dividenden gleich besteuern. Aktienbesitzer im Inland zum Beispiel, die die Papiere nicht gewerblich handeln, bekommen die 25 Prozent Kapitalertragssteuer plus Solidaritätszuschlag vom Finanzamt erstattet. Ausländische Aktionäre hingegen müssen zahlen. Mit dem Dividendenstripping verkaufen nun ausländische Investoren ihre Aktien kurz vor dem Tag der Hauptversammlung an deutsche Aktionäre und vereinbaren einen festen Preis für den Rückkauf. Da die Deutschen die Aktien am Tag der Hauptversammlung besitzen, bekommen sie die Dividende und dürfen sich die Steuern erstatten lassen. Danach geht die Aktie zurück ins Ausland. Einen Teil der Steuererstattung geben die Deutschen an die Ausländer weiter – so haben beide etwas davon.

Nur der Staat – und damit der Steuerzahler – bleibt auf einem Loch in der Kasse sitzen. Als wäre das nicht schon fragwürdig genug, hört Schäfer immer wieder Gerüchte über noch aggressivere Formen des Dividendenstrippings. Modelle, die später unter dem Schlagwort »Cum-Ex« laufen werden.

Am 4. Dezember 1991 geht Minister Welteke mit Schäfers Erkenntnissen an die Presse. Wegen des Dividendenstrippings würden intensivere Prüfungen notwendig. Sämtliche seiner Aufsicht unterstellten Makler müssen nun alle Geschäfte des Jahres 1991 melden, mit denen sie Dividendeneinnahmen erwirtschaftet hatten. Die Meldungen würden einer »eingehenden Prüfung« unterzogen.

Wenn Schäfers Nachfragen im Frankfurter Börsensaal ein erstes Zittern gewesen sind, dann ist diese Ankündigung ein Beben, geeignet, die ganze Branche zu erschüttern. Wenn das in die Hose geht, das wissen Welteke und Schäfer, werden sie sich neue Jobs suchen müssen. Welteke würde dann Entwicklungshilfe in Afrika machen, witzelten sie. Und Schäfer? Für den fände sich sicherlich ein Job in der Poststelle.

Doch die Ministeriumspost, das wird schnell klar, wird ohne Schäfers Hilfe bearbeitet werden müssen. Der Börsenaufseher landet einen Treffer nach dem anderen. Gemeinsam mit zwei Redakteuren des Frankfurter Finanzmarktbericht gibt er im November 1992 eine kleine Kostprobe. Das von der Landeszentralbank in Hessen herausgegebene Blatt ist in der Branche vielbeachtet. Unter der Zeile »Dividenden-Stripping im Zwielicht« kann nun alle Welt nachlesen, welch zweifelhafte Geschäfte Banker und Makler getätigt haben.

Schäfer entlarvt verschiedene Modelle, darunter die krasseste Form, die »Produktion von Steuerbescheinigungen« – in Schäfers Augen eine Weiterentwicklung des Dividendenstrippings. Hierbei werden mehrere Steuerbescheinigungen für ein und dieselbe Aktie ausgestellt.

Steuerbescheinigungen sind vergleichbar mit Pfandbons am Getränkeautomaten. Wenn Aktienbesitzer diese Bescheinigungen beim Finanzamt vorlegen, können sie in Ausnahmefällen ihre Steuern zurückerhalten. Hierzu müssen sie nur ihren Pfandbon, die Steuerbescheinigung, vorlegen.

Doch, so schreibt Schäfer, würden Steuerbescheinigungen in manchen Fällen auch für Steuern gedruckt, »die überhaupt nicht gezahlt wurden«. Jemand geht mit Pfandbons zur Kasse, obwohl er die Flaschen nie besessen hat. Wegen der gefälschten Pfandbons wird also Geld erstattet, das vorher kein Mensch bezahlt hatte.

Schäfer durchschaut ein perfides System. Denn wer Steuerbescheinigungen ausstellen kann, der kann quasi Geld drucken. Zu praktisch für die Geldhäuser, dass der Staat die Aufgabe, die Steuerbescheinigungen auszustellen, an die Banken delegiert hat. Die Banken selbst drucken die Steuerbescheinigungen.

Am 4. Dezember 1992 dann, auf den Tag ein Jahr, nachdem SPD-Wirtschaftsminister Welteke eine Untersuchung angekündigt hat, legt August Schäfer seinen gefürchteten Abschlussbericht vor. 18 Seiten Sprengstoff. 179 fragwürdige Stripping-Geschäfte dokumentiert er penibel für das Jahr 1991.

Durchschnittlich seien bei jedem dieser Deals 33000 Aktien gehandelt worden. »Bei diesen Geschäften muss also zwingend davon ausgegangen werden«, bilanziert er, »dass keine nachvollziehbaren außersteuerlichen, wirtschaftlichen Gründe vorliegen.« Mit anderen Worten: Geld lässt sich mit den Deals nur dann verdienen, wenn Steuern erstattet werden. Steuergelder, die den ursprünglichen Besitzern gar nicht zustehen.

Es liege daher strafbarer Missbrauch von Steuergesetzen vor. Auf Maklerseite seien 19 Akteure beteiligt gewesen, sie hätten Dividendenstripping mit 27 Banken und vier zwischengeschalteten Freimaklern abgewickelt. Die Ausführungen enden mit einer für die beteiligten Banken bedrohlichen Information. Der Abschlussbericht werde, »mit allen relevanten Unterlagen«, auch der Staatsanwaltschaft Frankfurt übergeben. Genau dies geschieht am 16. Dezember 1992.

Und nicht nur die Strafverfolger, auch die Politik erreichen Schäfers Erkenntnisse umgehend. Der Gesetzgeber, so fordern es Hessen und Nordrhein-Westfalen im Bundesrat, müsse tätig werden. Und Bundesfinanzminister Theo Waigel von der CSU? Der hört sich die Sache im Finanzausschuss aufmerksam an.

Nach der Sitzung im Dezember 1992 kursiert in der Frankfurter Finanzszene sogleich ein vertraulicher Vermerk über den Finanzausschuss. Bankenlobbyisten pflegen gute Kontakte in die Bundeshauptstadt Bonn und unterrichten ihre Kollegen umgehend über neueste Entwicklungen. Was sie jedoch nicht ahnen: Auch Schäfer hat längst sein Adressbuch mit Informanten gefüllt. Und so spielt auch ihm jemand heimlich den Brief des Lobbyisten zu. Das Schreiben datiert vom ersten Weihnachtsfeiertag – der Bankenlobbyist hat seinen Kollegen ein Geschenk aus der Bundeshauptstadt zu vermelden. Handschriftlich notiert er: »Anliegend die abschließende Mitteilung ›Dividendenstripping‹, auf Bitte meiner ›Quelle‹ habe ich den Briefkopf abgedeckt – das Schreiben stammt aber aus derselben Ecke wie zuvor. Verstehe ich das richtig, haben unsere Ausführungen das BMF überzeugt und dürfte »Dividendenstripping« vielleicht stillschweigend weiter geduldet werden?«

Die folgende dreiseitige Zusammenfassung der Ausschusssitzung offenbart, warum der Mann frohlockt. Zwar würdigt laut Protokoll der Bundesfinanzminister Theo Waigel, CSU, die Untersuchungsergebnisse aus Hessen – ein beschriebener Fall lasse durchaus den Verdacht auf Beihilfe zur Steuerumgehung entstehen –, doch »eine grundsätzliche Lösung für das Dividendenstripping sieht das Finanzministerium nicht, weil sie letztendlich dazu führen müsste, dass der Handel sowohl in Aktien als auch in abgeleiteten Termingeschäften in gewissen Zeiträumen verboten werden müsste. Das wiederum könne nicht in Betracht kommen, weil mit Sicherheit eine weitgehende Verlagerung des Geschäfts ins Ausland und ein gravierender Schaden für den Finanzplatz Deutschland die Folgen wären.«

Schäfer kann nicht fassen, was er da liest. Die Ausführungen des Bundesfinanzministeriums sind nicht nur falsch. Schließlich gäbe es auch andere Lösungen, als den Handel gänzlich zu verbieten, und die steuergetriebenen Geschäfte könnten alles, nur nicht ins Ausland verlagert werden – geht es doch gerade darum, den deutschen Fiskus zu erleichtern. Die Aussage des Finanzministeriums treibt Schäfer aber auch aus einem anderen Grund die Sorgenfalten auf die Stirn: Sie entspricht eins zu eins der Argumentation der Bankenlobby. Allen voran der des mächtigen Deutschen Bankenverbandes, auf den vor allem die Deutsche Bank Einfluss nimmt.

Kurzum: Das Ministerium weiß alles – und unternimmt vorerst also nichts. Die Branche scheint zu mächtig. Die Politik, da ist sich Schäfer inzwischen nach vielen Gesprächen sicher, will den Finanzplatz Frankfurt als echten Konkurrenten zu London aufbauen. Da nimmt man offenbar ein paar entwendete Steuermillionen in Kauf.

Theo Waigel wird sich später auf Nachfrage nicht an die Vorgänge erinnern. Ebenso wenig Waigels einstiger Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Franz-Christoph Zeitler.

Doch für August Schäfer geht es zumindest an anderer Stelle vorwärts. Das Jahr 1993 ist noch nicht einmal einen Monat alt. Schäfer trifft sich in den Räumen des Frankfurter Landgerichts mit drei Steuerfahndern und zwei Staatsanwälten. Schäfer erläutert die Hintergründe seines Abschlussberichts. Er nennt Ross und Reiter. Etwa den Namen eines Maklers, dem im März 1992 rund 21,4 Millionen D-Mark Steuern erstattet wurden. Steuern, die zuvor womöglich niemand abgeführt hatte. Es wird gestritten. Es wird debattiert. Am Ende sind sich die Männer einig: Hier könnte eine Straftat vorliegen. Es muss ermittelt werden.

Wie besprochen, weist die Staatsanwaltschaft wenige Wochen später die Steuerfahndung an, entsprechende Ermittlungsverfahren einzuleiten. Schäfer wähnt sich am Ziel. Die mutmaßlichen Verbrecher werden zur Rechenschaft gezogen.

Mit dem Wind im Rücken nimmt Schäfer auch einen erneuten Anlauf, für ein wirksames Gesetz gegen das Dividendenstripping zu sorgen. Tatsächlich soll im Standortsicherungsgesetz auch eine Regel gegen die steuergetriebenen Geschäfte verabschiedet werden. Doch die Bankenlobby hat im gleichen Frühjahr die Regierung offenbar derart bearbeitet, dass diese drauf und dran ist, ein Gesetz zu erlassen, das die Geschäfte nicht stoppt, sondern begünstigt.

Aufgebracht klingelt Schäfer am Pfingstsonntag 1993 bei einem Handelsblatt-Journalisten durch. Es trifft sich gut, dass der Reporter auch für die Telebörse arbeitet und Schäfer zusätzlich vor der Fernsehkamera interviewt. »Das Dividendenstripping wird künftig erleichtert« lautet die schmissige Schlagzeile. Den umstrittenen Geschäften würden durch die vom Bundestag beschlossene Gesetzesvorlage »Tür und Tor« geöffnet – und das, obwohl das Gesetz die Stripping-Geschäfte ursprünglich unterbinden sollte. Nur noch der Finanzausschuss des Bundesrats, so der Artikel, könne diese Fassung aufhalten.

Tatsächlich gelingt es, das Gesetz im Bundesrat zu stoppen und eine echte Verschärfung zu ermöglichen. Nicht ohne Stolz blickt Schäfer auf die neuen Regeln und anlaufenden Ermittlungsverfahren.

Schäfers Karriere nimmt nun wieder Fahrt auf. Er wird zum ersten Staatskommissar für die Frankfurter Börse befördert. Nun hat er andere Aufgaben, beobachtet jedoch immer noch aus der Ferne, was aus den Stripping-Geschäften wird. Und was er sieht, gefällt ihm gar nicht. Der »Strip in der Zockerstube«, wie ihn der Spiegel1994 betitelt, läuft nach Schäfers Beobachtung einfach weiter.

Ob das neue Gesetz befolgt wird, so scheint es, kontrolliert schlicht niemand. Und auch von den Ermittlungen hört Schäfer nichts mehr. Am 4. April 1996 kann er das Treiben nicht mehr ertragen, setzt sich an den Computer und setzt ein zweiseitiges Schreiben an den Staatssekretär im hessischen Finanzministerium auf. Zwar ohne Namen zu nennen, jedoch mit zahlreichen Details schildert Schäfer Stripping-Geschäfte mit Siemens-Aktien, die rund um die Siemens-Hauptversammlung am 22. Februar 1996 zu sehen waren. Es gebe auch Insider, die bereit seien, mit der Staatsanwaltschaft zu sprechen. Er bekommt keine Rückmeldung.

Als Schäfer neun Monate später das Handelsblatt aufschlägt, platzt ihm endgültig der Kragen. In dem Artikel vom 26. September 1996 geht es um eine Maklerfirma, die 1992 mehr als 21 Millionen D-Mark Körperschaftssteuer erstattet bekam. Ausgerechnet jener Staatssekretär im hessischen Finanzministerium wird in dem Artikel zitiert, den Schäfer Monate zuvor gewarnt hatte. Und es geht ausgerechnet um jene Geschäfte, die Schäfer schon vier Jahre zuvor minutiös aufgearbeitet und den Finanzbehörden gemeldet hatte. Der Staatssekretär hingegen behauptet gegenüber dem Handelsblatt, dass 1992 schlicht keine Hinweise vorgelegen hätten und deshalb das Geld ausgezahlt werden musste.

In Schäfers Augen ist das eine glatte Lüge. Detailliert listet er in seinem Brief an ebendiesen Staatssekretär auf, was er wem alles 1992 vorgelegt hatte. Er wirft ihm Untreue im Amt vor und zeigt ihn sogar an. Doch auch hieraus wird nichts. Die Gründe erfährt er nicht. Er bekommt nur die trockene Mitteilung, dass nicht weiter ermittelt werde.

Die Jahre gehen ins Land, nichts passiert. Nach seinem vorzeitigen Ruhestand im Jahr 2001 ist Schäfer frustriert. Er kehrt seiner hessischen Heimat den Rücken und zieht in den hohen Norden. Hier genießt er die frische Meeresluft. Doch so sehr er auch versucht, Abstand zu gewinnen, so sehr lassen ihn die alten Fragen nicht los. Warum in aller Welt wurden nicht zumindest die Fälle ermittelt, die er in seinem Abschlussbericht offengelegt hatte? Staatsanwaltschaft, Steuerfahnder und er waren sich doch einig gewesen, dass ermittelt werden müsse. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft hatte wie besprochen die Steuerfahnder beauftragt, zwei Fälle exemplarisch zu ermitteln. Was also war geschehen?

Die Antwort erhält Schäfer Jahre später. Ein Informant spielt ihm ein Schreiben des Finanzamtes Frankfurt-Börse an die obere Steuerbehörde, die Oberfinanzdirektion Frankfurt, zu. Der Brief datiert vom 16.03.1993 – wenige Wochen, nachdem Schäfer mit Staatsanwaltschaft und Steuerfahndung zusammengesessen hatte.

Tatsächlich bestätigt das Schreiben, das Treffen mit Schäfer und den Anfangsverdacht gegen mehrere Makler, die doppelte Steuerbescheinigungen produziert hätten. »Die Staatsanwaltschaft hat insoweit die hiesige Steuerfahndungsstelle angewiesen, umgehend Ermittlungsverfahren einzuleiten.«

Doch was er dann liest, lässt Schäfer vom Glauben an die Steuergerechtigkeit abfallen. Von den Ermittlungsverfahren werde jedoch nach Absprache mit dem Oberstaatsanwalt zunächst abgesehen, schrieb die Finanzbehörde. Würde man jetzt mit Ermittlungen gegen zwei Makler beginnen, bedeute dies, »dass – aus jetziger Sicht – allein für das Jahr 1991 mittelfristig gegen weitere 17 Makler sowie gegen mindestens 4 Depotbanken […] zu ermitteln ist.«

Schäfer ist konsterniert: Weil eine Ermittlung viel Arbeit macht, lässt man sie lieber ganz bleiben?

Sein Puls wird sich auch während der folgenden Absätze nicht beruhigen: Das Finanzamt, das in einem Strafverfahren nichts anderes ist, als die ausführende Ermittlungsbehörde, die ihre Anweisungen von der Staatsanwaltschaft bekommt, schreibt doch tatsächlich im folgenden Absatz, dass konkrete Ansatzpunkte für steuerstrafrechtliche Ermittlungen »nicht ersichtlich« seien.

Schäfer denkt an all die Details, die Dokumente und Anhänge, die er mit seinem Prüfbericht abgeliefert hatte. Eben jene Belege, die die Staatsanwaltschaft zu dem Schluss kommen ließen, dass ermittelt werden müsse. Widersprach hier etwa die Steuerfahndung der Einschätzung der Staatsanwaltschaft?

Das dreiseitige Schreiben endet mit der nüchternen Feststellung, dass im Bereich Dividendenstripping »Ermittlungstätigkeit in einem Umfang anfallen wird, die in Anbetracht der angespannten Personal- und Arbeitssituation von der hiesigen Steuerfahndungsstelle nicht allein zu leisten sein wird.«

Auf dem Tisch vor Schäfer liegt, so empfindet er das, ein Skandal. Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen angeordnet. Und die Steuerfahndung wiegelt unter fadenscheinigen Gründen ab. Das ist in etwa so, als ob nach einem Mord am Tatort ein blutiges Messer gefunden wird, die Kriminalpolizei aber Ermittlungen verweigert, weil man gerade viel um die Ohren habe und das Messer ja auch aus einer Metzgerei stammen könne.[1]

Was sind das für Steuerfahnder, fragt sich Schäfer, die Hinweisen auf millionenfachen Steuerbetrug nicht nachgehen wollten? Wie ticken die Frankfurter Finanzbehörden? Wem fühlen sie sich verpflichtet – den Banken oder der Allgemeinheit?

Was Schäfer erst später begreift: Es waren exakt die Frankfurter Finanzbehörden, die in den Neunzigerjahren, einen Mann hervorbrachten, der später eine große Rolle bei Cum-Ex-Geschäften spielen würde: einen gewissen Hanno Berger.

Schäfer hatte Berger nie getroffen und doch wirkten sie zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Hat er womöglich den obersten Betriebsprüfer für Banken, Hanno Berger, der später die Seiten wechseln und Cum-Ex aufsetzen würde, mit seinen kritischen Aufsätzen und Berichten erst auf die Idee zu solchen Geschäften gebracht?

Versteckspiel

Es ist etwas gewaltig schiefgelaufen. Normalerweise wäre Anne Brorhilker in diesem Winter 2013 in der »verdeckten Phase« ihrer Cum-Ex-Ermittlung. Sie würde sich in Ruhe in den Fall einarbeiten, ohne dass die Verdächtigen es ahnen. Doch das Bundeszentralamt für Steuern hat mit seinem Besuch im Herbst nicht nur die Staatsanwaltschaft informiert, die oberste Steuerbehörde hat auch gleich einige Verdächtige ins Bild gesetzt, dass ein Strafverfahren eingeleitet werde. Das Überraschungsmoment ist komplett dahin. Stattdessen hängen bei Brorhilker nun ständig die Rechtsanwälte der Beschuldigten in der Leitung oder löchern sie mit E-Mails, um den aktuellen Ermittlungsstand zu erfragen. Wie so etwas passieren konnte, kann sich Brorhilker nur mit der Unerfahrenheit der Finanzbeamten erklären.

Die Staatsanwältin muss Zeit gewinnen, unbedingt.

Denn es gibt zu viele Ungereimtheiten, die sie erst verstehen will, bevor sie weitere Ermittlungsschritte unternimmt. Da ist zum Beispiel dieses Steuergutachten. Die Unterlage stammt von einer beteiligten Bank. Das Gutachten soll offenbar beweisen, dass Cum-Ex-Geschäfte legal sind, dass die Beteiligten lediglich eine Gesetzeslücke ausnutzen. Doch je mehr sich Brorhilker einliest, desto öfter kommt ihr das Lieblingssprichwort ihres Vaters in den Sinn, dem erfahrenen Wirtschaftsprüfer: There is no free lunch. Auf den Finanzmärkten, so die Botschaft, gibt es nichts umsonst. Selbst wenn etwas kostenlos erscheint, so gibt es immer jemanden, der den Preis dafür zahlt – früher oder später. Der Gewinn des einen geht zu Lasten des anderen. Was in dem Dokument umständlich ausgebreitet wird, steht in einem geradezu grotesken Widerspruch zu dieser Regel. Sie liest das Gutachten eines Steueranwalts namens Hanno Berger noch einmal. Dutzende Seiten voller Bandwurmsätze und Paragrafenreihen. Schon die Überschrift klingt so verlockend wie Karies im Weisheitszahn: »Gutachten zur steuerlichen Bewertung einer Strategie zur Ausnutzung von Marktineffizienzen beim Handel mit Aktien über den Hauptversammlungsstichtag nach EStG / KStG.« Gewinne, so stellt es dieser Hanno Berger dar, erwachsen bei Cum-Ex-Geschäften aus »Marktineffizienzen«. Als würden sie vom Himmel fallen. Irgendwie magisch, wie das Kaninchen aus dem Hut.

Die Fahnderin ist misstrauisch. Woher stammt der Gewinn dieser Deals? Wer zahlt das Mittagessen? So sehr Brorhilker es auch dreht und wendet, sie kommt immer zu dem gleichen Verdacht: Die Cum-Ex-Geschäfte haben weniger mit dem geschickten Ausnutzen ineffizienter Märkte zu tun, als mit der schlichten Möglichkeit, sich in Deutschland eine Steuer erstatten zu lassen, die einem nicht zusteht – oder die im schlimmsten Fall niemals jemand zuvor bezahlt hat.

Nur, wenn dem so wäre: Warum spricht dieser Hanno Berger nebulös von »Marktineffizienzen«? Warum gibt ein Steueranwalt, der laut einer kurzen Internetrecherche einer der renommiertesten in Europa sein soll und früher sogar auf der Seite des Staates als wichtigster Bankenprüfer in Frankfurt unterwegs war, seinen Namen für derartig schwammige Gutachten her?

Hat der Anwalt des Drogeriemarkt-Milliardärs Erwin Müller, der die Staatsanwaltschaft mit Informationen versorgt hat, Recht mit seiner Vermutung, dass Hanno Berger Teil eines Netzwerks ist, das es auf die deutsche Steuer abgesehen hat? Dass Hanno Berger & Co möglicherweise sogar Millionensummen aus diesen Deals in die eigene Tasche wandern ließen?

Brorhilker realisiert schnell: Mit einfachen Mitteln der Steuerfahndung werden sich diese Fragen nicht klären lassen. So engagiert einige der Finanzbeamten auch sind, ihnen fehlt die kriminalistische Ausbildung. Und ihnen fehlen die Mittel. Steuerfahnder dürfen zwar kritische Nachfragen stellen und Unterlagen einfordern, aber Banken und ihre Berater schaffen meist eine makellos saubere Papierlage, die jedwedes Misstrauen aus der Welt schaffen soll. Ein Paradebeispiel liegt mit dem Berger-Gutachten womöglich gerade vor Brorhilkers Nase. Es bleibt nur eines: Die Staatsanwältin muss hinter die spiegelglatten Fassaden der Anwaltskanzleien, Banken und beteiligten Berater blicken und sich Insiderinformationen verschaffen. Nur sie verraten, welches Spiel hier tatsächlich gespielt wurde.

Mehr als 30 Beschuldigte, verteilt auf der ganzen Welt, in einem einzigen Fall – das ist ein Klassiker für das Landeskriminalamt. Da passt es bestens, dass Brorhilker bis vor Kurzem Seite an Seite mit dem LKA gegen die Gerüstbau-Mafia gekämpft hat. Man kennt sich, man schätzt sich, man kann sich aufeinander verlassen.

Im Winter 2013 ruft das Landeskriminalamt Düsseldorf, Dezernat 12, eine Ermittlungskommission ins Leben, tauft sie auf den Namen »Tax«. Doch Kommission ist ein großes Wort für die kleine Truppe. Neben dem Leiter der Gruppe gibt es nur drei Kriminalpolizisten, die allerdings sehr erfahren sind, wenn es um Vernehmungen und Durchsuchungen geht. Sie waren schon mehrfach in der Bankenwelt unterwegs. Für sie ist es Routine, im Ausland um Hilfe zu ersuchen. Alles Eigenschaften, die von Nutzen sein dürften.

Brorhilker und die Kripo-Spezialisten sind sich schnell einig. Es nützt alles nichts, sie müssen die Büros, Wohnungen und Häuser der Beschuldigten durchsuchen, jeden Stein dort zweimal umdrehen. Wie sollen sie sonst dahinterkommen, was wirklich geschehen ist? Ein großer Teil der dubiosen Geschäfte läuft im Ausland. In gleich mehreren Ländern. Die Ermittler wissen: Eine solche Aktion muss gut vorbereitet sein. Das braucht Zeit.

Zeit, die sich Brorhilker mit einem kleinen Trick verschaffen will, genauer genommen, mit einer zulässigen »kriminalistischen List«, die Ermittlern Fangfragen oder doppeldeutige Erklärungen erlaubt. Dazu hat sie die beiden Cum-Ex-Anwälte, die im Auftrag ihrer verdächtigten Mandanten am penetrantesten bei ihr anfragen, zu einem Termin in Köln eingeladen, um mit ihnen über den aktuellen Stand zu sprechen. Bevor der Besuch eintrifft, leiht sich die Strafverfolgerin leere Kartons und dicke Aktenordner anderer Verfahren aus. Sie stellt ihr ohnehin schon kleines Büro fast vollständig damit zu. Die Bühne ist bereitet, Brorhilkers Rolle definiert: Sie will an diesem Tag die naive, orientierungslose Staatsanwältin inmitten eines Aktenmeers mimen. Der Besuch kann kommen.

Eine Rechtsanwältin und ein Rechtsanwalt zwängen sich in das Büro. Zwei Besucherstühle stehen bereit, mehr hätten ohnehin nicht Platz gefunden. Dass es in deutschen Beamtenstuben nicht so prätentiös zugeht, wie in einer großen Kanzlei, ist klar. Aber diese Enge? Die Anwälte kommen schnell zur Sache. Sie wollen das Treffen nutzen, um ihre Sicht auf die Vorwürfe zu schildern. Brorhilker wird an diesem Tag kaum etwas dagegenhalten, sie redet mit Verweis auf ihr überquellendes Büro von einer unübersichtlichen Aktenlage, noch zu lesenden Papieren, komplizierten Abläufen. Die zwei Anwälte scheinen das zu schlucken. Doch die Besucherin macht Brorhilker zunehmend nervös. Warum muss sie sich ausgerechnet an die leeren Kartons an der Wand anlehnen? Die wackeln bedrohlich. Stürzt der Turm ein, fällt auch die Fassade zusammen.

Aber der Stapel hält. Gerade noch. Und so können die Vorbereitungen für die weltweite Razzia beginnen. In aller Stille.

Automatisierung

Nein, wirklich glamourös ist der Job in Deutschlands oberster Steuerbehörde nicht. Und so können die beiden Finanzbeamten ihr Glück wohl kaum fassen, als sie am 6. August 1998 das Foyer eines der größten Bürogebäude der Welt betreten, im Herzen New Yorks. Big Apple statt Bonn-Beuel. Die Zentrale des Unternehmens, das sie heute besuchen, ist in einem Wolkenkratzer mit 53 Stockwerken in Lower Manhattan, direkt am Ufer des East River, untergebracht.

Zur Feier des Tages hat sich der eine Finanzbeamte an diesem Sommertag für das beige Jackett und die gemusterte Krawatte entschieden, sein Kollege trägt einen schwarzen Anzug, kombiniert mit einem gepunkteten Schlips. Die beiden sind zu Gast bei einem New Yorker Finanzdienstleister namens DTC – und werden hofiert wie Staatsgäste. In einer Führung durch die Abteilungen bestaunen die deutschen Gäste das fortschrittliche EDV-System. Am Nachmittag geben sich einige Banker und Broker der Wall Street die Ehre, die Deutschen willkommen zu heißen.

Die Chemie stimmt. Die beiden Deutschen haben offensichtlich Spaß. Einer der Beamten gibt Anekdoten zum Besten, wie sein Vater im Zweiten Weltkrieg die Zeit in amerikanischer Gefangenschaft verbrachte. Die Geschichten klingen beinahe wie eine Umkehr der amerikanischen Erfolgsserie Ein Käfig voller Helden, in der US-Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs ihre deutschen Bewacher zum Narren hielten. Die Amerikaner ihrerseits tragen zur Belustigung der Runde ein amerikanisches Sprichwort vor, nach dem vor zwei Dingen niemand sicher ist: vor dem Tod und vor der Steuer. Und wo bitte schön, fragen die Amerikaner ihre Gäste, haben die Deutschen ihre oberste Steuerbehörde untergebracht? Kann man sich nicht ausdenken: in der Friedhofstraße.

Gemeint ist das Bundesamt für Finanzen (BfF). Die Behörde, die später in das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) umgewandelt wird, ist direkt dem Finanzministerium unterstellt – und eine wichtige Anlaufstelle für Amerikaner. Hier werden Fragen der Auslandsbesteuerung behandelt.

Die deutschen Beamten und amerikanischen Finanzdienstleister sind aber nicht nur zum Spaß zusammengekommen. Während des Besuches besprechen sie eine exklusive Zusammenarbeit, die jahrelang währen und weitreichende Folgen haben wird.

Ihren Anfang nimmt die Kooperation bereits ein Jahr vor dem New-York-Trip, mit dem Brief eines amerikanischen Rechtsanwalts an das Bundesamt für Finanzen, Friedhofstraße 1, Bonn-Beuel. Der Anwalt meldet sich im Winter 1997 im Auftrag der Depository Trust Company (DTC). Die Treuhandgesellschaft, die im Besitz einiger Banken ist, scheint in den USA eine große Nummer zu sein. Denn Tausende Banken hinterlegen ihre Wertpapiere bei der DTC. Deren Dienstleistung: Die Wertpapiere müssen bei Käufen und Verkäufen nicht mehr in Papierform hin- und hergeschickt werden. Sie liegen bei der DTC im Tresor. Wird ein Wertpapier verkauft, bucht die DTC es über ein Computersystem in das Depot des neuen Eigentümers. Das geht schnell und kostengünstig. Der Marktwert aller bei der DTC hinterlegten Wertpapiere, so rechnet es der Anwalt vor, beträgt dieser Tage rund 12,1 Billionen US-Dollar. Auch Aktienwerte von 41 deutschen Unternehmen sind hier hinterlegt, mit einem Marktwert von 8,1 Milliarden Dollar.

In einer Zeit, in der sich Deutschland verstärkt um ausländisches Kapital bemühe, schreibt der DTC-Anwalt, habe die Bundesrepublik einen großen Wettbewerbsnachteil. Denn im Gegensatz zu Kanada, Frankreich, der Schweiz oder Großbritannien müssten amerikanische Investoren in Deutschland ein manuelles, papieraufwendiges Verfahren durchlaufen, um Steuerrückzahlungen zu bekommen.

Tatsächlich regelt ein Doppelbesteuerungsabkommen, dass US-Bürger in Deutschland nur einen Teil der Kapitalertragssteuer entrichten müssen, da sie in den USA bereits einmal besteuert werden. Spezielle Einrichtungen, wie etwa Pensionsfonds, in denen unter anderem amerikanische Arbeiter eine private Altersvorsorge ansparen, sind sogar gänzlich von der Steuer in Deutschland befreit. Nur: Die Steuer wird in Deutschland schon bei der Auszahlung der Dividenden einbehalten. Oft dauere es Wochen oder gar Monate, bis Amerikaner ihr Geld zurückbekämen, berichtet die DTC. Das alles sei so kompliziert, dass einige US-Investoren sogar auf das Geld verzichteten – oder ihre Millionen lieber in Unternehmen aus anderen Ländern steckten.

DTC bietet nun Abhilfe. Der Vorschlag: »Elektronisch abgewickelte bedingte Vorauserstattungen«. Kurzum: Der deutsche Staat solle auf den ganzen Papierkram weitestgehend verzichten und die Steuererstattungen im Voraus an die DTC überweisen, diese verteile das Geld dann weiter an die betroffenen Investoren.

»Die DTC schlägt vor, die Dokumentationen zu verringern und sie nur noch für Stichprobenprüfung zu verlangen«, heißt es in dem Schreiben. Immerhin: Damit der Fiskus nicht auf dem Risiko sitzt, bietet DTC eine »für vier Jahre hundertprozentige Entschädigungszusage« an, falls Steuergelder zu Unrecht erstattet worden seien.

Weniger Papieraufwand – auch für die Verantwortlichen im Finanzministerium und im Bundesamt für Finanzen scheint das ein durchaus erstrebenswertes Ziel. Sie laden die DTC-Vertreter nach Bonn ein. In einer Besprechung am 1. Dezember 1997 gehen sie die Sache durch. Es gibt noch einige Knackpunkte. Schließlich würden die Deutschen die Kontrolle aus der Hand geben.

So kommt bei den Finanzbeamten frühzeitig die Frage auf, ob diejenigen, die über die DTC ihr Geld zurückverlangen, auch tatsächlich im Sinne des Doppelbesteuerungsabkommens